ARTHUR C. CLARKE

 

 

 

AUS EINEM ANDEREN JAHRTAUSEND

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Widmung

I – Einleitung

II – Vorbereitungen

III – Operationen

IV – Finale

Quellen und Danksagungen

Mandelmemo

Anhang – Die Farben der Unendlichkeit

 

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Für meinen alten Freund Bill MacQuitty.

Als Junge erlebte er den Stapellauf

der R. M. S. »Titanic«.

Und fünfundvierzig Jahre später versenkte er sie

zum zweiten Mal.

I

Einleitung

 

1

Sommer 1974

 

Nach Jason Bradleys Meinung gab es bessere Möglichkeiten, seinen einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern, als an einem Massenbegräbnis teilzunehmen. Wenigstens blieben emotionale Belastungen für ihn aus. Er fragte sich, ob der Leiter der Operation »Jennifer« oder seine CIA-Handlanger – die Namen der dreiundsechzig russischen Seeleute kannte, die nun dem Meer übergeben wurden.

Die Zeremonie schien völlig unwirklich zu sein, und die Gegenwart des Kamerateams fügte einen weiteren irrealen Aspekt hinzu. Jason kam sich wie ein Statist in einem Hollywood-Film vor und rechnete schon damit, dass irgend jemand gleich »Action!« rufen würde, als die von Leichentüchern umhüllten Toten ins Meer rutschten. Er hielt es für durchaus möglich – sogar wahrscheinlich –, dass Howard Hughes höchstpersönlich in dem Flugzeug gesessen hatte, das vor einigen Stunden mehrmals übers Schiff hinweggeflogen war. Wenn es sich nicht um den Alten handelte, so kam nur ein anderes hohes Tier der Summa Corporation in Frage. Niemand sonst wusste, was in diesem abgelegenen Streifen des Pazifik geschah, tausend Kilometer nordwestlich von Hawaii.

Was dies betraf: Sogar die Einsatzgruppe der »Glomar Explorer« – man hatte sie sorgfältig vom Rest der Besatzung isoliert – erfuhr erst auf See von der Mission. Ganz offensichtlich ging es bei dem Unternehmen um eine Bergung, und einige Leute vermuteten, dass es sich um einen abgestürzten Aufklärungssatelliten handelte. Niemand ahnte, dass die Spezialisten ein ganzes russisches U-Boot heben sollten, das in einer Tiefe von zweitausend Faden auf dem Meeresgrund ruhte, an Bord nukleare Sprengköpfe, Codebücher sowie kryptographische Geräte. Und natürlich die Besatzung …

Bis zu diesem Morgen – welch ein Geburtstag! – hatte Jason noch nie den Tod gesehen. Vielleicht hatte ihn morbide Neugier dazu veranlasst, sich freiwillig zu melden, als das medizinische Personal Leute brauchte, um die Toten nach oben zu bringen. (Die Planer in Langley dachten natürlich an alles und stellten Kühlvorrichtungen für genau hundert Leichen zur Verfügung.) Es erstaunte – und erleichterte – ihn, festzustellen, dass die Leichen nach sechs Jahren in der kalten Umarmung des Pazifik in einem guten Zustand waren. Jene Seeleute, die in abgeriegelten Sektionen lagen, wo sie nicht von Raubfischen erreicht werden konnten, schienen nur zu schlafen. Wenn Jason den russischen Ausdruck für »Wacht auf!« gekannt hätte, wäre er versucht gewesen, ihn zu rufen.

Zweifellos befand sich jemand mit guten Russischkenntnissen an Bord, denn der ganze Trauergottesdienst fand in dieser Sprache statt. Erst jetzt, am Ende des Rituals, erklangen englische Worte, als der »Explorer«-Kaplan mit einem Gebet begann.

Langes Schweigen schloss sich an das letzte »Amen« an, gefolgt von einem Befehl an die Ehrenwache. Und dann, als die toten Russen nacheinander ins Meer sanken, ertönten Melodien, die Jason Bradley nie vergessen würde.

Sie klangen melancholisch, jedoch nicht auf die Weise wie übliche Trauermusik. Der langsame, unerbittliche Rhythmus brachte Macht und Geheimnis des Ozeans zum Ausdruck. Jason war kein besonders fantasievoller junger Mann, aber er glaubte nun, das Geräusch von Wellen zu hören, die für immer an ein felsiges Ufer marschierten. Erst Jahre später begriff er, dass man diese Musik sorgfältig ausgewählt hatte.

Die Leichen waren beschwert, so dass sie mit den Füßen voran ins Wasser tauchten, wobei es nur leise platschte. Sie versanken sofort und würden ihre letzte Ruhestätte erreichen, bevor die Haie Gelegenheit bekamen, sie zu zerfleischen.

Jason fragte sich, ob die Gerüchte stimmten und Moskau tatsächlich einen Film von dieser Zeremonie bekommen sollte. Sicher eine freundliche Geste – aber auch doppeldeutig. Vermutlich sprachen sich die Sicherheitsberater selbst dann dagegen aus, wenn das Dokumentationsmaterial sorgfältig redigiert wurde.

Als der letzte Seemann ins Meer zurückkehrte, verhallten die düsteren Melodien. Seit vielen Tagen hing eine imaginäre Wolke des Verhängnisses über der »Explorer«, doch nun verflüchtigte sie sich wie vom Wind fortgewehter Nebel. Eine Zeitlang herrschte völlige Stille, und dann tönte ein einzelnes Wort aus den Lautsprechern: »Wegtreten.« Es klang nicht so scharf wie sonst, eher sanft, und deshalb dauerte es eine Weile, bis die in Reih und Glied stehenden Männer fortgingen.

