MICHAEL SOYKA, 1959 in Berlin geboren, studierte Medizin in Kiel, Würzburg, London und München und arbeitete zwanzig Jahre an der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Er ist Professor für Psychiatrie, hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Bücher speziell zum Thema und Sucht und forensische Psychiatrie veröffentlicht und mehrere Wissenschaftspreise erhalten. Daneben hat er mehrere Jahre als Kolumnist für die Münchner »Abendzeitung« gearbeitet. Seit 2006 ist er Direktor der Psychiatrischen Privatklinik Meiringen / Schweiz und lebt in Ringgenberg / Interlaken und München. Im Allitera Verlag ist 2009 bereits sein Kriminalroman »Schwarze Ufer« erschienen.
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de
Oktober 2011
Allitera Verlag
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Printed in Europe · 978-3-86906-176-4
Kinsky beugte sich über das Mädchen. Sie war für einen Moment eingeschlafen. Ihre Augenlider vibrierten fast unmerklich. Darunter bewegten sich ihre Augen im REM-Schlaf. Eine schöne junge Frau, die durch ihre Traumwelt wanderte. Andere hätten die leichte Bewegung ihrer Augäpfel unter den geschlossenen Lidern übersehen, er nicht. Er konnte unterscheiden, ob jemand schlief oder nur so tat. Der Atem ging anders. Ihrer war ruhig, der Körper entspannt. Er beneidete sie darum. Seine Sinne waren so geschärft, dass es ihm immer schwerer fiel, Schlaf zu finden. Selbst jetzt, in dem unverdächtigsten aller Momente, neben einer nackten Frau, auf deren Rücken sich die Sonnenstrahlen brachen, die durch die halb geschlossene Jalousie Zebramuster auf ihre makellose Haut warfen, war er wach. Er könnte den Schlaf gut brauchen, vor ihm lagen anstrengende Wochen. Die Planungen waren weit fortgeschritten. Paul hatte ihn das wissen lassen. Er hatte auch die Wohnung besorgt, sechster Stock, ein unattraktiver Neubau, von denen Frankfurt einige zu bieten hatte. Frankfurt war ideal für ihre Zwecke, eine anonyme Großstadt, in der man nicht auffiel und deren Bewohnern es herzlich egal war, woher man kam und wohin man ging. Verhalte dich unauffällig, hatte Paul ihm gesagt, gehe kein Risiko ein. Die üblichen Ermahnungen und stillen Vorwürfe. Immer im Hintergrund bleiben, das war Pauls Devise. Niemals in the line of fire. Da stand meist Kinsky, und er liebte es.
Schon am dritten Tag hatte er das Mädchen kennengelernt. Sie war eine romantische Linke, hatte aber mit dem Umfeld nichts zu tun. Bestenfalls eine schwärmerische Sympathisantin, aber wahrscheinlich nicht einmal das. Sie hatte Flugblätter verteilt, irgendeine lokale Sache, die ihn nicht weiter interessiert hatte. Ein kleiner Streik an der Frankfurter Universität, Boykott dieses oder jenen Professors, es war ihm gleichgültig. Die Weltrevolution würde nicht hier entschieden werden, aber das hatte er ihr natürlich nicht gesagt, als sie sich Tage später trafen. Es fiel ihm leicht, Frauen anzusprechen. Er hatte keine Hemmungen. Und keine Gewissensbisse. Selbst als er das erste Mal schießen musste, war es ihm überraschend leichtgefallen. Er hatte damals noch schlafen können, besser als jetzt, aber das war lange her.
Er hatte sich mit Marie immer wieder getroffen, ihr eine Fantasiegeschichte über eine Auslandstätigkeit erzählt, um seine häufigen Abwesenheiten zu erklären. Das mit dem Ausland stimmte sogar, aber mit Besuchen in palästinensischen Ausbildungslagern rechnete sie ganz sicher nicht. Sie glaubte ihm seine kurzen Bemerkungen über Entwicklungshilfeprojekte. Nun, so falsch war auch das nicht. Es war eine Frage des Blickwinkels, der Perspektive, wie Paul so gerne sagte. Aus der Perspektive der Revolution, aus der Perspektive der Gruppe – das waren Pauls Worte, mit denen er Banküberfälle oder Aktionen begründete. Kinsky hatte Pauls Rolle als Organisator und ideologischer Kopf der Gruppe immer nur widerwillig akzeptiert, aber er war von Anfang an dabei gewesen und hatte die besten Kontakte, vor allem ins Ausland. Paul war kein überzeugter Anti-Atom-Demonstrant, kein Pflastersteinwerfer gewesen wie Kinsky in seiner sehr kurzen idealistische Phase. Paul hatte immer schon das große Ganze im Blick gehabt, die Perspektive der neuen Zeit.
Die neue Zeit hatte ihnen Helmut Kohl als Kanzler geschenkt, an dessen massiger Figur alles abzuprallen schien, ein gefährlicher Restaurator, dessen barocke Bürgerlichkeit die Chance auf eine linke Zukunft noch weiter reduzierte. In seinem Schatten hatte diese zarte Pflanze keine Chance. Satte Bürgerlichkeit, zufriedenes Spießertum waren angesagt. Es war nicht zu glauben. Widerstand gegen Atomkraftwerke zog noch oder irgendwas anderes, was mit Umweltschutz zu tun hatte, aber die großen Themen waren völlig in den Hintergrund gerückt. Die imperialistische Aggression, die amerikanischen Atomraketen – Kohl würde sich durchsetzen, und mit ihm die anderen Repräsentanten der alten Rechten, in ganz Europa. Paul hatte ganz recht, die Gruppe musste wieder aktiv werden. Er hatte sicher auch schon einen Plan, den nicht einmal Kinsky kannte. Ein Zeichen setzen, hatte Paul gesagt. Kinsky konnte nur warten.
Das Mädchen drehte sich zur Seite, immer noch im Halbschlaf. Sie war schlank und groß, sicher über einssiebzig. Kinsky hatte gelernt, Entfernungen, aber auch Größen einzuschätzen. Ein Meter dreiundsiebzig, achtundfünfzig Kilo, sagte er sich. Lange, sehnige Extremitäten, eine potenzielle Sportlerin. Ihre Mutter war eine Hockey-Bundesligaspielerin gewesen, das passte im doppelten Sinne: zu ihrem Körperbau und ihrem sozialen Status. Hockey war ein Sport der Reichen, die sorglos lebten und Töchter bekamen, die aus romantischen Motiven für gesunde Wälder und gegen konservative Professoren waren. Das würde vorübergehen. Marie war für ihre Zwecke wertlos.
