Wolfgang Streeck legt in seinen vieldiskutierten Frankfurter Adorno-Vorlesungen die Wurzeln der gegenwärtigen Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise frei, indem er sie als Moment der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus beschreibt. Er analysiert, wie sich die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus über vier Jahrzehnte entfaltet hat und welche Konflikte daraus resultierten. Schließlich beleuchtet er den Umbau des europäischen Staatensystems und fragt nach den Aussichten für eine Wiederherstellung sozialer und wirtschaftlicher Stabilität. In einem ausführlichen Vorwort zu dieser Taschenbuchausgabe setzt er sich unter anderem mit seinen Kritikern auseinander und zieht eine erste Bilanz. Den Band beschließt ein Essay über die politischen Dimensionen von Geldordnungen am Beispiel des Euro.

Wolfgang Streeck ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.

Wolfgang Streeck

Gekaufte Zeit

Die vertagte Krise
des demokratischen Kapitalismus

Frankfurter
Adorno-Vorlesungen 2012

Erweiterte Ausgabe

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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eISBN 978-3-518-73172-7

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Inhalt

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Einleitung: Krisentheorie – damals, heute

I. Von der Legitimationskrise zur Fiskalkrise

Eine Krise neuen Typs

Zwei Überraschungen für die Krisentheorie

Die andere Legitimationskrise und das Ende des Nachkriegsfriedens

Die lange Wende: Vom Nachkriegskapitalismus zum Neoliberalismus

Gekaufte Zeit

II. Neoliberale Reform: Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat

Finanzkrise durch Demokratieversagen?

Kapitalismus und Demokratie in der neoliberalen Revolution

Exkurs: Kapitalismus und Demokratie

Das Monster aushungern!

Die Krise des Steuerstaates

Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat

Schuldenstaat und Verteilung

Die Politik des Schuldenstaates

Schuldenpolitik als internationale Finanzdiplomatie

III. Die Politik des Konsolidierungsstaates: Neoliberalismus in Europa

Integration und Liberalisierung

Die Europäische Union als Liberalisierungsmaschine

Institutioneller Wandel: Von Keynes zu Hayek

Der Konsolidierungsstaat als europäisches Mehrebenenregime

Fiskalische Konsolidierung als Staatsumbau

Wachstum: Back to the Future

Exkurs: Regionale Wachstumsprogramme

Zur Strategiefähigkeit des europäischen Konsolidierungsstaates

Widerstand im internationalen Konsolidierungsstaat

Schluss: Was als Nächstes?

Was nun?

Kapitalismus oder Demokratie

Der Euro als frivoles Experiment

Demokratie im Euroland?

Lob der Abwertung

Für ein europäisches Bretton Woods

Zeit gewinnen

Anhang: Warum der Euro Europa spaltet, statt es zu einigen

Literaturverzeichnis

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Fast drei Jahre sind seit dem Abschluss des Manuskripts von Gekaufte Zeit vergangen.[1] Auch wenn die Krise, von der das Buch handelt, sich eine Zeit lang nicht mehr so explosiv entwickelt hat wie im Sommer 2012, so finde ich bei nochmaliger Lektüre nichts, was zurückzunehmen oder umzuschreiben wäre. Verlängernde Ergänzungen, sortierende Nuancierungen und gelegentliche Verdeutlichungen sind aber immer angebracht, auch als Dank für die zahlreichen Rezensionen, unterstützend wie kritisch, die das Buch in so kurzer Zeit im In- und Ausland erfahren durfte – zur Überraschung seines Autors, dessen publizistische Reichweite bislang überwiegend an die spezialisierter Fachzeitschriften gebunden war. Kapitalismus als Krisensequenz, Wirtschaft als Politik des »Marktkampfs« (Weber), empirisch rekonstruiert in historischer Zeit, als Produkt strategischen Handelns und kollektiver Verteilungskonflikte in sich ausbreitenden Märkten, getrieben von einer dynamischen Wechselbeziehung zwischen Klassen- und Interessenlagen einerseits und organisierten Gruppen und politischen Institutionen andererseits, unter besonderer Berücksichtigung der finanziellen Reproduktionsprobleme des Staates: Mein Versuch einer zeitgemäßen, an die klassischen Kapitalismustheorien, vom Marxismus bis zur Historischen Schule, selektiv und manchmal eklektizistisch anschließenden politischen Ökonomie, entwicklungsbedürftig, wie er nach wie vor ist, hat ein erstaunlich breites und engagiertes Publikum gefunden, weit über jedes erwartbare Maß hinaus.

Nicht alle der zahlreichen Themen, die die Leserinnen und Leser des Buches bemerkens- und kommentierenswert gefunden haben, müssen und können hier aufgegriffen werden. So muss es späteren Gelegenheiten überlassen bleiben, mögliche Einsichten zum Wechselverhältnis zwischen Theoriegeschichte und Gesellschaftsentwicklung herauszuarbeiten, wie sie sich aus dem Anschluss an die Krisentheorien der 1970er Jahre vermutlich gewinnen ließen. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, zunächst im Rückblick die begrifflichen und forschungstaktischen Konstruktionsprinzipien des im Buch entfalteten Arguments schärfer herauszuarbeiten, soweit eine politisch-ökonomisch orientierte Makrosoziologie aus ihnen möglicherweise etwas lernen könnte. Daran anschließend möchte ich auf die zwei Themen eingehen, die im Buch ineinander verflochten sind und auf die sich die Diskussionsbeiträge von Lesern und Kritikern überwiegend bezogen haben: wie es weitergeht mit Finanz- und Fiskalkrise und dem Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie und was man über die Aussichten für Europa und seine Einigung unter dem Vorzeichen einer gemeinsamen Währung nach Maßgabe der Europäischen Währungsunion heute sagen könnte.

