Natur: Der Teil der Wirklichkeit, der nicht vom Menschen bearbeitet ist, sondern durch organische Entwicklung entsteht; das Gegenteil von Kultur.

Aus dem Norwegischen Nationallexikon

Eine Erkundung im Wald

Ausgedehntere Walderkundungen werden heutzutage Expeditionen genannt. Immer mehr Menschen begeben sich auf Expeditionen. Abenteurer, die noch zu Beginn der 1990er-Jahre auszogen, berichten, dass es damals anders war als heute. Schon von der bloßen Idee einer Expedition zu reden konnte dazu führen, dass man auf den Titelseiten der Zeitungen landete. Vom Sofa aus verfolgte das Publikum das Geschehen, und bei ihrer Rückkehr – falls sie zurückkehrten – wurden die Abenteurer wie Halbgötter verehrt. Heutzutage werden sie kaum mehr interviewt, sondern müssen einen Blog über ihre Erlebnisse schreiben, der wiederum mit Hunderten ähnlicher Blogs konkurrieren soll.

Noch immer umweht den Begriff »Expedition« der Hauch des Großen und Wichtigen. Er weckt Assoziationen zu dem Wort »Auftrag«, dem englischen mission. Außerdem haftet ihm etwas Uneigennütziges an, eine Andeutung, die besagt, dass so etwas stellvertretend für andere durchgeführt wird, für eine gute Sache oder zum Wohl der Menschheit.

Darwin begab sich im Namen der Wissenschaft auf Expeditionen. Amundsen wollte Orte sehen, die niemand anderer zuvor gesehen hatte. Sie alle kamen mit mehr oder weniger nützlichen Erkenntnissen zurück. In heutiger Zeit sind dagegen alle Orte längst entdeckt. Unser Planet ist bis auf den letzten Quadratzentimeter genau erforscht, und nur wenige Expeditionen dienen einem anderen Zweck, als bei den Teilnehmern ein Gefühl der persönlichen Befriedigung zu erzeugen.

Expeditionen haben immer ein Ziel. Sie sind davon gekennzeichnet, ja geradezu dadurch definiert, dass sie von Menschen durchgeführt werden, die genau wissen, wohin sie wollen. Sie starten bei A und sollen sich nach B vorarbeiten. Zwischen A und B werden sie auf unzählige Hindernisse stoßen. Hunger und Kälte, gefährliche Tiere, unbeherrschbare Naturkräfte. Am liebsten transportieren sie ihren Proviant ohne die Hilfe anderer, auf einem Schlitten oder im Rucksack. Außerdem ist die Zeit ein wichtiger Faktor. Erreicht eine Expedition nicht das vorab festgelegte Ziel, gilt sie als gescheitert. Erreicht sie das Ziel, hat aber mehr Zeit benötigt als geplant, wird sie in gewisser Weise auch als gescheitert betrachtet.

Die australischen Ureinwohner, die Aborigines, verwenden einen Begriff, der die diametral entgegengesetzte Form einer Expedition beschreibt: den Walkabout. Wobei dieses Wort gar nicht von den Aborigines selbst stammt, sondern eine Übersetzung der Imperialisten ist. Es beschreibt, vereinfacht ausgedrückt, eine Wanderung in den Busch, die kein bestimmtes äußeres Ziel hat, sich über einen undefinierten Zeitraum erstreckt und eine vorher nicht festgelegte Route umfasst. Ins Deutsche ließe sich so etwas am besten mit »im Wald herumstreifen« übersetzen. Ein Walkabout ist die Antithese zur westlichen Expedition, weder zeitlich noch räumlich hat er eine Richtung. Und genau dieses Konzept spricht mich ungeheuer an.

Als ich klein war, wollte ich immer in die Natur hinaus. Soweit ich mich erinnere, war alles, was ich unternahm, von der Natur geprägt. Sie war immer vorhanden, sogar in den kleinsten Dingen. In den Mückenstichen, die mich in hellen Sommernächten nicht schlafen ließen. In dem intensiven Geruch nach Fäulnis und Verfall während der feuchten Herbsttage. In der stummen Verwunderung darüber, dass meine Zunge an eisigen Metallpfosten festklebte, und in dem Schock, als ich begriff, dass ich sie nicht wieder losbekam. Ich war in der Natur, auf eine Weise, wie es vielleicht nur ein Kind sein kann.

Die Jahre vergingen. Ich träumte davon, ein berühmter Forschungsreisender zu werden, ein harter und wortkarger Typ, der Erste, der seinen Fuß auf einen weißen Fleck auf der Landkarte setzte. Ich trieb mich weiterhin in der Natur herum. Ich ging angeln. Ich schlief im Zelt. Ich unternahm Bootsausflüge und kletterte in den Bergen. Das alles machte ich und noch mehr, als ich älter wurde. Ich sah die Wüste und den Regenwald, Vulkane und Lagunen. Ich sah Felsmassive, die so mächtig waren, dass mir der Atem stockte. Dennoch hinterließen diese Naturerlebnisse nicht denselben Eindruck bei mir wie in meiner Kindheit. Sie blieben nicht auf dieselbe Weise in meiner Erinnerung haften. Wie ich herausfand, lag das daran, dass es einen Abstand zwischen mir und dieser Natur gab. Ich stand außerhalb von ihr und betrachtete sie, die eiskalten Berggipfel und die dampfenden Regenwälder. Ich war ein Gast. Wir waren nicht mehr so miteinander verbunden wie in meiner Kindheit.

