Das Buch
In vielen Demokratien sind die Bürger frustriert. Es gelingt der Politik nicht mehr, allgemein bedeutsame Fragen aufzugreifen – insbesondere jene, die Ethik und Werte betreffen. Doch die Menschen wollen, dass die Politik sich großen Themen widmet – etwa der Gerechtigkeit, dem Gemeinwohl, dem guten Leben oder der Frage, was es bedeutet, ein Staatsbürger zu sein. Michael J. Sandel erkundet die Gründe für den verarmten öffentlichen Diskurs unserer Zeit und skizziert, wie eine moralisch gewichtigere Form der politischen Auseinandersetzung gelingen könnte. Er zeigt auch, dass Märkte aus sich heraus nicht imstande sind, Gerechtigkeit oder Gemeinwohl zu definieren, und die Ökonomie daher keine wertneutrale Wissenschaft sein darf. Anhand verschiedener Kontroversen unserer Zeit beschreibt er die unvermeidliche Verknüpfung der politischen Argumentation mit moralischen und religiösen Idealen und stellt fest, dass eine diesbezügliche Neutralität von Staat und Gesetz weder möglich noch wünschenswert ist. Denn ein substantieller moralischer Diskurs muss nicht in Widerspruch zu gesellschaftlichem Fortschritt stehen – und auch eine liberale, pluralistische Gesellschaft sollte sich auf Wertvorstellungen einlassen, die ihre Bürger ins öffentliche Leben einbringen.
Der Autor
Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe Justice machte ihn zum weltweit bekanntesten Moralphilosophen. Seine Bücher Gerechtigkeit und Was man für Geld nicht kaufen kann wurden zu internationalen Bestsellern.
Michael J. Sandel
Moral und Politik
Wie wir das Richtige tun
Aus dem Amerikanischen
von Helmut Reuter
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Public Philosophy bei Harvard University Press. Für die deutsche Ausgabe wurde der Buchtext stellenweise gekürzt bzw. aktualisiert. Das Kapitel Die moralische Ökonomie der Spekulation entstand aus einer gleichnamigen Vorlesung des Autors 2013; das Kapitel Marktdenken als moralisches Denken erschien im Original im Journal of Economic Perspectives (Bd. 27/4) im Herbst 2013.
ISBN 978-978-3-8437-1226-2
© 2005 by Michael J. Sandel
© der deutschen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln nach einer Vorlage von Harvard University Press
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Einleitung
zur deutschen Ausgabe
Ein auffälliges Merkmal des heutigen demokratischen Lebens ist, dass die Bürger fast überall – und aus guten Gründen – von der Politik frustriert sind. In den meisten demokratischen Gesellschaften gelingt es Politikern und politischen Parteien nicht mehr, große und allgemein bedeutsame Fragen aufzugreifen – insbesondere Fragen, die Ethik und Werte betreffen.
Der öffentliche Diskurs speist sich entweder aus technokratischen, auf Managementaspekte begrenzten Gesprächen oder aus höchst parteilichen, erbitterten Schaukämpfen, deren Teilnehmer einander anschreien, anstatt sich auf eine vernunftgesteuerte Auseinandersetzung einzulassen. All das führt zu einem ausgehöhlten öffentlichen Diskurs ohne moralische Bedeutung. Es ist diese Leere der politischen Auseinandersetzung während der letzten Jahrzehnte, die der weitverbreiteten Unzufriedenheit zugrunde liegt, die wir in den meisten Demokratien beobachten. Sie treibt auch das Aufkommen von Protestparteien und -bewegungen voran; in ihnen kommen der wachsende Zorn und die Frustration gegenüber den etablierten Parteien zum Ausdruck, die es nicht schaffen, Fragen aufzugreifen, die den Leuten Sorgen bereiten.
Die Menschen wollen, dass Politik große Themen abhandelt: jenes der Gerechtigkeit zum Beispiel, Gemeinwohl oder die Frage, was es heißt, Staatsbürger zu sein. Heute aber schafft es der politische Mainstream-Diskurs zumeist nicht, solche Themen aufzugreifen. Eine der dringlichsten Herausforderungen unserer Zeit besteht darin, die verlorengegangene Kunst der demokratischen Auseinandersetzung wieder aufleben zu lassen. Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs, der moralisch aufgeladener ist als jener, der in der heutigen Politik vorherrscht.