Kapitalismusgeschichte als Krisensequenz

In Gekaufte Zeit behandle ich die globale Finanz- und Fiskalkrise von 2008 nicht als freistehendes Einzelereignis, sondern als Teil und versuchsweise auch als Stufe einer historischen Sequenz. In dieser unterscheide ich drei Phasen: die Inflation der 1970er Jahre, die beginnende Staatsverschuldung im Jahrzehnt danach und die zunehmende Verschuldung der privaten Haushalte sowie der Unternehmen sowohl des industriellen als auch des Finanzsektors seit Mitte der 1990er Jahre. Den drei Phasen war gemeinsam, dass jede von ihnen in einer Krise endete, deren Lösung zugleich Ausgangspunkt einer neuen Krise war. Anfang der 1980er Jahre, als die US-amerikanische Zentralbank durch eine brutale Zinserhöhung die Inflation weltweit beendete, stieg, gewissermaßen als Ausgleich, die Staatsverschuldung; und als diese in einer ersten Konsolidierungswelle Mitte der 1990er Jahre zurückgeführt wurde, nahm in zahlreichen Ländern die Verschuldung der privaten Haushalte zu, wie in einem System kommunizierender Röhren, und die Finanzwirtschaft expandierte, mit nie dagewesener Dynamik, bis sie 2008 von den Staaten auf Kosten ihrer Bürger gerettet werden musste.[2]

Dass allen diesen Entwicklungen ein Verteilungskonflikt zugrunde lag, der sich aus der mit dem Ende des Nachkriegswachstums zunehmenden Unfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems bzw. der Unwilligkeit seiner Eliten ergab, den Ansprüchen der demokratisch verfassten Nachkriegsgesellschaften gerecht zu werden, war nicht meine Entdeckung; die zeitgenössischen politisch-ökonomischen Analysen von Inflation, Staatsverschuldung und Finanzialisierung liefen mehr oder weniger auf dasselbe hinaus. Mein Beitrag in dem Buch und in den Aufsätzen, die ihm vorausgingen, bestand darin, die Parallelen und den gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten – und damit ein krisentheoretisches Analyseraster vorzuschlagen, das grundsätzlich auch auf die gegenwärtige Entwicklungsphase des globalen Kapitalismus anwendbar sein sollte.

Gekaufte Zeit zeigt, wie in der Abfolge von Inflation, Staatsverschuldung und Aufblähung der privaten Finanzmärkte das Wachstum in den reifen kapitalistischen Ländern seit den 1970er Jahren zurückging, die Ungleichheit der Verteilung zunahm und die Gesamtverschuldung stieg. Zugleich nahm die Wahlbeteiligung langfristig ab, Gewerkschaften (und politische Parteien; Mair 2013) verloren an Mitgliedern und Macht, und Streiks verschwanden fast ganz (Schäfer und Streeck 2013). In meinem Buch arbeite ich heraus, wie sich parallel dazu die Arena des verteilungspolitischen Konflikts allmählich vom Arbeitsmarkt in der Phase der Inflation auf die Sozialpolitik in der Zeit der Staatsverschuldung, die privaten Finanzmärkte in der Ära der Finanzialisierung und die internationale Finanzdiplomatie nach der Krise nach 2008 verlagerte: in immer abstraktere, der menschlichen Lebenserfahrung und dem Zugriff demokratischer Politik immer weiter entrückte Handlungsräume. Hier besteht eine der Querverbindungen, die ich zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und der neoliberalen Transformation der Demokratie herzustellen versucht habe. Eine andere ergibt sich aus einem weiteren historischen Dreischritt, dem vom Steuer- zum Schulden- und danach zum Konsolidierungsstaat. In dieser Hinsicht schließt meine Analyse an die Tradition der Finanzsoziologie und die in den 1970er Jahren aufgekommene Vorahnung einer bevorstehenden Finanzkrise des Staates (Bell 1976b; O’Connor 1973) an. Auch dabei verfahre ich vornehmlich induktiv, ausgehend von tatsächlichen, über die letzten vier Jahrzehnte in den Ländern des OECD-Kapitalismus zu beobachtenden Entwicklungen.[3]

Kapitalismus als Einheit

Meinen Lesern konnte nicht entgehen, dass das Buch den Kapitalismus der OECD-Länder als, wenn auch vielfältige Einheit behandelt, konstituiert sowohl durch Interdependenz, insbesondere durch Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, als auch durch ihnen gemeinsame interne Konfliktlinien und Integrationsprobleme. Für den einen oder anderen hat dies die Frage aufgeworfen, wie jemand, der in der Vergangenheit die Unterschiede zwischen nationalen kapitalistischen Wirtschaftssystemen untersucht hat, nun auf einmal ihre Gemeinsamkeiten betonen kann. Die Antwort ist, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten sich nicht ausschließen und man, je nachdem was man wissen will, das eine oder das andere in den Vordergrund rücken darf und muss.[4] Im vorliegenden Fall ergab sich die eher holistische Perspektive der Untersuchung wiederum vor allem induktiv: aus dem empirischen Sachverhalt, dass viele der Phänomene, die mit der Krise von 2008 in Zusammenhang standen, und gerade auch die seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Krisen, Ereignissequenzen und Wandlungsprozesse, den Ländern des OECD-Kapitalismus gemeinsam waren, und zwar in durchaus überraschendem Ausmaß – oft zeitlich verschoben, manchmal in unterschiedlichen nationalspezifischen Formen, aber unverkennbar von derselben Logik geprägt und denselben Konflikten und Problemen getrieben; man kann dies an den zahlreichen in das Buch aufgenommenen Verlaufsdiagrammen überprüfen.

Allerdings traf mich dieser Umstand nicht unvorbereitet. Bei der Arbeit an einem Buch über längerfristige graduelle Veränderungen in der deutschen politischen Ökonomie (Streeck 2009b) hatte ich Gelegenheit, einen komplexen, sektorübergreifenden Wandlungsprozess zu analysieren, der sich mir als Liberalisierungsprozess darstellte, und zwar auch ohne dass ich damals die fundamentale Bedeutung der Finanzialisierung des Kapitalismus, einschließlich des deutschen, für diesen Vorgang auch nur annähernd verstanden hätte (das Manuskript ging im Sommer 2008 an den Verlag). Für meine Einschätzung der vergleichenden Kapitalismusforschung war dies deshalb wichtig, weil in dieser Deutschland (zusammen mit Japan) immer als der wichtigste nichtliberale Gegenpol zum liberalen angloamerikanischen Kapitalismus figuriert hatte.[5]Schon in dem Buch von 2009 gab es deshalb eine dezidierte Kritik der Nicht-Konvergenz-Dogmatik, wie sie insbesondere Hall und Soskice (2001) ab Mitte der 1990er Jahre entwickelt hatten. Später habe ich diese Position weiterentwickelt und meine neugewonnene Überzeugung noch vor dem Erscheinen von Gekaufte Zeit in einer Reihe von Aufsätzen niedergelegt (Streeck 2011b; 2011c; 2012c).[6]

