Im April 2014 überfiel ein Kommando der Terrororganisation Boko Haram das Dorf Chibok im Nordosten Nigerias und entführte 276 Schülerinnen aus dem örtlichen Internat. Ein Aufschrei ging um die Welt. Unter dem Hashtag »Bring Back Our Girls« verliehen Persönlichkeiten wie Michelle Obama und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai ihrem Entsetzen Ausdruck.
Das Schicksal der Schülerinnen aus Chibok ist kein Einzelfall. Bis heute befinden sich Tausende Frauen in den Händen der Islamisten. Im Juli 2015 reiste der Zeit-Reporter Wolfgang Bauer nach Nigeria, um mit Mädchen zu sprechen, denen die Flucht gelungen ist. Sie berichten von ihrem Leben vor ihrer Entführung, von ihren grausamen Erfahrungen während der Gefangenschaft und von ihren Träumen für eine bessere Zukunft.
Die Erzählungen der Frauen bieten Einblicke in das Innenleben der Organisation und zeichnen ein detailliertes Bild des Schreckensregimes von Boko Haram. Zugleich beleuchtet das Buch die historischen und politischen Hintergründe des Terrors und zeigt, wie er das ethnische und kulturelle Gleichgewicht in einer der vielfältigsten Regionen der Welt zerstört. Vor allem aber gibt es den Mädchen ihre Stimme zurück. Eine kraftvolle Stimme, die von Leid und Gewalt erzählt, aber auch von Mut. Und von Hoffnung.
Wolfgang Bauer, geboren 1970, arbeitet für die Wochenzeitung Die Zeit. Für seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Katholischen Medienpreis und dem Prix Bayeux-Calvados des Correspondants de Guerre ausgezeichnet. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa.
Andy Spyra, geboren 1984, ist freier Fotograf. Seine Aufnahmen erscheinen u. a. im Time Magazine, im Stern, in der Zeit und im New Yorker. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem International Photography Award.
DIE GERAUBTEN MÄDCHEN
Boko Haram und
der Terror im Herzen Afrikas
Fotos von Andy Spyra
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
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Umschlaggestaltung: ErlerSkibbeTönsmann/Johannes Erler
Umschlagfoto: Andy Spyra
eISBN 978-3-518-74416-1
www.suhrkamp.de
Der Wald
Der Baum
Die Höhle
Im Haus des Sule Helamu
Der Knochen
Das Kind
Epilog
Danksagung
»Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich du.«
Martin Buber
Der Wald, der zum Schrecken eines modernen Staates wurde, ist lichtlos und fast undurchdringlich. Wer hineingerate, glauben viele in Nigeria, finde nie wieder heraus. Es heißt, ein Fluch aus der Vorzeit liege auf ihm. Der Wald ist so alt, dass niemand mehr sagen kann, was sein Name ursprünglich bedeutete. Der Sambisa ist der Letzte seiner Art. Von allen großen Wäldern im Nordosten Nigerias ist nur noch er geblieben. Die Bäume dieses Waldes haben nichts Erhabenes. Sie sind nur wenige Meter hoch, knorrig und ineinander verwachsen. Sein Dickicht ist voller Dornen, die scharf sind wie Krallen. Die Kronen seiner Bäume sperren den Himmel aus, in seinem Innersten schafft es die Sonne selten bis auf den Grund. Sein Boden gibt keinen Halt. Mächtige Flüsse, die im Mandara-Gebirge entspringen, fließen nicht ins Meer, sondern enden in seinen Sümpfen. In diesem Wald gibt es viele Raubtiere. Der gefährlichste seiner Bewohner ist jedoch: der Mensch. Genauer: der Mann.