Die Kapitel dieses Buches erkunden die Gründe für den verarmten öffentlichen Diskurs unserer Zeit. Außerdem soll darin eine Möglichkeit skizziert werden, wie eine moralisch gewichtigere Form der politischen Auseinandersetzung aussehen könnte. Obwohl diese Texte zu unterschiedlichen Zeitpunkten der vergangenen drei Jahrzehnte verfasst wurden, haben sie einige Themen gemeinsam. Da ist erstens die Tatsache, dass die managementgeprägte Politik, die ohne moralische Bezüge auskommt, sich zeitgleich mit dem »Glauben an den Sieg des Marktes« etabliert hat. Damit meine ich die Annahme, Marktmechanismen seien die vorrangigen Werkzeuge zur Verwirklichung des Gemeinwohls. Dieser Glaube manifestierte sich speziell in den späten 70ern und 80ern – im Rahmen der von Margaret Thatcher und Ronald Reagan vertretenen Ideologie des Laissez-faire und des freien Marktes. Doch selbst als diese Gestalten in den 90ern von der politischen Bühne verschwunden waren, stellten die Mitte-Links-Parteien, die an ihre Stelle traten, deren grundlegende Annahme vom Primat des Marktes nicht in Frage. Politische Lenker wie Bill Clinton in den USA, Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland mäßigten die Marktgläubigkeit zwar, konsolidierten sie zugleich aber auch. Sogar die 2008 einsetzende Finanzkrise löste keine weitreichende öffentliche Debatte über die angemessenen Rollen von Geld und Markt in einer guten Gesellschaftsform aus.
Viele der folgenden Texte befassen sich mit der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Umwandlung des gesellschaftlichen Lebens in ein Handelsgut; sie setzen sich mit der Frage auseinander, was es moralisch und zivilgesellschaftlich bedeutet, wenn fast alles käuflich gemacht wird. In Teil I werden diese Themen explizit erörtert: Dort vertrete ich die Meinung, dass Märkte aus sich heraus nicht imstande sind, Gerechtigkeit oder Gemeinwohl zu definieren, und dass die Ökonomie durchaus keine wertneutrale Wissenschaft des menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Entscheidungen ist, sondern ein Ableger sowohl der Moralphilosophie als auch der Politischen Philosophie.
Die Aufsätze in Teil II behandeln verschiedene moralische und politische Kontroversen in Hinblick auf ein zweites übergreifendes Thema: die unvermeidliche Verknüpfung der politischen Argumentation mit moralischen und spirituellen Idealen. Hier werden einige heißumstrittene moralische und politische Fragen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen, darunter die unter »Affirmative Action« [auch als »positive Diskriminierung« bezeichnet] zusammengefassten Quotenregelungen zugunsten benachteiligter Minderheiten in den Zulassungsverfahren von Universitäten und bei der Vergabe von Arbeitsplätzen; auch geht es um Beihilfe zum Suizid, Abtreibung, Schwulenrechte, Stammzellforschung, Verschmutzungsrechte, Lügen in der Politik, das Strafrecht, moralische Grenzen des Marktes, die Bedeutung der Tolerierung sowie um die Rolle der Religion im öffentlichen Leben.
Im Rahmen dieser Kontroversen tauchen immer wieder bestimmte Fragen auf: In unserem moralischen und politischen Leben gelten die Rechte des Einzelnen und die Entscheidungsfreiheit als bedeutende Ideale – bilden sie aber auch die angemessene Grundlage für eine demokratische Gesellschaft? Können wir einen argumentativen Weg durch die schwierigen moralischen Fragen finden, die sich im öffentlichen Leben stellen, ohne umstrittene Vorstellungen von Tugend und vom guten Leben zu erörtern? Wenn – wie ich behaupte – unsere politischen Auseinandersetzungen den Fragen zum guten Leben nicht ausweichen können, wie können wir dann damit umgehen, dass in modernen Gesellschaften eine spürbare Uneinigkeit zu solchen Fragen herrscht?
Die Kapitel in Teil III sehen von den in Teil II erörterten speziellen moralischen und politischen Kontroversen ab, um die Vielfalt der heute besonders ausgeprägten liberalen politischen Theorie zu untersuchen und deren Stärken und Schwächen zu bewerten. Der Terminus »liberal« hat dabei in Europa eine andere Bedeutung als in den USA. In Europa bezieht sich »liberal« üblicherweise auf die marktfreundlichen Ansichten des Laissez-faire, während der Begriff in den USA eine Politik kennzeichnet, die staatsbürgerliche Freiheiten und verschiedene Versionen des Wohlfahrtsstaates vertritt. Doch ein im weiteren Sinn verstandener Liberalismus verweist auch auf politische Theorien, welche den Respekt gegenüber Pluralismus und den Rechten des Einzelnen hervorheben. Diese Art Liberalismus betrachte ich in Teil III.
Eine der zentralen Debatten zum Liberalismus innerhalb der politischen Philosophie betrifft die Frage, ob die Achtung für Pluralismus und individuelle Rechte erfordert, dass das Gesetz gegenüber konkurrierenden Vorstellungen des guten Lebens neutral zu sein hat. Einige der wichtigsten zeitgenössischen Denker innerhalb der liberalen Tradition, darunter John Rawls und Jürgen Habermas, waren bestrebt, liberalen Institutionen und Praktiken eine Legitimation zu verschaffen, die sich gegenüber umfassenden moralischen, spirituellen und metaphysischen Anschauungen neutral verhält. Ich dagegen bringe vor, dass eine solche Neutralität weder möglich noch wünschenswert ist. Die Texte in Teil III legen diese Argumentation dar und bieten Beispiele für politische Theorien, die sich offen und ausdrücklich auf moralische und spirituelle Ideale beziehen und sich dabei dennoch dem Pluralismus verpflichtet sehen. Liberale sorgen sich oft, dass eine Einladung moralischer und religiöser Auseinandersetzungen in den öffentlichen Raum die Gefahr von Intoleranz und Zwang heraufbeschwöre. Ich versuche auf diese Besorgnis zu reagieren, indem ich zeige, dass ein substantieller moralischer Diskurs keinen Widerspruch zu fortschrittlichen öffentlichen Zielen darstellt und dass eine pluralistische Gesellschaft keineswegs davor zurückschrecken muss, sich auf die moralischen und religiösen Überzeugungen einzulassen, die ihre Bürger ins öffentliche Leben einbringen.