In sexueller Hinsicht war sie unkompliziert, wie Kinsky, der mit mehr Widerständen gerechnet hatte, erleichtert feststellen konnte. Sie war sinnlich und überraschend experimentierfreudig, keine Hingabestörung, sagte sich Kinsky, der einiges über Psychologie gelesen hatte, um die Wartezeit zu überbrücken, bis die Gruppe wieder aktiv werden konnte. Psychologie sah er als Ausdruck bürgerlicher Interessen verklemmter Kleinbürger, aber diese oder jene Phrase war hängen geblieben. Mittlerweile hatten der Psychologie entlehnte Begriffe die Umgangssprache so durchsetzt, dass es immer schick klang, wenn man auf ein entsprechendes Repertoire zurückgreifen konnte: das Unterbewusste, Verdrängte, Abwehr, Projektion machten sich immer gut. Natürlich war auch die Psychoanalyse eine zutiefst bürgerliche Erfindung gewesen, wie Kinsky immer schon geglaubt hatte. Sie trug keineswegs dazu bei, die Klassenunterschiede oder die Beziehung der Geschlechter zu überwinden, ganz im Gegenteil. Ihre Entwicklung hin zu teuer bezahlten Expertenklüngeln, die alle für sich in Anspruch nahmen, als Einzige den Stein der Weisen gefunden zu haben und ihre Dienste vor allem für gut betuchte Privatpatienten und eher ungern für die arbeitslose Verkäuferin oder den alkoholkranken Arbeiter anboten, hatte ihn in dieser Überzeugung nur bestärkt. Da war kein revolutionäres Aufbäumen erkennbar, kein Rütteln an gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Fokus lag immer auf der ganz privaten Neurose, die es zu bearbeiten galt. Da war Freud noch ein anderes Kaliber gewesen. Aber gewisse Grundkenntnisse aus diesem Repertoire konnten nicht schaden, sie machten auch die Reaktionsweisen anderer berechenbar.
Bei Marie waren solche Überlegungen aber nicht notwendig, sie handelte nicht aus verborgenen, unbewussten Motiven – sie hatte sich in Kinsky verliebt. Nach wenigen Tagen schon hatte sie, vorsichtig, über eine gemeinsame Zukunft gesprochen, in völliger Unkenntnis seiner Persönlichkeit und seiner Interessen. Das Wilde, manchmal Aggressive an ihm, das sie selbst durch die Camouflage seiner verschleierten Existenz vage gespürt hatte, stand dem nicht entgegen – vielleicht hatte sie es lediglich als Ausdruck einer akzentuierten Männlichkeit und somit als begehrenswert gedeutet. Das war aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Kinsky war im Untergrund, und von seiner kalten Mitte spürte sie nichts – auch er selbst nicht. Sie war weitgehend frei von Gefühlen, die jenseits von momentaner Leidenschaft lagen. Wenigstens glaubte er das. Er konnte gelegentlich aufbrausend und aggressiv sein, aber dieses sanguinische Temperament war nur ein Teil seiner Persönlichkeit, und nicht der stärkste.
Marie lag auf dem Bauch, das Laken war zur Seite gerutscht. Seine Hand glitt über ihren Po. Vielleicht noch im Halbschlaf, vielleicht schon halb wach, bewegte sie ihn leicht, wenige Millimeter hin zu ihm. Er küsste ihren Rücken, der nach Salz schmeckte. Fast vier Stunden hatten sie hier gelegen, ein heißer Sommernachmittag. Sie hatte geschwitzt, verloren in einem ungesagten Traum. Sanft drehte er sie um. Ihre graugrünen Augen sahen ihn offen an.
»Woran denkst du?«, fragte sie.
»Nichts Besonderes«, gab er zurück.
Sie streckte sich und drehte sich dann in seine Richtung. Kinsky saß auf dem Bett, sie streichelte sein Gesicht mit den scharfen Zügen um die Mundwinkel, verborgen unter einem kurzen Bart. Er hatte die letzten Tage Besseres zu tun gehabt, als sich zu rasieren.
»Ich verstehe dich nicht. Wir sind uns so nah, und trotzdem ist es manchmal so, als seist du gar nicht da. Nein, oft. Oft ist es so. Hinterher. Als seist du abwesend.«
»Bin ich nicht. Nur müde.«
»Müde bist du überhaupt nicht. Keine Spur.«
»Ist vielleicht bei Männern anders, die Müdigkeit, wir schlafen mit offenen Augen.«
»Und pinkeln im Stehen. So ein Blödsinn.« Sie tippte ihm lachend an die Stirn. »Ich meine es ernst. Ich möchte wissen, was da drin vorgeht.«
»Ich werde eine Psychoanalyse machen.«
Jetzt richtete sich Marie auf. Ihr durchgestreckter Rücken signalisierte eine gewisse Verärgerung.
»Du nimmst mich nicht ernst.«
»Natürlich tue ich das.«
»Keineswegs. Ehrlich gesagt, im Moment verarschst du mich.«
Genau genommen tat er das die ganze Zeit, aber davon konnte sie nichts wissen. Seine Tarnung war überzeugend. Kinsky setzte auf Beschwichtigung.
»Marie, du bist eine tolle Frau, wir sind ein … perfektes Liebespaar, wo ist das Problem?«
»Das Problem ist, ich weiß nicht, mit wem ich schlafe.«
Damit hatte sie recht. Kinsky wollte aufstehen. Ihr linker Arm legte sich um seine Hüfte und hielt ihn zurück. Ein sanfter, werbender Druck.
»So war das nicht gemeint. Bleib bei mir. Ich liebe dich«, sagte sie, leise, fast schüchtern, als befürchte sie seine Antwort.
»Du bist wunderbar«, sagte er. Zu einer Lüge hatte er sich nicht entschließen können. Er streichelte fast nachlässig ihre Brust. Wenige Minuten später drang er noch einmal in sie ein. Ein unerwartetes Glücksgefühl durchströmte ihn, und für einen Moment war er sich nicht sicher, ob Marie nicht doch die Frau war, die eine andere Zukunft vorstellbar machte.
Es war nur ein kurzer Moment.
Einige Stunden später hatten sie Hunger. Es war fast neun Uhr, die Dämmerung hatte sich zum Halbdunkel eines Sommerabends verdichtet. Sie hatten eigentlich Lust auszugehen. Kinsky hatte Pauls ständige Ermahnungen, sich möglichst wenig sehen zu lassen, reichlich satt. Besonders daran gehalten hatte er sich ohnehin nie.
Kinsky war ein Meter fünfundachtzig groß, kräftig, athletisch, aber nicht auffallend muskulös, das aschblonde Haar weder zu kurz noch zu lang, ganz ohne besondere Merkmale. Seine Züge waren markant, aber sein gewinnendes Lächeln milderte den stark maskulinen Eindruck seiner Persönlichkeit, ohne erkennen zu lassen, dass es reine Attitude war. Seine gesamte Gestalt signalisierte Stärke, aber keine Gefahr. Darauf konnte er bauen.