Die Straße, die in die Nähe des Waldes führt, trägt die amtliche Kennung A 13. Graue Felskegel überragen sie. Auswürfe gewaltiger Vulkanausbrüche, die sich vor vielen tausend Jahren ereigneten. Die A 13 hat den Fortschritt in den Nordosten Nigerias gebracht. Sie wurde Anfang der Achtziger fertiggestellt und öffnete die Gegend als erste Straße für den modernen Handel. Zweispurig führt sie von Yola über 350 Kilometer hinauf bis kurz vor Bama. Ihr Asphalt zieht die Menschen fast unwiderstehlich an. Wie Magnetspäne legen sich Dörfer aus Ziegelhäusern und runden Lehmhütten an ihren gesamten Verlauf. Die Siedlungen wurden in den letzten Jahren immer größer. Sie heißen Michika, Duhu, Gulak oder Gubla. Eine Einfallsschneise für neue Ideen. Die Straße brachte den Menschen Ärzte, Medikamente, Lehrer. Jetzt bringt diese Straße ihren Anwohnern Elend und Leid.
»Ehre sei Gott, unser Name ist Jamā’at Ahl as-Sunnah lid-Da’wah wa’l-Jihād. Wir sind die, die sie Boko Haram nennen. Ehre sei Gott, wir haben Erklärungen abgegeben, wir haben alles gesagt, was gesagt werden musste.
[…] Einige Individuen gingen so weit, über uns zu sagen, wir seien ein Krebsgeschwür, was eine idiotische Krankheit ist. Nein, wir sind kein Krebsgeschwür und wir sind keine Krankheit und wir sind keine unberechenbaren Menschen mit bösen Absichten, und wenn uns die Öffentlichkeit nicht kennt, Allah kennt jeden.«
Abubakar Shekau, April 2011
TALATU Ich heiße Jummai, aber alle nennen mich Talatu, weil ich die Erstgeborene bin. Bevor sie mich in den Wald geschleppt haben, ging ich in die neunte Klasse der Secondary School in Duhu. Mein Lieblingsfach ist Mathematik. Ich mag Mathe, weil es logisch ist. Wenn du einmal verstanden hast, was die Logik einer mathematischen Regel ist, löst du alle Aufgaben ganz einfach und schnell. —
Verborgen in den Sümpfen des Sambisa liegt das Hauptquartier einer Terrorgruppe, die in ihrer Grausamkeit fast beispiellos zu sein scheint. Die so modern wie archaisch ist. Die Welt nennt sie »Boko Haram« (»Westliche Bildung ist verboten«). Sie selbst gab sich den Namen »Jamā’at Ahl as-Sunnah lid-Da’wah wa’l-Jihād«, »Vereinigung der Sunniten für die Verbreitung des Islam und des Dschihad«. Sie kämpfen für die Gründung eines Kalifats in Nigeria und kooperieren mit al-Qaida in Mali und Algerien. Mittlerweile haben sie dem Islamischen Staat die Treue geschworen. Im Sommer 2014 besetzten sie in nur wenigen Monaten ein Fünftel Nigerias.
SADIYA Du kommst in den Wald, und es wird dunkel. So dunkel, dass du vergisst, dass es Tag ist. Ich bin die Mutter von Talatu. Sie haben uns beide in den Wald gebracht. Der Fahrer unseres Lastwagens musste das Licht einschalten, weil es dort plötzlich so dunkel war. —
Im Westen nahm man von dem Drama in Nigeria kaum Notiz – bis zu der Nacht vom 14. auf den 15. April 2014. In dieser Nacht entführte ein Boko-Haram-Kommando 276 Schülerinnen aus einem Internat in der Kleinstadt Chibok. Sie zwangen sie auf Lastwagen und fuhren sie in den Wald, aus dem sie bis heute nicht entkommen sind. Die Brutalität von Boko Haram machte jetzt international Schlagzeilen. »Bring back our girls«, forderten plötzlich Prominente wie Michelle Obama, die Ehefrau des US-Präsidenten. Der Überfall von Chibok gab dem Unfassbaren einen Namen. Viele tausend Frauen werden mittlerweile in der Gefangenschaft Boko Harams vermutet. Die meisten davon sollen im Sambisa und seinen Sümpfen festgehalten werden. Europäische und afrikanische Staatschefs organisierten Krisengipfel zur Rettung der Mädchen. Angela Merkel sagte zu, man werde eine westafrikanische Einsatztruppe unterstützen. Doch der Schock hielt nicht lange an. Der Nordosten Nigerias ist von den Machtzentren der Welt sehr weit weg.
