Fee-Christine Aks

MORDSFEST und andere Geschichten

Sammelband

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Mordsfest - ein StrandtGuth-Krimi

Der Adventskranz

Waluma

Die Weihnachtspyramide

Die Schneeflocke

Der Strohstern

Der Tannenzweig

Mehr von der Autorin?

Leseprobe „Verlorene Jugend“

Impressum neobooks

Widmung











MORDSFEST

und andere Geschichten



Eine weihnachtliche Sammlung

von

Fee-Christine Aks





1. Auflage Dezember 2016

Copyright © 2016 Fee-Christine AKS

All rights reserved.

ISBN: 1537570609

ISBN-13: 978-1537570600




Frohe Weihnachten

wünscht

Fee-Christine Aks


Mordsfest - ein StrandtGuth-Krimi

Prolog


Mittwoch, 23. Dezember 2015.

Die Nordmanntanne war schwerer, als er gedacht hatte. Die Nadeln piekten in seine bloßen Hände, als er den Baum schulterte und zum Parkplatz schleppte. Das dünne Netz aus Plastikfasern, das der Händler auf dem Markplatz nach der Bezahlung um die grünen Zweige gewickelt hatte, knisterte leicht, als er seinen SUV deutschen Fabrikats erreichte und den Baum auf den Dachträger schob.

Während er die Spanngurte darüber befestigte, überlegte er, warum er diesen Baum überhaupt gekauft hatte. Wieso hatte er Geld ausgegeben für etwas so Vergängliches? War es nur, um den Schein zu wahren?

Seufzend stieg er in den Wagen und startete den Motor. Der Sechszylinder gab ein dumpfes Röhren von sich, aber er stotterte nicht so wie heute Morgen, als er ihn kalt gestartet hatte. Wahrscheinlich war doch mal wieder eine Inspektion fällig; doch die würde jemand anders machen müssen. Er würde den Wagen nicht mitnehmen können, das wusste er.

Er fuhr langsam durch die weihnachtlich geschmückten Straßen der kleinen Ortschaft und versuchte, die Gedanken an Scheitern und das schwarze Loch, das er aus seinen Alpträumen des letzten Jahres kannte, zu verdrängen. Er durfte jetzt auf keinen Fall aufgeben, gerade jetzt nicht.

Als er nach wenigen Minuten in die kleine Wohnstraße einbog, an dem hinter einer schmalen Kurve verborgen sein Haus – das vorletzte in der Straße – direkt an dem kleinen Waldstück lag, begann sein Puls zu rasen. Er musste ruhig sein, sich nichts anmerken lassen. Niemand durfte etwas ahnen, es musste normal sein, bis zum letzten Moment. Die Familie würde noch früh genug Schlagzeilen machen, in den Lokalnachrichten sogar den Aufreißer; Kapitalverbrechen waren immer eine Titelstory wert.

Gerade deshalb war es so wichtig, alles wie immer zu tun, um keinen Verdacht zu erregen. Dieses Weihnachtsfest, der morgige Abend und der Morgen danach würden die letzten sein, jedenfalls für ihn; seine letzten Tage in Freiheit. Sobald die Polizei ihn holen kam, würde nichts mehr so sein, wie es gewesen war.

Seufzend lenkte er den Wagen in die Einfahrt und rollte in den Carport neben dem hölzernen Unterstand, in dem die hüfthohen Mülltonnen vor Regen, Wind und Schnee geschützt wurden. Er musste daran denken, nachher beim Abholen der Weihnachtsgans nicht nur den Brief nach der letzten Leerung des Kastens einzuwerfen, sondern auch noch eine neue Rolle schwarze Müllsäcke zu kaufen.

Die Nordmanntanne sträubte sich beträchtlich, als er sie vom Autodach zog und geschultert ins Haus bis ins Wohnzimmer trug, wo er den angespitzten Stamm fachmännisch in den Tannenständer platzierte und fixierte. Die Familie war da, plötzlich und so massiv, dass er hätte schreien können.