Geschichte und Vorgeschichte: Die Ausnahme und die Regel

Die Krisensequenz, deren inneren Zusammenhang ich herausgearbeitet zu haben glaube, beginnt in den Jahren zwischen 1968 und 1975. Da jede Geschichte eine Vorgeschichte hat, ist ihr Anfang immer ebenso offen wie ihr Ende. Dennoch muss, wer sie resümieren will, einen Ausgangspunkt wählen; irgendwo muss es losgehen. Freilich sollte man für die Wahl seines Anfangs gute Gründe haben, und möglicherweise hätte ich diese deutlicher machen sollen. Die 1970er Jahre sind die Zeit, in der die von meinen Kurvenscharen abgebildeten krisenhaften Entwicklungen begannen: Inflation, Staatsverschuldung, Marktverschuldung, strukturelle Arbeitslosigkeit, sinkendes Wachstum, wachsende Ungleichheit, jeweils mit nationalen Abweichungen, aber immer in dieselbe Richtung – manchmal mit Unterbrechungen, auch auf unterschiedlichem Niveau, aber immer als allgemeine Trends erkennbar. Dass es sich bei den 1970er Jahren um einen Wendezeitraum handelt, ist heute übrigens nicht nur in der politischen Ökonomie (Glyn 2006) fast schon ein Gemeinplatz; siehe das erstaunliche Ausmaß der zeitgeschichtlichen Forschung zu diesem Zeitabschnitt (Black 2009; Cowie 2010; Doering-Manteuffel und Raphael 2008; Ferguson et al. 2010; Jarausch 2008; Judt 2005; Raithel et al. 2009; Rodgers 2011).

Natürlich, wie gesagt, hätte ich auch früher anfangen können,[7] und ebenfalls mit guten Gründen. Vorzüglich geeignet hätten sich die 1930er Jahre, zumal die Weltwirtschaftskrise in den politischen Steuerungszentralen des Nachkriegskapitalismus seit der sogenannten »ersten Ölkrise« ständig als Alptraum präsent war. Zu dem, was aus der Vorgeschichte der in Gekaufte Zeit zusammengesetzten Geschichte zu lernen wäre, gehört ja, dass kapitalistische Wirtschaftsgesellschaften von innen her instabil und für die große Mehrzahl ihrer Mitglieder hochgefährlich werden können, vergleichbar einem nuklearen Reaktor mit seinen jederzeit möglichen normal accidents (Perrow 1984). Die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lehrt das besser als die der zweiten, weil Letztere die Ausnahmejahre der trente glorieuses, des Golden Age oder auch des Wirtschaftswunders einschließt, von der Weltsicht und Lebensgefühl weithin immer noch geprägt werden, jedenfalls in Deutschland, auch wenn das, was seit den 1970er Jahren geschehen ist und in der Krise von 2008 vorläufig kulminierte, eigentlich nur bedeuten kann, dass diese Ausnahmezeit genau eine solche war, also mit ihrer Wiederkehr grundsätzlich nicht zu rechnen ist.

Nach Lektüre verschiedener mir zuteilgewordener Rezensionen ist mir klar geworden, dass meine Entscheidung, die unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte sozusagen vorne vor zu lassen, einen erheblichen Spielraum für Missverständnisse, durchaus auch böswilliger Art, eröffnet hat, den ich vielleicht doch irgendwie hätte zusperren sollen. Dass die angloamerikanische Rede vom »goldenen Zeitalter« immer mit einem ironisch-skeptischen Unterton daherkommt, kann nicht jeder wissen – was jemanden wie mich, der sie wie selbstverständlich mit eben diesem Unterton verwendet, der Gefahr aussetzt, als »Nostalgiker« denunziert zu werden.[8] Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich das, was zu den Jahren zwischen dem Ende des Krieges und dem age of fracture (Rodgers 2011) als Hintergrund meiner Rekonstruktion der Geschichte nach dem Bruch zu sagen gewesen wäre, mindestens implizit auch gesagt habe: dass es sich um eine Epoche handelte, in der vor allem infolge des Krieges die Machtverhältnisse zwischen den Klassen ausgeglichen waren wie niemals vorher im Kapitalismus[9] (und, wie wir nun wissen, auch niemals nachher), was sich unter anderem in der seinerzeit weithin geteilten Vorstellung niederschlug, dass es Kapitalismus als paktierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nur dann weiter geben konnte, wenn er in Form gesellschaftlichen Fortschritts auch dem kleinen Mann und der kleinen Frau zugutekam; dass er, wenn es ihn denn geben soll, »liefern« muss: nämlich Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, mehr Autonomie in der Arbeit und mehr Zeit außerhalb derselben, ein Ende materieller Armut ebenso wie zyklischer Wirtschaftskrisen usw. usf. Natürlich war das alles damals nicht allgemein gefestigte Wirklichkeit, weit entfernt davon. Aber es bestand doch, bis tief hinein in das konservative Lager, die grundsätzlich unangefochtene Vorstellung, dass sozialer Fortschritt eine Bringschuld der politischen und wirtschaftlichen Eliten sei, nicht notwendig auf einen Schlag fällig, aber doch laufend von Jahr zu Jahr abzuleisten, wenn nötig unter Nachhilfe durch starke Gewerkschaften und effektive politische Mobilisierung im Rahmen demokratischer Institutionen und mittels einer Wirtschaftspolitik, die Wachstum durch Umverteilung von oben nach unten und nicht umgekehrt[10]zu erreichen suchte und angesichts der politischen Umstände auch gar nicht anders suchen konnte.

Ist das alles, was zu den drei Jahrzehnten zwischen dem Ende des Krieges und dem Ende der Nachkriegszeit zu sagen wäre? Selbstverständlich nicht, aber mein Thema waren ja nicht die trente glorieuses, sondern die Krisen, die ihnen folgten. Im Buch habe ich mir die Freiheit genommen, deren Abfolge als das zu beschreiben, was sie nach meinem Eindruck insgesamt waren, nämlich eine Verlust- und Niederlagengeschichte für diejenigen, die auf einen interventionsfähigen Wohlfahrtsstaat und eine aktivistische Politik angewiesen sind – und ich sehe keinen Grund, in der säkularen Zunahme von Arbeitslosigkeit, Prekarität, Arbeitszeit und Wettbewerbsdruck im gegenüber dem postwar settlement weiter »fortgeschrittenen« Kapitalismus bei gleichzeitiger Abkopplung der Einkommen vom Produktivitätsfortschritt und rapide wachsender Ungleichheit sowie dem Übergang zu einer Wirtschaftspolitik, die im genauen Gegenteil zur Nachkriegszeit auf Umverteilung von unten nach oben als Wachstumsmotor setzt, auch noch irgendwie »das Positive« lokalisieren zu sollen.[11]