Und jetzt, dachte Jason, kann ich eine richtige Geburtstagsfeier veranstalten. Zu jenem Zeitpunkt wusste er nicht, dass er erneut über dieses Deck wandern würde – in einem anderen Meer, in einem anderen Jahrhundert.

 

 

2

Die Farben der Unendlichkeit

 

Donald Craig hasste diese Besuche, aber er wusste, dass sie erst mit dem Tod endeten. Wenn ihn nicht Liebe an diesen Ort führte (war es jemals wirklich Liebe gewesen?), so wenigstens Mitleid und geteilter Kummer.

Manchmal ist es sehr schwierig, das Offensichtliche zu sehen, und deshalb dauerte es einige Monate, bis er den wahren Grund für sein Unbehagen erkannte. Die Klinik von Torrington ähnelte mehr einem Luxushotel als einem weltberühmten Behandlungszentrum für Geisteskrankheiten. Hier starb niemand. Nie rollten Krankenbetten von den einzelnen Abteilungen zu Operationssälen. Es gab keine in Weiß gekleideten Ärzte, die mit Pawlow-Reflexen auf das Summen ihrer Signalgeber reagierten, und selbst die Pfleger trugen keine Kittel. Trotzdem handelte es sich im großen und ganzen um ein Hospital. Und in einem Hospital hatte der fünfzehnjährige Donald gesehen, wie sein Vater keuchend nach Luft schnappte, während er an der ersten von zwei großen Seuchen starb, die das zwanzigste Jahrhundert heimsuchten.

»Wie geht es ihr heute Morgen, Dolores?«, fragte er die Krankenschwester, nachdem er sich beim Empfang gemeldet hatte.

»Recht gut, Mr. Craig. Sie hat mich gebeten, sie zum Einkaufen zu begleiten – sie möchte sich einen neuen Hut besorgen.«

»Zum Einkaufen! Das erste Mal äußert sie den Wunsch, nach draußen zu gehen!«

Craig hätte sich eigentlich freuen sollen, aber stattdessen spürte er so etwas wie Ärger. Edith sprach nie mit ihm. Sie starrte immer durch ihn hindurch, als sei sie sich gar nicht seiner Präsenz bewusst.

»Was meint Dr. Jafferjee dazu? Ist es in Ordnung für sie, die Klinik zu verlassen?«

»Nein, ich fürchte, das kommt nicht in Frage. Aber wir sehen darin ein gutes Zeichen: Offenbar findet sie wieder Interesse an ihrer Umwelt.«

Ein neuer Hut?, dachte Craig. Typisch Frau – aber wohl kaum für Edith. Sie hatte sich immer … nun, dezent und nicht unbedingt modisch gekleidet. Wenn sie neue Sachen brauchte, ging sie nicht in irgendeinen Laden, sondern ließ sich das Angebot im Fernsehen zeigen. Er konnte sich seine Frau nicht in einem exklusiven Mayfair-Geschäft vorstellen, umgeben von Hutschachteln, Seidenpapier und überfreundlichen Verkäufern. Aber wenn sie einen solchen Wunsch empfand, so gab es nichts daran auszusetzen. Vielleicht half er ihr, aus dem mathematischen Labyrinth zu entkommen, das im wahrsten Sinne des Wortes unendlich war.

Wo befand sie sich jetzt? Wohin hatte sie sich von ihren endlosen geistigen Forschungsreisen führen lassen? Wie üblich saß Edith auf einem Drehstuhl, während sich auf dem großen Schirm in ihrem Zimmer ein Bild formte. Craig sah, dass sie den hochauflösenden Grafikmodus gewählt hatte – insgesamt zweitausend Zeilen –, und somit war die ganze Kapazität des Supercomputers notwendig, um in Abständen von wenigen Sekunden jeweils ein Pixel hinzuzufügen. Ein unaufmerksamer Beobachter mochte zu dem Schluss gelangen, dass sich die unvollständige Darstellung überhaupt nicht mehr veränderte. Erst bei einem zweiten, genaueren Blick stellte sich heraus, dass es Ende der untersten Zeile langsam über den Schirm kroch.

»Sie hat gestern Morgen damit begonnen«, flüsterte Dolores. »Natürlich saß sie nicht die ganze Zeit über hier. Inzwischen schläft sie auch ohne Beruhigungsmittel.«

Das Bild erzitterte kurz, als eine Scan-Zeile endete und eine weitere von links nach rechts wuchs. Mehr als neunzig Prozent der Struktur waren jetzt komplett, und der untere Teil brachte sicher keine interessanten Erweiterungen mehr.

Donald Craig hatte oft beobachtet, wie solche Bilder entstanden, aber er fand sie noch immer faszinierend. Vielleicht lag es an dem Wissen, dass er nun etwas Einzigartiges betrachtete: Kein Mensch hatte es vor ihm gesehen, und kein Mensch würde nach ihm Gelegenheit erhalten, diese Formen zu bewundern – es sei denn, der Computer speicherte alle Koordinaten. Die Suche nach einem verlorenen Bild dieser Art war noch weitaus sinnloser als die nach einem bestimmten Sandkorn in allen Wüsten der Erde.

Und Edith? Welche mathematischen Gefilde hatte sie erreicht? Craig blickte auf die Zahlen, die über das kleine Display unter dem Hauptmonitor wanderten, Ziffer um Ziffer. Jeweils fünf bildeten einzelne Gruppen, um das menschliche Auge nicht zu sehr zu verwirren, aber der menschliche Geist blieb trotzdem überfordert.

