Tom Clancy, Jahrgang 1948, studierte in seiner Heimatstadt Baltimore Englisch und war jahrelang als Versicherungsagent tätig. Clancy ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt bei Washington. Eine Meuterei auf einem sowjetischen Zerstörer regte Clancy, der sich schon immer für militärische und rüstungstechnische Probleme interessierte, dazu an, seinen ersten Techno-Thriller Jagd auƒ »Roter Oktober« zu schreiben. Mit diesem Buch gelang ihm auf Anhieb ein Weltbestseller, und die Verfilmung mit Sean Connery in der Hauptrolle gilt als eine der größten Kinosensationen.
Fast wäre Ryan innerhalb von dreißig Minuten zweimal getötet worden. Er stieg einige Straßen vor dem Ziel aus dem Taxi. Es war ein schöner, klarer Tag, die Sonne stand schon tief am blauen Himmel. Ryan hatte stundenlang auf harten Stühlen gesessen und wollte sich Bewegung verschaffen, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. Auf den Straßen herrschte relativ wenig Verkehr, und auch die Bürgersteige waren kaum belebt. Das überraschte ihn, denn er sah erwartungsvoll der abendlichen Rush-hour entgegen. Diese Straßen waren nämlich seinerzeit nicht für Automobile angelegt worden, und das Chaos nach Büroschluß würde ein denkwürdiges Schauspiel bieten. Jacks erster Eindruck von London war, daß es eine gute Stadt zum Laufen sein würde, und er ging schnellen Schrittes, wie er es sich während seines kurzen Gastspiels bei der Marineinfanterie angewöhnt hatte.
Kurz vor der Ecke waren keine Fahrzeuge mehr zu sehen, und er konnte die Kreuzung überqueren, ohne auf Grün zu warten. Er sah automatisch nach links, nach rechts, dann wieder nach links, wie er es seit seiner Kindheit gewohnt war, und trat vom Bordstein.
Da wurde er beinahe von einem doppelstöckigen Bus erfaßt, der nur wenige Zentimeter von ihm entfernt vorbeibrauste.
«Verzeihung, Sir.» Ryan wandte sich um und erblickte einen Polizisten in der bekannten altmodischen Uniform. «Seien Sie bitte vorsichtig und gehen Sie möglichst nahe an der Ecke über die Straße. Achten Sie auch auf die gemalten Hinweise am Bordstein – ob man nach rechts oder nach links sehen muß. Wir geben uns Mühe, daß nicht allzu viele Touristen überfahren werden.»
«Woher wissen Sie, daß ich Tourist bin?» Jetzt würde er es natürlich wissen, wegen Ryans Akzent.
Der Konstabler lächelte geduldig. «Weil Sie zuerst in die falsche Richtung gesehen haben, Sir, und weil Sie wie ein Amerikaner angezogen sind. Seien Sie bitte vorsichtig. Guten Tag.» Der Bobby ging mit einem freundlichen Nicken weiter, und Ryan fragte sich, warum sein dreiteiliger Anzug ihn als Amerikaner auswies.
Er beherzigte die Warnung und ging bis zur Ecke. Auf dem Asphalt stand «Nach rechts sehen», und für Leute mit Leseschwierigkeiten war zusätzlich ein Pfeil aufgemalt. Er wartete auf Grün und hielt sich innerhalb der gemalten Markierungen. Er nahm sich vor, genau auf den Verkehr zu achten, vor allem ab Freitag, wenn er einen, Leihwagen nehmen würde. Großbritannien war eines der letzten Länder der Erde, wo noch auf der linken Straßenseite gefahren wurde. Er war sicher, daß es ihn einige Mühe kosten würde, sich daran zu gewöhnen.
Aber alles andere machen sie hier wirklich gut, dachte er angenehm berührt, während er, schon an seinem ersten Tag in London, allgemeine Schlußfolgerungen zog. Ryan war ein ausgezeichneter Beobachter, und ein aufmerksames Auge kann vieles aufnehmen. Er befand sich in einem Geschäfts- und Büroviertel. Die Passanten waren eleganter gekleidet als in einem vergleichbaren Viertel in Amerika – abgesehen von den Punkern mit ihren roten und orangefarbenen Haarkämmen, dachte er. Die Architektur war ein Potpourri von Klassizismus bis Mies van der Rohe, aber die meisten Häuser strahlten etwas Solides und Beruhigendes aus. In Washington oder Baltimore wären sie längst durch eine ununterbrochene Reihe seelenloser Gebilde aus Glas und Stahl ersetzt worden. All das fügte sich gut in die tadellosen Umgangsformen der Leute, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Dies war ein Arbeitsurlaub, und sein erster Eindruck sagte ihm, daß er sehr angenehm verlaufen würde.