Viele Essays in diesem Band verwischen die Grenzlinie zwischen Politischer Philosophie und politischem Kommentar, und sie stellen in zweifacher Hinsicht die Unternehmung einer Philosophie des Öffentlichen dar: Sie sehen in den politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen unserer Tage nicht nur eine Chance für die Philosophie an sich, sondern sie stehen auch für den Versuch, Philosophie in der Öffentlichkeit zu betreiben – sie sollen die Moralphilosophie und die Politische Philosophie im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs zum Tragen bringen und die Bürger dazu einladen, sich mit den großen Fragen zu beschäftigen, die in den Dilemmata unseres Alltagslebens stecken.
Teil I
Auf dem Weg zu einer politischen Ökonomie des Staatsbürgertums
Oft gehen wir davon aus, Debatten über die Wirtschaft beträfen genau zwei Fragen: wie Wirtschaftswachstum zu fördern ist und wie man dessen Früchte gerecht verteilt. Die erste Frage gilt vor allem als technische, die zweite eher als normative Frage. Es führt jedoch in die Irre, auf diese Art über Wirtschaft nachzudenken. Denn damit wird eine zu scharfe Trennlinie zwischen wirtschaftlicher Sachkenntnis und moralischer Auseinandersetzung gezogen. Zudem lässt sich mit diesem Ansatz nicht erklären, auf welche Weise ökonomische Vereinbarungen jene Einstellungen, Normen und Tugenden fördern (oder auch aushöhlen) können, die eine Demokratie erst möglich machen.
In Teil I soll gezeigt werden, was es für die Wirtschaft bedeuten würde (und zeitweilig schon bedeutet hat), wenn sie als moralisches und staatsbürgerliches Projekt konzipiert würde. Das Kapitel Marktdenken als moralisches Denken wendet sich gegen die Vorstellung, Ökonomie sei eine wertneutrale Wissenschaft der gesellschaftlichen Entscheidungen, und schlägt vor, die Wirtschaftswissenschaft wieder an die ältere Tradition der Moralökonomie und der Politischen Ökonomie anzuknüpfen. Die moralische Ökonomie der Spekulation veranschaulicht die Verknüpfung von Wirtschaftsdenken und moralischem Denken. Hier wird der Frage nachgegangen, ob zwischen Zocken im Casino und Finanzspekulation ein moralischer Unterschied besteht (beides hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen). Dadurch, dass sich das heutige Wirtschaftsleben auf den Bereich der Finanzen fokussiert, entstehen die größten Gewinne mittlerweise nicht mehr durch die Herstellung von Produkten, sondern durch die Verwaltung von Risiken. Darum stellt sich die Frage, was die wachsende Rolle von Zufall und Glück im Wirtschaftsleben sowie der Niedergang der Arbeit in moralischer und staatsbürgerlicher Hinsicht mit sich bringen.
Das dritte Kapitel dieses Abschnitts wirft einen Blick in die Geschichte anhand einiger konkreter Beispiele für eine politische Ökonomie des Staatsbürgertums. Mit Bezug auf die politische Tradition der Vereinigten Staaten wird dort gezeigt, dass unsere Debatten sich nicht immer auf den Umfang und die Verteilung des Bruttosozialprodukts konzentriert haben; ebenso wenig erscheint die konsumorientierte, individualistische Lesart als einzige Möglichkeit, sich Freiheit vorzustellen. Denn während weiter Strecken der amerikanischen Geschichte wurde die politische Auseinandersetzung durch eine anspruchsvollere staatsbürgerliche Konzeption der Freiheit bestimmt. Die neue Größenordnung des politischen Lebens im Zeitalter der Globalisierung macht das staatsbürgerliche Projekt sicher komplizierter, aber dennoch erinnert uns das staatsbürgerliche Konzept der Freiheit an Fragen, die zu stellen wir inzwischen vergessen haben: Wie können starke ökonomische Kräfte dazu gebracht werden, der Demokratie zu nützen? Ist Selbstverwaltung unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft möglich? Welche Formen von Solidarität und Gemeinschaft können demokratische Gesellschaften in einem durch vielfältige Identitäten und komplexe Persönlichkeiten geprägten pluralistischen Zeitalter überhaupt noch wecken?