Er ließ sie herumwuseln, den Baum und den Kamin schmücken und dabei immer wieder mit dem verdammten Köter herumalbern. Sie waren alle so fröhlich und unbekümmert, dass ihm schlecht davon wurde. Er wusste, was passieren würde, passieren musste. Und er wollte, dass es so geschah, wie er es geplant hatte.


*****





Donnerstag, 24. Dezember 2015.


Als die Tür ins Schloss fällt, ist Carlotta Strandt erleichtert. Die Stille drinnen in der Wohnung ist kaum auszuhalten gewesen. Vielleicht ist es auch die Leere in der ansonsten gemütlichen Drei-Zimmer-Altbauwohnung mit Balkon. Denn seit Moritz ausgezogen ist, tut jede Sekunde in dem ehemals gemeinsamen Nest so weh, dass sie schreien könnte.

Langsam steigt sie die breiten Treppen aus altersdunkler Eiche hinunter und ist bemüht, das Briefkastenschild ‚Strandt/Guth‘ zu ignorieren, als sie daran vorbeikommt. Allein seinen Namen zu lesen tut weh, denn es ist aus und vorbei. Und so schwer ihr das fällt, sie kann verstehen, dass er sauer auf sie ist. Sich mit einem dunkelhaarigen Max zu trösten, wenn der blonde Moritz gerade wütend auf sie ist, muss als Fehler verbucht werden. Aber, genau genommen, sind sie nicht mehr zusammen – geschweige denn verlobt – gewesen, als sie und Max…

Für Moritz ist es dennoch Verrat gewesen, genau wie der letzte Fall, bei dem sie pflichtbewusst alle Verdächtigen genannt hat – einschließlich Verwandter von Moritz. Warum er so rabiat ihr gemeinsames Leben auf den Kopf gestellt hat, kann sie verstehen, aber es tut dennoch unendlich weh.

„Hey, Lotta, warum so trübselig? Es ist Weihnachten!“

„Ach, Max“, seufzt Lotta und blickt auf, erstaunt bereits vor ihrem Haus zu sein. Sie lächelt knapp. „Gut, dass du da bist. Hast du den Wein?“

„Wie bestellt, zwei Flaschen Château Rochefort, trocken.“

Er lächelt und mustert sie mit seinen stahlblauen Augen, die unter den dunklen halblangen Locken beinah grau wirken, wenngleich darin festliche Freude und wohl auch Vorfreude auf einen gemeinsamen Abend glitzert. Seine sportlichen einhundertsechsundachtzig Zentimeter schirmen Lotta gegen den kühlen Wind von der Seite, als sie nebeneinander her durch die winterlich kalten Straßen und vorbei an den festlich geschmückten Häusern und Vorgärten zur nächsten S-Bahnhaltestelle gehen.

„Tut gut, was?“ fragt er schmunzelnd, als sie in Blankenese aussteigen und zu Fuß zum Haus von Lottas Eltern in einer Seitenstraße der Elbchaussee schlendern. „Endlich mal Urlaub, meine ich, und auch nicht Bereitschaft zu haben.“

„Stimmt es eigentlich“, fragt Lotta zurück, während sie in die Godeffroystraße einbiegen, „dass du zu uns wechseln willst? Hast du genug von Raub?“

„So perfide das klingt“, grinst er, „bei euch ist mehr Action, wenn du verstehst.“

„Mord und Totschlag eben“, seufzt Lotta und nickt. „Und zu wann?“

„Nicht vor März.“

„Solange halte ich es noch mit Matthias und den anderen aus.“

„Sehr gut“, nickt er und fasst die Tragetasche mit den eingewickelten Flaschen fester, als sie vor dem Gartentor einer hübschen mittelgroßen Villa ankommen und Lotta auf die Klingel drückt, bevor sie das Tor aufdrückt und an der Haustür von Märit Strandt in die Arme geschlossen wird.