Als ich klein war, bin ich nie weit gereist. Gleichwohl war jeder Tag eine neue Expedition. Ich befand mich ausschließlich in der Natur, die ich als meine eigene verstand: ein norwegischer Mischwald im Flachland, Fichtenwälder und Forstwege, winzige Vögel in den Laubbäumen, Kiefern auf den Höhenzügen, Sümpfe und Seen, die Schwarzdrossel im Frühjahr, die Mücken an milden Sommerabenden und die Forellen, die ständig an die Wasseroberfläche schnellten. Ich vermisste das Gefühl, in der Natur zu sein, weil ich sie einfach als so bedeutungsvoll erlebt hatte. Dass alle meine eindringlichsten Erinnerungen von der Natur handelten, begriff ich als wichtiges Zeichen.

Heute bin ich erwachsen. Längst habe ich mich an ein Leben gewöhnt, in dem ich viel seltener im Wald bin als in meiner Kindheit. Über lange Zeiträume habe ich nicht ein einziges Mal an den Wald gedacht, weil es immer etwas Wichtigeres gibt. Nicht nur den Job. Menschen und Dinge wollen irgendwohin gebracht oder von irgendwo abgeholt werden, es gibt Geburtstage und Konferenzen, Jubiläumsfeiern und Hilfsaktionen in der Nachbarschaft, Dinge sind instand zu halten und Pläne zu schmieden, Berichte abzugeben und Freunde einzuladen. Meist war ich als freiberuflicher Autor tätig. Die letzten sieben oder acht Jahre habe ich in meinem Büro zu Hause gearbeitet, oder ich war im Vaterschaftsurlaub. Im seligen Durcheinander von Arbeit und häuslichem Leben bin ich wie eine schwergewichtige Fruchtbarkeitsgöttin durch die Küche geschwankt, habe Telefonate geführt, Haferbrei gekocht und meine Kinder auf dem Arm herumgetragen.

Es war ein hervorragendes Leben. Ich habe mich darin wohlgefühlt, es passte zu mir. Aber mir fehlte auch etwas. Und der Wald war zu einem Ort geworden, der der Vergangenheit angehörte.

Unsere Welt besteht im Großen und Ganzen aus zwei verschiedenen Bestandteilen: dem von Menschen geschaffenen Teil und dem, der nicht unseres Ursprungs ist: Kultur und Natur. Auf der einen Seite das, was Technik, Industrie und andere intellektuelle Leistungen hervorgebracht haben. Und auf der anderen: das Organische, das aus sich selbst heraus entstanden ist, sich von allein weiterentwickelt und am Leben erhält, ohne Zutun des Menschen. Befindest du dich in dem einen Element, sehnst du dich nach dem anderen.

Die Vorstellung von der Natur als Quelle der Harmonie und Klarheit ist vermutlich so alt wie die Zivilisation selbst. In vielerlei Hinsicht ist sie banal. Sehnsucht nach der Stille des Waldes zu empfinden setzt voraus, dass wir eine Trennung zwischen der Natur und uns selbst erleben, dass die Natur etwas anderes ist als wir, dass wir heutzutage nicht mehr ein Teil von ihr sind. Sogenannten Naturvölkern wird diese Auffassung wohl eher fremd sein.

Das höchste Ziel der vom Menschen geschaffenen Kultur besteht darin, ihm eine physische und mentale Komfortzone bereitzustellen. Sie soll uns geregelten Zugang zu Nahrung und Wärme gewähren, uns aber auch Sicherheit, Unterhaltung und geistige Anregung bieten.

Kultur sieht so aus: eine Wohnung, ein Sportstudio, ein Kino, eine Bibliothek, eine Kaffeebar, ein Restaurant und eine Kneipe – damit wäre das meiste abgedeckt. Dennoch begeben wir uns oft in die Natur, wenn wir das Bedürfnis danach verspüren, uns abzukoppeln. Warum? Weil der Natur Eigenschaften nachgesagt werden, die im Gegensatz zu dem stehen, was Kultur produziert.

Verursacht Kultur Stress, bietet Natur Ruhe.

Ruft Kultur Engstirnigkeit hervor, verschafft Natur einen Überblick.

Macht Kultur die Menschen einsam, werden sie durch die Natur befreit.

Diese und viele andere Vorstellungen haben sich so in unserem Bewusstsein festgesetzt, dass sie zu einem Teil unseres kollektiven Naturverständnisses geworden sind. Wir leben in einer Zeit, in der ein Ausflug in den Wald als Heilmittel für mehr oder weniger jedes Leiden verabreicht wird. Wir glauben an den lindernden Einfluss der Natur; an ihre Fähigkeit zu heilen, uns auf null zurückzusetzen und uns dem Menschen näherzubringen, der wir ursprünglich waren oder zu sein bestimmt sind.

Ich bin keine Ausnahme. Mein ganzes Leben lang habe ich mich der romantischen Vorstellung von einem einsamen Leben im Wald hingegeben, obgleich nur sehr wenige der tatsächlich gemachten Erfahrungen versprachen, dass dieses Leben so frei und angenehm sein würde, wie ich es gern hätte. Ganz im Gegenteil, erstaunlich oft war es unangenehm, und nicht selten erschien es mir völlig sinnlos. Obwohl die Erfahrung etwas anderes lehrt, existieren diese romantischen Vorstellungen weiterhin. Bei mir und auch bei vielen anderen. Während die Kultur zum Gegenstand präziser Analysen und niemals endender kritischer Debatten gemacht wird, genießt die Natur geradezu einhellige Verehrung. Wir schreiben ihr viele Eigenschaften zu, die sie möglicherweise gar nicht hat. Warum tun wir das? Wozu soll das gut sein? Und was ist eigentlich die Natur der Natur?

