Maya Shepherd
Schattenjagd
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Liebe Schwester,
1. Eliza
2. Winter
3. Eliza
4. Winter
5. Eliza
6. Winter
7. Eliza
8. Winter
9. Eliza
10. Winter
11. Eliza
12. Winter
13. Eliza
14. Mona
15. Winter
16. Eliza
17. Mona
18. Winter
19. Eliza
20. Mona
21. Winter
22. Eliza
23. Mona
24. Winter
25. Eliza
26. Mona
27. Eliza
28. Winter
29. Mona
30. Eliza
Impressum neobooks
Für Sabrina Stocker,
am Anfang … für immer
du warst für ein halbes Jahr verschwunden, ohne dass ich wusste, wo du bist, wie es dir geht oder warum du überhaupt gegangen bist. Anfangs habe ich mir Sorgen um dich gemacht und unsere Streitereien vermisst, aber mein Leben musste auch ohne dich weitergehen. Unser aller Leben musste das!
Lucas schien unter deinem Verschwinden fast am meisten zu leiden. Er hat wochenlang nach dir gesucht, kaum geschlafen, kaum gegessen. Schuldgefühle haben ihn gequält und er hat sich gefragt, ob er dir nicht genug zur Seite gestanden hätte. Ich konnte sein Leid nicht länger ertragen. Es hat mir das Herz zerrissen, ihn so zu sehen. Ich bin ihm nicht mehr von der Seite gewichen und habe mir jeden Tag angehört, was für ein toller, aber missverstandener Mensch du doch wärst. Lucas ist der Einzige, der dich auf diese Weise sieht. Denn ich glaube, wenn dich die anderen in der Schule als egoistisches Miststück beschimpfen, liegen sie richtig. Du hast nie daran gedacht, was es für mich, Lucas oder unsere Eltern bedeutet, wenn du einfach von heute auf morgen verschwindest. Es war dir egal, weil du wie immer nur an dich gedacht hast!
Und dann kommst du plötzlich wieder, ausgerechnet zur selben Zeit, in der diese schrecklichen Ritualmorde in Wexford passieren. Aber du klopfst nicht an unsere Tür oder rufst an, um zu sagen, dass du wieder da bist. Nein, du versteckst dich und spielst Lucas gegen mich aus. Lucas, den ich schon immer geliebt habe. Lucas, den du ohne ein Wort hier zurückgelassen hast. Lucas, der dir nie wirklich wichtig war.
Du kommst zurück und erwartest von mir, dass ich Verständnis für deine ausweglose Situation aufbringe. Du bist jetzt eine Schattenwandlerin, ernährst dich von den Gefühlen anderer Menschen und beobachtest mich aus der Finsternis. Du hast zwei Menschen getötet und trotzdem war ich bereit, dir zu verzeihen. Du bist meine Schwester und ein Teil von mir wird dich immer lieben, aber du hast mich erneut verraten. Du hast mir Lucas weggenommen! Du hast ihn geküsst, obwohl du gesagt hast, dass du nichts für ihn empfindest. Du hast gelogen. Du bist genauso herzlos, wie du es immer warst. Du hast dich nicht geändert!
Liam hat mich vor dir gewarnt. Er hat dich durchschaut. Er kannte die Abgründe deiner Seele. Ich habe geglaubt, dass der Schmerz seine Worte bestimmt. Du hast ihm das Wichtigste auf der Welt genommen: seine kleine Schwester. Und das nur, weil du glaubtest, es besser zu wissen, dir von nichts und niemandem etwas sagen lassen zu müssen. Du hast dich überschätzt, mal wieder. Aber dieses Mal ist ein kleines Mädchen durch deine Schuld viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Ich hoffe, du denkst in deinen Träumen an sie und vergisst nie deine Schuld!
Liam ist ein Mörder. Aus Verzweiflung hat er Unschuldige ermordet, um seine Schwester wieder zum Leben zu erwecken. Es hat nie funktioniert, er hat nur noch mehr Trauer und Tod verbreitet. Aber trotzdem war er für mich mehr als ein skrupelloser Killer. Er war mein Freund. Sein Blut klebt an meinen Händen, weil ich mich zwischen ihm und dir entscheiden musste. Ich habe dich gewählt und würde es jederzeit wieder tun, auch wenn ich mir nichts mehr wünsche, als dass du deine Sachen packst und wieder aus meinem Leben verschwindest. Ich liebe dich, Eliza, aber ich kann deine Nähe nicht länger ertragen!
Deine Schwester,
Winter
„Ist es richtig, dass du Kylie Sullivan an dem Abend vor ihrem Tod getroffen hast?“, fragte Detektive Windows, wobei das grüne Lämpchen des Aufnahmegeräts leuchtete.
„Ja, aber ich habe sie nicht umgebracht!“, wiederholte ich zum bestimmt zehnten Mal. Es war egal, wie oft die Polizistin die Frage noch stellen würde, sie würde kein Geständnis von mir bekommen. Ich hatte Kylie nicht umgebracht!
„Aber du hattest Streit mit ihr, oder? Worum ging es dabei?“
„Ich wollte mich bei ihr für mein Verhalten entschuldigen, bevor ich Wexford verlassen hatte. Mehr nicht.“
„Welches Verhalten meinst du damit?“, hakte Windows nach.
„Ich war gemein zu ihr, so wie zu allen anderen auch. Deshalb habe ich Wexford auch verlassen.“
„Und warum bist du ausgerechnet jetzt zurückgekehrt?“
„Ich habe meine Familie vermisst“, sagte ich ehrlich und schaute der Polizistin in die Augen. War das so schwer zu verstehen?
Doch Detektive Windows blieb weiter misstrauisch. „Nehmen wir mal an, du hast nichts mit all den Morden zu tun. Wie kommt es dann, dass deine Schwester Winter etwas anderes behauptet? Vor wenigen Tagen war sie genau in diesem Zimmer und hat dich des Mordes an Kylie Sullivan und Kevin O’Brian beschuldigt. Sie hat nicht ausgeschlossen, dass du auch für die anderen Morde verantwortlich sein könntest. Sie kannte sogar dein Versteck und hat es uns verraten. Sag mir, Eliza, warum sollte deine Schwester sich so etwas einfach ausdenken?“
Ihre Worte trafen mich wie ein Stich ins Herz. Was Kevin anging, hatte Winter nicht einmal gelogen. Aber es war ein Unfall gewesen! Ein Versehen! Es tat weh, dass Winters Wut auf mich so groß war, dass sie nicht einmal vor der Polizei zurückgeschreckt war. Ich hätte Lucas niemals küssen dürfen, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen.