„Hallo, Sie müssen Maximilian Bohse sein“, sagt Hermann Strandt und schüttelt Max herzlich die Hand. „Freut mich, Sie endlich kennenzulernen. Lotta hat uns schon viel von Ihnen erzählt.“

„Ich hoffe, nur das Schlimmste“, grinst Max und schüttelt auch Märit die Hand. „Und vielen Dank für die Einladung, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“

Märit macht eine auffordernde Handbewegung ins Haus hinein, während sie in einer fließenden Drehung zur Seite tritt und dabei die Tragetasche mit den Weinflaschen übernimmt und voraus geht. Lotta folgt ihren Eltern, die genau genommen nur ihre Adoptiveltern sind, und verspürt ein seltsames Ziehen in der Brust, als sie das Wohnzimmer betritt.

Max steht neben ihr und legt einen Arm um ihre Schultern, während auch er andächtig die Szene betrachtet. Der festlich geschmückte Baum erstrahlt im Licht zweier LED-Lichterketten, die auf den Glaskugeln, Engelchen, Sternen und bunten Zuckerkringeln tausendfach widerspiegeln. Lotta schluckt. Eigentlich sollte Moritz hier sein, hier bei ihr. Es ist immer noch kaum zu glauben, dass er weg ist. Aber so ist es eben und nun muss sie das Beste draus machen.


*****


Das große rot-weiße Kostüm riecht nach Altherrenparfüm. Aber Moritz Guth hat keine Wahl, er hat zugesagt. Und so muss er die Sache nun durchziehen. Es gilt, den Nachbarn seiner Großeltern eine Freude zu machen.

„Du siehst ulkig aus“, hört er eine amüsierte Stimme hinter sich.

Natürlich ist es Basti, Sebastian Pfeiffer, sein bester Freund, der grinsend in der Tür lehnt, seine zwei Wochen alte Tochter Mia Gabriella auf dem Arm. Sanftes Wiegen soll die Kleine nach dem Füttern zum Bäuerchen bringen, bevor sie zur nächsten Runde Schlafen hingelegt wird. Moritz kennt das Prozedere aus den vergangenen Tagen, die er als Gast auf dem Schlafsofa von Basti und seiner Frau Maja verbracht hat. Bei Lotta hat er es einfach nicht mehr ausgehalten, obgleich er gespürt hat, dass es ein Fehler gewesen ist, so schnell aufzugeben.

„Da fehlt noch das Kissen“, antwortet Moritz und zupft an der Bauchregion der Weihnachtsmannjacke, die in vielen Falten über sein gut trainiertes Sixpack fällt und so gar nichts von einem Weihnachtsmann hat. „Hilf mir mal, bitte.“

Basti schüttelt den Kopf, aber im selben Moment erscheint Maja hinter ihm, die selbst ungeschminkt, mit unfrisiertem Blondhaar und zwei Wochen nach einer Geburt Modelqualitäten hat, was an seinen schwedischen Genen liegen muss.

„Du siehst wirklich zu Schreien komisch aus“, lacht sie und schnappt sich das Kissen, das sie ihm mit zwei horizontal gelagerten Hosenträgern um die Hüfte schnallt und dann die Jacke darüber zurechtzupft. „Das macht doch schon mehr her, du Weihnachtsmann. Aber wo ist dein Bart?“

Moritz grinst und zieht das fusselige weiße Ding aus der Tasche der roten Hose mit den weißen Fellbesätzen, die ebenfalls mit Hosenträgern an ihm befestigt ist und am unteren Ende in schweren – und sehr ungemütlichen – schwarzen Stiefeln steckt. Maja hilft ihm, den Bart mit einem Gummiband um den Kopf zu befestigen und so zu positionieren, dass er richtig zwischen Nase und Mund zu liegen kommt und Moritz weiterhin durch die Nase atmen kann.

Zum Schluss setzt Moritz sich noch die Weihnachtsmannmütze auf den Kopf und dreht sich einmal um sich selbst, damit Maja und Basti ihn von allen Seiten bewundern können.

