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© 2020 Wenzel Mylius (Hrsg. u. Bearb.)

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-7526-9417-8

GEDICHTE

Aus den Jahren 1845 bis 1849

DER RABE

Einst in dunkler Mittnachtstunde,

als ich in entschwundner Kunde

Wunderlicher Bücher forschte,

bis mein Geist die Kraft verlor

Und mirʼs trübe ward im Kopfe,

kam mirʼs plötzlich vor, als klopfe

Jemand leis ans Tor, als klopfe —

klopfe jemand sacht ans Tor.

„Irgendein Besucher“, dachtʼ ich,

„pocht zur Nachtzeit noch ans Tor —

Weiter nichts — so kommt mirʼs vor.“

Oh ich weiß, es war in grimmer

Winternacht, gespenstischen Schimmer

Jagte jedes Scheit durchs Zimmer,

eh es kalt zu Asche fror.

Tief ersehnte ich den Morgen,

denn umsonst warʼs, Trost zu borgen

Aus den Büchern für das Sorgen

um die einzige Lenorʼ,

Um die wunderbar Geliebte —

Engel nannten sie Lenorʼ —

Die für immer ich verlor.

Die Gardinen rauschten traurig,

und ihr Rascheln klang so schaurig,

Füllte mich mit Schreck und Grausen,

wie ich nie erschrak zuvor.

Um zu stillen Herzens Schlagen

Herzens Zittern, Herzens Zagen,

Mußtʼ ich murmelnd nochmals sagen:

„Ein Besucher klopft ans Tor. —

Ein verspäteter Besucher

klopft um Einlaß noch ans Tor“,

Sprach ich meinem Herzen vor.

Alsobald ward meine Seele

stark und folgte dem Befehle,

„Herr“, so sprach ich, „oder Dame,

ach verzeihen Sie, mein Ohr

Hat Ihr Pochen kaum vernommen,

denn ich war schon schlafbenommen,

Und Sie sind so sanft gekommen —

sanft gekommen an mein Tor;

Wußte kaum den Ton zu deuten…“

Und ich sperrte auf das Tor: —

Nichts als Dunkel stand davor.

Starr in dieses Dunkel spähend,

stand ich lange, nicht verstehend,

Träume träumend, die kein irdscher

Träumer je gewagt zuvor;

Doch es herrschte ungebrochen Schweigen,

aus dem Dunkel krochen

Keine Zeichen, und gesprochen

ward nur zart das Wort „Lenor“ —

Zart von mir gehaucht, —

wie Echo flog zurück das Wort „Lenor“.

Nichts als dies vernahm mein Ohr.

Wandte mich zurück ins Zimmer,

und mein Herz erschrak noch schlimmer,

Da ich wieder klopfen hörte,

etwas lauter als zuvor.

„Solltʼ ich“, sprach ich, „mich nicht irren,

hörte ichʼs am Fenster klirren;

Oh, ich werde bald entwirren

dieses Rätsels dunklen Flor —

Herz, sei still, ich will entwirren

dieses Rätsels dunklen Flor;

Wind wohl machte den Rumor.“

Offen warf ich nun die Schalter —

flatternd kam herein ein alter,

Stattlich großer, schwarzer Rabe,

wie aus heiliger Zeit hervor,

Machte keinerlei Verbeugung,

keine kleinste Dankbezeigung,

Flog mit edelmännscher Neigung

zu dem Pallaskopf empor,

Grade über meiner Türe

auf den Pallaskopf empor —

Saß — und still warʼs wie zuvor.

Doch das wichtige Gebaren

dieses schwarzen Sonderbaren

Löste meines Geistes Trauer

bald zu lächelndem Humor.

„Ob auch schäbig und geschoren,

kommst du“, sprach ich, „unverfroren,

Niemand hat dich herbeschworen

aus dem Land der Nacht hervor.

Tu mir kund, wie heißt du, Stolzer

aus Plutonischem Land hervor?“

Sprach der Rabe: „Nie du Tor.“

Daß er sprach so klar verständlich —

ich erstaunte drob unendlich,

Kam die Antwort mir auch wenig

sinnvoll und erklärend vor.

Denn noch nie war dies geschehen:

über seiner Türe stehen

Hat wohl keiner noch gesehen

solchen Vogel je zuvor —

Über seiner Stubentüre

auf der Büste je zuvor,

Mit dem Namen „Nie du Tor.“

Doch ich hörtʼ in seinem Krächzen

seine ganze Seele ächzen,

War auch kurz sein Wort, und brachte

er auch nichts als dieses vor.

Unbeweglich sah er nieder,

rührte Kopf nicht noch Gefieder,

Und ich murrte, murmelnd wieder

„Wie ich Freund und Trost verlor,

Werd ich morgen ihn verlieren —

wie ich alles schon verlor.“

Sprach der Rabe: „Nie du Tor.“

Seine schroff gesprochnen Laute

klangen passend, daß mir graute.

„Aber“, sprach ich, „nein, er plappert

nur sein einzig Können vor,

Das er seinem Herrn entlauschte,

dessen Pfad ein Unstern rauschte,

Bis er letzten Mut vertauschte

gegen trüber Lieder Chor —

Bis er trostlos trauerklagte

in verstörter Lieder Chor

Mit dem Kehrreim „Nie du Tor.“

Da der Rabe das bedrückte

Herz zu Lächeln mir berückte,

Rollte ich den Polsterstuhl zu

Büste, Tür und Vogel vor,

Sank in Samtsitz, nachzusinnen,

Traum mit Träumen zu verspinnen

Über solchen Tiers Beginnen:

was es wohl gewollt zuvor —

Was der alte ungestalte

Vogel wohl gewollt zuvor

Mit dem Krächzen „Nie du Tor.“

Saß, der Seele Brand beschwichtend

keine Silbe an ihn richtend,

Seine Feueraugen wühlten

mir das Innerste empor.

Saß und kam zu keinem Wissen,

Herz und Hirn schien fortgerissen,

Lehnte meinen Kopf aufs Kissen

lichtbegossen — das Lenor

Pressen sollte — lila Kissen,

das nun nimmermehr Lenor

Pressen sollte wie zuvor!

Dann durchrann, so schienʼs, die schale

Luft ein Duft aus Weihrauchschale

Edler Engel, deren Schreiten

rings vom Teppich klang empor.

„Narr!“ so schrie ich, „Gott bescherte

dir durch Engel das begehrte

Glück Vergessen: das entbehrte

Ruhen, Ruhen vor Lenor!

Trink, oh trink das Glück: Vergessen

der verlorenen Lenor!“

Sprach der Rabe: „Nie du Tor.“

„Weiser!“ rief ich; „sonder Zweifel

Weiser! — ob nun Tier, ob Teufel —

Ob dich Höllending die Hölle

oder Wetter warf hervor,

Wer dich nun auch trostlos sandte

oder trieb durch leere Lande

Hier in dies der Höllʼ verwandte

Haus — sag, eh ich dich verlor:

Gibtʼs — oh gibtʼs in Gilead Balsam? —

Sag mirʼs, eh ich dich verlor!“

Sprach der Rabe: „Nie du Tor.“

„Weiser“, rief ich; „sonder Zweifel

Weiser! — ob nun Tier, ob Teufel —

Schwörʼs beim Himmel uns zu Häupten —

schwörʼs beim Gott, den ich erkor —

Schwörʼs der Seele so voll Grauen:

soll dort fern in Edens Gauen

Ich ein strahlend Mädchen schauen,

die bei Engeln heißt Lenor —

Sie, die Himmlische, umarmen,

die bei Engeln heißt Lenor?“