Für dieses Buch haben wir, Autor, Fotograf und Übersetzer, im Juli 2015 und dann noch einmal im Januar 2016 über sechzig Mädchen und Frauen interviewt, denen die Flucht aus den Sklavencamps von Boko Haram gelungen ist. Viele der Frauen, mit denen wir sprachen, waren erst Tage zuvor dem Wald entkommen. Ihre Berichte dokumentieren unfassbare Verbrechen und geben Einblick in das Innenleben der Organisation. Es handelt sich um die Terrorgruppe, die in den letzten Jahren am meisten Menschen getötet hat, mehr noch als der Islamische Staat. So tödlich sie ist, so wenig weiß man über sie. Es ist unklar, wie sie geführt wird, was ihre langfristigen Ziele sind, wer sie finanziert, warum sie welche Entscheidungen trifft. Die Protokolle der entführten Frauen beantworten diese Fragen nicht, aber sie helfen, Antworten etwas näher zu kommen. Ihre Berichte sind nicht nur Informationsquellen über Boko Haram. Sie sind viel mehr: Zeugnisse ihrer selbst. Sie führen uns in ihr Leben, das uns trotz Internet und Globalisierung so fremd geblieben ist. Sie führen uns hinein in die Gassen ihrer Dörfer, deren Namen wir oft nicht aussprechen können und die nur auf wenigen Karten verzeichnet sind. Die Berichte dieser Frauen sind schmerzhaft. Auch deshalb, weil sie uns zeigen, wie beschränkt unser eigener Blick immer noch ist. Wie eng der Ausschnitt unserer Wahrnehmung. Wie kümmerlich unser Verständnis von dieser Welt und von dieser Zeit, die wir die »unsere« nennen.
Im scheinbar fernen Europa und Amerika betrifft uns die Boko-Haram-Katastrophe bislang nicht. Die meisten Beobachter sind sich aber einig darin, dass die Sekte eines Tages auch im Westen Anschläge verüben wird. Wir im Westen dürfen den Terror von Boko Haram nicht ignorieren. Wenn wir über das Blut anderer hinwegsehen, werden wir bald in unser eigenes Blut schauen. Den Terror können wir nur dann erfolgreich bekämpfen, wenn wir seinen Opfern zuhören: den Frauen.
SADIYA Sie haben mir nur meinen Namen gelassen. Alles andere haben sie mir genommen. Ich bin jetzt jemand anderes. Das spüre ich. Ich bin jetzt jemand, den ich nicht kenne. Ich bin im Dorf Duhu im Bundesstaat Adamawa aufgewachsen. Die meisten dort sind Christen, aber wir sind Muslime. Ich bin nie zur Schule gegangen. Ich musste auf den Feldern meiner Mutter arbeiten. Mein Vater arbeitete als Maurer. Er war immer unterwegs. Wenn er zu Hause war, stritten meine Eltern die ganze Zeit. Sie ließen sich scheiden. Ich wuchs bei meiner Mutter auf. Ich war als Kind glücklicher, als ich es heute bin. Als Kind fehlte es mir an nichts. Ich vermisse die Leichtigkeit von damals.