Sechs, sieben, acht Cluster. Vierzig Ziffern. Das bedeutete …

Craig rechnete im Kopf – eine Fähigkeit, die ihn mit Stolz erfüllte, zumal sie im gegenwärtigen Zeitalter vernachlässigt wurde. Das Ergebnis beeindruckte ihn, war jedoch nicht überraschend. Angesichts des aktuellen Maßstabs musste das Basisbild größer sein als die Galaxis. Und der Computer dehnte es weiterhin aus, bis es größer wurde als das Universum – bei einer derartigen Vergrößerung brauchte das Elektronengehirn Jahre, um ein bestimmtes Subbild zu errechnen.

Donald Craig konnte gut verstehen, warum Georg Cantor, Entdecker (oder Erfinder) der Zahlen jenseits der Unendlichkeit, die letzten Jahre seines Lebens in einer Nervenheilanstalt verbracht hatte. Edith beschritt den gleichen Weg, und dabei halfen ihr Maschinen, von denen die Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Der Supercomputer führte derzeit viele tausend Milliarden Rechenoperationen pro Sekunde durch: In einigen wenigen Sekunden ging er mit mehr Zahlen um als die ganze Menschheit, seit der erste Cro-Magnon-Mensch damit begann, die Kieselsteine auf dem Boden seiner Höhle zu zählen.

Die entstehenden Muster wiederholten sich zwar nie, aber sie ließen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen. Es gab Sterne mit zahlreichen Spitzen, die zur sechs- oder achtfältigen beziehungsweise noch höheren Stufen der Symmetrie gehörten; Spiralen, die den Rüsseln von Elefanten oder den Tentakeln von Oktopoden ähnelten; komplexe Facettenaugen von Insekten … Da Größenvergleiche fehlten, sahen manche Bilder aus wie bizarre Galaxien – oder wie die Mikrofauna in einem trüben Wassertropfen.

Während der Computer den Vergrößerungsgrad erhöhte und weiter in die geometrische Tiefe vorstieß, wiederholte sich dann und wann die ursprüngliche Form – eine verschwommene, auf der Seite liegende 8 –, die das ganze kontrollierte Chaos enthielt. Anschließend begann der endlose Zyklus von Neuem, mit subtilen, kaum merklichen Variationen.

In irgendeinem Teil ihres Bewusstseins weiß Edith sicher, dass sie in einer Endlosschleife gefangen ist, dachte Donald Craig. Was war mit dem wundervollen Verstand geschehen, der das 99er-Virus bestimmt hatte, wodurch Edith in den frühen Stunden des 1. Januar 2000 vorübergehend zur berühmtesten Frau der ganzen Welt wurde?

»Edith«, sagte er leise. »Ich bin's, Donald. Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Die Krankenschwester Dolores musterte ihn mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. Sie war nie in dem Sinne unfreundlich, aber ihren Grüßen mangelte es immer an Wärme. Manchmal überlegte Craig, ob sie ihm die Schuld für Ediths Zustand gab.

Jeden Tag stellte er sich diese Frage, seit der Tragödie vor einigen Monaten.

 

 

3

Eine bessere Mausefalle

 

Roy Emerson hielt sich nicht ohne Grund für gutmütig, aber es gab eine Sache, die ihn wirklich verärgern konnte. Es geschah während einer sehr späten Talk-Show im Fernsehen – er schwor sich, nie wieder vor eine Kamera zu treten –, als der Interviewer mit böswilliger Absicht fragte: »Das Prinzip des Wellenwischers ist doch eigentlich ganz einfach – warum hat man es erst jetzt entdeckt?« Der Tonfall übermittelte dabei folgende Botschaft: »Ich hätte das Ding erfinden können, wenn ich mich nicht mit wichtigeren Dingen beschäftigen müsste.«

Emerson widerstand der Versuchung, folgende Antwort zu geben: »Wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten, würden Sie Einstein, Edison und Newton sicher die gleiche Frage stellen.« Stattdessen erwiderte er höflich: »Nun, jemand musste den Einfall zuerst haben. Wahrscheinlich war das Glück auf meiner Seite.«

»Wie kamen Sie auf die Idee? Oder sind Sie einfach mit einem lauten ›Heureka!‹ aus der Badewanne gesprungen?«

Ohne die zynische Einstellung des Interviewers wäre es eine recht harmlose Frage gewesen. Emerson hatte sie natürlich schon hundertmal gehört. Er schaltete auf Automatik und drückte die Play-Taste.

»Wie ich auf die Idee kam … Nun, sie reifte erst später heran, aber den Anstoß gab eine Fahrt an Bord eines schnellen Patrouillenbootes der Küstenwache vor Key West, damals im Jahre 2003 …«

Zwar verdankte er der Erfindung Ruhm und Reichtum, aber selbst heute erinnerte sich Emerson nicht gern an gewisse Aspekte jener Reise. Damals erschien sie ihm verlockend: ein kurzer Trip durch Hemingways alte Jagdgründe, zu dem ihn ein Vetter in der Küstenwache einlud. Ernest wäre sicher erstaunt gewesen, wenn er gewusst hätte, worum es bei der Suche nach Schmugglern ging: um kleine Kristallblöcke, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel, die von Hongkong über Kuba die Vereinigten Staaten erreichten. Die TIMs – Tetrabyte Interaktive Mikrobibliotheken – trieben so viele US-Verlage in den Ruin, dass der Kongress Gesetze abstaubte, die noch aus der Prohibitionszeit stammten.

Ja, damals klang alles sehr verlockend – solange sich Emerson auf der terra firma befand. Leider wies ihn sein Vetter nicht darauf hin, dass Schmuggler ihren Geschäften bei sehr schlechtem Wetter nachgingen und nur dann zu Hause blieben, wenn ein Hurrikan tobte.

»Es war ein ziemlich ungemütlicher Ausflug, und nachher erinnerte ich mich nur an die Vorrichtung auf der Brücke, die es dem Steuermann erlaubte, das Meer zu sehen – trotz Gischt und herabstürzender Regenfluten.