Wo ich mit meinen Kritikern einig bin, ist in ihrem Bestehen auf dem Ausnahmecharakter des Golden Age im Vergleich sowohl zum 19. Jahrhundert wie zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber was tröstlich daran sein soll, dass wir heute dabei sind, Fortschritte auf dem Weg in eine kapitalistische Normalität zu machen, die aussehen könnte wie die Welt der Zwischenkriegsjahre, will sich mir nicht recht erschließen. Mir war es um den Umstand zu tun, dass die drei Nachkriegsjahrzehnte eine Epoche waren, in der die kapitalistische Marktwirtschaft nicht mehr, wie im klassischen Liberalismus, als Naturzustand galt, sondern als politische Konstruktion, der nur so lange eine Existenzberechtigung eingeräumt wurde, wie sie im sicheren Griff einer durch die 1930er Jahre ernüchterten politischen bzw. in der staatszentrierten Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkrieges angelernten technokratischen Elite war, die eines über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam hatten: tiefe, erfahrungsbegründete Zweifel an der Tragfähigkeit und Tragbarkeit freier kapitalistischer Märkte, also eben jener Wirtschaftsordnung, in die wir mit dem globalen Neoliberalismus unserer Tage wieder einzutreten im Begriff sind.

Krisen und Klassen

Wie gesagt, ich lokalisiere den Epochenbruch in der politischen Ökonomie der kapitalistischen Demokratien in den 1970er Jahren. Was damals begann, beschreibe ich als »neoliberale Revolution«, man könnte auch sagen: als Restauration der Ökonomie als gesellschaftliche Zwangsgewalt, freilich nicht für alle, sondern nur für die allermeisten, bei gleichzeitiger Befreiung der sehr wenigen von politischer Kontrolle. Statt den Vorgang als Ausdruck ewiger standardökonomischer Gesetzmäßigkeiten zu verdinglichen, behandle ich ihn als Verteilungskonflikt zwischen Klassen. Dabei erlaube ich mir, die Klassenstruktur vereinfachend, aber doch auf durchaus ehrwürdige Weise, anhand der überwiegenden Einkommensarten zu definieren, also die Mitglieder der Kapitalistischen Gesellschaft grundsätzlich in »Lohnabhängige« und »Profitabhängige« aufzugliedern, durchaus unter Berücksichtigung des Umstands, dass eine heute zahlenmäßig nicht geringe Mittelschicht beiden Lagern angehören kann, allerdings weit überwiegend mehr dem Ersteren als dem Letzteren. Dass ich darüber irgendwann Rechenschaft würde ablegen müssen, war mir klar; aber ich wollte und konnte kein Buch über Klassentheorie schreiben. Meine Lösung war, mit den einschlägigen Konzepten so vorsichtig wie möglich umzugehen, wobei ich Kennern der Materie durch Bezug auf Kaleckis politische Konjunkturtheorie immerhin andeuten wollte, was mir vor allem vorschwebte, nämlich eine Abbildung von Ökonomie als Politik (im Gegensatz zur standardökonomischen Institutionentheorie, die Politik als Ökonomie abbildet); von ökonomischen »Gesetzen« als Projektion von gesellschaftlichen Machtverhältnissen; und von Krisen, jedenfalls der Krisen, die im Buch behandelt werden, als Verteilungskonflikte bzw. als Folge derselben.

Zweck der Übung war, der Public-Choice-Erzählung von den übermütigen Massen, deren ruchlose Forderungen nach immer mehr »die Wirtschaft« aus ihrem an sich normalen Gleichgewicht gebracht haben, eine realistischere Rekonstruktion der Ereignisse gegenüberzustellen, der zufolge es nicht die Lohn-, sondern die Profitabhängigen waren, die den demokratischen Sozialkapitalismus der Nachkriegszeit verraten und verkauft haben, weil er ihnen zu teuer geworden war.[12]Dabei stelle ich der internationalen Streikwelle von 1968-69 einen Kaleckischen »Investitionsstreik« in den 1970er Jahren gegenüber, von dem ich behaupte, dass er sehr viel wirkungsvoller war als alles, was Gewerkschaften und »Lohnabhängige« selbst damals in ihrem Arsenal hatten. In diesem Zusammenhang ist die Frage, wie man sich eigentlich so etwas wie strategisch koordiniertes Konflikthandeln von Unternehmen und Unternehmern unter Wettbewerbsbedingungen vorstellen soll (wie »die Profitabhängigen« sich aus einer »Klasse an sich« heraus als »Klasse für sich« sozial konstituieren oder konstruieren sollen), alles andere als illegitim; ich habe über Wirtschaftsverbände gearbeitet und weiß, welche Nüsse da zu knacken sind (und welche die Verbände knacken müssen, um ihre Mitglieder auf Linie zu bringen und beispielsweise kollektive Handlungskapazitäten aufzubauen, ohne als Folge in korporatistische Verpflichtungsprozesse eingebunden bzw. daran gehindert zu werden, sich aus ihnen zu lösen). Trotzdem schaffen sie es, kollektives Handeln als über Think-Tanks, öffentliche Erklärungen, Konferenzen, Prognosen von Forschungsinstituten, Verlautbarungen von internationalen Organisationen, Rating-Agenturen und Anwalts- und PR-Firmen und dergleichen abgestimmtes individuelles Handeln zu organisieren, national wie international, mit dem Ziel, Konkurrenz zwischen Unternehmen durch Standortkonkurrenz um Unternehmen auszubalancieren. Das Ende der Nachkriegszeit waren denn auch die Jahre, in denen sich die Beschwerden »der Wirtschaft« über »Überbeschäftigung«, rigide Arbeitsmärkte, zu hohe Löhne, zu niedrige Gewinne (»profit squeeze«), Überregulierung usw. häuften und eine intensivierte Lobbytätigkeit dringliche, öffentliche ebenso wie geheime Aufforderungen an die Politik richtete, im Namen einer Wiederbelebung des Wachstums endlich etwas für »die Wirtschaft« zu tun.[13]

Für mich, zugespitzt formuliert, besteht die wichtigste Form der politischen Machtausübung »des Kapitals« und seiner Verwalter darin, auf Nummer Sicher zu gehen und die ihnen von der Gesellschaft als »Eigentum« überlassenen gesellschaftlichen Ressourcen entweder zeitweilig stillzulegen oder ganz und gar außer Landes zu schaffen – Markthandeln als politisches Handeln, exit statt voice. Wie wir wissen, hat das bei Regierungen eine starke und kraftvoll zu kapitalfreundlichem Handeln ermutigende Wirkung. »Massive Verunsicherung«, kommuniziert durch Verbände und nahestehende Presse- und Forschungsorgane, reicht da oft schon aus: »das Kapital« »spricht« durch Klagen über allgemeines Unwohlsein, durch Attentismus, Abwanderung, sinkende Investitionsraten usw. – durch, wenn man so will, gleichgerichtete Reaktionen auf weniger als den »Reservationsgewinn« versprechende politische Marktlagen, die sich dann zu den üblichen volkswirtschaftlichen Indizes verdichten. Am Ende, wenn es drauf ankommt, aggregieren sich die täglichen Abstimmungen der Kapitaldisponenten am »Markt« zu einer klaren und deutlichen Gesamtaussage, die niemand, der »Verantwortung trägt«, sich leisten kann zu ignorieren.