Mit sechzehn habe ich geheiratet. Er war achtzehn Jahre alt, ein sehr Hübscher! (Sie lacht und schaut scheu zu Boden.) Er machte immer Späße. Er war Lastwagenfahrer und bei einer Spedition in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, angestellt. Er kam gerade durch Duhu, als er eine Panne hatte. So lernten wir uns kennen. Ich stand mit Freundinnen am Brunnen um Wasser an, als er dazukam. »Dich habe ich hier noch nie gesehen!«, sagte er zu mir und lachte. So fing das an. Wir waren zwölf Jahre verheiratet, wir zogen nach Maiduguri auf das Firmengelände seiner Spedition, wo er mir einen kleinen Laden mietete. Ich verkaufte dort Seife, Maggi-Würfel und Tomatensauce. Ich konnte zwei Mädchen als Verkäuferinnen anstellen. Wir hatten ein gutes Auskommen. Er fuhr durchs ganze Land bis hinunter in den Süden nach Port Harcourt. Doch dann stürzte er mit seinem Lkw in einen Fluss und starb. Das war vor sieben Jahren. —
Der Raum, in dem wir die achtunddreißigjährige Sadiya und ihre vierzehnjährige Tochter Talatu zum ersten Mal treffen, befindet sich in einem kleinen Wohnhaus im Zentrum von Yola, der Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Adamawa. Es ist Mitte Juli 2015. Beide, Mutter und Tochter, wurden Ende August 2014 aus ihrem Dorf entführt. Im Juni 2015 gelang ihnen die Flucht. Wir liegen auf dem Teppich, weil sich Sadiya und Talatu auf den Sofas und Sesseln des Zimmers unwohl fühlen. Wo sie herkommen, sitzen nur Würdenträger in Sesseln. Die Fenster sind mit dunklen Tüchern verhängt, draußen herrscht brütende Hitze.
Yola gilt als ein letzter sicherer Außenposten, danach beginnt die Einflusszone von Boko Haram. Verzweifelt suchen Flüchtlinge hier Zuflucht und Halt. Das Vordringen der Terrorsekte hat Yola binnen weniger Monate zu einer Millionenmetropole anwachsen lassen. Vom Flugzeug aus wirkt der Ort kleinstädtisch. Niedrige Häuser, viele noch aus Lehm, meistens einstöckig, mit Wellblechdächern in Blau, Rot und Gelb. Dazwischen die Areale der großen Märkte, die immer wieder Ziele von Bombenanschlägen werden, die mit hohen Mauern umgebenen Universitäts- und Verwaltungsgebäude. Nur die Hauptverkehrsachsen sind asphaltiert. Staub prägt die Stadt. Staub ist auf den gelben Motorraddreirädern, dem billigen Transportmittel der Massen. Staub bedeckt die Flotte europäischer Gebrauchtwagen, die sich auf den Straßen voranquälen. Die Sahelzone beginnt einige hundert Kilometer weiter im Norden, doch immer wieder entsendet sie ihre Sandstürme nach Yola. Der Sand der Sahara verdunkelt in diesen Momenten die Sonne, färbt den Tag zuerst in gleißendes Gelb, bald in Orange, bald in düsterstes Braun. Dann scheint sich der Himmel ganz über die Stadt zu stülpen.
Um die 340 000 Menschen sollen hier 2010 gelebt haben. Niemand kann realistisch abschätzen, wie viele es gegenwärtig sind. Yola wuchert ins Umland, wie Geschwüre schieben sich neue Viertel hinaus. Rasch hochgemauerte Häuser, dicht an dicht, selten wirklich fertig, weil die Menschen bereits einziehen, wenn nur der Rohbau steht. Viele bereichern sich an den Flüchtlingen. Die Mieten sind exorbitant. Immer mehr Prostitution kommt auf in dieser Stadt, in der es so viele Kirchen und fast noch mehr Moscheen gibt. Flüchtlinge füllen fast jeden Freiraum zwischen den Häusern, jede Fuge. Wer es nicht schafft, sich hier zu halten, in einem der großen Lager, in der Wohnung eines Freundes, weil ihm das Geld ausgeht, wer wieder aus dieser Stadt hinausfällt, wird zurück in die Dörfer geschleudert. Wo immer noch der Schrecken herrscht. Von dort kommen die Frauen und Mädchen, mit denen wir sprechen. Aus einer Welt, die wir, die Reporter, nicht betreten können.