Das Ding bestand aus einer schlichten Glasscheibe, die sich schnell drehte. Das Wasser wurde regelrecht davongeschleudert, und deshalb blieb die Scheibe immer völlig klar. Der Apparat erschien mir wesentlich besser als die Scheibenwischer eines Autos – und dann vergaß ich ihn wieder.«

»Für wie lange?«

»Es beschämt mich zuzugeben, dass ich ein paar Jahre lang nicht mehr daran dachte. Doch eines Tages, als ich in New Jersey durch starken Regen fuhr, klemmten die Scheibenwischer. Ich musste anhalten und warten, bis es nicht mehr regnete. Etwa eine halbe Stunde lang saß ich fest, und nach diesen dreißig Minuten sah ich alles ganz deutlich vor mir.«

»Mehr war nicht erforderlich?«

»Abgesehen von jedem Cent, den ich auftreiben konnte, sowie zwei Jahre Arbeit in der Garage – fünfzehn Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche.« (»Und meine Ehe«, hätte Emerson hinzufügen können, aber er ahnte, dass der für seine gründlichen Nachforschungen bekannte Interviewer darüber Bescheid wusste.)

»Die ganze Windschutzscheibe – oder auch nur einen Teil davon – zu drehen, ließ sich praktisch kaum verwirklichen. Die Antwort musste Vibration lauten. Aber von welcher Art?

Ich begann damit, die Windschutzscheibe in einen Lautsprecherkonus zu verwandeln. Das hielt den Regen von ihr fern, aber dafür entstand ein akustisches Problem. Ich versuchte es mit Ultraschall. Es erforderte mehrere Kilowatt Energie – und alle Hunde in der Nachbarschaft spielten verrückt. Schlimmer noch: Nach einigen Stunden zerfiel die Scheibe zu feinem Glasstaub.

Daraufhin experimentierte ich mit Infraschall. Es funktionierte besser, aber nach einigen Minuten am Steuer bekommt man dadurch Kopfschmerzen: Zwar hört man jene Frequenzen nicht, doch man fühlt sie.

Einige Monate lang kam ich nicht weiter und hätte die ganze Sache fast aufgegeben, als ich plötzlich meinen Fehler begriff. Ich trachtete danach, die ganze rund zehn Kilogramm schwere Masse aus mehrfach geschichtetem Sicherheitsglas vibrieren zu lassen, obwohl eine dünne Schicht an der Außenseite genügte: Sie hält den Regen auch dann fern, wenn sie nur wenige Mikron dick ist.

Ich las alles über Oberflächenwellen, Transducer und Impedanz …«

»Lieber Himmel! Können Sie das mit einsilbigen Worten erläutern?«

»Das ist leider unmöglich. Ich möchte es folgendermaßen ausdrücken: Ich habe eine Möglichkeit gefunden, niederenergetische Vibrationen auf eine sehr dünne Schicht zu begrenzen, wodurch die Hauptmasse der Windschutzscheibe unbeeinträchtigt bleibt. Wenn Sie Details möchten, so verweise ich auf die Patentbeschreibungen.«

»Diese Auskunft genügt uns völlig, Mr. Emerson. Nun zu unserem nächsten Gast …«

Das Gespräch fand in London statt, wo die Werke des aus New England stammenden Transzendentalisten nicht zur täglichen Lektüre gehörten; vielleicht war das der Grund, warum der Interviewer keine Verbindung zu Emersons berühmtem Namensvetter herstellte. Die Gastgeber von amerikanischen Talk-Shows versäumten natürlich nicht die Gelegenheit, Roy (soweit er wusste, gab es keine Verwandtschaftsbeziehungen) zur Erfindung der apokryphischen Besseren Mausefalle zu gratulieren. Die Automobilindustrie hatte sich bei ihm die Klinke in die Hand gegeben: Innerhalb weniger Jahre wurden Millionen von metronomischen Wischerblättern gegen den Schallwellenwischer ausgetauscht. Was noch wichtiger war: Da die Sichtverhältnisse bei schlechtem Wetter eine wesentliche Verbesserung erfuhren, kam es zu weniger Unfällen.

Während Roy Emerson das letzte Modell seiner Erfindung testete, erzielte er einen weiteren Durchbruch. Erneut konnte er dabei von Glück sagen, dass er als Erster auf die Idee kam.

Sein Mercedes Hydro, Baujahr 2004, rollte fast geräuschlos über die Park Avenue und wurde dem Slogan gerecht: »Sie können Ihre Auspuffgase trinken!« Ein Monsun schien sich ins Stadtzentrum verirrt zu haben und bot perfekte Voraussetzungen, um den Wellenwischer Typ 5 auf die Probe zu stellen. Emerson saß neben seinem Chauffeur – er fuhr jetzt nicht mehr selbst –, sprach Notizen in ein Aufzeichnungsgerät und wählte eine andere Einstellung des elektronischen Reglers.

Der Wagen schien durch ein Tal zu gleiten, dessen Wände aus regennassem Glas bestanden. Emerson erinnerte sich an zahlreiche solche Fahrten, aber erst jetzt traf ihn das Offensichtliche mit lähmender Wucht.

Langsam ließ er den angehaltenen Atem entweichen. »Eine Verbindung mit Joe Wickram«, wandte er sich an den Auto-Kommunikator.

Der Rechtsanwalt sonnte sich auf einer Yacht vor dem Great Barrier Reef und war ein wenig überrascht von dem Anruf.

»Das kostet dich eine Menge Geld, Roy. Ich wollte gerade einen Marlin fangen.«

Emerson hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf.

»Sag mal, Joe – sichert mir das Patent die Rechte an allen Anwendungen, oder bezieht es sich nur auf Windschutzscheiben?«

Joe fühlte sich von der angedeuteten Kritik beleidigt.