„Wir haben uns gestritten. Winter hat mich und ihren Exfreund dabei erwischt, wie wir uns geküsst haben, deshalb war sie sauer. Sie wollte mir eins auswischen!“
„Wenn das alles ist, warum bist du dann abgehauen, als die Polizei in der Pension aufgetaucht ist? Du hättest nicht fliehen müssen, wenn du nichts zu verbergen hast!“
„Ich war seit einem halben Jahr verschwunden. Sie hätten mich doch sofort bei meinen Eltern abgeliefert, das wollte ich nicht! Ich wollte selbst entscheiden, wann ich zu ihnen zurückgehe.“
„Warum bist du damals abgehauen?“
Nun waren wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Die eine Frage, um die sich alles zu drehen schien. Völlig entnervt stöhnte ich auf und gab dieselbe Antwort, wie viele Male zuvor. „Ich war schlecht in der Schule, hatte Stress mit meiner Familie und generell lief alles beschissen für mich. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Ich weiß, dass es falsch war, einfach wegzulaufen, aber ich kann es nicht mehr ungeschehen machen!“
Meine Stimme war lauter geworden und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Detektive Windows musterte mich prüfend, schob dann aber schließlich ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich glaube dir kein Wort, aber ich gebe zu, dass wir nichts in der Hand haben, um dir das Gegenteil zu beweisen. Du kannst jetzt gehen.“
Sie ging zur Tür und klopfte dagegen. Ich folgte ihr in sicherem Abstand. Als die Tür sich öffnete, drehte sich die Polizistin mit einem drohenden Blick zu mir um. „Glaub ja nicht, dass es damit vorbei ist! Ich weiß, dass du etwas zu verbergen hast und ich werde nicht locker lassen, bis ich weiß, was es ist. Wir sehen uns wieder, Eliza.“
Ohne mir die Hand zu reichen, ging sie davon und ließ mich auf dem Flur des Polizeireviers zurück. Selbst wenn Detektive Windows herausfinden würde, dass ich eine Schattenwandlerin war, würde sie es nicht glauben. Für Menschen wie sie existierten übernatürliche Wesen wie ich nicht.
Das Verhör hatte über zwei Stunden gedauert und trotzdem saßen mein Vater und Lucas noch genau auf derselben Bank, auf der ich sie zurückgelassen hatte. Erleichtert kamen sie mir entgegen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Lucas besorgt und legte mir seine Hand auf die Schulter. Ich nickte, sah aber unmittelbar zu Dad. „Wo ist Winter?“ Sie war ebenfalls zur Befragung hier gewesen, so wie wir alle.
Er setzte eine bedauernde Miene auf. „Sie war früher fertig und wollte nicht länger warten. Mum ist mit ihr und Mona schon einmal vorgefahren. Wenn wir Glück haben, ist das Essen bereits fertig, wenn wir nach Hause kommen.“ Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und legte seine Hand auf meine andere Schulter. „Lass uns nach Hause gehen!“
Wenn ich an meine Schwester dachte, ergriff mich ein beklemmendes Gefühl. Obwohl die Polizei mich ihretwegen des mehrfachen Mordes verdächtigte, konnte ich ihr nicht böse sein. Winter hatte jeden Grund, mich zu hassen. Ich hatte sie im Stich gelassen, ihren Exfreund geküsst und zudem war ich schuld daran, dass Liam Dearing in ihr Leben getreten war. Liam, dessen kleine Schwester ich auf dem Gewissen hatte und der mich deshalb gejagt hatte. Liam, den Winter hatte töten müssen, um mich zu retten. Sie ging mir aus dem Weg, sah mich nicht einmal mehr an. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mich anschreien und mir eine Ohrfeige nach der anderen verpassen würde, aber stattdessen ignorierte sie mich. Es war fast, als würde ich für sie gar nicht mehr existieren. Das tat mehr weh, als alles andere es je tun könnte.
Wir quetschten uns zu dritt auf die Vorderbank des Leihwagens von Lucas’ Eltern. Ihr Pick-up befand sich noch in der Reparatur, nachdem ich ihn bei der Suche nach Winter gegen einen Laternenpfahl gesetzt hatte. Lucas hatte meinetwegen einen zweiten Nebenjob angenommen, um seinen Eltern das Geld für die Reparatur irgendwann zurückzahlen zu können. Ich saß in der Mitte, zwischen den beiden wichtigsten Männern in meinem Leben: meinem Dad und Lucas. Beide liebten mich bedingungslos und waren bereit, mir alles zu verzeihen. Ich war nicht nur eine miserable Tochter, sondern auch eine noch schlechtere Freundin gewesen. Ich verdiente weder die Liebe des einen noch die des anderen.
Als Slade’s Castle in Sichtweite kam, sah ich bereits dicken Rauch aus unserem Schornstein aufsteigen, während der Regen heftig gegen die Fensterscheiben des Autos prasselte. Der kurze irische Sommer war nun endgültig vorbei und ich hatte ihn komplett verpasst. Keine Tage am Strand, keine Grillfeste und keinen Jahrmarkt. Stattdessen hatte ich mich völlig zugedröhnt von einer Party zur anderen geschleppt, bevor schließlich mein Schattenwandlergen ausgebrochen war und ich Probleme hatte, überhaupt ein Mensch zu bleiben und mich nicht alle paar Minuten in Schatten aufzulösen.
Der Wagen hielt in der Einfahrt zwischen unserem Haus und dem der Familie Riley. Bevor Dad die Tür öffnete, wandte er sich an Lucas. „Danke, dass du mitgekommen bist. Möchtest du etwas essen?“
Er schüttelte den Kopf. „Danke für das Angebot, Mr. Rice, aber ich muss gleich zur Arbeit.“
Dad grinste von Lucas zu mir. „Nimm dir mal ein Beispiel an ihm!“
Ich rollte mit den Augen. Zwar hatte ich mir vorgenommen, mich zu bessern, aber mir war auch klar, dass das nicht von einem auf den anderen Tag gehen würde. Zudem hätte mich der Inhaber des Kinos, in dem Lucas arbeitete, vermutlich ohnehin nicht eingestellt. Ich glaubte nicht, dass er bereits vergessen hatte, wie ich vor einem Jahr in seinem Kino geraucht und dabei ein Feuer entzündet hatte.
„Ich komme gleich nach“, sagte ich zu Dad, der eilig aus dem Auto sprang und durch den Regen zur Haustür rannte. Als er weg war, wurde es still im Wagen. Wir sahen beide hinaus in den grauen Himmel. Seitdem Liam tot war und wir Winter wieder nach Hause gebracht hatten, waren wir nicht mehr miteinander alleine gewesen. Ich wusste nicht, was er über mein Verhalten in Liams Anwesen dachte. Ich war bereit gewesen, Liam zu ermorden. Lieber er als ich. Fürchtete Lucas meine skrupellose Seite?
Plötzlich legte er seine Hand sanft und warm über meine. Er sah mir ins Gesicht, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wir bekommen das alles schon wieder hin.“ Er zog aus seiner Jackentasche eine kleine Schachtel und reichte sie mir.
Überrascht nahm ich sie entgegen. „Für mich?“
„Nein, für deine Mum“, sagte er ernst, begann dann aber zu lachen. „Natürlich für dich!“
Die Schachtel war aus rotem Samt und fühlte sich weich unter meiner Haut an, als ich den Deckel aufschnappen ließ. Auf einem kleinen schwarzen Kissen lag eine filigrane Kette aus glänzendem Silber mit einem kleinen Vogel als Anhänger. An der Stelle, wo der Vogel sein Auge gehabt hätte, funkelte ein kleiner weißer Stein.
„Zum Neuanfang“, sagte Lucas und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, ohne ihn ansehen zu müssen. Er hatte meinetwegen Streit mit seinen Eltern und musste einen Job annehmen, um die Kosten bezahlen zu können, die ich verursacht hatte. Er war definitiv zu gut für mich und ich wusste schon jetzt, dass ich ihn auf die eine oder andere Art enttäuschen würde.