Schließlich entschieden sie sich doch dafür, lediglich einen Pizzaservice anzurufen. Einmal Pizza Frutti di Mare, einmal Regina mit Artischocken, dazu eine Flasche Rotwein. Nach einer halben Stunde klingelte es. Der Lieferant sprach nur gebrochen Deutsch, kein Italiener, sondern ein Inder, wie Kinsky vermutete. Er entschuldigte sich, die Straße nicht gefunden zu haben. Kinsky gab trotzdem Trinkgeld, nicht zu viel, nicht zu wenig. Immer unauffällig verhalten.
Beiden lag das Essen schwer im Magen, und der Rotwein verstärkte noch ihre Müdigkeit. Marie lag in seinen Armen, während er im Bett halb aufrecht saß und lustlos durch das Fernsehprogramm schaltete. Die weitere Entwicklung in der Sowjetunion war unklar bis besorgniserregend, die Diskussion in der Gruppe darüber hatte zu nichts geführt. Kinsky schaltete zu einer Sportsendung um.
Er war ohnehin auf dem Weg zur Toilette, als das Telefon klingelte. Es war Paul.
»Bereite dich auf die Reise vor.«
»Wann?«
»Morgen früh.«
Marie konnte aus seinem Blick nichts erkennen. Ihr »Was war?« ließ er unbeantwortet. Sein Blick glitt noch einmal über ihren wunderschönen Körper. Eine leichte Wärme in seinem Magen, die bis hinter das Brustbein hochzog, führte er auf das schwere Essen zurück. Er würde seinen Weg nicht ändern.
Nicht für eine Frau.
Paul hatte ihm zu einer Zugfahrt geraten. Bei Flügen war das Risiko einer späteren Identifizierung größer, hier wurden Pässe und Personalien stärker kontrolliert. Kinsky war das einerlei, er wäre auch geflogen, aber Italien war von Frankfurt aus gut mit dem Zug erreichbar. Auf dem Weg nach Genua wurde er bei der Einreise nach Österreich nach seinem Pass gefragt, den er gerne zeigte. Er hätte sogar unter seinem richtigen Namen reisen können. Kein Polizeicomputer kannte ihn, er war stets unerkannt geblieben, keine Vorstrafen, keine Ermittlungen. Trotzdem benutzte er eine der Fälschungen, die Paul ihm besorgt hatte, man konnte nie wissen. Die Grenzbeamten zeigten sich desinteressiert. Dem Alpentransit stand nichts im Wege.
Am Hauptbahnhof von Genua sollte er abgeholt werden. Er wartete an einer großen gläsernen Vitrine, in der das Modell eines alten Segelschiffs ausgestellt war und das an die lange Seefahrertradition der Stadt erinnerte, an Kolumbus und alle anderen, die sich über unbekannte Ozeane gewagt hatten. Er wusste nicht, wen er hier treffen würde. Eine Kontaktperson, die Paul organisieren wollte. Er wartete schon fast eine halbe Stunde. Schließlich sprach ihn eine grell geschminkte Frau mit kurzem Lederrock an. Kinsky würdigte die Prostituierte kaum eines Blickes.
»Paolo hatte recht. Du erkennst mich nicht.«
Verwundert ging sein Blick zu der Frau zurück. Sie war klein, dunkelhaarig, ihre Züge waren unter dem Make-up kaum zu erkennen. Ihr schwarzes Haar fiel in wilden Locken weit über die Schultern. Kinsky schätzte sie auf knapp über dreißig.
»Paolo … ich verstehe. Gute Verkleidung.«
»Komm mit. Niemand wird Notiz davon nehmen, wenn ein Tourist von einer drogensüchtigen Nutte abgeschleppt wird.« Sie sprach überraschend gut Deutsch, wenn auch mit deutlichem Akzent.
»Okay, wie viel?«, fragte er und tat so, als greife er in seine Jackentasche.
Die Frau ignorierte seine Bemerkung.
»Ich bin Chiara.«
»Alessandro.«
»Alessandro?«
»Für heute.«
Sie verließen den Bahnhof, überquerten den Vorplatz, bogen in eine zum Hafen führende Straße ein und gingen in eine rechts abzweigende Gasse, Chiara mit ihren hohen Absätzen immer ein, zwei Schritte voraus. Kinsky fand die Maskerade lächerlich, aber er kannte Paul, der sich gerne solche Szenarien ausdachte – und diese hier war sicher eine der harmloseren Sorte. Chiara betrat ein schäbig aussehendes Haus, offensichtlich eine Absteige. Kinsky hatte nicht den Eindruck, als sei ihnen jemand gefolgt. Zwei Männer und eine rothaarige Frau standen an einer Art Rezeption und schienen zu warten. Ohne die drei eines Blickes zu würdigen, ging Chiara durch das Erdgeschoss. Sie verließen das Haus durch den Hintereingang. In einem kleinen Hof stand ein blauer Fiat.
»Steig ein«, sagte sie und setzte sich ans Steuer.
Kinsky stieß sich beim Einsteigen die Knie in dem engen Wagen und verzog das Gesicht.
»Der Herr ist Mercedes gewöhnt?«, fragte sie.
Kinsky beschloss, nicht zu antworten.
Chiara steuerte den Wagen durch die Stadt, dann auf eine Ausfallstraße, die sich südlich am Meer entlangschlängelte. Das Mittelmeer lag in türkisfarbenem Blau unter ihnen. Frachter und Fähren, auch einige Kreuzfahrtschiffe waren zu sehen. Die Riviera zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Nach einer halben Stunde, kurz vor Recco, hielt Chiara auf einem Parkplatz. Sie stieg aus, schälte sich in wenigen Sekunden aus ihren lächerlichen Kleidern, zog eine Jeans und ein T-Shirt an und setzte sich wieder zu Kinsky. Im Rückspiegel hatte er sie gemustert – ein kleiner, sportlicher Körper, mittelgroße Brüste, breitere Hüften, als er vermutet hatte. Es war nur ein Blick gewesen.
»Hast du Hunger?«, fragte sie.
»Und Durst«, meinte Kinsky. »Das war eine sehr lange Bahnfahrt.«
»Wir sind noch nicht am Ziel.«
»Wohin geht es denn?«
»Neugierig, der Herr?«
»Durchaus.«
»Wie bitte?« Offensichtlich kannte Chiara das Wort nicht.