»Ich habe darauf geachtet, dass man eine Anpassungsklausel aufnahm. Ganz gleich, was mit dem Wellenwischer angestellt wird – du kassierst in jedem Fall. Willst du vielleicht neue Sonnenbrillen entwickeln?«

»Warum nicht? Aber zunächst denke ich an etwas Größeres. Der Wischer hält nicht nur Wasser fern, sondern schüttelt auch vorhandenen Schmutz ab. Wann hast du zum letzten Mal einen Wagen mit schmutziger Windschutzscheibe gesehen?«

»Keine Ahnung.«

»Danke. Mehr wollte ich nicht wissen. Viel Glück beim Angeln.«

Roy Emerson lehnte sich zurück, überlegte konzentriert und fragte sich, ob es die Windschutzscheibe aller Autos in New York mit den Glasflächen des einen Wolkenkratzers aufnehmen konnte, an dem er gerade vorbeikam.

Er schickte sich an, einen ganzen Beruf zu zerstören: Hunderttausende von Fensterputzern mussten sich bald einen neuen Job suchen.

Bisher war Roy Emerson nur Millionär. Bald würde er reich sein.

Und an Langeweile leiden …

 

 

4

Das Jahrhundertsyndrom

 

Als am Freitag, den 31. Dezember 1999, die Uhren Mitternacht schlugen, gab es sicher nur wenige gebildete Leute, die nicht wussten, dass das nächste Jahrtausend erst in einem Jahr begann. Wochenlang hatten die Medien immer wieder darauf hingewiesen: Da der westliche Kalender mit dem Jahr 1 anfing – und nicht mit dem Jahr 0 –, blieben dem zwanzigsten Jahrhundert noch zwölf Monate.

Es spielte keine Rolle. Der psychologische Effekt jener drei Nullen war zu stark, das Gefühl der unmittelbar bevorstehenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende zu ausgeprägt. Auf dieses Wochenende kam es an. Der 1. Januar 2001 entbehrte jeder Spannung, war nur für einige Film-Fans wichtig.

Es gab auch einen sehr praktischen Grund dafür, warum es vor allen Dingen um den 1. Januar 2000 ging. Noch vor vier Jahrzehnten hätte in diesem Zusammenhang niemand ein Problem erwartet. Seit den sechziger Jahren übernahmen immer mehr Computer die Buchhaltung der Welt, und inzwischen war dieser Automatisierungsprozess praktisch abgeschlossen. Millionen von optischen und elektronischen Speicherelementen enthielten Daten über Milliarden und Billionen von Transaktionen – praktisch die ganze Ökonomie des Planeten.

Natürlich waren die meisten Einträge und Dateien mit einem Datum gekennzeichnet. Als die letzte Dekade des Jahrhunderts begann, raste so etwas wie eine Schockwelle durch die Finanzwelt. Plötzlich (und zu spät) erkannte man, dass den Datumsangaben eine wichtige Komponente fehlte.

Die menschlichen Bankangestellten und Buchhalter dachten nur selten daran, den Jahreszahlen eine »19« voranzusetzen. Man nahm sie als selbstverständlich hin; es entsprach dem gesunden Menschenverstand. Und genau daran mangelte es Computern. Wenn der erste Morgen des Jahres '00 dämmerte, würden sich Myriaden von elektronischen Idioten sagen: »00 ist kleiner als 99. Deshalb ist heute früher als gestern – um genau neunundneunzig Jahre. Auf dieser Grundlage müssen alle Hypotheken, Konto-Überziehungen und Sparguthaben neu berechnet werden …« Das Ergebnis: internationales Chaos in einem Ausmaß, wie es noch niemand erlebt hatte. Die Konsequenzen gingen zweifellos über alle anderen Leistungen der Künstlichen Dummheit hinaus und stellten selbst die Folgen des Schwarzen Montags am 5. Juni 1995 in den Schatten, als der fehlerhafte Chip einer Züricher Bank den Diskontsatz nicht auf 15, sondern gleich auf 150 Prozent erhöhte.

Auf der ganzen Erde gab es nicht genug Programmierer, um die Abermilliarden Finanzdaten zu überprüfen und dort, wo es notwendig wurde, die magische 19 hinzuzufügen. Die einzige Lösung bestand darin, diese Arbeit von einer besonderen Software erledigen zu lassen, einigen Algorithmen, die wie ein Virus existierende Programme »infizieren« und gezielt verändern sollten.

Während der letzten Jahre des Jahrhunderts nahmen alle erstklassigen Programmierer an dem Wettlauf zum »Impfstoff '99« teil – ihre Bemühungen ähnelten der Suche nach dem Heiligen Gral. Einige fehlerhafte Versionen kam 1997 auf den Markt: Wer sie erwarb und testete, ohne zuvor Sicherungskopien von seinem Daten- und Programmbestand anzufertigen, sah sich plötzlich mit gelöschten Speichermedien konfrontiert. Rechtsanwälte verdienten sich goldene Nasen mit Klagen und Gegenklagen.

Edith Craig gehörte zum kleinen Pantheon berühmter Programmiererinnen, das mit Byrons tragischer Tochter Ada (Lady Lovelace) begann und über Konteradmiral Grace Hopper zu Dr. Susan Calvin führte. Mit der Hilfe von nur wenigen Assistenten und einem SuperCray schuf sie die zweihundertfünfzigtausend Code-Zeilen des DOPPELNULL-Programms, das jedes gut organisierte Finanzsystem auf den Wechsel zum einundzwanzigsten Jahrhundert vorbereitete. Es kam sogar mit schlecht organisierten zurecht, indem es Gefahrenpunkte markierte, an denen menschliches Eingreifen erforderlich sein mochte.