Er sah meine Besorgnis und konnte meine Gedanken lesen, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen musste.
„Es ist ein Geschenk und ich erwarte dafür keine Gegenleistung von dir. Ich glaube an dich! Du wirst es nicht leicht haben, aber ich weiß, du wirst es schaffen.“
Ich drängte meine Zweifel zurück und ließ mich von meiner Zuneigung leiten. „Solange du mir hilfst, kann ich alles schaffen.“
„Ich werde immer für dich da sein, aber bitte lauf nicht mehr weg. Lass mich nicht noch einmal einfach zurück, das könnte ich nicht ertragen.“
Ich wandte mich ihm zu, fühlte mich zu ihm und seiner bedingungslosen Liebe hingezogen. „Es tut mir so leid! Ich verspreche dir, dass ich es irgendwie wiedergutmachen werde.“
Lucas’ Hand legte sich zärtlich auf meine Wange. Sein Daumen strich unter meinem Auge entlang. Ich hatte geweint, ohne es überhaupt zu merken. „Bleib einfach bei mir, das reicht mir völlig“, flüsterte er und nährte sich mir langsam. Er war mir so vertraut und es fühlte sich gut an, in seiner Nähe zu sein. Sicher und geborgen. Mein Bauch kribbelte, wenn ich in seine blauen Augen sah und mein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, ihn noch einmal zu küssen. Früher hatte es mir nichts bedeutet. Früher hatte ich Lucas immer für selbstverständlich genommen. Er war für mich ein Testobjekt gewesen, an dem ich meine weiblichen Reize hatte ausprobieren können. Ich hatte es geliebt, zu wissen, dass er von mir mehr als Freundschaft wollte, aber ihm genau das nicht zu geben. Immer wieder hatte ich ihm bewusst Hoffnungen gemacht, ohne mich je um seine Gefühle zu scheren. Es war mir egal gewesen, ob er litt. Ich hatte es nicht einmal ernst genommen, weil ich selbst so wenig fühlte, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemandem anders erging.
Ich wollte ihn küssen, mit ihm verschmelzen, mich nie mehr von ihm lösen, aber ich konnte dem Drang nicht nachgeben. Winters enttäuschtes und maßlos verletztes Gesicht tauchte immer unmittelbar vor meinen Augen auf, wenn ich Lucas zu nahe kam. Ich hatte ihr so wehgetan, indem ich den Kuss mit ihrem Exfreund zugelassen hatte. Winter hätte ihn so viel mehr verdient als ich. Er würde viel besser zu ihr als zu mir passen, da machte ich mir nichts vor. Vielleicht würde Lucas das irgendwann auch einsehen. Winter würde ihn ohne Zweifel zurücknehmen. Sie hatte ihn schon immer geliebt und würde es vermutlich auch immer tun.
Ich zog mich zurück und spürte deutlich, wie die Kälte zwischen uns glitt. Lucas wandte den Blick ab und sah zu dem Haus seiner Eltern. Er trommelte unruhig mit den Fingern auf dem Lenkrad. „Brauchst du noch etwas?“
Ich wusste, was er damit meinte. Nichts, das er mir aus der Stadt hätte mitbringen können. Er sprach von den Gefühlen, die ich brauchte, um meine menschliche Gestalt aufrechterhalten zu können. Das Verhör hatte mich geschwächt und ich fühlte, wie die Schatten bereits an mir zerrten. Lange würde ich nicht mehr die Kontrolle behalten können. Das Essen mit meinen Eltern, Winter und Mona wäre eine zusätzliche Belastung. Auch wenn ich nicht von ihm trinken wollte, durfte ich das Risiko, aufzufliegen, nicht eingehen.
„Ja“, antwortete ich geknickt. Er sah mich an, die Freude und Zuversicht waren aus seinem Blick verschwunden. Zurück blieb kühle Resignation.
„Beeil dich bitte, ich will nicht an meinem ersten Arbeitstag direkt zu spät kommen.“
Ich schluckte und beugte mich zu ihm vor. Es fiel mir schwer, Blickkontakt zu ihm zu halten. Meine Hand legte sich um sein Handgelenk und ich begann, die Emotionen aus ihm herauszuziehen. Verletzte Gefühle, Enttäuschung und Eifersucht. Ihr Geschmack war bitter. Würde ich je bei Lucas etwas anderes auslösen als Kummer? Ich tat ihm nicht gut! Er litt meinetwegen. Winter wusste das und sie verachtete mich dafür. Aber ich glaubte nicht, dass sie oder Lucas wussten, wie sehr ich mich selbst dafür hasste. Es gab keinen Tag, an dem ich mein Dasein als Schattenwandlerin nicht verfluchte.
Ich trank nicht viel, nur die oberste Gefühlsschicht, dann löste ich mich von Lucas. „Viel Spaß auf der Arbeit und pass auf, dass die Mädchen dich nicht interessanter als den Film finden“, versuchte ich lustig zu sein, aber Lucas lachte nicht. Nicht einmal ein bisschen. Er blieb im Auto sitzen, als ich durch den Regen in das Haus lief.
Aus unserem Esszimmer hörte ich bereits Geschirr klappern. Ich streifte mir schnell die nassen Schuhe von den Füßen und ging auf Socken zu der geöffneten Tür. Mum hatte den Tisch reichlich gedeckt. Rindergulasch, dampfende Kartoffeln, buntes Gemüse, duftendes Brot und eine klare Brühe zur Vorspeise. Unsere vielen Katzen saßen bereits rund um den Tisch, nur von Miss Snowwhite war nichts zu sehen. Das Vieh hatte mich schon seit ihrem Einzug nicht ausstehen können, aber seit ich offiziell zurück war, hatte ich sie noch nicht einmal gesehen. Vermutlich verbarrikadierte sie sich in Winters Zimmer. Seitdem Mona bei uns eingezogen war, bekochte Mum sie täglich. Ihrer Ansicht nach schien das dünne, verängstigte Mädchen genau das zu brauchen. Mum war eine Köchin, bei der die Liebe wahrlich durch den Magen ging.
Alle anderen saßen bereits. Mum und Dad jeweils an den Kopfenden und Winter und Mona nebeneinander auf der rechten Tischseite. Ich nahm gegenüber meiner Schwester Platz. „Entschuldigt die Verspätung“, murmelte ich leise.
„Das macht nichts, Schatz, jetzt bist du ja da“, sagte Mum liebevoll und reichte mir die Hand. Ich zögerte, sie zu ergreifen, da ich wusste, was darauf folgen würde. Vor einem halben Jahr hätte ich mich noch geweigert, doch jetzt tat ich ihr den Gefallen. Ich hielt Dad meine Hand entgegen, sodass wir alle miteinander verbunden waren. Das Aufsagen des Tischspruches war eine alte Tradition in unserer Familie, auf die meine Eltern seit meiner Rückkehr erhöhten Wert legten.