Er stellte einige Merkwürdigkeiten fest. Viele Leute hatten einen Regenschirm bei sich. Ryan hatte eigens den Wetterbericht gehört, ehe er seine heutigen Recherchen begann. Man hatte korrekt einen schönen Tag angesagt, sogar einen heißen Tag, obgleich die Temperatur nur knapp zwanzig Grad betrug. Sicher, für diese Jahreszeit war das warm, aber «heiß»? Jack fragte sich, ob sie es hier auch Altweibersommer nannten. Wahrscheinlich nicht. Wozu also die Regenschirme? Hatten die Leute kein Vertrauen zum Wetteramt? Hatte der Konstabler deshalb gewußt, daß er Amerikaner war?
Das andere, mit dem er nicht gerechnet hatte, waren die vielen Rolls-Royce auf den Straßen. Er hatte in seinem ganzen Leben nicht mehr als eine Handvoll gesehen, und hier fuhren sie zwar nicht dicht an dicht, aber es gab doch eine ganze Menge. Er benutzte gewöhnlich seinen fünf Jahre alten VW-Golf. Ryan blieb an einem Zeitungskiosk stehen, kaufte den Economist und hatte einige Sekunden mit dem Wechselgeld zu tun, das der Taxifahrer herausgegeben hatte, so daß der geduldige Händler ihn zweifellos ebenfalls als Yankee identifizierte. Er blätterte im Laufen die Zeitschrift durch, anstatt achtzugeben, wohin er ging, und stellte beim Aufblicken fest, daß er einen halben Häuserblock in die falsche Richtung gelaufen war. Er blieb stehen und führte sich den Stadtplan vor Augen, den er vor dem Verlassen des Hotels konsultiert hatte. Was Jack nicht konnte, war Straßennamen behalten, aber er hatte ein fotografisches Gedächtnis für Stadtpläne. Er ging zum Ende des Blocks, bog nach links, ging zwei Häuserblocks weit, bog nach rechts, und dort war wie erwartet der St. James’s Park. Ryan sah auf die Uhr; eine Viertelstunde zu früh. Er befand sich hinter dem Denkmal irgendeines Herzogs von York, und er überquerte die Straße bei einem langen klassizistischen Gebäude aus weißem Marmor.
Auch das berührte ihn hier sehr angenehm: die vielen Parks und Grünanlagen. Dieser Park wirkte recht groß, und er sah, daß die Rasenflächen außerordentlich gepflegt waren. Der Herbst mußte ungewöhnlich warm gewesen sein, denn an den Bäumen waren noch viele Blätter. Aber er sah kaum Menschen. Na ja, dachte er achselzuckend, es ist Mittwoch, die Kinder sind in der Schule, und es ist ein normaler Arbeitstag. Um so besser. Er war absichtlich nach der Touristensaison herübergekommen. Ryan mochte kein Gedränge. Auch das hatte er von seiner Zeit bei den Marines.
«Daddy!» Sein Kopf fuhr herum, und er sah seine kleine Tochter, die, ohne nach links und rechts zu sehen, über die Straße gerannt kam. Sally prallte wie üblich gegen ihren großgewachsenen Vater, und wie üblich kam Cathy Ryan, die nie so recht mit dem kleinen weißen Wirbelwind Schritt halten konnte, erst eine ganze Weile später. Jacks Frau sah schon von weitem wie eine Touristin aus. Sie hatte ihre «Canon» umgehängt, zusammen mit der Kameratasche, die ihr, wenn sie im Urlaub waren, zugleich als Handtasche diente.
«Wie ist es gegangen, Jack?»
Ryan küßte seine Frau. Vielleicht tun die Briten das in der Öffentlichkeit nicht, dachte er. «Wie Butter, Schatz. Sie haben mich behandelt, als ob der Laden mir gehörte. Ich habe alles geschafft. Und du – hast du etwa nichts bekommen?»
Cathy lachte. «Die Geschäfte hier liefern frei Haus.» Ihr Lächeln sagte ihm, daß sie eine Menge von dem Geld ausgegeben hatte, das sie für Einkäufe eingeplant hatten. «Und wir haben was Entzückendes für Sally gefunden.»
«Oh?» Jack beugte sich nach unten und sah seiner Tochter in die Augen. «Was kann das wohl sein?»
«Es ist eine Überraschung, Daddy.» Die Kleine zierte sich, wie es nur Vierjährige tun können. Sie zeigte auf den Park. «Daddy, da ist ein toller See mit Schwänen und Pekalinen!»
«Pelikanen», verbesserte Jack.
«Sie sind ganz groß und weiß!» Sally liebte Pelikane.
«Hm-hm», machte Ryan. Er sah seine Frau an. «Hast du schöne Aufnahmen gemacht?»