Als mir diese Gedanken zum ersten Mal kamen, war es Sommer. Die ganze Familie verbrachte vier Wochen in unserer Ferienhütte, und mit jedem Tag fühlte ich mich besser. Es war ein einfaches und praktisches Dasein, ein Leben, in dem die Natur jederzeit bestimmte, was wir taten und was wir nicht taten. Wetterverhältnisse und Windrichtung. Temperatur. Fischvorkommen. Beeren und Pilze. Die Gemüsesorten, die wir pflanzten. Mücken am Abend, Wespen am Nachmittag. Als sich die Ferien dem Ende zuneigten, begann eine Idee Gestalt anzunehmen.

Was, wenn ich einfach in den Wald ginge?

Was, wenn ich mich für ein paar Tage aus meinem Arbeitszimmer abmeldete, das Telefon ausschaltete und auf alles andere pfiff? Und wie wäre es, wenn ich das im ganzen kommenden Jahr machte, sodass ich dem Lauf der Natur durch Winter, Frühling, Sommer und Herbst folgen könnte, bis es erneut Winter werden würde?

Warum nicht ernst machen und den Traum von einer Expedition Wirklichkeit werden lassen? Es müsste ja keine große Expedition sein. Könnte es nicht genauso gut eine kleine sein?

Es muss doch möglich sein, allem für eine Weile zu entfliehen. Diese Idee drängte sich geradezu auf, denn überall in meiner norwegischen Heimat gibt es Wälder. Und wenn man so eine Eingebung erst einmal hat, ist alles gar nicht mehr so schwierig. Genau dieser Gedanke erfasste mich. Nachdem er sich erst einmal bei mir eingenistet hatte, ließ er mich nicht mehr los. Er wuchs heran wie eine Nebelbank am Horizont, immer öfter beschäftigte ich mich damit. Bevor ich abends einschlief und sobald ich am Morgen erwachte.

Ein Jahr im Wald, dachte ich, jeweils einen Tag im Monat, zwölf Nächte in der Nordmarka. Ich flüsterte den Gedanken vor mich hin, als sei er so unglaublich oder riskant, dass es gefährlich war, ihn laut auszusprechen. Ich erzählte auch niemandem davon, weil ich Angst davor hatte, wie die Leute reagieren würden. Was willst du denn da machen?, würden sie vielleicht fragen. Warum? Was soll das Ganze?

Nicht jeder kann die Pole besuchen oder den Gipfel des Mount Everest erklimmen. Ich stand in Lohn und Brot, hatte Kinder und eine Lebensgefährtin. Ich konnte nicht lange wegbleiben, und ich wollte auch nicht lange wegbleiben. Daher beschloss ich, mir meine eigene Expedition maßzuschneidern, eine Mikroexpedition, die zu meinen persönlichen Ambitionen und dem äußeren Rahmen, in dem sich mein Leben bewegte, passte. In jedem der kommenden zwölf Monate wollte ich mir einen Tag freinehmen. Ich würde bis zur Mittagspause arbeiten und dann in den Wald hinausziehen. Am Morgen des folgenden Tages wäre ich wieder zurück in meinem Arbeitszimmer.

Das war nicht viel, aber es war mehr als nichts. Ich hoffte, dass es mir die Möglichkeit verschaffen würde, die Natur einigermaßen ungestört und aus nächster Nähe zu beobachten. Dass ich Kälte und Wärme spüren, die unmerklichen Übergänge der Jahreszeiten und das Wechselspiel des Lichts sehen könnte. In den Übergängen erlebt man die Natur am deutlichsten, doch können diese einem leicht entgehen, da sie nur einen kurzen Augenblick währen. Eine milde Brise am Morgen, die den Frühling erahnen lässt. Ein Windstoß im trockenen Laub, der vom nahenden Herbst kündet. Wenn du mit dringenden Arbeiten beschäftigt bist oder gerade schwere Einkaufstüten aus dem Laden nach Hause trägst, wirst du diese Augenblicke mit Sicherheit verpassen. Sie erfordern Ruhe und Aufmerksamkeit, eine auf die Umgebung gerichtete Offenheit, die gestresste Menschen nicht haben. Jedenfalls ich nicht. Und ich bin oft gestresst.

Als die Sommerferien vorüber waren und wir uns wieder in der Stadt befanden, stellte ich die Idee meiner Familie vor. Dabei versuchte ich, deutlich und entschieden aufzutreten. Ich sagte, ich wolle im kommenden Jahr einen Tag und eine Nacht in jedem Monat allein im Wald verbringen, und dass dies etwas sei, womit sich alle arrangieren müssten. Ich erklärte, wie wichtig das für mich sei und wie das Ganze ablaufen solle. Zunächst reagierten sie verwundert und fragten, was ich denn da draußen machen wolle. Ich erwiderte, dass ich dort überhaupt nichts tun wolle außer herumstreifen, und ich sah ihnen an, dass sie diese Antwort ganz und gar nicht beruhigte.

Ich versicherte ihnen, dass wirklich nichts anderes dahinterstecke als mein Wunsch, öfter im Wald zu sein. »Es hat nichts mit euch zu tun«, sagte ich, und nach einer Weile schienen sie sich damit abzufinden.