»Ja, neugierig.«
»Es sind noch ein paar Stunden bis in die Toskana.«
»Nicht schlecht. Da wäre ein Mercedes tatsächlich besser gewesen. Und wenn es noch länger dauert, ja, mangiare wäre nicht schlecht.«
»Subito.«
Die Temperatur im Wagen stieg. Es war keine Spur von Wind in der Luft, trotz der Meeresnähe herrschte brütende Hitze. Kinsky fand es unerträglich warm und schwitzte stark. Dazu spürte er zunehmend eine nervöse Müdigkeit, die seine Wirbelsäule hochkroch. Die lange Fahrt forderte ihren Preis. Chiara schien die Hitze weniger auszumachen, sie hatte das Fenster heruntergekurbelt, ihre Haare flatterten im Wind. Nach einer guten halben Stunde verließen sie die Küstenstraße und parkten vor einem kleinen Lokal, das an einen Felsen angelehnt war. Durch einen Spalt, den die Berge tief unten frei ließen, konnten sie eine kleine Ecke Mittelmeer ausmachen. Chiara bestellte für sie beide Wasser und Kaffee, dazu Focaccia. Sie aßen mit gutem Appetit, vor allem Kinsky. Es war noch später Vormittag und sie waren allein auf der Terrasse. Es gab keinen Grund zur Beunruhigung, trotzdem blieb Kinsky wachsam. In seinen ohnehin angespannten, trainierten Körper hatte sich über die Jahre eine Nervosität eingenistet, die er selbst manchmal als raubtierhaft erlebte: ein Gefühl, sprungbereit und auf der Jagd zu sein. Dieses Gefühl hatte er immer schon gehabt, als kleiner Junge, er kannte kaum Ängste, aber das Training und die Erfahrung der letzten Jahre hatten es so geschärft, dass es zur eigentlichen Natur geworden war. Er war frei von Hemmungen und Widerständen. Nur in kurzen Momenten, wenn er mit einer Frau zusammen war, und auch nicht immer, fiel diese Spannung von ihm ab. Diese einzige innere Rückzugsfläche war ihm geblieben. Der Rest war Kampf.
Wer war Chiara, was wusste sie? War sie nur ein Kurier oder Teil der Aktion? Ihr Deutsch war gut, sie musste Beziehungen nach Deutschland haben, konnte er ihr trauen? Kinsky hatte gelernt, nicht zu viele Fragen zu stellen, nicht am Anfang. Jede Frage gab auch etwas von ihm preis, spiegelte sein Wissen oder Nichtwissen und damit seinen Platz in der Hierarchie wider. Er hasste Paul dafür, dass dieser sich nie die Hände schmutzig machte, jedenfalls wusste er nichts davon. Aber alle Fäden liefen bei ihm zusammen, zumindest die Fäden, die er erkennen konnte. Natürlich war auch Paul nur ein kleines Licht, der Kampf war international, der imperialistische Gegner agierte weltweit. Kinsky war ein Mann der Aktion. Und er fühlte sich wohl dabei.
»Dein Deutsch ist ausgezeichnet«, sagte er so beiläufig wie möglich.
»Danke.«
»Teutonengene?«
»Wie bitte?«
»Deutscher Stammbaum?«
»No.«
Sie sah auch hundertprozentig mediterran aus. Kinsky beschloss, das Terrain zu verlassen. Er hätte sie gerne gefragt, ob und wann Paul kommen würde, aber diese Blöße wollte er sich nicht geben.
»Bleibst du bei uns?«
Auch diese Frage war ein Fehler, wie er wusste.
»Man wird sehen. Vielleicht.«
Ihr undurchdringlicher Blick wich ihm aus. Sie war eine attraktive Frau, aber für ihn nicht mehr als eine Zwischenstation, als Botin ein kurzes Glied in der Kette. Sie schien ihm intelligent, gab aber wie er nichts von sich preis. Kinsky hatte nur einen kurzen Blick auf ihren Körper werfen können. Sie war ihm nicht sehr sportlich erschienen, aber man konnte sich täuschen. Kinsky hatte Frauen erlebt, auch Männer, die so unscheinbar und harmlos ausgesehen hatten, dass niemand vermutet hätte, dass sie ohne Zucken eine Handgranate in einem Kindergarten zünden konnten. Entscheidend war der Wille. Das war auch Kinskys Stärke. Deswegen brauchten sie ihn, mehr als andere. Er war aufbrausend, schwierig, aber im entscheidenden Moment ohne Zögern, konzentriert und schnell. Dabei konnte er Risiken einschätzen, den Plan ändern, wenn notwendig. Es lief fast nie so, wie sie sich das ausgedacht hatten. Darauf musste man reagieren. Das konnte Kinsky. Aber er war nicht allein, nie, irgendwie war man immer von anderen abhängig. Deswegen war es wichtig, so viel wie möglich vom anderen zu wissen. Es konnte lebenswichtig sein.
Sie fuhren bald weiter und redeten nur noch wenig, Belangloses, über die Schönheit der Toskana, in die sie fuhren. Bourgeoiser Schwachsinn, dachte Kinsky. Gleich tauschen wir noch Urlaubsfotos aus.
Dies war keine Urlaubsreise und sie wussten es beide.
»Mit großem Interesse habe ich Ihren Forschungsantrag gelesen, den ich natürlich gerne unterstütze. Es freut mich, dass Sie meiner Anregung gefolgt sind und sich wieder vermehrt wissenschaftlichen Fragestellungen widmen wollen, so wie es der großen Tradition unseres Hauses entspricht. Ich wundere mich allerdings über das von Ihnen gewählte Themengebiet. Natürlich sind Verlaufsuntersuchungen bei der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen wichtig, eine stärkere Berücksichtigung bildgebender Verfahren und anderer moderner biologischer Forschungsansätze wäre aber unbedingt wünschenswert. Besonders reizvoll wäre es, die von Professor Keller am Mausmodell so überzeugend gewonnenen Hypothesen zur Affekt- und Angstregulation am Patienten zu replizieren. Vielleicht sprechen Sie noch einmal mit ihm und bitten ihn um seine Expertise in diesem Bereich …«
Markus Blankenburg legte die Aktennotiz des Direktors zur Seite. Es folgten noch drei Seiten mit Vorschlägen, Anregungen, Kritik. Blankenburgs Neigung, engeren Kontakt mit dem geschätzten Professor Keller zu suchen, war begrenzt. Keller hatte im Untergeschoss, direkt neben dem Archiv, sein Tierlabor aufgebaut, in dem gekrabbelt, gemessen und geforscht wurde. Von den Verhaltensweisen genmanipulierter Mäuse, denen dieses oder jenes Gen fehlte, wurden weitreichende Hypothesen zum menschlichen Verhalten abgeleitet. War ein Mäusestamm mit inaktivem Serotonin-7c-Rezeptor weniger neugierig als andere, musste dies das Gen für Angst oder Depression sein, ein genialer Ansatz auch für neue Medikamente. Das waren die High-Impact-Publikationen, die über Wohl und Wehe einer akademischen Laufbahn entschieden. Gerne unterstützte Professor Holzbrunner als Direktor diese Forschungsansätze mit seinem Namen, den er auf allfällige Publikationen als Seniorautor genannt wissen wollte. Dass Keller und andere diesem Wunsch stets und automatisch folgten, ohne eigene Ansprüche zu stellen, erhöhte ihre Akzeptanz bei der Klinikleitung. Wie gesagt, Mäuse standen hoch im Kurs.