Wichtig ist mir als Sozialwissenschaftler, dass Prozesse wie der von mir angedeutete nicht notwendig auf aktenkundig dokumentierbare strategische Führung zurückgeführt werden müssen und können. Viel spricht dafür, dass die Logik oder gar Direktionalität der von mir nachgezeichneten Entwicklung, einschließlich beispielsweise des Wandels des Steuerstaats zum Schulden- und anschließend zum Konsolidierungsstaat, eine emergente war und ist: eine, die für ihr Zustandekommen von den beteiligten Akteuren weder geplant noch gewollt werden muss, weil sie sich notfalls auch hinter ihrem Rücken vollziehen würde. Man könnte vorsichtig sagen (vorsichtig, um nicht von einem unhaltbaren Voluntarismus in einen ebenso unhaltbaren Determinismus zu verfallen), dass die unterliegende Problemstruktur, einschließlich der mit unterschiedlichen, zum Teil situativ wechselnden Machtressourcen ausgestatteten Interessenlagen der Beteiligten, in jeder der aufeinanderfolgenden Krisen das den Akteuren zur Verfügung stehende Handlungsrepertoire eingrenzte, im Zusammenwirken mit der jeweils vorangegangenen Vor- und Teilgeschichte und den zum jeweiligen Zeitpunkt wirksamen kontingenten Umständen. Wie solche Verlaufsmuster entstehen, wie viel oder wie wenig Intentionalität sie brauchen und wie Struktur, Agentur und Kontingenz zusammenwirken, sind Fragen, die Sozialwissenschaftler heute häufig unter dem Rubrum der Erforschung institutionellen Wandels, bei Verwendung von Begriffen wie Pfadabhängigkeit, critical juncture und dergleichen behandeln, ohne dass sie dabei allerdings sehr weit gekommen wären.

Die Finanzkrise des Staates

Dass ich in Gekaufte Zeit so viel Raum darauf verwende, die Verwicklung der Fiskalkrise des Staates in die Finanzkrise des Kapitalismus nachzuzeichnen, dient auch dazu, unter Rückgriff auf die Perspektive der von Schumpeter und Goldscheid schon am Anfang des 20. Jahrhunderts geforderten Finanzsoziologie, die sich wandelnde Rolle von Staat und Politik im sich wandelnden Kapitalismus der Gegenwart zu beleuchten. Hier war an die weithin akzeptierte Public-Choice-Erklärung des Phänomens der steigenden Staatsverschuldung anzuknüpfen, die vor allem der Schulökonomie lieb und teuer ist. Einzelheiten finden sich im Buch und in einem späteren, meine Position präzisierenden Zeitschriftenaufsatz (Streeck 2014c).[14] An dieser Stelle möchte ich in Kürze drei allgemeine, meinen Überlegungen zugrunde liegende Intuitionen deutlicher als vielleicht im Buch vortragen, auch um sie kritischer Prüfung auszusetzen – in der Hoffnung, dass mir aus ihrer unvermeidlich vereinfachten Präsentation kein Strick gedreht wird:

1. Mein Buch behandelt Staatsverschuldung als politisch-ökonomisches Phänomen, als eine Erscheinung nicht bloß in der Demokratie, sondern auch im Kapitalismus. In Letzterem geht es um die Vermehrung vermehrungsfähigen gesellschaftlichen Kapitals in Form privaten Eigentums; das birgt die Gefahr von Kooperationszurückhaltung derer, die für die Akkumulation gebraucht werden, denen das »Mehrprodukt« aber nicht gehören wird. Da Kapitalismus kein Naturzustand ist, gibt es ihn nur auf Basis irgendeiner wie auch immer gearteten Gegenseitigkeit; bleibt diese aus, erhebt sich unvermeidlich die Frage, warum die eine Art von Leuten für die Bereicherung der anderen Art vierzig und mehr Stunden pro Woche Leistung abliefern soll. Gerechtigkeits- und Verteilungsprobleme im Kapitalismus sind insofern nicht die Erfindung verantwortungsloser politischer Störenfriede, sondern liegen in der Natur der kapitalistischen Sache. Sie lassen sich einigermaßen beherrschen, solange hohes Wachstum den Kapitalbesitzern die Abtretung eines Teils des kollektiv erarbeiteten Zuwachses an die Nichtbesitzer erleichtert. Bei abnehmendem Wachstum, wie nach dem Ende der Rekonstruktionsphase in den 1970er Jahren, spitzt sich der Verteilungskonflikt jedoch zu, und für die Politik wird es entsprechend schwieriger, den sozialen Frieden zu gewährleisten. Die Herstellung eines politisch-gesellschaftlichen Gleichgewichts gelingt dann typischerweise nur um den Preis eines wirtschaftlichen Ungleichgewichts: wie gesagt, seit den späten 1960er Jahren zunächst in Gestalt hoher Inflation, danach in Form rapide ansteigender, nicht-keynesianischer (weil kumulativer) Staatsverschuldung und anschließend mittels einer zum Exzess getriebenen Ausdehnung der Möglichkeiten privater Kreditaufnahme. Wie in Gekaufte Zeit dargelegt, können derartige Problemverschiebungen aber nicht mehr sein als Provisorien; sie halten nur, bis das um des lieben Friedens willen herbeigeführte oder zugelassene wirtschaftliche Ungleichgewicht zu groß, das heißt insofern kontraproduktiv wird, als es beginnt, selber zur Ursache eines gesellschaftlichen Ungleichgewichts zu werden – siehe die Inflation Ende der 1970er Jahre, die aus dem Ruder gelaufenen öffentlichen Defizite in den 1990ern und den Zusammenbruch der überdehnten privaten Finanzmärkte 2008. Dann muss ein neuer, vermutlich wiederum zeitweiliger Notbehelf gefunden werden, etwa heute die ungebremste Geldproduktion der Zentralbanken out of thin air: politisch verantwortlich, im Sinne einer wie immer auch vorläufigen Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts und Stabilisierung des Akkumulationsregimes, und zugleich wirtschaftlich unverantwortlich, nämlich absehbar längerfristig selbst zur Krisenursache werdend.[15]