Der Spätsommer ging in den Herbst über. Ich begann mit meiner Planung. Allzu viel gab es nicht zu tun. Weder musste ich mit Autoreifen im Schlepptau steile Berghänge erklimmen, noch musste ich mir meinen eigenen gefriergetrockneten Proviant herstellen. Ich musste lediglich meine Wanderausrüstung überprüfen und mir ein paar Dinge aufschreiben, die ich vermutlich brauchen würde. Am späten Abend studierte ich Landkarten, wog verschiedene Möglichkeiten ab, verwarf eine Idee und hatte sogleich eine andere. Mir war klar, dass ich nicht weit wegfahren konnte, denn dazu hatte ich keine Zeit. Zu Beginn empfand ich das als Nachteil, doch im Laufe der Wochen wurde mir klar, dass das überhaupt keine Rolle spielte. Weit weg oder in der Nähe, Wildnis oder Wandergebiet. Wenn du an einem späten Januarabend allein im Wald in einem Zelt sitzt, fühlst du dich wie der letzte Mensch auf Erden, egal ob die nächste Ansiedlung eine Dreiviertelstunde oder drei Tagesreisen entfernt ist.

Genau das, dachte ich schließlich, ist der Kern meiner Expedition. Das Jahr im Wald würde eine Expedition sein, bei der alles klein war. Die Erlebnisse, die Entfernungen und die Aufenthaltsdauer im Wald – nichts sollte so groß sein, dass ich oder jemand anderer, der sich gern im Wald aufhielt, das Gefühl bekam, es wäre nicht zu bewältigen.

Ich schrieb die Stichwörter »Mikroexpedition« und »letzter Mensch auf Erden« in mein Notizbuch und studierte wieder die Karte. Schließlich fiel meine Wahl auf einen kleinen Waldsee, eine Gehstunde vom Parkplatz entfernt. Ich war früher schon einmal da gewesen, hatte Ausschau gehalten, ob dort vielleicht die Fische an die Oberfläche kamen, nachdem ich in den bekannteren Seen der Gegend nichts gefangen hatte.

Dieser See ist ganz typisch für die Region und auch für die meisten anderen Mischwälder im norwegischen Flachland. Auf der einen Seite wird er von dunklem Fichtenwald gesäumt, auf der anderen Seite ist die Vegetation lichter. Eine Mischung aus hohen, schmalen Kiefern und Birken. Offene Heidelandschaften und Moore. Hier und da eine glatt geschliffene Felskuppe. Der See ist von Moorlöchern und schwimmenden Torfinseln umgeben. Im Sommer und Herbst wächst dort Wollgras, mitunter findet man Moltebeeren. Etwas weiter abseits, da wo der Boden fester ist, gibt es auch Heidelbeeren. Forellen kommen ebenfalls vor, nicht viele und auch keine großen, aber es gibt sie. Und in den kleinen Buchten blühen die Seerosen.

Der Waldsee war perfekt für meine Mikroexpedition. Ich zeichnete ein Kreuzchen auf die Karte und beschloss, die meisten meiner zwölf Nächte genau dort zu verbringen.

Das Ziel eines Menschen, der sich auf eine Expedition begibt, ist wunderbar konkret. Es lässt sich geradezu mathematisch beschreiben. Man befindet sich an einem bestimmten Ort und soll zum nächsten vordringen. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade; prinzipiell ist das alles, wonach man sich richten muss. Ich behaupte nicht, dass Expeditionen einfach sind, aber die damit verbundene Dramaturgie gleicht der eines Kinderbuchs.

So gesehen würde das Jahr im Wald wie eine Art Anti-Expedition wirken. Ich würde immer wieder dieselben, noch dazu leicht zugänglichen Orte besuchen, die schon viele andere vor mir gesehen hatten und für die sich eigentlich niemand so recht interessierte. Schritt der Expeditionsteilnehmer eine gerade Linie ab, so wollte ich im Kreis gehen. Auch verfolgte ich keine hehren Ziele, derer ich mich rühmen konnte. Ich würde das weder für die Menschheit noch für die Wissenschaft tun, ja nicht einmal für meine Liebsten. Ich würde das einzig und allein für mich selbst tun. Dennoch war ich davon überzeugt, dass bei dieser Expedition etwas herauskommen würde, das auch für andere bedeutsam wäre.

Ich entschied mich für die Nordmarka, nördlich von Oslo, weil dieses Waldgebiet meinem Wohnort am nächsten liegt. Es ist zwar nicht der Wald meiner Kindheit, sieht ihm aber zum Verwechseln ähnlich. Für mich war es gar nicht wichtig, neue Orte zu entdecken. Im Gegenteil. Ich wollte immer wieder denselben Ort aufsuchen, weil ich wusste, dass er jedes Mal anders auf mich wirken würde, sofern ich mir die Mühe machte, genau hinzusehen.

Der Wald liegt nur eine kurze Fahrstrecke von meinem Zuhause entfernt, wie das auch für viele andere Menschen in diesem Land der Fall ist. Ein Privileg, über das wir hier nur selten nachdenken, denn überall gibt es Wälder, große und kleine, dichte und offene, unberührte und kultivierte; man muss einfach nur hineingehen.

Ich betrachtete diese zwölf Tage als eine Art persönliches Naturreservat, ein geschütztes Gebiet in meinem Leben, das zwar nicht hinsichtlich seiner Ausdehnung, aber in Bezug auf die Zeit festgelegt war. Ein temporäres Reservat. Ich ging davon aus, dass die Grenzen dieses Reservats permanent von kulturellen Einflüssen bedroht werden würden, war aber fest entschlossen, diese Grenzen zu verteidigen.