Blankenburgs Blick glitt in den vorfrühlingshaften Garten der Klinik. Einige wenige grüne Stängel zeigten sich nach einem harten Winter, der den Klimaprognosen mit der befürchteten globalen Erwärmung Hohn sprach. Im Laub raschelte es. Für einen Moment meinte er, eine von Kellers Labormäusen zu sehen, aber es war nur ein Spatz, der nach Nahrung wühlte. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sich eine der ängstlichen Mäuse auf große Reise gemacht hätte, ganz entgegen zur gengestützten Hypothese. Wahrscheinlich aber lagen die hilflosen Tiere sorgsam verkabelt in ihren Käfigen, streng überwacht und einem kurzen, forschungsintensiven Mäuseleben entgegendämmernd.
Es war später Vormittag. Blankenburg hatte eine quälend lange Visite auf der Depressionsstation mit Schwerpunkt Klagen über Verstopfung und Verdauungsprobleme hinter sich und sich dann dem Schreibtisch gewidmet. Er vertrat Keller, der zwischen zwei Kongressreisen wieder vom klinischen Dienst beurlaubt worden war, um sich »der Etablierung eines ausgesprochen aussichtsreichen Mausmodells für Depressionen zu widmen, um das uns internationale Forschungseinrichtungen noch beneiden werden«, wie der Direktor Blankenburg mittels Aktennotiz hatte wissen lassen. Sollte Keller doch seine kastrierten Mäuse mit Östrogen füttern und ihre Schreckhaftigkeit testen.
Blankenburgs halb griechische, halb bayerische Sekretärin Olympia hatte ihn mit Kaffee und der Post versorgt. Ein knappes Dutzend Werbeaussendungen wanderte in den Müll. Blankenburg war offensichtlich mittlerweile auch auf die Mailinglisten psychiatrieferner Anbieter gerutscht und erhielt Hochglanzprospekte für Venenmittel, Hauterkrankungen und Prostataleiden. Eine Fachzeitschrift, »Der Psychiater«, legte er zur Seite, um sie später zu lesen. Er warf einen kurzen Blick hinein. Ganz vorne war gleich ein Beitrag von Keller und Holzbrunner über die neuen Chancen von Antidepressiva, die Stressreaktionen bei Nagern blockierten. Ohne Zweifel ein großer Durchbruch der Rattenpsychiatrie. Hinten folgte noch eine Übersichtsarbeit über die männliche Depression – solche Themen standen aktuell ganz hoch im Kurs – und die Selbstmordrate bei unbehandelten Angsterkrankungen.
In einen anderen Stapel wanderten die in immer kürzeren Abständen kommenden Anfragen der Krankenkassen, warum dieser oder jener Patient noch in der Klinik sei. Bitte um ausführliche Stellungnahme bis übermorgen. Eigentlich bis gestern. Die Zeit, die für die Beantwortung dieser Anfragen nötig war, überstieg schon lange die Zeit, die noch für Gespräche mit dem Patienten übrigblieb. Und es würde noch schlimmer werden. Das Klinikum hatte für einen sündhaft teuren Betrag, über den man nur hinter vorgehaltener Hand sprach und der in keiner der Hochglanzaussendungen Erwähnung fand, eine international renommierte Wirtschaftsprüfergesellschaft engagiert, die vor Kurzem noch bei einigen mittlerweile bankrotten Großbanken tätig gewesen war und nun nach weiteren Einsparmöglichkeiten bei Kliniken suchen sollte. Das Ganze lief unter dem Zauberwort Qualitätssicherungsprogramm 2011. Beim Essen waren keine weiteren Einsparungen möglich, hier war schon der billigste Anbieter genommen und die eigene Klinikküche geschlossen worden, was zu zahlreichen Beschwerden geführt hatte. Das unnötig fette, schon frühvormittags gekochte und gelieferte Essen hatte bei unzähligen Patienten zu Magenproblemen und Verstopfungen geführt hatte, die oft fälschlich immer nur als Begleitsymptome einer Depression und Nebenwirkungen der Medikamente, die zu ihrer Behandlung eingesetzt wurden, angesehen wurden. Die Wochenendvisite bestand zum Großteil aus dem Verordnen von Abführmitteln. Noch mehr sparen konnte man hier nur, wenn man auf Kellers Labormäuse als Tellergericht zurückgreifen würde. Bei artgerechter Haltung sollten sie sich nach Erkenntnissen Blankenburgs rasch vermehren, wahrscheinlich würde der Fachkollege den Schwund gar nicht bemerken. Auch die immer noch zu langen Liegezeiten der Patienten in der Klinik ließen sich so verbessern. Im Businessjargon der Wirtschaftsprüfer eine Win-win-Situation. Nein, gespart würde sicher nur weiter am Personal, um wenigstens einen Teil der Kosten für die Wirtschaftsprüfer wieder hereinzuholen. Diese hatten schon bei den Banken ganze Arbeit geleistet, jetzt waren die Kliniken dran.
Schließlich fand sich noch ein dickes Paket. Absender war das örtliche Landgericht. Ohne Zweifel ein Gutachtenauftrag. Er würde sich der Akte später widmen. Es lagen noch drei andere unbearbeitete Anfragen auf seinem Schreibtisch, genauer gesagt in einem Schrank in Olympias kleinem Sekretariat. Da war noch Platz, wie sie kürzlich versichert hatte. Für seinen Schreibtisch galt dies nicht.
Eher lustlos widmete sich Blankenburg der übrigen Post. Das Telefon klingelte. 5523. Ein Anruf aus der Klinik. Er liebte diese Nummer. Sie war sozusagen libidinös besetzt. Corinna Tarow. Eine Psychologin. Eine Kollegin. Seine Geliebte. Eine Beziehung, die nicht gesichert war. Dass sie an der gleichen Wirkungsstätte tätig waren, bedingte zwar einen gemeinsamen beruflichen Resonanzboden, aber übereinstimmende berufliche Interessen waren für eine Liebesbeziehung bei Weitem nicht ausreichend, und Schwächen und Fehler blieben nicht wie sonst nach Büroschluss im Off, sondern lagen dem Partner vor den Füßen.