Dad schaute Mum feierlich an, bevor er anfing: „Wir reichen uns die Hände nach guter alter Sitt und wünschen uns zum Essen recht guten Appetit.“
Während Mum und ich geduldig mitsprachen, starrte Mona uns mit großen Augen und offenem Mund an. Sie hatte sich noch nicht an die Bräuche unserer Familie gewöhnt und alles erschien irgendwie fremd für sie. Mein Blick wanderte zu Winter, die den Kopf gesenkt hatte und ihre Lippen fest aufeinanderpresste. Irgendetwas regte sie auf. War ich es? Was hatte ich dieses Mal getan? Meine bloße Anwesenheit reichte aus, um sie wütend zu machen.
Wir lösten unsere Hände voneinander und Mum stand auf, um die Suppe auszuschenken. Sie füllte als Erstes Monas Schale. Mir entging nicht, dass sie ihr deutlich mehr einschenkte als jedem anderen von uns. Mona war erst wenige Tage bei uns und schon hatte Mum das einsame Mädchen in ihr Herz geschlossen, als wäre sie ihre eigene Tochter. Ich hatte gewusst, dass sie so reagieren würde. Genau deshalb hatte ich Mona mitgebracht. Sie brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte und Mum brauchte jemanden, um den sie sich kümmern konnte.
Während ich meine Brühe löffelte, bemerkte ich plötzlich, dass Winter mich anstarrte. Ihre Hand hielt den Löffel in der Schale fest umklammert, ohne auch nur einen Schluck davon gekostet zu haben. Ich hob den Kopf und blickte ihr in das wütende Gesicht. Ich gab mir Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und versuchte es stattdessen mit einem Lächeln. Winters Hand begann zu zittern und im nächsten Moment flog mir ihre Schüssel samt heißer Brühe ins Gesicht. Ich schrie auf und wich erschrocken zurück. Mein Stuhl knallte krachend zu Boden, während Winter ebenfalls stand und am ganzen Körper bebte.
Mona, Mum und Dad starrten uns sprachlos an. In Winters Augen glitzerten nun Tränen. Sie schaute von mir zu den anderen. „Sind wir jetzt etwa wieder eine Familie, nur weil SIE wieder da ist?!“, fragte sie anklagend und deutete mit dem Finger auf mich. Ich wischte mir mit der Serviette die Suppe von der Haut. Es brannte etwas, aber es schmerzte nicht halb so sehr wie Winters unbändiger Zorn auf mich.
„Seit einem halben Jahr haben wir an keinem Tag mehr diesen bescheuerten Tischspruch aufgesagt und nur weil Eliza zurück ist, soll jetzt alles wieder gut sein?“ Sie war völlig außer sich. Vor unseren Eltern war Winter sonst noch nie laut geworden, egal wie sehr wir uns auch gestritten hatten. Sie hatte vor ihnen nie die Kontrolle verloren und immer die Zähne zusammengebissen.
„Winter, beruhige dich bitte wieder und setz dich hin!“, sagte Dad ruhig, aber ich hörte den strengen Unterton in seiner Stimme.
Winter starrte ihn fassungslos an. Auf diese Weise hatte er nie mit ihr gesprochen. Die strenge Stimme war immer an mich gerichtet gewesen, nie an Winter, die sich immer zusammengerissen und keinen Grund zur Sorge gegeben hatte. Sie zog scharf die Luft ein. „Solange DIE hier mit euch an einem Tisch sitzt, will ich nicht mehr zu dieser Familie gehören!“
Sie rannte an Dad vorbei aus dem Esszimmer. Er sprang auf und brüllte ihr „Komm sofort zurück!“ nach, doch die Haustür fiel bereits ins Schloss.
Dads Gesichtsfarbe nahm einen leicht rötlichen Ton an. „Was ist nur in sie gefahren?“, fragte er meine Mutter mit vor Wut bebender Stimme.
Mum zuckte mit den Schultern. „Lass sie in Ruhe. Das war in letzter Zeit alles etwas viel für sie.“ Ich wusste, was sie meinte, auch ohne dass sie es aussprechen musste: meine Rückkehr und den für Winter damit verbundenen Bruch mit Lucas. Es war meine Schuld, dass sie mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte. Es war meine Schuld, dass sie jetzt Ärger mit unseren Eltern hatte. Es war meine Schuld, dass sie ihre Wut kaum noch bändigen konnte. Ich fühlte mich schrecklich und brach mitten am Tisch in Tränen aus. Ich hatte meine kleine Schwester verloren. Letztendlich hatte Liam doch noch bekommen, was er wollte.
Nachdem ich mehrere Runden durch die alten Burgruinen gegangen war, hatte ich mich bei Dämmerung leise zurück in unser Haus geschlichen. Der Fernseher lief im Wohnzimmer und aus Elizas Zimmer drang leise Musik. Ich verschloss meine Zimmertür und zog die nassen Klamotten aus. Eigentlich hätte ich eine warme Dusche nötig gehabt, aber ich wollte nicht, dass irgendjemand mitbekam, dass ich wieder da war. Ich kroch unter meine Bettdecke und schmiegte mein Gesicht an Miss Snowwhites weiches Fell, die auf meinem Kissen auf mich gewartet hatte. „Du bist die Einzige, die Eliza genauso wenig leiden kann wie ich“, flüsterte ich ihr zu, während ich sie hinter den Ohren kraulte. Sie gab ein zustimmendes Schnurren von sich. Seit Liams Tod fühlte ich mich wie eine Fremde in meinem eigenen Zuhause. Wenn ich alleine war und an Liam dachte, empfand ich eine unbeschreibliche Leere. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich ihn überhaupt vermisste. Was war das zwischen uns gewesen? Hatte er sich in mich verliebt gehabt oder ich mich in ihn? Ich würde nie eine Chance bekommen, das herauszufinden. Er war tot. Ich hatte ihn umgebracht.
Wenn ich hingegen an Eliza dachte, brannte die Wut wie ein Feuer in mir. Sie hatte mir nicht nur Lucas und Liam genommen, sondern jetzt auch noch unsere Eltern. Eliza war zurück und schon drehte sich alles wieder nur um sie. Sie war ein halbes Jahr wortlos verschwunden gewesen und niemand machte ihr Vorwürfe. Ich war nur ein paar Tage weg gewesen, wurde aber mit enttäuschten Blicken betrachtet. Sie verlangten von mir, dass ich meine Schwester mit offenen Armen wieder in unserer Familie aufnahm, aber das konnte ich nicht. Jedes Mal, wenn ich sie ansah, explodierte etwas in mir. Ich wollte ihr wehtun, so wie sie mir wehgetan hatte.
Ein leises Klopfen, kaum hörbar, riss mich aus meinen Gedanken. Ich schlich zur Tür und presste mein Ohr dagegen. „Wer ist da?“
„Mona“, kam flüsternd die Antwort. Erleichtert atmete ich auf und öffnete die Tür. Ihr langer Pony versteckte beinahe komplett ihre Augen, dazu hatte sie wie üblich den Kopf gesenkt. „Darf ich reinkommen?“
Ich ließ sie eintreten und schloss behutsam hinter ihr die Tür. Die Musik aus Elizas Zimmer war verstummt. Ich wusste, dass meine Schwester uns belauschen würde.