Cathy tätschelte die Kamera. «Klar. London ist bereits auf Zelluloid gebannt, oder wäre es dir lieber, wenn wir nur eingekauft hätten?» Fotografieren war Cathy Ryans einziges Hobby, und sie machte absolut professionelle Aufnahmen.
«Ha!» Ryan blickte die Straße hinunter. Der Verkehr war hier etwas dichter, floß aber rasch. «Was machen wir jetzt? Habt ihr schon Hunger?»
«Wir könnten mit einem Taxi zum Hotel fahren.» Cathy sah auf ihre Uhr. «Oder wir könnten laufen.»
«In unserm Hotel soll man angeblich vorzüglich essen können. Aber es ist noch ziemlich früh. Diese zivilisierten Restaurants lassen einen bis acht Uhr warten.» Er sah wieder einen Rolls-Royce, in Richtung Palast. Er freute sich auf das Restaurant, obgleich Sally ein gewisses Risiko sein würde. Vierjährige und Vier-Sterne-Restaurants passen nicht gut zusammen. Links von ihm kreischten Bremsen. Er fragte sich, ob das Hotel wohl einen Babysitter... WUMM!
Ryan zuckte bei dem Krach einer keine dreißig Meter entfernten Detonation heftig zusammen. Granate, meldete sein Verstand. Er spürte das Zischen von Splittern in der Luft und hörte einen Augenblick darauf das Knattern automatischer Waffen. Er wirbelte herum und sah den Rolls-Royce schräg auf der Straße stehen. Das vordere Ende wirkte niedriger, als es sein sollte, und eine altmodische schwarze Limousine versperrte ihm den Weg. Am vorderen rechten Kotflügel stand ein Mann, der mit einem AK-47 in die Windschutzscheibe feuerte, und ein anderer Mann rannte zum hinteren linken Ende des Wagens.
«Hinlegen!» Ryan packte seine Tochter an den Schultern, drückte sie blitzschnell hinter einem Baum auf die Erde und schubste dann seine Frau unsanft neben sie. Zehn, zwölf Wagen hatten schon hinter dem Rolls angehalten und schirmten Jack und seine Familie von der Schußlinie ab. Der Verkehr aus der anderen Richtung wurde von der schwarzen Limousine blockiert. Der Mann mit dem Kalaschnikoff durchlöcherte den Rolls, als wollte er ihn in Schrott verwandeln.
«Der Bastard!» Ryan hielt den Kopf gehoben und konnte kaum glauben, was er sah. «Diese verdammte IRA – sie killen jemanden genau...» Er robbte ein Stück nach rechts. In seinem Gesichtsfeld waren Leute, die stehengeblieben waren, sich umdrehten und zu dem Rolls starrten, und in jedem Gesicht war der schwarze Kreis eines entsetzt aufgerissenen Munds. Es passiert tatsächlich, genau vor meiner Nase, einfach so, wie in einem Mafiafilm über Chicago. Zwei Schweinehunde bringen jemanden um. Genau hier. In diesem Augenblick. Einfach so.
Ryan trat, von einem haltenden Auto gedeckt, weiter nach links. Vom Kotflügel des Wagens abgeschirmt, konnte er einen Mann hinten links am Rolls stehen sehen. Der stand einfach da und streckte die Hand mit der Pistole aus, als erwartete er, daß jeden Moment jemand die Tür öffnen und auf die Straße treten würde. Die Fahrgastzelle des Wagens schirmte Ryan von dem Mann mit dem AK ab, der sich gerade bückte und an seiner Waffe hantierte. Der nächststehende Schütze drehte Ryan den Rücken. Er war höchstens fünfzehn Meter entfernt. Er rührte sich nicht, konzentrierte sich auf die hintere Tür des Wagens. Sein Rücken war ihm immer noch zugewandt. Ryan sollte sich nie erinnern, ob er einen bewußten Entschluß gefaßt hatte.
Er rannte gebückt um das stehende Auto, lief immer schneller, den Blick fest auf sein Ziel – das Kreuz des Mannes – gerichtet, so wie er es auf der Highschool beim Football gelernt hatte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, um die Entfernung zurückzulegen, und seine Gedanken waren auf den Mann konzentriert, wollten ihn noch einen Moment länger dort festbannen. Anderthalb Meter hinter ihm senkte Ryan die Schulter ab und hechtete. Der Trainer wäre stolz auf ihn gewesen.