In den ersten Wochen nach dem spektakulären Ende des Falls Rose Brunner, das ihn fast das Leben gekostet hätte, war ihre Beziehung auf einer Cortisol-Adrenalin-Woge, also in einer Art Rausch getaumelt, angetrieben durch die Erinnerung an die dramatischen Ereignisse, die den Alltag ausgeblendet hatte. Die Wogen hatten sich geglättet. Der Alltag war für Blankenburg seine seit Langem lieblose, aber scheidungsunwillige Ehefrau Vera, die mit dem gemeinsamen Sohn im gemeinsamen Haus geblieben war. Lieber verlassen als geschieden. Gütliche Gespräche seien nicht möglich, hatte Veras äußerst schmallippige Rechtsanwältin mitgeteilt, die leider zu Recht den Ruf einer scharfen Scheidungsanwältin genoss. Schriftlich, mit Einschreiben. Das war der Wellenbrecher, der die Woge gebrochen hatte. Corinna war nicht gerade begeistert. Und Blankenburg, trotz diskreter cholerischer Einsprengsel von eher gutmütigem Naturell, was manchmal auch Unentschlossenheit und Unwillen, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, mit sich brachte, war sich nicht sicher, wie es weitergehen sollte. Ihm graute vor einem Scheidungskrieg, der dennoch unvermeidlich schien. Mindestens drei Jahre lang könne seine Frau das Verfahren verzögern, hatte ein Anwalt, den er schließlich doch aufgesucht hatte, wenig einfühlsam, aber ehrlich mitgeteilt. Du bist doch Gutachter, kennst dich mit Klagen und Prozessen aus, hatte Corinna ihm in einem schwachen, weil zögerlichen Moment an den Kopf geworfen. Ein Argument, das traf und wehtat. Sein Liebes- und Gefühlsleben litt an einem sensiblen Querschnitt, der etwa in Höhe des Bauchnabels verlief. Darunter war alles in Ordnung. Darüber herrschte Aufruhrstimmung und Stress. Der Rest war Kopfschmerzen. Schöne Momente, nicht nur aus dem erotischen Blickwinkel gesehen, mit viel Nähe und Vertrautheit und dann wieder Diskussionen über eine gemeinsame Zukunft, die vielleicht schon begonnen hatte, berufliche Sorgen, Überlegungen, ein drohendes Abstellgleis auszubremsen, aber das hieß Ortswechsel, finanzielle Forderungen, ein Sohn, den, so empfand es Blankenburg, Vera nicht mehr als gemeinsames Kind, sondern als Druckmittel gegen ihn ansah. Wohin waren die ruhigen Tage verschwunden, die früher sein Leben ausgefüllt hatten, das er dann aber genau deswegen, um der Langeweile und lieblosen Sicherheit zu entfliehen, aufgegeben hatte? Es war erstaunlich, wie schnell er nach den Extremerfahrungen des Falls Rose Brunner wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen war, geerdet sozusagen, aber eben nicht allein. Das war auch eine Chance.
»Schon mal aus dem Fenster gesehen?«
Corinnas Stimme klang weich. Sie hatten sich drei Tage nicht gesehen, weil sie einen auswärtigen Vortrag gehalten und danach ihre Eltern besucht hatte, was, zumindest in Hinblick auf ihre Mutter, ein absolut lustlos absolvierter Pflichttermin war. Vor Kurzem hatte sie in Berg am Ostufer des Starnberger Sees eine Dreizimmerwohnung bezogen, mit halben Blick auf den See. Es war offen, ob Blankenburg bald nachziehen würde, auch wenn es von ihrer Seite aus erwünscht war.
»Nein. So viel Zeit war mir heute noch nicht vergönnt.«
»Angeber.«
»Eine nüchterne Bestandsaufnahme. Ich vertrete im Moment wieder Gott und die Welt auf den Stationen.«
»Sicher zum Segen der Patienten.«
»Auf mein Berufsethos ist Verlass.«
»Der Blick aus dem Fenster lohnt sich trotzdem.«
»Welche Jahreszeit haben wir?«
»Sei nicht albern.«
»Na gut, ich werde es riskieren.«
Die Klinik war umgeben von Bettenstationen und Forschungstrakts. Zwei Gärten, die man mit gutwilliger Übertreibung als kleine Parks bezeichnen konnte, lagen wie grüne Inseln zwischen den Gebäuden.
Blankenburg konnte aus seinem Büro im Erdgeschoss des Altbautrakts in den ehemaligen Männergarten blicken. Früher waren in der Klinik sogar die Gärten nach Geschlechtern getrennt gewesen, was man längst aufgegeben hatte, auch auf den Stationen. Irritierend fanden das lediglich die Privatpatienten aus arabischen Ländern, die der »Bavarian International Health Service« vermittelte, ein Premiumpartner unserer Klinik, wie Direktor Holzbrunner vor Kurzem mitgeteilt hatte, und die gerne und bevorzugt aufgenommen wurden. Hier drohten keine Krankenkassenanfragen. Es wurde bar bezahlt. Premiumpartner. Blankenburg wunderte sich, wie rasch das Businessdeutsch der Wirtschaftsprüfer den Klinikalltag erobert hatte. Das Nächste waren Bonusprogramme, sicher nicht für ihn, aber vielleicht für Holzbrunner oder Keller, und vielleicht gab es demnächst auch Treuepunkte für Patienten, die besonders häufig eingewiesen wurden, in Form besseren Essens oder halbjährlicher Chefvisiten oder wenigstens in Form einiger Flugmeilen, die gab es doch heute bei jedem Einkauf, wenn man die richtige Kreditkarte besaß.
Blankenburg sah einen Krokus.
»Oktober.«
»Markus, sei nicht albern.«
»Das gibt sicher schon ein paar Punkte in deinem Demenztest. Du könntest mich noch fragen, was ich gestern gegessen habe, das ist doch auch so eine beliebte Gedächtnisfrage.«
»Nichts unter zweitausend Kalorien, wie ich dich kenne.«
»Es ist Ende Februar. Ein Hauch von Vorfrühling.«
»Dein Glück. Sehen wir uns heute Mittag? Am üblichen Ort?«
Das gemeinsame Mittagessen außerhalb der Klinik war in den letzten Wochen eine noch poröse Tradition geworden, die den langen Arbeitstag erfreulich auflockerte.
»Du hast die Wahl, wohin wir gehen. Bitte nur Lokale vorschlagen, die Hochkalorisches im Angebot haben. So kurz vor den olympischen Winterspielen möchte ich keine Risiken mit meiner Diät mehr eingehen.«
»Ist Binge Eating1 jetzt olympisch?«, fragte Corinna. Für diese Schlagfertigkeit liebte er sie. Nicht nur dafür.
Sie einigten sich schließlich auf einen nahen Italiener, der das Budget nicht zu stark belastete. Um halb eins an der Pforte, ich freue mich auch.
Nachdem er aufgelegt hatte, blickte Olympia durch die Tür. Vorfrühling war gar kein Ausdruck. Sie trug ein schwarzes Minikleid mit ein paar Blumen darauf, die ihr feminines Körperrelief deutlich betonten. Blankenburgs Blick lag allerdings auf ihrem linken Oberarm. Eine farbfrische Schlange war unübersehbar. Für einen Moment wusste er nicht, ob er etwas sagen sollte.
»Ein neues Tattoo?«, fragte er schließlich.
»Sie haben es gleich gesehen, stimmt’s?«, fragte sie stolz.