„Wie geht es dir?“, fragte ich Mona und bot ihr durch eine Geste an, neben mir auf dem Bett Platz zu nehmen. Sie ließ sich unsicher neben mich sinken und seufzte. „Liam war der Letzte, der mir von meiner Familie geblieben ist. Ich denke oft an ihn, vor allem, weil ich über ihn nicht reden darf.“ Sie sah mich flehend an. „Du bist die Einzige, in deren Gegenwart ich seinen Namen aussprechen kann.“
Ich spürte, wie mein Herz sich verschloss. Mona war jetzt meinetwegen alleine auf der Welt. Es war seltsam, dass sie ausgerechnet mit mir über ihn reden wollte. „Es tut mir leid, was passiert ist.“
Wir führten das Gespräch nicht zum ersten Mal. Sie schüttelte immer wieder den Kopf, wenn ich mich bei ihr entschuldigte. „Es war nicht deine Schuld. Du hattest keine andere Wahl. Liam wusste das. Er nimmt es dir nicht übel.“ Sie sagte es voller Überzeugung und ohne jeden Zweifel. Meistens redete sie über ihn, als wäre er noch da. Nicht tot, sondern nur verreist.
Mona sah erneut auf ihre schlanken Finger. Die blauen Flecken auf ihrer Haut wurden langsam blasser. Nur noch ein paar gelbe Schatten waren von ihnen übrig. Seit Liams Tod hatte sie keine Magie mehr benutzt. „Seine Leiche liegt immer noch in dem Anwesen. Irgendjemand sollte ihn begraben.“
Ich wusste, dass sie mit irgendjemand uns meinte. Alleine die Vorstellung, ihn noch einmal sehen zu müssen, verursachte mir Gänsehaut. „Hinter dem Haus?“
„Nein, wir haben eine Familiengruft. Er gehört zu seinen Eltern.“ Monas eigene Eltern mussten ebenfalls dort liegen, genau wie ihre Großmutter, die sie aufgezogen und als Medium unterrichtet hatte.
„Wie sollen wir nach Waterford und vor allem zu dem Anwesen kommen? Ich habe weder einen Führerschein noch ein Auto.“
Sie zögerte, bevor sie erneut den Kopf hob und mir in die Augen blickte. „Du könntest Lucas fragen.“
Perplex riss ich die Augen auf. „Kommt nicht in Frage!“
Dieses Mal sah sie nicht wieder weg, sondern rückte näher an mich heran. „Bitte! Wir können ihn doch nicht einfach dort liegen lassen. Er hatte auch seine guten Seiten, das weißt du!“
Ich stand auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. „Wir fahren mit dem Zug nach Waterford und nehmen ein Taxi zu dem Anwesen.“
Mona hob zweifelnd die Augenbrauen. „Und was willst du deinen Eltern sagen?“
„Mir doch egal! Willst du Liam nun beerdigen oder nicht?“, fuhr ich sie schnippisch an. Mona zuckte zusammen.
„Ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Deine Mutter macht sich große Sorgen um dich.“
„Sie können sich ruhig daran gewöhnen, dass ich nicht länger die brave Tochter bin. Ich habe genug davon, immer zurückzustecken und dabei zuzusehen, wie Eliza einen Mist nach dem anderen baut, ihr aber immer wieder verziehen wird. Jetzt bin ich an der Reihe!“
„Hörst du dir überhaupt mal selbst zu? Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich weiß, dass du so nicht bist. Du liebst deine Eltern und du willst ihnen keine Sorgen machen. Lass dich nicht von deinem Zorn überwältigen! Sei wütend auf Eliza, aber lass es nicht an deinen Eltern aus.“
Ich stöhnte genervt auf. Seitdem Mum sich um Mona kümmerte, verehrte Mona sie förmlich. Sie half ihr im Haushalt, sah vor dem Essen ihre Lieblingssendung mit ihr im Fernsehen und verließ nur in ihrer Begleitung das Haus. „Na gut, dann eben nicht. Wir könnten diesen Will fragen, ob er uns abholt. Eliza hat bestimmte seine Nummer im Handy gespeichert.“
Mona schüttelte energisch den Kopf. „Will hat versucht, Liam umzubringen. Er sollte nicht dabei sein, wenn wir ihm die letzte Ehre erweisen.“
„Dann weiß ich auch nicht weiter“, blockte ich ab und wandte ihr den Rücken zu. Sie zögerte einen Moment, verließ dann aber genauso leise wie sie gekommen war mein Zimmer. Ich hatte nicht unfreundlich zu ihr sein wollen, aber in den letzten Tagen verlor ich oft die Geduld. Der Arzt hatte mich genau wie Mona und Eliza für eine Woche von der Schule krankgeschrieben. Morgen würde ich wieder gehen müssen. Für mich war es nicht einmal halb so nervenaufreibend wie für Mona, die noch nie in einer öffentlichen Schule, geschweige denn überhaupt einer Schule gewesen war. Oder Eliza, die vor einem halben Jahr unter anderem abgehauen war, weil sie sich in der Schule nicht mehr hatte blicken lassen können. So gut wie jedes Mädchen verachtete sie und die meisten Jungs sahen in ihr eine Schlampe. Aber ich fürchtete mich davor, in den Alltag zurückzukehren. Das Leben konnte doch nicht einfach weitergehen, während mein Herz in einer Zeitschleife festhing.
Mona und ich saßen in der hintersten Reihe des Schulbusses, während Eliza meinen Platz neben Lucas eingenommen hatte. Ich konnte nicht aufhören, voller Eifersucht auf ihren Hinterkopf zu starren und mir zu wünschen, dass er auf der Stelle explodieren würde. Es war schlimmer als je zuvor. In der Zeit bevor Eliza abgehauen war, waren Lucas und ich nicht zusammen gewesen. Ich hatte zwar immer davon geträumt, mir aber nie Hoffnungen gemacht. Doch jetzt, wo ich wenige Monate an seiner Seite hatte verbringen dürfen, konnte ich den Schmerz, ihn an Eliza verloren zu haben, nicht ertragen.
Einzig Monas Unruhe lenkte mich etwas ab. Sie knetete unablässig ihre Hände und schaute vor lauter Nervosität immer wieder in ihren kleinen Handspiegel. Ihre Schuluniform war faltenfrei. Sie hatte sie zum Erstaunen meiner Mutter selbst gebügelt und das mehrfach. Elizas Bluse hingegen war völlig verknittert, weil sie sie am Vorabend einfach nur auf ihr Bett geschmissen hatte, anstatt sie in den Schrank zu hängen. Sie konnte mir mit ihren falschen gesäuselten Worten nichts vormachen. Früher oder später würde ihr wahres Ich doch wieder zum Vorschein kommen.
Als der Bus hielt, eilte ich an meiner Schwester und Lucas vorbei, als würde ich sie nicht kennen. Mona folgte mir eilig mit gesenktem Kopf. An der Bushaltestelle hatten sich ungewöhnlich viele Schüler versammelt. Ich wusste genau, warum sie hier waren. Sie wollten die berühmt berüchtigte Eliza sehen. Nur eine Person wartete meinetwegen hier: Dairine. Sie stürmte mir mit weit geöffneten Armen entgegen und drückte mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam. „Endlich bist du wieder da!“, rief sie glücklich aus. Sie hatte mich bereits in der letzten Woche besuchen wollen, doch ich hatte das abgeblockt. Wir hatten nur ein paar Mal kurz miteinander telefoniert, wobei ich mich auffallend wortkarg gegeben hatte. Trotzdem war ich froh, dass sie mich nun nicht mit sorgenvoller Miene begrüßte, sondern in ihrer üblich fröhlichen Art. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und löste sich von mir. Ihre eisblauen Augen wanderten über Mona, die verängstigt auf ihre Füße blickte.