Zum Glück fiel der 1. Januar 2000 auf einen Samstag. Dadurch hatte die Welt ein Wochenende Zeit, um sich vom Kater zu erholen und auf den Augenblick der Wahrheit am Montagmorgen vorzubereiten.

In der nächsten Woche gingen viele Firmen in den Konkurs, deren Debitoren- und Kreditoren-Konten plötzlich nur noch Unsinn enthielten. Wer klug genug gewesen war, ins DOPPELNULL-Programm zu investieren, überlebte das finanzielle Erdbeben. Edith Craig war reich, berühmt – und glücklich.

Nur Reichtum und Ruhm sollten von Dauer sein.

 

 

5

Das Reich aus Glas

 

Roy Emerson hatte nie damit gerechnet, reich zu sein, und deshalb war er nicht auf die damit einhergehenden Mühen vorbereitet. Zuerst glaubte er naiverweise, Experten damit beauftragen zu können, das rasch wachsende Vermögen zu verwalten – um dadurch Gelegenheit zu erhalten, seine Zeit ganz nach Belieben zu verbringen. Schon recht bald musste er eine Enttäuschung hinnehmen: Geld brachte zwar Freiheit, aber auch Verantwortung. Zahlreiche Entscheidungen konnte nur er allein treffen, und er sah sich dazu gezwungen, viele deprimierende Stunden mit Rechtsanwälten und Buchhaltern zu verbringen.

Auf halbem Weg zur ersten Milliarde wurde Emerson Aufsichtsratsvorsitzender. Die Gesellschaft hatte nur fünf Direktoren: seine Mutter, sein älterer Bruder, seiner jüngere Schwester, Joe Wickram und er selbst.

»Warum nicht Diana?«, hatte er Joe gefragt.

Der Anwalt musterte ihn über den Rand der Brille hinweg, die ihm, wie er fest glaubte, im Zeitalter problemloser Augenchirurgie ein würdevolles Erscheinungsbild gab.

»Eltern und Geschwister hat man für immer«, erwiderte er. »Ehefrauen kommen und gehen – du solltest das eigentlich wissen. Womit ich natürlich nicht andeuten will …«

Joe hatte recht. Diana reichte die Scheidung ein, ebenso wie Gladys vor ihr. Die Trennung fand in gutem Einvernehmen statt, kostete jedoch eine Menge Geld. Nach der Unterzeichnung der letzten Dokumente verschwand Emerson für einige Monate in seiner Werkstatt. Als er sie wieder verließ (ohne neue Erfindungen – er war so sehr damit beschäftigt gewesen, sich über die Funktionsweise der wundervollen neuen Geräte klarzuwerden, dass er sie gar nicht benutzen konnte), wartete Joe mit einer neuen Überraschung auf ihn.

»Es beansprucht nur einen geringen Teil deiner Zeit«, sagte er. »Und es ist eine große Ehre: Parkinson's gehört zu den angesehensten Firmen in England und wurde vor zweihundert Jahren gegründet. Zum ersten Mal hat sich das Unternehmen bereiterklärt, einen Direktor zu akzeptieren, der nicht aus der Familie und noch dazu aus dem Ausland stammt.«

»Ha! Wahrscheinlich brauchen die Leute nur mehr Kapital.«

»Selbstverständlich. Aber das liegt auch in unserem Interesse. Außerdem respektieren sie dich. Du weißt ja, welche Auswirkungen deine Erfindung weltweit auf die Glasindustrie hatte.«

Roy Emerson stellte überrascht fest, dass er diese Erfahrung nicht nur als angenehm empfand, sondern auch als anregend. Bis er den Sitz im Aufsichtsrat von Parkinson's annahm und die alle zwei Monate in London stattfindenden Konferenzen besuchte, hatte er geglaubt, etwas über Glas zu wissen. Schon nach kurzer Zeit musste er seinen Irrtum eingestehen.

Selbst gewöhnliches Tafelglas, das er sein Leben lang als selbstverständlich hingenommen hatte – und dem er den größten Teil seines Reichtums verdankte –, zeichnete sich durch eine bemerkenswerte Geschichte aus. Bis zu diesem Zeitpunkt war Emerson davon überzeugt gewesen, dass man das halbflüssige Glas zwischen zwei großen Rollen presste und anschließend weiterverarbeitete; für die Einzelheiten des Herstellungsverfahrens hatte er nie großes Interesse aufgebracht.

Man verwendete tatsächlich Rollen, aber nur bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die entstehenden Platten mussten in einem aufwendigen Verfahren geschliffen werden, bis sich ein exzentrischer Engländer fragte: Warum überlassen wir die Arbeit nicht Schwerkraft und Oberflächenspannung? Soll das Glas auf geschmolzenem Metall schwimmen; dann entsteht automatisch eine glatte Oberfläche …

Nach einigen Jahren und mehreren Millionen Pfund lachten seine Kollegen nicht mehr. Über Nacht führte das Float-Glas dazu, dass alle anderen Herstellungsmethoden veraltet waren.

Emerson nahm diese Lektion technologischer Geschichte beeindruckt zur Kenntnis und sah die Parallelen zu seinem eigenen Durchbruch. Darüber hinaus gestand er offen ein, dass jene Innovation weitaus mehr Mut und Engagement erforderte als seine im Vergleich dazu fast banale Erfindung. Sie veranschaulichte den Unterschied zwischen Genie und Talent.