Wir reden zwei Tage lang mit Mutter und Tochter, beide selbstbewusste Frauen. Beide wurden von Boko Haram entführt. Sadiya ist im sechsten Monat schwanger. Ihr Bauch wölbt sich schon deutlich. Das Kind ist von ihrem Vergewaltiger.
Sadiya ist hochgewachsen, ausgezehrt und fragil. Auf eine seltsame Art fast feengleich. Doch ihre Stimme ist dunkel und rau. Sie klingt alt und wie verwittert. Wenn sie erzählt, wirkt sie wie entrückt, sind ihre Augen oft ausdruckslos. Es ist die muslimische Fastenzeit, Ramadan. Sadiya hält sich diszipliniert daran, trinkt nicht, betet zu den vorgeschriebenen Zeiten. Talatu nicht. Als wolle sie ihre Mutter provozieren, trinkt sie vor Sadiyas Augen, lang und genüsslich, und ihre Mutter sieht verletzt weg.
Über Vertrauensleute haben wir die Frauen hierher eingeladen. Sie sind nach ihrer Flucht in ihre Dörfer zurückgekehrt. Alle Frauen, mit denen wir reden, sind Margi, Angehörige eines kleinen Stammes von 250 000 Menschen. Zu ihrem Schutz haben wir ihre Namen geändert. Wir wechseln jeden Tag die Orte, an denen wir sie treffen, denn auch in Yola werden von Boko Haram immer wieder Menschen entführt. Der letzte Anschlag auf einen Markt liegt zum Zeitpunkt unseres Besuches erst zwei Wochen zurück, fünfundvierzig Menschen verloren dabei ihr Leben.
Zu Beginn der Begegnungen mit den Frauen ist viel Misstrauen. Wir haben Angst vor ihnen, weil Boko Haram entführte Mädchen zwingt, sich bei Selbstmordattentaten in die Luft zu sprengen. Fast täglich töten sich in Nigeria junge Frauen auf belebten Plätzen. Die meisten, weil sie gezwungen werden. Andere verüben diese Anschläge aber aus Überzeugung. Wer kann ermessen, wie sehr sich Menschen während einer monatelangen Gefangenschaft verändern? Wie sehr sich die Psyche anpasst, um zu überleben? Und natürlich haben die Frauen, die wir treffen, auch Angst vor uns, weil sie zunächst nicht einschätzen können, ob wir gegen oder für Boko Haram sind. So lange prägte ausschließlich die Sekte ihre Welt.
SADIYA Mein Mann hieß Moussa. Er ist nach dem Unfall mit seinem Lastwagen noch in ein Krankenhaus gebracht worden, hat mir ein Freund erzählt. Aber dort starb er, und ich musste den Laden aufgeben. Der Laden allein hat uns nicht ernährt. Sein Gehalt hat gefehlt. Ich nahm die Warenbestände des Geschäfts und ging zurück nach Duhu. Mein Mann und ich hatten dem Laden einen besonderen Namen gegeben, aber ich habe den Namen vergessen. Merkwürdig, oder? Ich habe den Namen vergessen. —
Sie überlegt eine Weile, schweigt, überlegt weiter, schüttelt den Kopf.
SADIYA Doch was sollte ich jetzt machen? Mit all meinen Kindern? Lange wusste ich es nicht. Ich hatte die beiden Mädchen, die ich als Verkäuferinnen angestellt hatte, gebeten, so lange im Laden zu bleiben, bis alle Waren verkauft waren. Sie schickten mir dann das Geld nach Duhu. Aber nach fünf Monaten war alles verkauft. Ich war verzweifelt. Ich bin nie zur Schule gegangen, ich hatte seit meiner Hochzeit nicht mehr auf dem Feld gearbeitet. Ich versuchte es auf den Feldern, aber das war zu hart für mich. Mein Rücken. Er tat schnell weh, ich musste aufhören. Wenn du das von Kindesbeinen an gemacht hast, hat sich dein Körper an die Arbeit gewöhnt. Aber ich war nicht mehr daran gewöhnt. Also begann ich, Kosai zu backen, Bohnenkuchen, die man in Palmöl brät. Ich holte mir eine Genehmigung vom Dorfchef und errichtete an der Bushaltestelle einen Stand. —
Sie hustet, spuckt weißen Schaum aus, ihr brennt die Brust, sie hat Kopfweh, immer wieder fasst sie sich an die Stirn.