„Mona, das ist meine beste Freundin Dairine. Dairine, das ist Mona“, stellte ich sie einander vor. Natürlich wusste Dairine bereits über Mona Bescheid. Ich hatte ihr am Telefon schon von unserem Gast erzählt. Meine Eltern hatten dafür gesorgt, dass sie offiziell als Monas Pflegefamilie beim Jugendamt eingetragen wurden. Sie würde uns also nicht so bald wieder verlassen.
Ich konnte Dairine ansehen, welchen seltsamen Eindruck die verschüchterte, geradezu scheue Mona auf sie machte. Trotzdem behielt sie ihr freundliches Lächeln bei und streckte Mona ihre Hand entgegen. „Freut mich, dich endlich kennenzulernen!“
Monas Hand zuckte, als wollte sie die Begrüßung erwidern, doch dann ballte sie ihre Hand zur Faust und murmelte „Mich auch“. Dairine zog ihre Hand zurück und räusperte sich. „Sollen wir reingehen?“
Ich warf einen Blick zurück zu dem Schulbus und sah gerade noch, wie Lucas beschützend seinen Arm um Eliza legte, um sie vor den neugierigen Augen der anderen abzuschirmen. Er führte sie an allen vorbei in das Schulgebäude. Sie zusammen zu sehen, tat jedes Mal aufs Neue weh.
„Müssen wir wohl“, erwiderte ich geknickt. Wenigstens waren Eliza und Lucas eine Stufe über uns, sodass ich sie zumindest während der Unterrichtsstunden nicht ertragen musste. Nur noch ein Jahr und ich wäre beide los, denn es war ihr letztes Schuljahr. Lucas würde vermutlich Medizin in Dublin studieren. Vielleicht hatte ich Glück und Eliza ging auf Kosten unserer Eltern mit ihm. An einem College würde sie jedoch mit Sicherheit nicht angenommen werden. Für sie wäre es schon ein großer Erfolg, eine Stelle als Putzfrau zu finden.
Mona folgte uns wortlos. Sie drückte sich eng an die Wände und wich den anderen Schülern aus. Natürlich entging trotzdem niemandem ihr seltsames Verhalten. Sie betrachteten sie mit argwöhnischen Blicken. Wir nahmen im Kursraum unsere Plätze in der hintersten Reihe ein. Ich überließ Mona den Platz am Fenster und setzte mich stattdessen zwischen sie und Dairine. Die anderen trudelten ebenfalls ein und pünktlich zum Klingeln betrat Mrs. Kelly das Klassenzimmer. Sie war unsere Musiklehrerin gewesen, bevor Liam als ihre Vertretung an unsere Schule gekommen war. Sie jetzt hier zu sehen, führte mir noch einmal deutlich vor Augen, dass Liam nicht zurückkommen würde. Mein Blick glitt unwillkürlich zu dem Klavier, an dem er dicht hinter mir gesessen hatte und vor dem ganzen Kurs seine Hände auf meine gelegt hatte, um mir die einzelnen Noten beizubringen. Ich erinnerte mich daran, wie sein Atem in meinem Nacken gekitzelt und ich sein Herz an meinem Rücken klopfen gespürt hatte. Sein herber Geruch lag in meiner Nase, als wäre es erst Minuten her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte und nicht Tage. Ich spürte, wie sich mein Hals zuzog und konzentrierte mich auf den Tintenfleck auf meinem Tisch. Jetzt bloß nicht heulen!
Plötzlich klopfte es an der Tür und alle sahen neugierig auf.
„Herein“, rief Mrs. Kelly und die Tür wurde schwungvoll aufgerissen. Eliza trat ein. „Hallo Mrs. Kelly, ich bin zu Ihnen versetzt worden.“
Mein Gesicht wurde mindestens genauso bleich wie das der Lehrerin. Mrs. Kelly war eine ruhige Person, die wenig Durchsetzungsvermögen besaß. Mädchen wie Eliza tanzten ihr auf der Nase herum. Offenbar hatte sie schon ihre Bekanntschaft gemacht und in nicht wirklich guter Erinnerung behalten.
Dass Eliza nun hier war, konnte nur bedeuten, dass der Direktor beschlossen hatte, sie wegen ihrer langen und vielen Fehlzeiten das Schuljahr wiederholen zu lassen. Ich hätte mich vermutlich darüber gefreut, wenn es nicht gleichzeitig bedeutet hätte, dass ich nun selbst in der Schule keine Ruhe mehr vor ihr hatte.
Mrs. Kelly strich sich unruhig eine Haarsträhne hinters Ohr. „Nimm Platz“, sagte sie schlicht und deutete wahllos in den Kursraum. Elizas Blick suchte meinen, als sie ihn fand, gab ich ihr deutlich zu verstehen, dass sie sich so weit wie möglich von mir wegsetzen sollte. Sie biss sich auf die Lippe und ich konnte ihre Verzweiflung sehen, ohne dass sie mich berührte. Wenigstens akzeptierte sie meinen Wunsch und nahm in der ersten Reihe Platz.
„Nachdem meine Vertretung versucht hat, euch die Musik praktisch näherzubringen, wenden wir uns nun wieder der Theorie zu. Ich habe die Noten zu ein paar klassischen Musikstücken der einzelnen Epochen dabei, die wir in den nächsten Wochen besprechen werden“, sagte Mrs. Kelly euphorisch.
Sie gab sich Mühe, aber es war genau wie immer: Niemand hörte ihr zu.
Das Klingeln zur Mittagspause war die reinste Erlösung. Dairine und ich hatten bereits alle Schulsachen zusammengepackt, um als eine der Ersten aus dem Raum zur Cafeteria stürzen zu können, als mir einfiel, dass Mona nun ebenfalls zu uns gehörte. Ich fühlte mich für sie verantwortlich und wusste, dass sie ohne mich an ihrem ersten Schultag völlig alleine dastehen würde. Sie saß an ihrem Platz, auf dem Tisch vor sich den Block und die Stifte unberührt ausgebreitet, während sie gedankenverloren aus dem Fenster sah. Dachte sie an Liam und verfluchte mich dafür, dass sie nun in dieser schrecklichen Schule festsaß?
Ich berührte sie sanft an der Schulter, aber sie schreckte trotzdem zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Sie zog tief die Luft ein und wischte sich schnaufend über die Stirn. „Entschuldige“, sagte sie leise.
„Wir haben jetzt Mittagspause und können in der Cafeteria etwas essen gehen“, erklärte ich ihr und half ihr dabei, ihre Sachen wieder in der braunen Ledertasche zu verstauen, die meine Eltern ihr zum Schulanfang geschenkt hatten. Wir verließen als Letzte den Kursraum und dementsprechend voll war es in der Cafeteria. Die Schüler drängten sich aneinander vorbei und die Luft bebte von dem Geschrei und Gelächter. Mona starrte entsetzt auf die Menschenmassen. Sie wich panisch einen Schritt zurück.