2. Was die Staatsverschuldung als solche angeht, so spricht meiner Meinung nach viel dafür, dass wir es hier mit einem weiteren, von der Nutzung der Staatsfinanzen als Notnagel der sozialen Integration unabhängigen Kausalzusammenhang zu tun haben. Auch dabei geht es um die kapitalistische Organisation wirtschaftlichen Fortschritts als Akkumulation von Kapital in Form von Privatbesitz. Ausgangspunkt ist die von so unterschiedlichen Theoretikern wie Wagner, Goldscheid und (dem jungen) Schumpeter geteilte Vermutung, dass mit fortschreitender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung der kollektive Aufwand für deren Ermöglichung und Absicherung zunehmen müsse – also für die Reparatur von Kollateralschäden (siehe die Jahre 2008 und folgende!), die Bereitstellung und Wartung einer immer anspruchsvolleren Infrastruktur, den Aufbau des notwendigen »Humankapitals«, die Gewährleistung der erforderlichen Arbeits- und Leistungsmotivation usw. Vielleicht ist heute ja der Zeitpunkt erreicht, wo der »Steuerstaat« (Schumpeter) insofern an seine Grenzen stößt, als, mit Marx, der zunehmend vergesellschaftete Charakter der Produktion im weitesten Sinne beginnt mit den nach wie vor privaten Besitzverhältnissen ernsthaft in Konflikt zu geraten. Könnte es nicht sein, dass die hartnäckig gestiegene Staatsverschuldung uns sagen will, dass der Bedarf an kollektiven Investitionen und kollektivem Konsum über das hinausgewachsen ist, was ein demokratischer Steuerstaat bei seinen Besitzbürgern und -organisationen bestenfalls zu konfiszieren vermag, und dass der kollektive Vor- und Nachsorgebedarf entwickelter kapitalistischer Gesellschaften mit dem possessiven Individualismus, von dem sie getrieben und beherrscht werden, zunehmend unvereinbar werden könnte? Unter dieser Perspektive ließen sich Neoliberalismus und Privatisierung als (letztes?) Aufbäumen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gegen das verstehen, was man als ihre evolutionäre Obsoleszenz bezeichnen könnte, und die mittlerweile sogar vom ökonomischen Mainstream verbreitete Parole von der sich anbahnenden »säkularen Stagnation« (siehe unten) bekäme eine interessant erweiterte Bedeutung.

3. Verschärft wird der möglicherweise hinter der zunehmenden Staatsverschuldung stehende Konflikt zwischen dem öffentlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung ihrer Ergebnisse durch die dramatisch gewachsenen Mobilitätschancen der großen Steuerzahler, Unternehmen wie Individuen. Als deren Folge sind die politischen Jurisdiktionen der kapitalistischen Welt gezwungen, in einen Wettbewerb um die Loyalität des großen Geldes einzutreten, der unter der Prämisse steht, dass ein Wachstum der »Wirtschaft« ebenso wie der Staatseinnahmen (nur noch) durch Investitionen anziehende Steuernachlässe erreicht werden kann – die zur letzten Hoffnung der Wirtschaftsförderer gewordene Laffer-Illusion. Bis jetzt ist diese allerdings genau das geblieben: Zugleich mit den Spitzensteuersätzen sind auch die Wachstumsraten langfristig gesunken. Schlimmer noch, parallel zum Rückgang der Besteuerbarkeit der Unternehmen sind deren Ansprüche an die nationalen und regionalen Infrastrukturen gestiegen; Unternehmen verlangen Steuersenkungen und Steuererlasse, aber auch und zugleich besser ausgebaute Straßen, Flughäfen, Schulen, Universitäten, höhere Forschungsmittel etc. Die Folge ist eine tendenziell steigende Besteuerung der kleinen und mittleren Einkommen, etwa auf dem Weg über höhere Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträge – insgesamt also ein immer degressiveres Steuersystem.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der gegenwärtig zu beobachtende, OECD-weit betriebene Übergang vom Schulden- zum Konsolidierungsstaat epochale und systemische Bedeutung. Dabei ist verteilungs- wie klassenpolitisch interessant, wie die gesunkene Besteuerbarkeit der profitabhängigen Klassen und Organisationen und die fiskalischen Defizite, die aus ihr sowie aus dem Rückgang des Wachstums entstanden und entstehen, politisch genutzt wurden und werden, um den Abbau der Sozialstaatlichkeit des Nachkriegskapitalismus voranzutreiben. Über die Dynamik dieses Prozesses wissen wir mittlerweile mehr (Haffert 2014; Haffert und Mehrtens 2013; Mehrtens 2014). Kurz zusammengefasst lässt sich festhalten (Streeck 2015c), dass die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, wie sie seit Mitte der 1990er Jahre versucht wird, so gut wie ausschließlich durch Kürzung von Ausgaben statt durch Erhöhung der Einnahmen betrieben wird. Begleitet wird das »Sparen«, und zwar besonders gerne dann, wenn es zu Haushaltsüberschüssen führt, typischerweise von Steuersenkungen, die das Defizit erneuern und dadurch weitere Ausgabenkürzungen begründen. Ziel ist nicht der Verzicht auf Schulden, sondern die Rückgewinnung des Vertrauens der Kreditgeber durch langfristige Sicherstellung der strukturellen Rückzahlungsfähigkeit der öffentlichen Schuldner. Die dazu nötige nachhaltige Beschneidung der Staatstätigkeit erfordert die politische und institutionelle Etablierung eines Austeritätsregimes entlang der Linie neoliberaler »Reform«-Politik mit ihrer Privatisierung öffentlicher Aufgaben und individueller Risikovorsorge. Insgesamt läuft die Politik des Konsolidierungsstaats auf das großangelegte Experiment hinaus, die notwendigen investiven Vorkehrungen für die Zukunft einer kapitalistischen politischen Ökonomie und ihrer Bürger sowie die Reparatur der von der kapitalistischen Entwicklung verursachten Umwelt- und Gesellschaftsschäden dem Staat abzunehmen und sie profitträchtig statt profitschädigend auf den privaten Sektor, also auf gewinnorientierte, am Markt operierende Unternehmen zu übertragen (Streeck 2015c).[16]

Kapitalismus und Demokratie

In diesen Zusammenhang gehört nun auch meine ausdrücklich als »stilisiertes Modell« eingeführte Unterscheidung zwischen »Staats«- und »Marktvolk«. Gedacht war sie als Provokation für die Demokratietheorie, die immer noch so tut, als finanziere sich der Staat im gegenwärtigen Kapitalismus allein durch seine Steuerbürger – wobei ich die aus der von mir vorgeschlagenen Unterscheidung bezogenen, thesenhaft vorgetragenen Vermutungen explizit als »Beobachtungen« auf einem »unterentwickelten Forschungsstand« kennzeichne. Es ist wahr, und ich habe es ausdrücklich gesagt, dass es Bürger gibt, die beiden »Völkern« zugleich angehören – allerdings ohne mich auf die absurde These einzulassen, dass »wir« es sind, also die »bürgerliche Mittelschicht«, die die Finanzialisierung und ihre Krisen »antreiben«. Dies hätte bedeutet, auf den Versuch zu verzichten, der Spannung zwischen Bürgerrecht und Wirtschaftsrecht, wie sie im Schuldenstaat des gegenwärtigen Kapitalismus zu beobachten ist, wenigstens annäherungsweise begrifflichen Ausdruck zu geben.