SADIYA Ich und Talatu waren am Verkaufsstand ein Team. Sie packte die Kosai-Kuchen in die Plastiktüten der Kunden und kassierte, während ich neue Kosai briet. Zwölf Liter Öl hatte ich immer in der großen Pfanne. Es ist nicht leicht, die Kosai zu machen. Du musst Erfahrung haben. Du musst genau wissen, wie viel du von was wann hineintust.
Ich stehe jeden Tag um halb sieben auf, ich wasche die Kleinen, ziehe ihnen ihre Schuluniformen an, gebe ihnen etwas Schulgeld, fünfzig Naira (etwa 20 Cent) den Kleinen, fürs Pausenbrot, hundert Naira für Talatu, damit sie den Bus zur Schule nehmen kann. Die Kleinen heißen Estha, zwölf Jahre, und Buba, ein Junge, zehn Jahre alt. Buba gebe ich einen Fußball mit, damit er in den Pausen mit seinen Freunden spielen kann. Estha gebe ich Strickzeug mit, weil sie gerne mit ihren Freundinnen strickt.
Wenn die Kinder in der Schule sind, gehe ich raus auf die Felder, um Feuerholz für die Kochstelle zu suchen. Eine Stunde brauche ich meistens dafür. Die Arbeit ist schwer, aber ich mag sie. Du hast deine Ruhe da draußen. Du musst nicht viel reden. Du kannst über alles nachdenken. Ich trage es dann nach Hause, auf dem Kopf. Ich koche Jollof-Reis, mit Zwiebeln und Tomaten und Kartoffeln. Nach dem Kochen lege ich mich für eine Stunde hin, bis gegen vierzehn Uhr die Kinder kommen. Die wecken mich auf, wir essen und brechen zur Bushaltestelle auf. Ich nehme die ganz große schwarze Bratpfanne mit. Bis elf Uhr nachts verkaufen Talatu und ich Kosai. Am besten verdiene ich im Dezember, wegen der vielen Christen bei uns im Dorf. Abends trinke ich noch eine Kanne Milch, wegen dem Feuer, um den Ruß in meiner Kehle hinunterzuspülen, und lege mich dann hin. —
Die Terrorsekte nährt sich aus einer Landschaft, die zu den ärmsten der Welt zählt. Im Becken des Tschadsees, wo die Staaten Niger, Tschad, Kamerun und Nigeria sich berühren, lebt die Mehrheit der Bevölkerung nach Zählung der Weltbank von nicht mehr als einem Dollar am Tag. Gewaltige Kräfte reißen an Nigeria, diesem Staat zwischen Sahelzone und Atlantik. Hier trifft die muslimische Welt des nördlichen Afrikas auf die christliche des Südens.
Wenige Länder auf der Welt vereinen so viele Widersprüche in sich wie Nigeria. Ein Konglomerat aus 514 Volksgruppen und 190 Millionen Einwohnern. Zu gleichen Teilen christlich wie muslimisch. Der Norden ist die Brandungszone der Religionen. In kaum einer anderen Region der Erde sind ihre Kräfte so spürbar wie hier. Alles ist in ständiger Umwälzung. Die alten Werte lösen sich auf. Die Stämme, obwohl immer noch sehr wichtig, haben einen Teil ihrer Bindekraft verloren. Seit der Einführung des Kunstdüngers wächst die Bevölkerung rasant. Die Veränderungen in Nigeria treiben Norden und Süden dabei immer weiter auseinander. Die Küstenregion zwischen den Hafenstädten Lagos und Port Harcourt ist der wirtschaftliche Motor des Landes. Dort sitzt die Ölindustrie, dort ist auch Nigerias legendäre Kinoindustrie angesiedelt, »Nollywood«, das mehr Filme produziert als das indische »Bollywood«. Die ökonomische Kraft des Südens ist der Grund, warum Nigerias Volkswirtschaft 2014 (angeblich) die von Südafrika überholt hat. Der Süden hat eine bedeutende Mittelklasse, die den Blick über den Atlantik nach Amerika richtet.