„Sieh mal, Mia“, grinst Basti, „dein Patenonkel ist der Weihnachtsmann. Sieht immer noch albern aus, oder?“

Die kleine Person mit dem weichen blonden Flaum auf dem Köpfchen sieht so wenig beeindruckt aus, dass Moritz lachen muss. Gleichzeitig sticht es ihm ins Herz; denn das Glück seines besten Freundes führt ihm deutlich vor Augen, wie leer sein eigenes Leben im Moment ist.

Bis vor wenigen Wochen ist er verlobt gewesen und hat geglaubt, mit ‚seiner‘ Lotta glücklich bis an Ende ihrer gemeinsamen Tage zu werden. Auch Kinder hat er bereits am Horizont gesehen. Aber nun? Nix mehr, aus und vorbei.

„Na, dann beglücke mal die Nachbarskinder“, grinst Basti und tritt zur Seite, als Moritz sich mit dem falschen dicken Bauch kurz seitlich dreht, um unbeschadet durch die Tür zu kommen. „Wie heißen die noch gleich?“

„Imogen, Clive und Sibil MacIntosh.“

„Und?“ fragt Maja und übernimmt dabei die leise blubbernde Mia, die etwas Muttermilch auf Bastis Schulter hinterlässt. „Waren die drei artig? Oder musst du Ruten verteilen?“

„Alle artig“, antwortet Moritz. „Außerdem ist die Show eigentlich auch nur für die kleine Sibil, sie ist fünf und der Nachzügler. Imogen ist schon siebzehn, Clive knapp fünfzehn. Die glauben sowieso nicht mehr an Santa Claus.“

„Dann trotzdem viel Spaß“, antwortet Basti und wendet seine Aufmerksamkeit wieder seiner kleinen Tochter zu.

Moritz steigt die Treppen hinab ins Erdgeschoss, wo es bereits herrlich nach der Weihnachtsgans duftet, die seine Großmutter zur Feier des Tages für die sechs Familienangehörigen plus Basti und Maja vorbereitet hat. Moritz schluckt, als er auf dem Weg zur Haustür Karl Asberg, den Lebensgefährten seiner Mutter Annemarie Sunderbarg, geschiedene Guth, trifft. Die fröhliche Miene von Karl ist durch nichts getrübt.

Aber das ist auch nicht weiter verwunderlich: Karl ist schließlich der Einzige, der Lotta nicht kennengelernt hat, und wird sie daher nicht am Tisch vermissen; im Gegensatz zu Basti, Maja und ihm selbst. Moritz weiß, dass seine Mutter Lotta bereits als Schwiegertochter in spe akzeptiert hat, nachdem sie sich im Frühjahr zum ersten Mal getroffen haben. Sein Vater, Rechtsanwalt Antonius Guth, an den Moritz nur ungern denkt, ist in dieser einen Sache ganz der Meinung seiner Exfrau. Und selbst Moritz‘ Großeltern, Anneliese und Gernot Sunderbarg, und sein neunundachtzigjähriger Urgroßvater Gunwald Sunderbarg haben Lotta sehr gern gehabt – trotz der Aufregung und den Unannehmlichkeiten, die der erst kürzlich abgeschlossene Fall ihnen verursacht hat. Lotta fehlt. Wie soll er, Moritz, da fröhlich sein an diesem Heiligen Abend, der ihm die Leere in seinem Inneren und in seinem Leben besonders schmerzlich bewusst macht?

Vielleicht hätte er Lina, seine junge Kollegin Carolina Bergmann, mit dazu bitten sollen. Im gemeinsamen Unterrichtsfach Sport verstehen sie sich blendend und mit Englisch statt Mathematik kann er auch etwas anfangen. Außerdem ist Lina umgänglich und kommt zumindest mit Basti gut aus, was für Moritz bereits ein wichtiges Kriterium für eine neue Frau in seinem Leben wäre. Aber sie wird nie so schnell einen Platz im Herzen seiner Mutter und Großeltern finden wie Lotta es geschafft hat, dessen ist sich Moritz nur zu deutlich bewusst.