Ihn faszinierte auch die uralte Kunst der Glasbläserei, die nicht ganz von moderner Technik verdrängt worden war und sich wahrscheinlich auch weiterhin behaupten würde. Er reiste sogar nach Venedig – die Lagunenstadt duckte sich nervös hinter den von Holländern errichteten Dämmen – und bestaunte die komplexen Kunstwerke im Glasmuseum. Er konnte sich kaum vorstellen, wie man sie geschaffen hatte, und es erschien ihm wie ein Wunder, dass sie beim Transport zum Museum nicht beschädigt worden waren. Offenbar gab es keine Grenzen für den Umgang mit Glas; sogar nach zwei Jahrtausenden entdeckte man immer neue Verwendungszwecke.

Diese besondere Aufsichtsratssitzung war langweiliger als alle anderen, und Emerson träumte die meiste Zeit über mit offenen Augen. Er bewunderte die nahe Kuppel der Kathedrale St. Paul's von einem der wenigen Aussichtspunkte, die man noch nicht kommerzieller Gier und architektonischem Vandalismus geopfert hatte. Nur noch zwei Punkte auf der Tagesordnung – anschließend konnten sie das exzellente Mittagessen genießen, das in der Penthouse-Suite auf sie wartete.

Emerson hob den Kopf, als er die Worte »vierhundert Atmosphären Druck« vernahm. Sir Roger Parkinson las aus einem Brief vor und hielt ihn so in den Händen, als handele es sich dabei um ein bisher unbekanntes Insekt. Emerson blätterte rasch in seinen Unterlagen und fand die Kopie des Schreibens.

Das Briefpapier war eindrucksvoll, doch die im Absenderfeld angegebenen Namen sagten ihm nichts. Nur die Adresse fiel ihm auf: Lincoln's Inn Fields. Ganz unten, einer bescheidenen Fußnote gleich, stand der Hinweis »Gegr. 1803«, in so kleinen Buchstaben, dass man sie mit dem bloßen Auge kaum lesen konnte.

»Der Kunde wird nicht genannt«, sagte der junge (er war mindestens fünfunddreißig) George Parkinson. »Interessant.«

»Wer auch immer es sein mag …«, warf William Parkinson-Smith ein, das insgeheim bewunderte schwarze Schaf der Familie. Die Klatsch-Kanäle liebten ihn, weil er immer wieder für Skandale sorgte. »Er scheint nicht genau zu wissen, was er will. Warum bittet er um einen Kostenvoranschlag für so unterschiedliche Größen? Die Radien reichen von einem Millimeter – meine Güte! – bis hin zu einem halben Meter.«

»Die größeren«, sagte Rupert Parkinson, ein berühmter Segler, der an mehreren Regatten teilgenommen hatte, »erinnern mich an die Schwimmer von japanischen Netzen. Man findet die Dinger überall im Pazifik. Eignen sich gut als Ziergegenstände.«

»Für die kleineren fällt mir nur ein Zweck ein«, verkündete George in einem bedeutungsvollen Tonfall. »Fusionsenergie.«

»Unsinn, Onkel«, widersprach Gloria Windsor-Parkinson (bei der Olympiade von 2004 errang sie die Silbermedaille im 100-Meter-Lauf). »Schon seit Jahren benutzt man keine Laserstrahlimpulse mehr, um Plasma aus gefrorenen Deuterium-Tritium-Kügelchen herzustellen. Außerdem: Die dafür verwendeten Mikrokugeln waren winzig. Selbst ein Durchmesser von einem Millimeter wäre viel zu groß – es sei denn, jemand möchte sich im heimischen Keller eine Wasserstoffbombe zusammenbasteln.«

»Und denkt daran, um welche Menge es geht«, sagte Arnold Parkinson (weltweit bekannter Fachmann für präraffaelitische Kunst). »Genug, um die Albert Hall zu füllen.«

»Lautete so nicht der Titel eines Songs von den Beatles?«, fragte William. Kurze Stille folgte, und dann klickten Tasten. Gloria fand die Antwort zuerst, wie üblich.

»Nicht schlecht, Onkel Bill. Aus dem Album Sergeant Pepper: ›A Day in the Life.‹ Ich wusste gar nicht, dass du klassische Musik magst.«

Sir Roger störte den Vorgang des freien Assoziierens nicht. Er konnte den ganzen Aufsichtsrat zum Schweigen bringen, indem er nur eine Braue wölbte, aber klugerweise verzichtete er darauf – noch. Er wusste, dass diese Brainstorming-Phasen oft zu wichtigen Schlussfolgerungen (und auch Entscheidungen) führten, die allein mit Logik nicht ohne Weiteres erreicht werden konnten. Und selbst wenn dabei konkrete Ergebnisse ausblieben: Sie halfen der über die ganze Welt verstreuten Familie, sich besser kennenzulernen.

Doch es war Roy Emerson, Ausländer und noch dazu Yankee, der die versammelten Parkinsons mit einer Vermutung überraschte. Während der letzten Minuten hatten sich irgendwo in seinem Hinterkopf die ersten Konturen einer Idee gebildet. Ruperts Hinweis auf die Schwimmer der japanischen Netze lieferten den ersten vagen Hinweis. Doch er hätte kaum etwas genützt, wenn es nicht zu einem der außerordentlichen Zufälle gekommen wäre, von denen kein anständiger Romanschriftsteller die Handlungen seiner Werke bestimmen lässt.

An der gegenüberliegenden Wand hing ein Porträt Basil Parkinsons, 1874–1912. Jeder wusste, wo er gestorben war, obgleich die Umstände seines Todes nur Platz für Mutmaßungen ließen. Und für mindestens eine Verleumdung.

Manche Leute meinten, er habe sich als Frau verkleidet, um an Bord des letzten Rettungsboots zu gelangen. Andere hatten angeblich gesehen, wie er ein lebhaftes Gespräch mit Chefkonstrukteur Andrews führte und dabei überhaupt nicht auf das steigende eiskalte Wasser achtete. Zumindest die Familie gab der zweiten Version den Vorzug. Sie hielt es für wahrscheinlich, dass sich die beiden brillanten Techniker während der letzten Minuten ihres Lebens Gesellschaft geleistet hatten.