Das war mein Plan.

An einem Donnerstag im Januar, zur Mittagszeit, schaltete ich den Computer aus, packte meinen Rucksack und begab mich auf die erste Etappe meiner Expedition.

Januar

Das Geräusch der Stille

Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, dass die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien (…) Die unerbittliche, unerforschliche Weisheit des Ewigen lachte da über die Nutzlosigkeit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens. [a]

Jack London, Wolfsblut

Zweite Januarhälfte. Ein Donnerstag, kurz nach zwölf. Eigentlich ein gewöhnlicher Arbeitstag, allerdings nicht für mich. Ich lief über einen von schneebedeckten Fichten gesäumten Forstweg. Die Schneewälle am Rand waren meterhoch. Der Schnee leuchtete weiß. Ich begegnete niemandem.

Der Weg führte die ganze Zeit bergauf – so ist die Nordmarka. Willst du in diesen Wald hinein, musst du in den meisten Fällen darauf gefasst sein, die Wanderung mit einem Aufstieg zu beginnen. Und den bewältigt man am besten, indem man ihn als Investition in den Rückweg betrachtet.

Ich hatte einen großen Rucksack auf dem Rücken, einen der vielen Ausrüstungsgegenstände, die ich im Laufe des Herbstes angeschafft hatte. Er enthielt allerlei Dinge, die ich vermutlich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden brauchen würde. Einige davon mehr, andere weniger. Natürlich Schlafsack, Liegematte und Zelt, aber auch ein großes Messer, viel Proviant, verschiedenste Kleidungsstücke, Stirnlampe und Gaskocher, ein Buch, ein Handtuch, Kamera und Kamerastativ, Fausthandschuhe und Zahnbürste, Sitzunterlage und Kaffeetopf.

Der Rucksack war furchtbar schwer und knirschte bei jedem Schritt. An den Füßen trug ich Winterstiefel, die laut Verkäufer sogar beim berühmten Hunderennen »Iditarod« in Alaska benutzt würden. Auch die Stiefel knirschten. Knarz-knarz, ertönte es jedes Mal, wenn sie auf den trockenen Schnee trafen.

Ich hatte mir viel erwartet von den Gedanken, die ich auf diesen Wanderungen vermutlich denken würde. Ich war überzeugt gewesen, dass es große Gedanken sein würden, größer als die, die mir in meinem Arbeitszimmer kamen. Stattdessen lief ich nun geradeaus und lauschte den Geräuschen von Rucksack und Stiefeln, nicht ein einziger Gedanke wollte sich einstellen. Ich hörte meinen Atem und meinen Puls, es entstand eine Art Takt, der mich an die Rhythmen von Straßenmusikern erinnerte, die manchmal in den Großstädten auftauchen; Musiker, die vierzehn Instrumente gleichzeitig spielen, von denen zehn oder zwölf selbst gebaut sind.

Ich war ein Orchester im Wald.

Der Forstweg beschrieb eine scharfe Linkskurve und flachte dann ab. Ich blieb stehen, beugte mich weit nach hinten und ließ den Rucksack in den Schnee plumpsen. Nachdem ich meine Wasserflasche hervorgekramt hatte, setzte ich mich auf den Rucksack. Das Knirschen verstummte. Es wurde ganz still.

Während ich trank, beschlich mich zum ersten Mal ein Gedanke, der auf allen meinen Wanderungen im Laufe dieses Jahres regelmäßig wiederkehren sollte: Die Vorstellung von der Natur als Arena der großen Erkenntnisse ist eine romantische Erfindung. Vielleicht wird der Kopf gar nicht von großen Gedanken erfüllt, wenn man allein im Wald herumstreift? Ist womöglich das Gegenteil der Fall? Wird er geleert, und empfinden wir genau das als so befreiend? Und wenn dann doch einmal Gedanken entstehen, sind sie stets von einfachster Art: warm, kalt. Leicht, schwer. Fröhlich, traurig. Hungrig, satt. Müde, wach.

Ich blieb auf meinem Rucksack sitzen. In den letzten Monaten hatte ich viel Zeit damit verbracht, an genau diesen Augenblick und den sich anschließenden Tag zu denken. Ich hatte versucht, mir vorzustellen, was geschehen würde. Kälte und Dunkelheit. Einsamkeit im Wald. Ich bin viel im Wald gewesen, auch allein. Aber nicht auf diese Weise, nicht über Nacht, nicht im Januar. Dennoch fühlte ich mich gut vorbereitet. Dass ich die mehrstimmige Geräuschkulisse von Rucksack und Stiefeln nicht vorhergesehen hatte, machte ich mir nicht zum Vorwurf. Es gibt Grenzen der Selbstdisziplin, sogar für jemanden, der sich auf einer Expedition befindet.

Ich legte die Wasserflasche in den Rucksack zurück und hievte ihn mir mit einiger Mühe wieder auf den Rücken. Meine Pause hatte vielleicht zehn Minuten gedauert. Als ich mich hingesetzt hatte, war ich schweißnass gewesen. Jetzt war mir eiskalt. Ich ging weiter, und sofort war das Knirschen wieder da. Das Orchester zog weiter, die Tournee wurde fortgesetzt.