Wie er es dreht und wendet, er wird den Abend allein verbringen müssen, sieht er mal von der Gesellschaft seines Urgroßvaters ab, um den sich zu kümmern er versprochen hat. Zunächst muss er jedoch gute Miene machen und als Santa Claus ein – wie Lotta! – kastanienbraun gelocktes kleines Mädchen nebenan in Nummer Fünfzehn glücklich machen. Versprochen ist versprochen.

Moritz knirscht ein letztes Mal mit den Zähnen. Dann richtet er die rote Mütze mit dem weißen Bommel an der Spitze auf seiner weißhaarigen Perücke und geht mit festen Schritten und einem annehmbaren Theaterlächeln im unkenntlichen Gesicht durch den Vorgarten von Nummer Siebzehn und auf dem gestreuten Gehweg die wenigen Meter zum Nachbarhaus hinüber, wo er bereits sehnsüchtig erwartet wird.


*****


Vorbereitungen

Das Leuchten in den Augen der Kinder war das Schönste an Weihnachten. Aber in diesem Jahr war dies das Schlimmste, diese ungebremste Heiterkeit, Glanz und Freude und der Glauben an das Gute. Jeder machte gute Miene, lächelte und strahlte – für die Familie, für die Kinder.

Auch wenn Imogen und Clive mit ihren siebzehn und fast fünfzehn Jahren schon viel zu erwachsen waren, um an den Weihnachtsmann zu glauben, so konnten sie nicht verheimlichen, dass sie das Fest liebten. Ganz besonders liebten sie es, in Deutschland zu sein und im Vergleich zu Schottland schon einen Tag früher – an Christmas Eve – die Geschenke zu bekommen.

Dass sie am nächsten Morgen, dem Boxing Day, eine zweite Runde Geschenke bekamen, war eine Tradition, die aus der schottisch-deutschen Ehe entstanden war und besonders der kleinen Sibil großen Spaß machte.

Dad? Wann kommt Santa?“

Henry MacIntosh sah zu seiner Jüngsten hinab, die ihn erwartungsvoll ansah. Mit ihren fünf Jahren war ‚Sibi‘ das Nesthäkchen und der heimliche Liebling der Familie; und auch die einzige, die noch an den Weihnachtsmann glaubte. Für sie war der Überraschungsbesuch von Santa Claus geplant, den dieses Jahr Moritz, der Enkelsohn von Anneliese und Gernot Sunderbarg von nebenan, spielte.

Die Kleine hatte kaum still sitzen können während des Kindergottesdienstes um siebzehn Uhr, der trotz der Aufregung des Krippenspiels viel zu lange – fünfundfünfzig Minuten – gedauert und damit Sibis Geduld auf eine harte Probe gestellt hatte. Nun aber war es gleich so weit.

Sag mal, Sibi“, sagte er und ging vor seiner Tochter in die Knie, um ihr in das strahlende Kindergesicht sehen zu können, „was meinst du, warten wir beide im Wohnzimmer am Kamin auf Santa?“

Ja!“

Sibi schlang ihre schmalen Arme um seinen Hals und Henry hob sie hoch, als er sich wieder aufrichtete. Mit seiner Tochter auf dem Arm ging er hinunter, an der herrlich nach Weihnachtsgans duftenden Küche vorbei und ins Esszimmer, wo der Tisch bereits gedeckt war. Henry betrachtete die weißen Teller, die Gläser und das silberne Besteck, das auf den weißen Damastservietten lag. Die Karaffe würde er noch mit Wasser füllen müssen, bevor es ans Christmas Dinner ging. Der Wein, ein hervorragender Jahrgang Château Rochefort, war bereits dekantiert und im Begriff, auf die richtige Trinktemperatur zu akklimatisieren. Es war die letzte der sechs Flaschen, die sie im Herbst aus der Bretagne mitgebracht hatten. Und es würde die letzte Flasche sein, die sie trinken würden.

Nachdenklich richtete er mit der freien Hand die roten Kerzen in den silbernen Leuchtern, bevor sein Blick über das Vorlegebesteck glitt, das ordentlich aufgereiht gleich neben Almas Platz lag – die Saucenkelle, der Gemüselöffel, die Fleischgabel, das Tranchiermesser. Das polierte Silber glänzte matt im Licht der elektrischen Kerzen auf dem Adventskranz, der neben dem offenen Durchgang zum Wohnzimmer hing. Henry schluckte zweimal und wandte den Blick von der schimmernden Klinge des Tranchiermessers ab. Nach heute Abend würde er nicht wiedersehen, das wusste er.