Während der Süden üppig und tropisch ist, ist der Norden überwiegend karg. Weite Graslandschaften mit einzelnen Akazienbäumen überziehen diese Region. Der Norden besitzt nur wenige Fabriken, von denen die meisten in den letzten Jahren schließen mussten. Die Menschen leben in der Regel von dem, was sie selbst anbauen. Doch die globale Klimaveränderung lässt die Regenzeit immer kürzer werden, die Ernten werden spärlicher. Die Viehherden, die das Grasland nährt, werden kleiner. Im Norden gibt es kaum Infrastruktur. Nur 24 Prozent der Haushalte haben Zugang zu Elektrizität, im Vergleich zu 71 Prozent im Südwesten. Die Bevölkerung des Nordens ist völlig abgekoppelt von den Wirtschaftserfolgen des Südens. Der Norden Nigerias blickt nicht nach Amerika; er orientiert sich an Saudi-Arabien und am Sudan.
Die Briten hatten das Land zunächst in zwei getrennten Kolonien verwaltet, dem Protektorat Südnigeria und dem Protektorat Nordnigeria, weil ihnen die Unterschiede nur zu gut bewusst waren. Nach der Unabhängigkeit 1960 regierten lange Zeit Generäle, seit 1998 gilt Nigeria als Demokratie. Die Ölquellen im Süden brachten dem Land große Reichtümer und noch mehr Korruption. Seine Politiker haben Milliardenbeträge aus der Staatskasse gestohlen. In den nordöstlichen Provinzen, der Heimat von Boko Haram, wird der nigerianische Staat, sofern er überhaupt sichtbar ist, vor allem als Räuber wahrgenommen. 70 Prozent der Menschen können weder lesen noch schreiben. Nigeria hat weltweit die höchste Rate an Kindern, die nicht zur Schule gehen. Die höchste Rate innerhalb von Nigeria: wieder der Nordosten. Trotz des großen Wirtschaftswachstums liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei gerade einmal 52 Jahren – das sind 19 Jahre weniger als der globale Durchschnitt. Immer größer werden die Unterschiede. 2010 lebten 61 Prozent in absoluter Armut, 115 Millionen Menschen – 2004 waren es noch 55 Prozent. Während im Südwesten 59 Prozent der Menschen bittere Armut leiden, sind es im Norden 76 Prozent.
Die Beschleunigungskräfte der modernen Welt, die des Westens und die des revolutionären Arabien, laufen in unterschiedliche Richtungen. Immer radikalere Bewegungen hat der Norden Nigerias in den letzten Jahren hervorgebracht. Religiöse Gruppen stiegen in rascher Folge auf, bevor sie ebenso schnell verschwanden. Charismatische Prediger erstrahlten plötzlich und verblassten dann wieder. Boko Haram ist die bis heute jüngste und schlimmste Kreatur des Chaos. Die Stärke von Boko Haram ist die Schwäche des Staates, den es bekämpft. Je schwächer der Staat, desto stärker die Sekte. Und selten war der Staat Nigeria so schwach wie heute.
Was als kleine Gebetsgruppe begonnen hatte, entwickelte sich zu einer schlagkräftigen Armee mit geschätzt 50 000 Bewaffneten. Über sieben Millionen Menschen sind auf der Flucht. Viele tausend wurden versklavt. Nach Angaben der nigerianischen Regierung starben bislang an die 20 000 Menschen, aber in diesem Konflikt bleiben die meisten Toten ohnehin ungezählt.
TALATU