Emerson räusperte sich nervös und fürchtete, sich zum Narren zu machen …

»Sir Roger«, begann er, »mir ist da gerade etwas eingefallen. Uns trennen nur noch sechzig Monate bis zum Jahr 2012, und dann ist seit damals genau ein Jahrhundert vergangen. Immer häufiger kommt dieses Thema in den Medien zur Sprache. Einige Millionen Kugeln aus besonders widerstandsfähigem Glas wären genau richtig, um das Wunder zu vollbringen.

Ich glaube, unser geheimnisvoller Kunde hat es auf die ›Titanic‹ abgesehen.«

 

 

6

»Der Untergang der ›Titanic‹«

 

Ein großer Teil der Menschheit kannte Donald Craigs Arbeit, aber trotzdem würde er nie den gleichen Ruhm erringen wie Edith. Dennoch: Seine Fähigkeiten als Programmierer hatten ihm ebenfalls ein Vermögen eingebracht, und eigentlich war es unvermeidlich, dass sie sich kennenlernten: Beide benutzten Supercomputer, um ein Problem zu lösen, das im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts immer mehr Aufmerksamkeit verlangte.

Mitte der neunziger Jahre begann für die Film- und Fernsehstudios plötzlich eine Krise, mit der niemand gerechnet hatte, obgleich sie sich schon seit einigen Jahren ankündigte. Viele klassische Filme – die wichtigsten Aktivposten der Unterhaltungsindustrie – wurden wertlos, weil es immer weniger Personen gab, die es ertrugen, sich solche Streifen anzusehen, Millionen von Zuschauern schalteten voller Abscheu ab, wenn im Fernsehen ein Western lief, ein James-Bond-Film, eine Neil-Simon-Komödie oder ein Gerichtsdrama. Der Grund dafür wäre noch vor einer Generation unvorstellbar gewesen: Das Publikum empfand Ekel, wenn es rauchende Menschen sah.

Diese Revolution im menschlichen Verhalten ging zum Teil auf die AIDS-Epidemie der neunziger Jahre zurück. Die zweite Seuche des zwanzigsten Jahrhunderts war entsetzlich genug, aber sie verlangte nicht annähernd so viele Todesopfer wie die ebenso schrecklichen Krankheiten, die vom Tabakgenuss verursacht wurden. Donalds Vater erlag einer von ihnen, und es kam poetischer Gerechtigkeit gleich, dass sein Sohn ein Vermögen damit verdiente, klassische Filme zu ›bereinigen‹, damit sie einem neuen Publikum präsentiert werden konnten.

Zwar waren einige von ihnen geradezu rettungslos verraucht, aber bei überraschend vielen genügten geschickte, computerunterstützte Manipulationen, um qualmende Zylinder aus den Händen oder dem Mund der Schauspieler verschwinden zu lassen und Aschenbecher von Tischen zu verbannen. Für jene Technik, die Realität mit imaginären Welten verschmolz und in so bahnbrechenden Filmen wie »Roger Rabbit« eingesetzt worden war, gab es auch noch andere Anwendungen – nicht alle von ihnen legal. Nun, im Gegensatz zu den Video-Erpressern konnte Donald Craig von sich behaupten, eine nützliche soziale Funktion auszuüben.

Er begegnete Edith bei der Vorführung des von ihm bereinigten Klassikers »Casablanca«, und sie wies sofort auf Verbesserungsmöglichkeiten hin. Zwar spöttelten einige Leute, Donald hätte Edith nur wegen ihrer Algorithmen geheiratet, aber die Partnerschaft führte sowohl auf persönlicher als auch professioneller Ebene zu einem vollen Erfolg. Zumindest während der ersten Jahre …

 

»Ein sehr einfacher Job«, sagte Edith Craig, als der Nachspann über den Bildschirm rollte. »Es gibt insgesamt nur vier problematische Szenen. Außerdem finde ich es großartig, endlich wieder mit guten alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu arbeiten!«

Donald schwieg. Der Film hatte ihn mehr erschüttert, als er sich selbst eingestand, und seine Wangen waren noch immer feucht vor Tränen. Was hat mich so tief bewegt?, fragte er sich. Vielleicht der Umstand, dass dies alles wirklich geschehen ist, dass damals tatsächlich Hunderte von hilflosen Menschen gestorben sind, deren Namen wir noch heute kennen? Nein, das allein genügte nicht als Erklärung für den tiefen Kummer, der ihn plötzlich erfasst hatte. Bei anderen Gelegenheiten spürte er keine derart intensiven emotionalen Reaktionen …

Edith schien nichts bemerkt zu haben. Mit einigen Tastendrucken rief sie die erste gespeicherte Sequenz auf den Monitorschirm und betrachtete sie nachdenklich.

»Wir beginnen mit Bild 3751«, sagte sie. »Los geht's. Mann zündet sich Zigarre an, Mann auf der rechten Seite ebenso. Ende mit Bild 4432. Die ganze Sequenz dauert fünfundvierzig Sekunden. Was hält unser Auftraggeber von Zigarren?«

»Sie sind in Ordnung, solange es sich um eine historische Notwendigkeit handelt. Erinnerst du dich an den Dokumentarbericht über Churchill? Wir können wohl kaum vorgeben, er sei Nichtraucher gewesen.«

Edith lachte kurz, und es klang fast wie ein Bellen. Donald stellte fest, dass er dieses Geräusch immer weniger mochte.

»Ich habe mir Winston nie ohne Zigarre vorstellen können. Ihm schienen sie nicht zu schaden. Immerhin wurde er einundneunzig.«