Nach einer Weile wurde mir wärmer, und ich verfiel in ein angenehmes, schwungvolles Tempo. Ich fühlte mich stark, aber auch ein wenig verrückt und dumm, da ich im Januar allein im Wald schlafen würde, obwohl ich es doch gar nicht musste. Eine einzige Nacht ist zudem nicht besonders beeindruckend. Manche Menschen verbringen Monate oder Jahre allein in der Natur, ohne dass sie eine Veranlassung dazu sehen, allen anderen davon zu erzählen. Gleichwohl war ich ganz zufrieden mit mir, als ich über den schmalen Forstweg lief. Ich schob die Daumen unter die Schultergurte des Rucksacks, hob den Kopf und blickte umher. Der Himmel war teilweise bewölkt, es war windstill, sieben oder acht Grad minus. Zwischen den Bäumen leuchtete der Schnee. Mir gefiel der Gedanke, während meiner Arbeitszeit hier zu sein. Ich lachte über die, die jetzt in engen, kratzenden Anzughosen im Büro saßen. Ich lachte über den, der ich gestern war und morgen wieder sein würde.

Nach einer halben Stunde flachte das Terrain weiter ab, der dichte Fichtenwald öffnete sich. Im Norden ragten bewaldete Hügel in den lichten Himmel. Westlich des Forstwegs lag ein eisbedeckter See. Ich lief bis zur Nordseite des Gewässers. Dort hielt ich inne, um meine Mittagsmahlzeit einzunehmen. Ich holte vier Scheiben Knäckebrot und eine Tube Schmierkäse aus dem Rucksack. Schamlos gab ich eine dicke Lage Käse auf jede der Scheiben.

Gleich unterhalb der Stelle, wo ich saß, mündete ein kleiner Fluss in den See. Die Mündung war immer noch eisfrei, also ging ich hinunter und füllte meine Wasserflaschen auf. Wäre es Sommer gewesen, hätte ich Forellen an der Oberfläche schwimmen gesehen. Aber es war nicht Sommer, es war mitten im Winter und eiskalt. Ich begegnete keiner Menschenseele, im Schnee gab es keine Spuren. Es war kurz nach eins. In zwei Stunden würde die Dämmerung einsetzen.

Ich machte mir ein wenig Sorgen darum, mein Lager nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit aufbauen zu können, daher aß ich schnell zu Ende und zog weiter. Die ganze Zeit ging es bergauf, immer wieder neue Hügel. Ich hätte den Forstweg gern verlassen, aber unter den Bäumen lag der Schnee so hoch, dass ich ohne Schneeschuhe oder Skier nicht vorwärtskommen konnte.

Um halb drei erreichte ich meinen Lagerplatz. Er lag an dem kleinen Waldsee, der im Laufe des Jahres meine Basis sein sollte. Ich hatte mir den See nicht nach einem bestimmten Prinzip ausgesucht, es war einfach ein schöner Ort, der selten von Menschen aufgesucht wurde. Und er lag nur so weit entfernt, dass ich am nächsten Tag rechtzeitig in meinem Arbeitszimmer sein konnte, ohne dafür nachts um drei aufstehen zu müssen.

Ich war schweißgebadet und tauschte den feuchten Wollpullover gegen einen trockenen aus dem Rucksack. In diesem Moment konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich in der Nacht frieren würde, aber wenn ich satt bin, kann ich mir ebenso wenig vorstellen, jemals wieder Hunger zu verspüren. So funktioniert das Gehirn. Manche Dinge lernt man schnell, andere lernt man nie.

Ich setzte den Rucksack im Schnee ab und begann meine Sachen auszupacken. Zelt, Schlafsack, Liegematte. Gaskocher und Stirnlampe. Extra Unterwäsche, extra Socken, Allwetterjacke und -hose. Knäckebrot und Käse aus der Tube. Kartoffelpüree und Speck fürs Abendessen. Eine Tüte Nüsse. Eine Milchschokolade. Kaffee. Etwas Whisky zum Einschlafen, falls die Sinne nicht zur Ruhe kommen würden. Ich hatte ein solides Zelt und eine nagelneue Liegematte. Was den Schlafsack anbetraf, war ich mir nicht so sicher. Er war alt und häufig benutzt worden. Nach einem Jahr in aufgerolltem Zustand auf dem Dachboden war das Füllmaterial platt gedrückt. Auf dem Etikett stand, der Schlafsack sei bis minus zehn Grad geeignet, aber ich wusste, dass die Hersteller hier einen gewissen Spielraum einkalkulierten. Außerdem herrschten jetzt schon minus zehn Grad, und alles deutete darauf hin, dass es noch kälter werden würde.

Sobald die Wärme, die sich beim Laufen in meinem Körper ausgebreitet hatte, nachließ, spürte ich die Kälte. Ich sammelte Fichtenzweige, um sie unter dem Zelt auf den Schnee zu legen. Die zu Eis gefrorenen Zweige brachen wie alte Knochen, ich brauchte kein Messer. Das Zelt ließ sich ohne größere Probleme aufbauen. Ich konnte seine Halteleinen nicht verankern, aber es gehörte zu den Modellen, die selbstständig stehen. Ich trat ein wenig Schnee los, verteilte ihn über die Ränder und hoffte darauf, dass es halten würde. Es sah jedenfalls professionell aus.