»Es ist schwer zu ignorieren, Olympia.«
»Ein Freund von mir, eigentlich der Bruder des Bassisten in dieser Band, in der ich gesungen habe, die Lemon Preachers, Sie erinnern sich, der hat nebenbei ein Tätowierstudio in Starnberg, absolut cool, super Preis auch, kann ich nur empfehlen.«
Blankenburg erinnerte sich tatsächlich an die Band. Olympia, deren Interessen auch ganz wesentlich außerhalb der Klinik lagen, was für Blankenburg manchmal lange, mit Demut ertragene Wartezeiten auf seine Diktate beinhaltete, hatte eine gute Stimme. Er und Corinna hatten tatsächlich einen Auftritt der soulig angetönten Rockgruppe auf einem kleinen Amateurfestival besucht, jede Band vier Lieder, mit Olympia als Rampensau, wie Corinna bemerkt hatte. Irgendwie kam ihm das Kleid jetzt doch bekannt vor, er war sich nicht sicher, ob Olympia es nicht bei dem Auftritt getragen hatte. Hätte gepasst, dachte er sich. Die Band, etwa die fünfte, in der Olympia gesungen hatte, hatte sich mittlerweile aufgelöst. Die Freundin des Bassisten war zunehmend eifersüchtig auf die zeitaufwendigen, zum Teil konspirativ anmutenden Proben und die Auftritte und wahrscheinlich auch Olympia geworden, oder war es der Gitarrist gewesen?
Blankenburg fragte sich, wie Olympias Verhältnis zu Hauptkommissar Frank Fels war, seinem unfreiwilligen Partner im Fall Rose Brunner. Sie hatten sich indirekt über ihn kennengelernt und danach ein paar Mal getroffen. Olympia hatte nichts weiter erzählt und Blankenburg hatte nicht gefragt. Er war sich nicht sicher, ob Fels das Tattoo gefallen würde. Olympia, da war er sich sicher, hätte ihn nicht um Erlaubnis gefragt.
1 Binge Eating: Essen großer Mengen, Fressanfälle.
Das Haus lag weit abseits der Landstraße, hinter einer dichten Hecke, umgeben von Pinien. Etwas weiter den Hügel herunter standen einige Olivenbäume. Andere Häuser waren erst in großer Entfernung zu sehen, Bauernhäuser, vielleicht einige Villen, die reichen Florentinern oder Römern gehörten. Oder Deutschen. Es war nicht auszumachen. Paul hatte das Haus perfekt ausgesucht, wenn es überhaupt Paul gewesen war. Wahrscheinlich hatten es seine italienischen Kontaktleute organisiert. Eine kleine Gruppe von Urlaubern fiel hier nicht auf. Eine Urlaubsregion in der beginnenden Saison. Das Haus hatte sechs oder sieben Schlafzimmer, einige davon in einem eher geschmacklosen Anbau, der das ursprüngliche, im typischen Toskana-Stil erbaute Haus erweiterte, und einen großen Keller. Waffen hatte Kinsky hier nicht gesehen. Das musste nichts heißen, es war nicht ungewöhnlich, diese separat aufzubewahren. Kinsky wusste zunächst nur, dass sie etwa eine Woche bleiben sollten. Paul hatte sich für den übernächsten Tag angekündigt.
Die Gruppe umfasste zunächst nur vier weitere Leute, zwei junge italienische Brüder mit Nachnamen Rossi, beide Anfang zwanzig, die alles Organisatorische in der Hand und die Villa hergerichtet hatten, Frauke Beil und Chiara. Sie war geblieben, hielt sich aber zurück. Kinsky kam nicht weiter ins Gespräch mit ihr, versuchte es auch nicht.
Er kannte Frauke seit gemeinsamen Schulzeiten in Starnberg. Irgendwie hatte er fast mit ihr gerechnet, obwohl eine Reihe anderer dafür auch infrage gekommen wären. Der Kreis war nicht groß. Er war mit ihr vor zwei Jahren in Palästina gewesen, in einem Ausbildungslager der Fatah, fast zwei Monate, wo sie unter anderem gelernt hatten, mit Sprengstofftechnik umzugehen. Kinsky war schon davor ein guter Schütze gewesen, sehr sicher auch aus der Distanz. So aufbrausend er sonst häufig war, an der Waffe war er kalt und überlegt. Mit Sprengstoff hatte er dagegen praktisch keine Erfahrung gehabt. Deutete das Erscheinen von Frauke darauf hin, dass ein Sprengstoffattentat geplant war? Oder eine Operation, bei der Sprengstoff gebraucht wurde? Dynamit oder Semtex waren ihm im Kern unsympathisch, man konnte damit nie so genau arbeiten wie mit Pistolen, die Kollateralschäden waren oft groß. Nicht, dass ihn das besonders erschreckt hätte, es war nur nicht seine bevorzugte Waffe. Wenn Kinsky beteiligt war, ging es fast immer um Schusswaffen. Er war der Mann für direkte Aktionen.
Frauke war früher mit einem gebürtigen Palästinenser zusammen gewesen, den sie in Deutschland kennengelernt hatte. Sie hatte deswegen in der Gruppe eine gewisse Sonderrolle gehabt, die sie auch gerne angenommen hatte. Murat war vor wenigen Monaten von den Israelis bei einer Aktion getötet worden, an der ursprünglich auch Kinsky teilnehmen sollte, was sich zerschlagen hatte. Details hatte Kinsky nie erfahren. Seither hatte Kinsky Frauke nur noch ein oder zweimal gesehen, sie hatten lediglich lockeren Kontakt gehalten. Zu einem gemeinsamen Einsatz war es nie gekommen. Sie war wie er erst Anfang zwanzig, aber die letzten Jahre hatten bei ihr deutliche Spuren hinterlassen. Früher schon sehr schlank, wirkte sie jetzt hager, die Linien ihres fein geschnittenen Gesichts waren deutlich schärfer, als Kinsky es in Erinnerung hatte, die dünnen braunen Haare hatte sie achtlos hochgesteckt. Sie wirkte entschlossen, ruhig, abwartend. Erst am zweiten Abend kam er dazu, einige Worte mit ihr zu wechseln. Es war warm, irgendwo hinter den Zypressen zirpten Insekten.
»Weißt du, in welche Richtung es geht?«, fragte er sie so beiläufig wie möglich.
»Du bist also immer noch nicht auf der strategischen Ebene angelangt.« Fraukes Unterton war scharf.
Kinsky war verärgert. Offensichtlich war er für sie nur der Mann am Abzug.