Er fasste Sibi fester und trat hinüber ins festlich in Grün und Rot geschmückte Wohnzimmer. Dort hingen die Weihnachtssocken in einer Reihe am Kamin, ein jeder mit einem Vornamen beschriftet und noch leer. Erst am nächsten Morgen würden sie mit Süßigkeiten für die Kinder und einem der wenigen Geschenke für die Erwachsenen gefüllt sein.

Für seine Schwiegermutter Brigitta würde es einen Reisegutschein in die große Schwesternstadt an der Elbe geben, dazu ein paar Kleinigkeiten und eine warme Winterdecke für ihren nervigen weißen Scotchterrier.

Henry wusste, dass er daran denken musste, die Goldkette für Alma rechtzeitig dort hinein zu tun. Was sie ihm wohl schenken würde? Wusste sie, wie wichtig dieses Weihnachtsfest für ihn war? Wie wichtig es für sie alle sein würde, dieses letzte Mal zusammen zu feiern?


*****


Die kleine Sibil hat immer noch ganz glänzende Augen, als Moritz ihr das letzte Geschenk aus dem großen Jutesack reicht. Wie abgesprochen hat er den Sack im Vorgarten des Nachbarhauses im Unterstand zwischen den Mülltonnen gefunden und um Punk achtzehn Uhr fünfzehn mit fröhlichem „Ho, ho, ho“ an der rückwärtigen Glastür geklopft, die vom Wohnzimmer auf die Terrasse und in den Garten hinausführt.

Die siebzehnjährige Imogen hat ihn höflich mit „hi, Santa“ begrüßt und dankbar ihre Geschenke entgegen genommen; ebenso der vierzehnjährige Clive, der vor allem den elektrischen Rasierapparat mit großem Stolz in Empfang genommen hat und ansonsten nur ein cooles high five für den Weihnachtsmann übrig gehabt hat. Die Erwachsenen, Alma und Henry MacIntosh, haben ihm ein Glas Eggnog aufgedrängt und zusammen mit Almas Mutter Brigitta Klein auf das frohe Fest angestoßen, bevor Moritz ihnen der Form halber je eine kleine Box Hachez-Schokolade aus dem Jutesack überreicht hat.

„Santa?“ hört Moritz die Stimme der kleinen Sibil, die sich mit dem Geschenk direkt vor ihn gesetzt hat und das Lego-Strandresort in all seinen Einzelteilen auf dem Rock ihres blütenweißen Spitzenkleides auspackt und sofort zu basteln anfängt. „Kannst du mir helfen?“

Moritz hockt sich hin und steckt ein paar der kleinen Steine auf die Bodenplatte und sieht, wie Sibil zu strahlen anfängt. Sie zupft an seinem Jackenärmel und lehnt sich verschwörerisch vor: „Ich war brav dieses Jahr, Santa, oder?“

Moritz nickt und brummt etwas Unverständliches in seinen falschen weißen Bart, worauf Sibil ihre kleinen Arme um seinen Hals schlingt und ihn ganz fest an sich drückt. Moritz legt automatisch seine Arme um den kleinen Körper und streicht Sibil sanft über den Rücken, wobei er die Tränen zurückdrängen muss. Es tut so gut umarmt zu werden und die unbeschattete Zuneigung des kleinen Mädchens zu spüren.

„Ich hab dich lieb, Santa“, flüstert sie und drückt ihre Wange ganz dicht an die plüschige rote Jacke, unter der Moritz langsam zu schwitzen beginnt. „Kommst du morgen wieder zu uns?“

Für einen Moment will Moritz nicken; alles würde er tun für diesen kleinen Sonnenschein. Doch dann fängt er den Blick von Henry MacIntosh auf, der zur Standuhr neben dem Durchgang zum Esszimmer nickt. Es ist beinah viertel vor acht; seine Familie wartet bestimmt schon ungeduldig auf ihn. Eine besonders große Bescherung wird es nicht geben, aber hungrig werden sie sein und nicht erst um neun Uhr essen wollen. Es ist Zeit sich zu verabschieden.