„Das sieht schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist“, versicherte ihr Dairine mit einem aufmunternden Lächeln.
„Ich muss mal auf die Toilette“, erwiderte jedoch Mona ausweichend.
„Komm, ich zeig sie dir“, bot ich ihr an, doch sie schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, ich brauche einen Moment für mich alleine.“ Sie sah mich flehend an. „Bitte!“
Ich hielt es für keine gute Idee, sie alleine zu lassen, wollte mich ihr aber auch nicht aufdrängen. „Geh den Gang runter und dann links. Wahrscheinlich hast du Glück und es ist gerade nicht viel los.“
Sie nickte und rannte förmlich davon.
„Sie tut sich schwer, oder?“, fragte Dairine besorgt. Wir reihten uns in die Schlange vor der Essensausgabe ein.
„Sie war noch nie auf einer Schule“, antwortete ich. „Obwohl ich jeden Tag hier bin, würde ich manchmal am liebsten auch einfach davonlaufen.“ Zu spät erkannte ich die Anspielung auf meine Schwester.
Dairine bemerkte es ebenfalls, sagte aber nichts dazu.
Wir luden uns zwei Kaffee auf das Tablett. Beide schwarz, so wie wir ihn mochten. Dazu stellten wir zwei stille Mineralwasser, eine große Portion Pommes und eine Tüte M&M’s. Dairine und ich hatten eine Routine in unserer gemeinsamen Mittagspause entwickelt. Während ich zahlte, ging sie vor, um uns einen Platz zu suchen. Als ich die Kasse verließ, winkte sie mir bereits grinsend von einem Platz am Fenster aus zu. Wenn man schon kein Glück in der Liebe hatte, sollte man wenigstens Glück bei der Platzvergabe in der Cafeteria haben. Ich nahm ihr gegenüber Platz und schob das Tablett zwischen uns. Als ich den ersten Schluck von meinem Kaffee nahm, entdeckte ich Eliza und Lucas. Sie saßen in der Mitte des Raumes und Lucas’ Hand lag ungerührt auf der meiner Schwester. Nicht nur, dass wir uns ihretwegen getrennt hatten, musste er jetzt auch noch öffentlich zur Schau stellen, wem seine Gefühle wirklich galten. Tief in meinem Inneren hatte ich immer gewusst, dass ich ihn mehr liebte als er mich. Aber ihn jetzt mit Eliza zu sehen, zerriss mich förmlich von innen. Es gab nichts Schlimmeres, als den Menschen, den man liebte, jeden Tagen sehen zu müssen und zu wissen, dass er nie zu einem gehören würde. Alles was mir übrig blieb, war, von ihm zu träumen, in der Gewissheit, dass es nie mehr als das sein würde. Aber selbst meine Träume hatte Eliza mir zerstört. Ich sah Liam in ihnen. Jede Nacht. Es war der tröstende Blick in seinen Augen, in dem Moment als das Leben aus ihnen wich.
Dairine warf mir eine Pommes ins Gesicht und streckte mir die Zunge raus. „Schau gar nicht hin!“
Ich wusste, dass ich auf sie hören sollte, aber ich spürte erneut diese glühende Hitze in mir, die sich wie ein Lauffeuer durch meinen gesamten Körper zog. Meine Hände schlossen sich fester um den Kaffeebecher, sodass die Flüssigkeit überschwappte und sich über den Tisch ergoss. Ich stand auf und schüttelte Dairines ausgestreckten Arm von mir ab. Zielstrebig bahnte ich mir einen Weg durch die Tischreihen und Schüler. Vor Wut zitternd blieb ich vor Lucas und Eliza stehen. Sie sahen beide besorgt zu mir auf, doch niemand rechnete mit der Ohrfeige, die ich Eliza vor der gesamten Schülerschaft verpasste. „Ich hasse dich!“
Sie legte ihre Hand auf ihre rote Wange und sah mit Tränen in den Augen zu mir empor. Lucas stand auf und stellte sich zwischen uns. „Bist du jetzt zufrieden? Geht es dir dadurch irgendwie besser?“
Ich fühlte mich von ihm gedemütigt, verraten und betrogen. Erst jetzt bemerkte ich, dass die ganze Cafeteria uns anstarrte. Röte stieg mir die Wangen empor und ich rannte unter dem Gejohle meiner Mitschüler davon. Warum hatte ich das getan? Warum hatte ich mich nicht beherrschen können? Das war doch gar nicht meine Art!
Dairine fand mich im Kursraum für die nächste Stunde. Sie trug meine Wasserflasche und ein in Folie gewickeltes Sandwich in den Händen, das sie mir mit einem Lächeln reichte. „Manchmal muss man seinen Gefühlen einfach freien Lauf lassen“, sagte sie, um mich zu trösten.
Ich nahm einen großen Schluck und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe mich selbst nicht. Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe! Was soll denn jetzt nur Lucas von mir denken?“
„Dir kann völlig egal sein, was Lucas denkt!“, fuhr mich Dairine aufgebracht an. „Er hat dich mit deiner Schwester betrogen!“
„Es war nur ein Kuss“, erwiderte ich. Schlimm genug, aber ich hatte das Bedürfnis, es richtigzustellen.
„Trotzdem! Deine Schwester ist auch nicht besser. Mittlerweile kann ich verstehen, warum du nicht wolltest, dass sie zurückkommt. Sie sorgt nur für Ärger!“
„Sie hat es auch nicht leicht“, nahm ich Eliza überraschenderweise in Schutz. Dairine sah mich skeptisch an. „Gerade knallst du ihr vor der ganzen Schule eine und sagst, dass du sie hasst und jetzt verteidigst du sie?! Was ist los mit dir?“
„Ich weiß es nicht“, rief ich verzweifelt aus. „Jedes Mal, wenn ich Eliza sehe, brennen mir die Sicherungen durch! Ich hasse sie nicht einmal. Ich bin wütend auf sie, aber sie bleibt doch trotzdem meine Schwester. Ich hätte gern, dass sie wieder abhaut, aber ich möchte nicht, dass ihr etwas wirklich Schlimmes passiert. Macht das irgendeinen Sinn für dich?“
Dairine sah mich nachdenklich an. „Hast du schon mal mit jemandem darüber geredet?“
Ich hob kritisch die Augenbrauen. „Du meinst einen Psychodoktor?“
Dairine hob beruhigend die Hände. „Die sind gar nicht so schlimm. Nach unserem Umzug war ich auch ein paar Mal bei einem. Das hat mir irgendwie geholfen, die Dinge klarer zu sehen. Es tut gut, mit jemand Unbeteiligtem zu reden. Du könntest zur Schulpsychologin gehen.“
„Dann halten mich doch alle erst recht für verrückt!“
„Es muss doch keiner mitbekommen!“
„So etwas spricht sich immer rum. Außerdem bin nicht ich diejenige, die ein Problem hat, sondern Eliza. Sie ist doch abgehauen, hat Drogen genommen und mir meinen Freund ausgespannt. Sie sollte zum Arzt gehen.“
Dairine seufzte, als andere Schüler den Raum betraten. „War nur ein Vorschlag. Vielleicht legt es sich mit der Zeit auch von alleine wieder.“
Ich hatte daran meine Zweifel, sprach es aber nicht laut aus.