»Es gibt keine Aktion ohne meine Zustimmung. Das war schon immer so. Andere, gerade die Leute mit den Auslandskontakten, machen sich dagegen nicht gerne die Finger schmutzig. Anders ausgedrückt, sie haben mitunter Schiss.«
»Wenn du von Paul reden solltest …«
»Ich rede weder von Paul noch von sonst wem. Fakt ist, ohne Leute wie mich würde er ganz brav Flugblätter verteilen oder den gemütlichen Gang durch die Institutionen antreten. Mit Lehrergehalt und ganz viel Urlaub.«
Frauke warf ihm einen giftigen Blick zu. »Tolle Geschichte. Wo warst du denn, als man dich brauchte?«
Frauke gab Kinsky immer noch die Schuld an Murats Tod. Der Vorwurf war lächerlich, das wusste er. Er traf ihn nicht, aber es war typisch, dachte er. Frauen hatten manchmal absurde romantische Gefühle, auch wenn sie sich im bewaffneten Kampf befanden. Frauke konnte ein Problem werden, ganz klar. Er musste sie im Auge behalten. Sie war unberechenbar.
»Du weißt, dass das Quatsch ist. Murats Tod tut mir leid, aber im bewaffneten Kampf muss man damit rechnen. Lass uns die nächste Aktion so gut wie möglich vorbereiten, damit wir kein unnötiges Risiko eingehen.«
Bevor Frauke antworten konnte, ließ er sie stehen und ging in die Villa zurück.
Später rief Chiara alle zusammen. Sie schien auf einmal gut gelaunt, fast aufgekratzt, ja unnatürlich fröhlich, fand Kinsky.
»Es gibt Essen mit Überraschung.«
Sie fuhren sie zu fünft im engen Fiat Richtung Siena. Kaum zwanzig Minuten später hielten sie vor einem an der Landstraße gelegenen Haus, das sich als kleines Lokal mit gerade fünf Tischen entpuppte. Chiara stellte ihnen den Wirt und Besitzer Marco vor, ein mittelgroßer, hagerer Italiener, der sich bald zurückzog. Kinsky schätzte ihn auf Anfang vierzig. Es gab nur wenig Auswahl bei den Gerichten. Kinsky aß mit gutem Appetit Spaghetti mit unbekannten Pilzen und danach Kalbsleber, dasselbe wie die Brüder Rossi, während Chiara Fisch bestellt hatte. Frauke begnügte sich mit einem reizlos wirkenden Reisgericht, das man nur mit gutem Willen als Risotto bezeichnen konnte, und Weißbrot. Kinsky musste unwillkürlich an eine muslimische Fastenspeise denken, zumal sie als Einzige keinen Wein trank, sondern Wasser. Aber er war klug genug, seine Gedanken für sich zu behalten. Weiterer Ärger mit Frauke war unerwünscht.
Die Atmosphäre war mehr oder weniger gelöst. Sie sprachen über alles Mögliche, nicht aber über Politik und schon gar nicht über das, was vor ihnen lag. Nach dem Essen nahm Chiara Kinsky beiseite.
»Marco möchte dir noch den Weinkeller zeigen.«
»Haben wir nicht genug getrunken?«
»Er ist sehenswert.«
Sie klang sehr bestimmt. Kinsky war schon in den letzten Tagen aufgefallen, wie selbstsicher Chiara aufgetreten war – kein Kurier, sondern jemand, der Verantwortung übernehmen konnte. Er war sich fast sicher, dass sie an der Aktion teilnehmen würde.
Sie folgten Marco durch die Küche, ohne dass einer der beiden Köche sie auch nur eines Blickes gewürdigt hätte. Vor einer sehr engen Treppe, die direkt in den Fels geschlagen zu sein schien, blieben sie stehen.
»Der Keller ist über zweitausend Jahre alt, aus etruskischer Zeit«, erklärte Marco. »Man hat ihn zufällig entdeckt, als man das Haus vor achtzig Jahren gebaut hat. Die Wände sind völlig intakt, wir nutzen ihn als Weinkeller.«
Marco ging voran, Chiara und Kinsky folgten dicht hinter ihm. Er spürte ihre Wärme, sie berührten sich auf der engen Treppe fast zwangsläufig mehrfach beim Heruntersteigen. Sie erreichten eine schmale steinerne Kurve mit unebenen Stufen, die auf den ersten Blick, im Halbdunkel endete. Es brannten nur wenige Lampen. Der Keller bestand aus drei ineinander übergehenden Gewölben. Überall in die steinernen Wände waren Nischen eingelassen
»Marco ist berühmt für seine Weinsammlung«, sagte Chiara. »Schau nach.«
Die Nischen hatten einen sandigen Boden. Kinsky griff wahllos in eine von ihnen.
»Hoffentlich ist der Wein nicht so alt wie der Keller«, sagte er. Die Rotweinflasche hatte ein ihm unbekanntes Etikett. Marco blinzelte über seine Schulter und murmelte etwas auf Italienisch, das Chiara übersetzte:
»Nicht schlecht, Apulien, aber die besseren Sachen sind hinten.«
Sie gingen in den letzten Raum. Marco nickte ihm zu und deutete auf einige kaum sichtbare Nischen. Kinsky griff hinein. Er spürte das kühle Glas der Flaschen. Er griff tiefer hinein und berührte Metall, das ihn sofort elektrisierte. Sein Arm glitt bis zum Schultergelenk hinein. Kein Zweifel. Er zog eine Maschinenpistole heraus.
»Eine noch bessere Wahl«, meinte Chiara.
»Müssen Italiener aus allem ein Theater machen? Aber das Versteck ist erstklassig«, gab er zu.
Kinsky betrachtete die Waffe. Auch im Halbdunkel konnte er erkennen, dass es ein deutsches Fabrikat war, Heckler & Koch, neustes Modell. Er griff wieder hinein. Er konnte mindestens sechs weitere Waffen fühlen. In der Nachbarnische lagen hinter den Flaschen russische Handgranaten. Dazu mehrere Pistolen.
»Kannst du mit der Maschinenpistole umgehen?«, fragte Chiara.
»Dumme Frage. Ich bin an das Modell gewöhnt. Munition?« »Reichlich vorhanden, mehr, als wir brauchen. Wir werden die Waffen erst holen, wenn es losgeht. Ich wollte nur, dass du weißt, wo sie sind und was wir zur Verfügung haben.«
Und ich weiß jetzt, wer schießen soll, dachte Kinsky. Das war ohnehin klar gewesen, zumindest für ihn.
»Worum geht es?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte Chiara.
Kinsky war sich nicht sicher, ob sie log, aber er vermutete es. Ihr Nachsatz bestärkte ihn in seinem Zweifel.
»Du hast wahrscheinlich nur einen Versuch.«
»Mehr brauche ich nicht«, sagte er. Das war keine Lüge. Er war kein besserer Schütze als einige andere, die dieselbe Ausbildung gemacht hatten, aber wenn die Waffe in seiner Hand lag, legte sich ihre Kälte auf seine Hand und sein Herz. Keine Nervosität, kein Zittern. Kinsky und die Waffe waren dann eins.
Auf dem Rückweg nach oben griff er sich zwei Flaschen Rotwein.
»Das ist unauffälliger«, sagte er.
Beim Hochgehen ließ er einige Sekunden seine linke Hand auf Chiaras Hüfte liegen.
Sie sagte nichts, drehte sich nicht einmal um.