„Sibi“, sagt Henry MacIntosh und tippt seiner Tochter auf die Schulter. „Santa muss jetzt weiter, okay?“

Die kleinen Hände wollen Moritz kaum loslassen, doch als der Vater von all den anderen Kindern spricht, die nun vergeblich auf Santa warten, hat die Tochter ein Einsehen. Sie bedankt sich artig für die Geschenke und begleitet Moritz zur Haustür, während ein kleiner weißer Scotchterrier um seine Beine springt.

„Bei Fuß, Bosco“, ruft die weißhaarige Frau, die die Mutter von Frau MacIntosh ist. „Lass Santa gehen.“

Der Hund hört, lässt von Moritz ab und rollt sich auf den Winterschuhen an der Garderobe zusammen. Der Rest der Familie verabschiedet sich und lässt Moritz gehen. Er kommt gerade rechtzeitig, um Basti beim Entkorken der Sektflasche zu helfen. Das prickelnde Getränk blubbert in seinem Magen und macht seinen Kopf leichter als er es gewohnt ist, sodass auch das gemeinsame Weihnachtslied am Tannenbaum ein wenig schräg ausfällt. Oder vielleicht ist es nur Lottas Stimme, die Moritz vermisst; mit ihr zusammen kann er gut singen, trifft jeden Ton. Heute kann er wegen aufsteigender Tränen bei den Worten „Christ ist erschienen um uns zu versöhnen“ kaum den Takt halten.

Die Bescherung geht rasch vorbei, da sie jeweils von jedem nur ein Geschenk erhalten; einzig Mia Gabriella, die im Dachgeschoss beim Babyfon schläft, wird mit einem halben Koffer voll Kleidung und Spielzeug beschenkt, worüber sich Maja und Basti sehr freuen und herzlich bedanken.

Als sie schließlich zu acht beim Abendessen um die duftende Weihnachtsgans versammelt sind, fühlt sich Moritz von all der weihnachtlichen Stimmung mehr als niedergedrückt. Und er ist wütend auf sich selbst; denn er weiß: wenn Lotta hier wäre, würde es ihm gut gehen.


*****


Die Bescherung ist eine kurze Angelegenheit gewesen. Über das Geschenk von Max, ein Wellness-Gutschein und das neue Album von Monkey Fly, hat sie sich gefreut. Aber gleichzeitig ist sie traurig und dabei wütend auf sich selbst, dass sie sich Moritz herbeisehnt. Sie muss seine Entscheidung akzeptieren, das weiß sie; aber für Lotta ist es so, als ob jemand den Glanz der Sterne und den Zauber des feinen Schneefalls vor den Fenstern gestohlen hätte.

„Du bist so still“, raunt Max ihr während des Essens zu. „Lächle doch mal.“

Lotta zwingt sich zu einem gequälten Lächeln; er kann ja nichts dafür, dass er nicht Moritz ist. Und besonders viel kann er auch nicht tun, dass sie Moritz aus ihren Gedanken streicht. ‚Vielleicht‘, überlegt sie, während sie ihn verstohlen von der Seite beobachtet, wie er sich ungezwungen mit Hermann und Märit unterhält, ‚vielleicht kann er etwas tun, damit ich Moritz wenigstens für heute Nacht verdrängen kann.‘

Als Lotta klar wird, welche Tür sie mit diesem Gedanken geöffnet hat, wird sie augenblicklich rot und schämt sich. Es ist nicht fair Max gegenüber, dass sie ihn als Lückenbüßer benutzt. Und es ist sicherlich keine gute Idee, ausgerechnet in den Mann ihr Vertrauen auf Vergessen zu setzen, der immer schon ein rotes Tuch für Moritz gewesen ist.