In seinem Buch 101 Villmarkstips (101 Tipps für die Wildnis) schreibt der Abenteurer Lars Monsen, man müsse als Erstes ein Feuer entzünden, sobald man einen neuen Lagerplatz erreicht. Ich fand das einleuchtend. Wenn hier an diesem Januarnachmittag etwas Gemütlichkeit entstehen sollte, müsste sie von einem Lagerfeuer ausgehen. Ich hatte in meinem Rucksack ein paar Späne mitgenommen, aber keine ordentlichen Holzscheite. Noch dazu hatte ich nicht daran gedacht, dass all das alte, heruntergefallene Holz jetzt unter einer meterdicken Schneeschicht begraben lag. Ganz dicht am Stamm der Fichten gibt es zwar immer ein paar trockene Zweige, aber die sind dünn und verbrennen schnell. Außerdem hatte die vorangegangene Wetterperiode mit ihren milden Temperaturen dazu geführt, dass die Zweige von einer Eisschicht umgeben waren. Sie waren feucht geworden und wieder gefroren. Ich wärmte ein paar der dünnsten Zweige in den Händen und legte sie beiseite. Dann wärmte ich ein paar dickere und legte sie ebenfalls beiseite. Ich verteilte einige Fichtenzweige auf dem Boden. Darauf formte ich eine kleine Pyramide aus den mitgebrachten Spänen und zündete sie an. Wie erhofft, brannten sie, doch als ich die Zweige aus dem Wald in die Flammen legte, begann es zu zischen und zu fauchen, weil das restliche Eis in ihnen schmolz.

Im Kindergarten hatten wir jedes Jahr eine runde Pappscheibe ausschneiden und in vier gleich große Abschnitte unterteilen müssen, einen für jede Jahreszeit. In der Mitte wurde ein Pfeil befestigt, und viermal im Jahr sagte uns die Kindergärtnerin, dass wir den Pfeil auf die nächste Jahreszeit drehen durften. Die Tatsache, dass ich mich heute noch daran erinnere, sagt wohl so einiges über das Unterhaltungsangebot in den Siebzigerjahren aus. Auf meiner Scheibe lag der Januar immer ein bisschen links von der obersten Stelle, ungefähr zwischen elf und zwölf Uhr auf einem Zifferblatt. Der erste Monat des Jahres ist nach dem römischen Gott Janus benannt, eine Ableitung vom lateinischen Wort ianua, was Tür oder Öffnung bedeutet, der Beginn von etwas Neuem.

Wo ich jetzt saß, erinnerte allerdings wenig an einen Neubeginn. Es gab keinerlei Bewegung, kein Lebenszeichen. Die Luft roch nach nichts, denn alles, was in der Natur einen Geruch ausströmt, Blätter und Borken und Erde und Gras, lag unter dem Schnee. Gefroren, eingeschneit, erstarrt.

Um halb vier setzte die Dämmerung ein. Im Wald war es ganz still. Lediglich ein schwaches, monotones Rauschen war zu hören. Vielleicht das Geräusch der Stille, das Rauschen des Universums, der Grundton der Erde? Vielleicht ist es immer da, dieses Geräusch. Doch nur selten ist es um mich herum so still, dass ich die Gelegenheit habe, genau hinzuhören.

Es wurde schnell dunkler. Mir kam es so vor, als ob das Licht aus der Landschaft herausgesogen würde, als ob es im Boden versickerte. Es verschwand einfach, und das erstaunlich schnell. Für ein paar Minuten färbte der Himmel sich rosa, violett und lila. Dann gab es nur noch Grautöne, irgendwo zwischen Schwarz und Weiß. Fast gleichzeitig spürte ich, wie die Temperatur rapide sank. Es geschah von einer Sekunde auf die andere. Ich fühlte es im Gesicht, nicht von ungefähr redet man von beißender Kälte. Das Eis auf dem See begann zu knacken. Ich kann mich aus meiner Kindheit an das Geräusch erinnern, wenn ich mit meinem Großvater zum Angeln fuhr. Es ist das Geräusch von sich bildendem Eis. Ein tiefes Dröhnen schoss über die weiße Fläche. Es hörte sich an wie Artilleriefeuer in der Ferne.

Um fünf Uhr war es stockdunkel. Es war zu kalt zum Herumsitzen, also stellte ich mich ganz dicht ans Feuer und wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen. Zu Hause hatte ich gedacht, dass ich während meines Waldabenteuers vielleicht ein paar Knerten-Figuren für die Kinder schnitzen könnte, aber diese Idee war in der angenehmen Wärme meines Wohnzimmers geboren worden. Als ich vor dem qualmenden Feuer stand, gab es nicht eine Faser in meinem Körper, die etwas schnitzen wollte. Zum Teufel mit dem hölzernen Knerten und seiner ganzen Sippschaft! Außerdem hatte ich meine Winterhose vergessen. Ich trug nur eine ganz gewöhnliche Wanderhose, und die war, wie ich jetzt feststellen musste, völlig ungeeignet.

Dunkle Wolken trieben am Himmel. Wind kam auf. Ich musste einsehen, dass die Wahl meines Lagerplatzes wohl nicht die klügste gewesen war. Der Wind blies aus Norden, was bedeutete, dass er auf dem Weg über den offenen See an Stärke zunahm, bevor er auf mich traf. Er fegte über den Lagerplatz und fühlte sich lähmend kalt an. Doch jetzt im Dunkeln umzuziehen kam nicht infrage. Ich musste ausharren und es mir eine Lehre sein lassen.