Ähnlich verhält es sich mit meiner Unterscheidung zwischen sozialer Gerechtigkeit und Marktgerechtigkeit – einer analytischen Konstruktion, die von mir ausdrücklich als solche eingeführt wird und mit der ich mich eigentlich auf gut gesicherten Pfaden wähnte. Demokratische Politik im Kapitalismus steht normalerweise unter Druck, Marktergebnisse egalitär zu korrigieren (zu »verzerren«), weil Märkte dazu tendieren, die Verteilung ihrer Früchte immer ungleicher werden zu lassen (ebenso Piketty 2014). Wer nur eine sich nach Maßgabe der Grenzproduktivität ergebende, »effiziente« Verteilung für »gerecht« hält (u. a. eben Hayek, aber bei weitem nicht nur er), vielleicht auch, weil sie zufälligerweise ihn selber begünstigt, wird für einen verteilungspolitisch neutralisierten Staat eintreten, der »die Märkte zu ihrem Recht kommen lässt«; andere werden Marktergebnisse »sozial« berichtigen wollen. Die normativen und politischen Schwierigkeiten, die sich mit einem Begriff wie »soziale Gerechtigkeit« verbinden, werden von mir ausdrücklich erwähnt; sie hindern aber bekanntlich niemanden daran, sich in der Praxis auf ihn zu berufen – oder auch im Gegenteil, im Sinne einer »sauberen Lösung«, das Gerechtigkeitsproblem einem System sich frei bildender relativer Preise und damit sich selbst zu überlassen.

Ein Gedanke, der im Buch fehlt, aber gut hineingepasst hätte, betrifft die Frage, warum politische Korrekturen von Märkten so leicht und anscheinend zunehmend Gefahr laufen, als »politisch« im Sinne von willkürlich und korrupt angesehen zu werden. Während sich die Urteile »des Marktes« als gerecht-weil-objektiv darstellen lassen, zustande gekommen sine ira ac studio nach allgemeinen, nichtpartikularistischen, unpersönlichen Regeln, werden die Eingriffe der Politik in das »freie Spiel der Marktkräfte« anscheinend wie selbstverständlich mit Ausbeutung der Allgemeinheit durch mächtige Cliquen assoziiert. Dass Märkte von solcher Ausbeutung frei, gewissermaßen klinisch sauber seien, ist eine Vorstellung, die von ihren vor allem in der ökonomischen Profession angesiedelten Propagandisten mit erstaunlichem Erfolg verbreitet wird, allen Nachrichten über Kartelle, Preisabsprachen, »Bankenrettungen« usw. zum Trotz – über Goldman Sachs und die Deutsche Bank, über den LIBOR, den Goldpreis und die Devisenkurse – und völlig unabhängig von unzähligen Forschungsergebnissen beispielsweise zum Nichtzusammenhang von »Leistung« und Bezahlung im Topmanagement oder zu den inzüchtigen Karrierewegen seiner Mitglieder. Märkte überleben als ideale Welt erstrebenswerter Gerechtigkeit, ungeachtet aller Kartellverfahren und Betrugsprozesse, die auch noch unverdrossen als Beweise dafür angeführt und anerkannt werden, dass sich verlässlich richtigstellen lässt, was am Rande der großen Gerechtigkeitsmaschine des Marktes gelegentlich schiefläuft.

Dass Märkte ihrem Wesen nach sauber sind, und ihre politischen Korrekturen entsprechend unsauber, ist die Prämisse einer weitverbreiteten, gegen Erfahrung erstaunlich immunisierten Gerechtigkeitsvermutung zu ihren Gunsten, ungeachtet dessen, dass es wirklich »freie« Märkte so gut wie nie gibt. Zugrunde scheint dem zu liegen, was man als den Zauber der Quantifizierung und die Magie der Undurchschaubarkeit bezeichnen kann. Die Kriterien demokratischer Marktkorrekturen sind qualitativer Art; sie müssen rhetorisch begründet werden, in Reden, die Gegenreden zulassen müssen. Am Ende werden in der Regel nicht alle derselben Meinung sein, und wenn deshalb überhaupt etwas geschehen soll, bedarf es des Kompromisses oder auch der autoritativen Durchsetzung des Willens der Mehrheit nach beschlossenem Ende der Debatte. Außerhalb des politischen Streits gibt es keine Instanz, die für sich in Anspruch nehmen könnte, eine objektiv richtige Lösung ermitteln zu können, an der das tatsächlich Entschiedene zu messen wäre. Kollektive Entscheidungen über Art und Richtung staatlicher Eingriffe in »das freie Spiel der Marktkräfte« finden in der Regel mindestens teilweise öffentlich statt und sind dadurch mit all ihren Haken und Ösen, in ihrer Improvisiertheit, ihrer Vorläufigkeit und situations- und machtabhängigen empirischen Verschmutzung grundsätzlich sichtbar. Dies ist anders in der Welt des von Politik »freien« Marktes, in der ohne langes kontroverses Gerede Werte als Preise ausgedrückt werden, jenseits von moralisch-rhetorischem Hin und Her, unbestreitbar, kompromisslos und vor öffentlicher Kompromittierung geschützt: der Preis ist der Preis, niemand muss für ihn Verantwortung übernehmen, keiner kann für ihn zu dieser gezogen werden, und wenn eine verbrecherische Verschwörung im Ausnahmefall den wahren Preis verfälscht hat, kann das Kartellamt ihn nachträglich ausrechnen und danach den Verschwörern ihre gerechte Strafe zumessen. So kommt es, dass im Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie die neoliberale Verteidigung reiner Marktgerechtigkeit, wenn sie es geschickt anstellt, gegen eine den Markt korrigierende, politisierte soziale Gerechtigkeit in der Kampfbahn der öffentlichen Meinung so erstaunlich oft Platzvorteil genießt.