Zehn Minuten später begann der Kunstkurs. Mrs. Murphy sah sich irritiert um. „Sollten wir nicht heute eine neue Schülerin bekommen?“, fragte sie uns. Eliza saß auf der anderen Seite des Raums. Sie beachtete mich nicht mehr, doch jetzt schlug sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Mona!“
Erst da erkannte ich, dass ich sie durch meinen Ausraster in der Cafeteria völlig vergessen hatte. War sie etwa immer noch auf der Toilette? Hektisch stand ich auf. „Ich glaube, ich weiß, wo sie ist“, sagte ich zu der Lehrerin, bevor ich aus dem Kursraum stürzte. Was, wenn ihr etwas passiert war? Und das an ihrem ersten Schultag, während ich auf sie hatte aufpassen wollen? Mein Herz pochte heftig gegen meine Rippen, als ich die Tür zur Mädchentoilette aufstieß. Es war still und der Raum sah leer aus, doch eine der fünf Kabinen war verschlossen. „Mona?“, rief ich besorgt.
Ein Schniefen drang hinter der Tür hervor. Ich klopfte leicht dagegen. „Mona, bist du das?“
„Ich hatte Angst“, sagte sie entschuldigend.
„Mach bitte die Tür auf und wir reden in Ruhe darüber.“ Einen Moment blieb es still, doch dann hörte ich, wie sie ihre Füße von dem Toilettendeckel auf den Boden stellte und den Riegel zurückschob. Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt und ich blickte in ihr verweintes Gesicht.
„Was war los?“, fragte ich sie und reichte ihr ein Taschentuch.
Sie putzte sich die Nase und sprach, ohne mich anzusehen. „Als ich auf die Toilette gegangen bin, war niemand da, aber dann kamen plötzlich andere Mädchen.“
„Haben sie dir etwas getan?“
„Nein, sie haben sich unterhalten und gelacht. Ich habe mich nicht mehr aus der Kabine getraut. Nach ihnen kamen andere. Es hat nicht mehr aufgehört.“
Es hätte nichts gebracht, ihr zu sagen, dass es albern war, sich nicht aus der Kabine zu trauen, weil andere Mädchen die öffentliche Toilette ebenfalls besuchten. Mona wusste das sicher genauso gut wie ich. Aber es änderte nichts an ihrer Angst. Sie hatte Probleme, die sie ohne professionelle Hilfe wohl nicht würde lösen können. Vielleicht hätten wir uns zusammen für eine Therapie anmelden sollen.
„Ich komme zu spät in den Unterricht und das an meinem ersten Tag“, sagte sie verzweifelt.
„Das ist nicht so schlimm!“, versuchte ich sie zu trösten. „Mrs. Murphy ist nett. Wir sagen ihr, dass du dich verlaufen hast. Dafür wird sie Verständnis haben.“
„Aber was ist mit morgen?“, fragte sie gequält. „Winter, ich schaffe das nicht!“
Ich fasste einen Entschluss. Es gab nur einen Weg, ihr etwas Hoffnung zurückzugeben. Ich nahm sie an der Hand und sah ihr fest in die Augen. „Wir müssen beide über unseren Schatten springen. Wenn du mit mir zurück in den Unterricht gehst, frage ich Lucas nach der Schule, ob er mit uns zu eurem Anwesen fährt, um Liam zu beerdigen.“
Ihre Augen leuchteten auf. „Wirklich?“
„Versprochen!“ Es würde meine ganze Willensstärke kosten, erst recht nach dem, was heute in der Cafeteria geschehen war.
Meine Hände waren feucht, jedoch nicht vom Regen, sondern vor Nervosität. Ich atmete noch einmal tief durch und drückte schließlich auf die Klingel. Ich hoffte auf Mrs. Riley, die mich schon immer gemocht hatte, doch als die Tür aufging, stand Toby vor mir: Lucas’ jüngerer Bruder. Er war zwölf Jahre alt und musterte mich von oben bis unten. Meine Haare klebten mir vom Regen im Gesicht. „Was willst du?“, blaffte er mich schließlich unfreundlich an. Als Toby klein gewesen war, hatten wir ihn alle süß gefunden, aber je älter er wurde, desto unausstehlicher wurde er.
„Ich möchte Lucas sprechen, ist er da?“, antwortete ich und versuchte mir dabei nicht anmerken zu lassen, wie nervös ich war.
„Was willst du von ihm?“, grinste mich Toby frech an. „Ist er jetzt nicht mit Eliza zusammen?“
Gab es pro Familie eigentlich immer nur für einen die guten Gene und der andere bekam nur den Rest? Oder wie war es sonst zu erklären, dass Toby nicht einmal halb so viel Charme besaß, wie Lucas in seinem Alter gehabt hatte? „Ich würde gerne persönlich mit ihm reden. Also ist er da?“ Ich kochte innerlich.
„Vielleicht“, erwiderte Toby. „Was ist es dir wert?“
Erstaunt starrte ich ihn an. War das gerade sein Ernst? Er wollte, dass ich ihn dafür bezahlte, dass er nachsah, ob sein Bruder da war? Das war zu viel! Ungeduldig schob ich Toby, der wild protestierte, zur Seite und schrie: „Lucas!“
Toby zerrte an meinem Arm. „Das ist Hausfriedensbruch!“, rief er wütend.
„Lucas!“
Toby schob mich am Rücken in Richtung Tür. Mit seinen zwölf Jahren war er nur noch ein Kopf kleiner als ich und besaß schon enorme Kraft.
„Lucas!“
Ich hörte, wie im oberen Stockwerk eine Zimmertür schwungvoll geöffnet wurde und jemand die Treppe heruntergerannt kam. Es war Lucas und als er sah, wie ich mit Toby kämpfte, begann er laut zu lachen. „Was ist bei euch beiden denn los?“
„Sie ist einfach reingestürmt!“, behauptete Toby, während ich sagte: „Er wollte mich erpressen.“
Lucas strafte Toby mit einem strengen Blick. „Mach, dass du davonkommst oder ich sage es Mum!“
„Petze“, knurrte Toby, als er die Treppe hochschlich. Ich wusste genau, dass er uns belauschen würde.
Verlegen sah ich an Lucas vorbei, auf die Wand hinter ihm. „Können wir draußen reden?“
Er stellte keine Fragen, sondern zog sich einfach seine Schuhe an und warf sich eine Jacke über. Ich wartete bereits vor der Tür unter dem kleinen Vordach auf ihn. Er stellte sich direkt neben mich und schloss die Tür. „Was gibt es?“
Ich atmete noch einmal tief ein und aus. „Es tut mir leid, wie ich mich in der Schule benommen habe.“ Ich sah ihm in die Augen. Er war mir so nah unter dem kleinen Vordach, während der Regen gegen unsere Beine schlug. Meine Hose war jetzt schon völlig durchweicht. Ich wünschte mir, dass er mir die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen würde, so, wie er es früher immer getan hatte. Ein Blick auf seine weichen Lippen löste ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust aus. Er fehlte mir so sehr. Gerade nach dem, was mit Liam passiert war.
Doch Lucas hielt Abstand zu mir. Seine ganze Körperhaltung drückte Zurü