Ich malte mir aus, was ich wohl tun würde, wenn das vor 500 Jahren passiert wäre und ich nicht in Kürze zu Fußbodenheizung und Wärmedämmung zurückkehren könnte. Ich müsste riesige Mengen Holz sammeln, so viel wie möglich, und ich müsste Nahrung finden. Das Erste erschien mir einfach, aber beides gleichzeitig, und das möglichst schnell? Wenn es mir nicht gelänge, wäre ich tot, bevor die Morgensonne über den Fichten stand. Ein Skiläufer würde mich finden, vielleicht in den Winterferien, steif gefroren, wie ein Mammut aus der Eiszeit. Die Menschen, die hier vor 500 Jahren lebten, hatten keine Kleidung aus Merinowolle, darüber eine Primaloft-Jacke und als letzte Schicht eine atmungsaktive Allwetterjacke. Diese Vorstellung kann beängstigend sein.

Um neun Uhr lag ich im Schlafsack. Ich hatte bereits zwei Stunden dagelegen, ein wenig gelesen und anderweitig versucht, mir die Zeit zu vertreiben. Da ich das Feuer nicht richtig in Gang bekam, war es viel zu kalt, um sich draußen aufzuhalten. Also blieb ich im Schlafsack liegen und wartete darauf, dass es bald spät genug sein würde, um endlich schlafen zu gehen. Trude, meine Freundin, schickte mir eine SMS und machte mich darauf aufmerksam, dass neulich in diesem Teil der Nordmarka Wölfe gesehen worden seien. AOUUU!, schrieb sie, und als PS: Es ist keine Schande, wenn du umkehrst.

Aber für mich war Umkehren eine Schande, und ich verbot mir solche Gedanken. Allerdings gingen mir die Wölfe jetzt nicht mehr aus dem Kopf. Außerdem dachte ich, dass die Natur ein wirklich unbarmherziger Aufenthaltsort war. Nicht unbedingt, wenn die Insekten wie Goldstaub in der Abendsonne über den See tanzten. Und auch nicht, wenn die Schwarzdrossel an einem klaren frischen Aprilmorgen ihr Lied anstimmte. Aber im Januar ist die Natur gnadenlos, und vielleicht sind es diese Gegensätze, die sie am besten charakterisieren. Die Unterschiede zwischen Tag und Nacht, Kälte und Wärme, Winter und Sommer sind so groß, dass sie für einen Menschen aus der Zivilisation kaum zu ertragen sind.

Ich versuchte es zu genießen, dass ich mich allein in einem Zelt im kalten dunklen Wald aufhielt. Wenn es bereits sechs Stunden vor der üblichen Schlafenszeit stockdunkel ist, lässt sich auf einer Zelttour im Januar nicht allzu viel anstellen. Bevor ich einschlief, war mein letzter Gedanke, dass die Menschen vor Thomas Edisons Erfindung der Glühlampe wohl auch zeitig zu Bett gegangen waren.

Im Laufe der Nacht wachte ich ständig auf, weil ich schrecklich fror. Wie befürchtet, war der Schlafsack nicht warm genug. Die Kälte hielt mich die ganze Zeit mehr oder weniger wach. Um drei Uhr wurde ich von einem Schrei geweckt. Er war das einzige Geräusch, das ich in diesen vierundzwanzig Stunden hörte, abgesehen vom Glucksen der Flussmündung, dem Knirschen von Rucksack und Stiefeln sowie dem rauschenden Grundton der Erde. Der Schrei kam aus dem Wald auf der anderen Seeseite. Hell und durchdringend durchschnitt der herzzerreißende Laut die Stille des Waldes. Der Ton wurde von einem Geräusch begleitet, das wie ein Flügelschlagen klang. Vielleicht ein Vogel, der von einem Fuchs erlegt wurde? Ich hatte nicht die Absicht, loszugehen und es herauszufinden, aber ich war mir sicher, dass niemand ohne guten Grund nachts um drei in einer Januarnacht im Wald einen Schrei ausstößt.

Um fünf Uhr wurde ich erneut geweckt. Bis zur Morgendämmerung waren es noch ein paar Stunden, aber ich fühlte mich wach und ausgeruht, überwand das Bedürfnis, einfach im Schlafsack liegen zu bleiben, und trat hinaus in den eiskalten Morgen. Im Schein meiner Stirnlampe kochte ich auf dem Gaskocher Kaffee. Dann packte ich den Rucksack. Ich stopfte alles wahllos hinein, machte mir keine Mühe, es ordentlich zusammenzulegen, und trat den Heimweg an.

Im Laufe der kommenden zwölf Monate sollte sich immer wieder bestätigen, was ich jetzt so klar und deutlich verspürte: Ist man allein im Wald, gibt es einen großen Unterschied zwischen den Gefühlen am Morgen und denen am Abend. Abends verspürt man unweigerlich eine starke Melancholie. Jedenfalls geht es mir so. Alles wirkt traurig und ein wenig sinnlos, aber wenn man am Morgen erwacht, ist der Kopf so leicht, dass nichts unmöglich scheint. Da sind sie wieder, die Kontraste. So stark und deutlich, dass sie manchmal kaum auszuhalten sind.

Es war jetzt sternenklar, die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Kein Mond, aber dennoch hell genug, dass ich meine Lampe ausschalten konnte. Es tat gut, sich zu bewegen. Die Wärme durchströmte meinen Körper, die Muskeln wurden geschmeidiger. Ich fühlte mich ganz leicht und war guter Laune. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war das Knirschen des Rucksacks und der Stiefel im trockenen Schnee. Wenn ich jetzt mein Lauftempo etwas erhöhte, würde ich rechtzeitig nach Hause kommen, um den Kindern Butterbrote für die Schule vorbereiten zu können.

Februar

Das Licht kehrt zurück