Wie weiter?

Mit dem Zusammenbruch der Verschuldungspolitik 2008 war die Krisensequenz des Nachkriegskapitalismus nicht zu Ende. Im Buch (S. 76; hier S. 118) war von einer »nächsten Etappe« die Rede, von der man sich freilich nur ein »ungefähres« Bild machen könne. Absehbar sei »der Versuch einer endgültigen Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Märkte, nicht von den Staaten, auf die sie in vielfacher Weise zur Absicherung angewiesen bleiben, aber von der Demokratie als Massendemokratie, wie sie zum Regime des demokratischen Kapitalismus gehörte«. Und weiter hieß es:

Heute scheinen die Mittel zur Beherrschung von Legitimationskrisen durch Erzeugung von Wachstumsillusionen ausgeschöpft; insbesondere der mit Hilfe der entfesselten Finanzindustrie produzierte Geldzauber der letzten beiden Jahrzehnte ist wohl endgültig zu gefährlich geworden, als dass man es noch einmal wagen könnte, mit ihm Zeit zu kaufen (S. 77; hier S. 119 f.).

Drei Jahre später hängen wir noch immer in der Luft. Was zugenommen hat, über das hinaus, was man noch vor kurzem für unvorstellbar gehalten haben mag, ist die Ungewissheit darüber, wie es weitergehen wird. Noch nie, so scheint es, waren die Experten in den Reparaturwerkstätten des fortschreitenden Kapitalismus so uneins wie heute, nicht nur über die Therapie, sondern auch über die Diagnose.[17] Allen Beschwörungsversuchen zum Trotz laufen die drei nun schon jahrzehntealten Trends, die den allmählichen Zerfall des Kapitalismus der Gegenwart als reproduktionsfähiges Sozialsystem markieren, ungebrochen weiter und beginnen sich ineinander zu einer Abwärtsspirale zu verschrauben: abnehmendes Wachstum, zunehmende Ungleichheit und steigende Gesamtverschuldung – wobei niedriges Wachstum ebenso die Ungleichverteilung der Einkommen erhöht wie diese umgekehrt, in Gestalt zunehmender Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums bei den oberen »ein Prozent«, höherem Wachstum im Wege steht; wirtschaftliche Stagnation einen Schuldenabbau ebenso erschwert wie hohe Verschuldung der für neues Wachstum erforderlichen zusätzlichen Kreditaufnahme selbst bei niedrigsten Zinsen hinderlich ist;[18] und mit immer höheren Verschuldungspyramiden das Risiko eines erneuten Zusammenbruchs des Finanzsystems laufend zunimmt.[19]

Darüber, wie das zu beheben wäre – wie sich dieses historisch einzigartige Syndrom von parallelen, einander verstärkenden krisenhaften Entwicklungen auflösen ließe –, rätseln die Kundigen und suchen verzweifelt nach wie immer auch improvisierten Mitteln, um die nächste Stunde der Wahrheit noch ein paar Jahre hinauszuschieben. Im November 2013 eröffnete Larry Summers, Finanzminister unter Clinton, Architekt der finanziellen Deregulierung der 1990er Jahre und nach wie vor der Größte der Großen unter den Wartungsmechanikern der ins Stottern geratenen kapitalistischen Kapitalproduktionsmaschine, den Teilnehmern des jährlichen Wirtschaftsforums des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine bittere Perspektive: dass die kapitalistische Welt sich möglicherweise in einer »säkularen Stagnation« befinde, in einem »Dauerzustand langsamen Wachstums«. Dieser bestehe vielleicht schon länger, und 2008 sei seine Folge gewesen, nicht seine Ursache. Nach der Jahrtausendwende, so Summers, habe selbst eine riesige Blase auf dem amerikanischen Häusermarkt die amerikanische Volkswirtschaft kaum zum Wachsen gebracht:

Wenn man zurückblickt und sich die Wirtschaft vor der Krise ansieht, dann ist da etwas ein bisschen eigenartig. Viele Leute glauben, dass die Geldpolitik zu locker war. Jeder stimmt zu, dass in gewaltigem Ausmaß unvorsichtig Kredite vergeben wurden. Nahezu jeder stimmt zu, dass der von den Haushalten gespürte Wohlstand den tatsächlichen Wohlstand überstieg. Zu lockeres Geld, zu viel Kredit, zu viel Reichtum. Aber gab es einen großen Boom? Die Kapazitätsausnutzung war nicht unter großem Druck; die Arbeitslosigkeit war nicht bemerkenswert niedrig; von Inflation konnte keine Rede sein – so dass irgendwie nicht einmal eine große Blase ausreichte, um eine überschüssige Gesamtnachfrage zu erzeugen.[20]

Wenig später, am 15. Dezember 2013, diskutierte Summers in einem Artikel in der Financial Times, was daraus folgen könnte:

Was das bedeutet, ist, dass die Annahme, dass irgendwann normale wirtschaftliche und politische Bedingungen zurückkehren werden, nicht aufrechterhalten werden kann […]. Der eine oder andere hat die Ansicht vertreten, dass, wenn man von einer säkularen Stagnation ausgeht, Blasenbildung zur Unterstützung der Nachfrage wünschenswert sei.[21] Das verwechselt aber Vorhersage mit Empfehlung. Es ist selbstverständlich besser, Nachfrage durch produktive Investitionen oder hochgeschätzten Konsum zu unterstützen als durch künstlich erzeugte Blasen. Andererseits muss man vernünftigerweise anerkennen, dass niedrige Zinssätze die Preise von Vermögenswerten erhöhen und Investoren dazu bringen, größere Risiken einzugehen, was Blasenbildung wahrscheinlicher macht.

Was aber tun, wenn einem nichts anderes übrigbleibt? Was man heute besser sehen kann als vor drei Jahren, ist, wie das Kaufen von Zeit nach 2008 weitergegangen ist und bis auf weiteres weitergehen muss, aber nicht mehr auf Rechnung der privaten Geldindustrie, die trotz restaurierter Boni noch immer unter posttraumatischen Störungen leidet, sondern gleich auf die der Zentralbanken, die mehr denn je zu den eigentlichen Regierungen des postdemokratischen Kapitalismus geworden sind, unabhängiger von Wahlen, Parlamenten, Regierungen, Gewerkschaften usw. als jede andere Institution, ausgenommen vielleicht Goldman Sachs und Kollegen. In Gekaufte Zeit