Der Angriff von hinten traf den Killer unvorbereitet. Sein Rücken bog sich durch wie ein Flitzebogen, und Ryan hörte Knochen knacken, als sein Opfer vorkippte und hinfiel. Keuchend, aber voll von Adrenalin, richtete Ryan sich auf und sprang neben den Liegenden. Die Pistole war ihm aus der Hand gefallen und lag auf der Straße. Ryan ergriff sie. Es war eine automatische Pistole, ein Typ, den er noch nie in der Hand gehabt hatte. Sie sah aus wie eine 9-Millimeter-Makarow, konnte aber auch ein anderes Ostblockfabrikat sein. Der Hahn war gespannt, die Waffe entsichert. Er wog sie kurz in der rechten Hand – mit seiner linken schien etwas nicht in Ordnung zu sein, aber Ryan ignorierte das. Er sah auf den Mann hinunter, den er eben zu Fall gebracht hatte, und schoß ihm einmal in die Hüfte. Dann hob er die Pistole in Augenhöhe und trat zur hinteren rechten Ecke des Rolls. Er bückte sich noch tiefer und spähte um die Karosserie.
Das AK des anderen Killers lag auf der Erde, während er mit einer Pistole in den Wagen feuerte. In seiner Linken hielt er irgendeinen Gegenstand. Ryan holte tief Luft und trat, seine Pistole auf die Brust des Mannes richtend, hinter dem Rolls-Royce hervor. Der Mann wandte zuerst den Kopf und wirbelte dann mit seiner Waffe herum. Beide zogen im selben Augenblick ab. Ryan fühlte einen jähen Schlag in der rechten Schulter und sah, daß seine Kugel den Mann in die Brust getroffen hatte. Das 9-Millimeter-Geschoß warf den Mann nach hinten wie ein Fausthieb. Ryan fing den Rückstoß ab und feuerte wieder. Die zweite Kugel traf den Mann unter dem Kinn und trat in einer nassen rosaroten Wolke aus seinem Hinterkopf aus. Der Mann fiel ohne zu zucken wie eine abgeschnittene Marionette aufs Pflaster. Ryan hielt die Pistole auf seine Brust gerichtet, bis er sah, was mit seinem Kopf passiert war.
«O Gott.» Der Adrenalinschub legte sich so schnell, wie er gekommen war. Die Zeit verlangsamte sich, bis sie wieder normal lief, und Ryan merkte, daß er benommen und außer Atem war. Sein Mund stand offen, und er rang nach Luft. Seine Kräfte schienen auf einmal zu schwinden, und er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die schwarze Limousine setzte einige Meter zurück, sauste dann an ihm vorbei, raste die Straße hinunter und bog nach links in eine Seitenstraße ein. Ryan dachte nicht einmal daran, sich die Nummer zu merken. Die blitzartige Folge der Ereignisse, die sein Verstand immer noch nicht nachvollzogen hatte, betäubte ihn.
Der Mann, auf den er zweimal geschossen hatte, war eindeutig tot. An seinem Hinterkopf bildete sich eine Blutlache, die gut dreißig Zentimeter groß war. Ryan überlief ein Frösteln, als er die Handgranate in der behandschuhten Linken sah. Er beugte sich nach unten, um sich zu vergewissern, daß der Vorsteckstift noch flach an dem hölzernen Griff lag, und kam nachher nur ganz langsam, mühselig wieder hoch. Als nächstes betrachtete er den Rolls.
Die erste Granate hatte das vordere Ende demoliert. Die Räder standen in unmöglichen Winkeln, und die Reifen waren platt. Der Fahrer war tot. Die dicke Windschutzscheibe war wie fortgepustet. Das Gesicht des Fahrers war nur noch eine schwammige rote Masse. Die Trennscheibe zwischen den Vordersitzen und dem Fond war rot verschmiert. Jack ging um den Wagen herum und blickte in den Fond. Er sah einen Mann mit dem Gesicht nach unten am Boden liegen und unter ihm den Zipfel eines Frauenkleides. Er klopfte mit dem Pistolenkolben an das Glas. Der Mann bewegte sich, lag dann wieder still da. Er lebte wenigstens.
Ryan schaute auf seine Pistole. Der Schieber war in der Leerstellung eingerastet. Sein Atem kam jetzt stoßweise. Seine Beine drohten unter ihm nachzugeben, und seine Hände begannen krampfhaft zu zucken, was kurze, scharfe Schmerzwellen in seiner verwundeten Schulter hervorrief. Er blickte sich um und sah etwas, das ihn all das vergessen ließ.
Ein Soldat kam auf ihn zugelaufen, gefolgt von einem Polizeibeamten. Einer von der Palastwache, dachte Jack. Der Mann hatte zwar seine Bärenfellmütze verloren, aber er hielt mit beiden Händen ein automatisches Gewehr mit einem zwanzig Zentimeter langen Stahlbajonett an der Mündung. Ryan fragte sich, ob das Gewehr geladen sei, und kam zu dem Schluß, daß es riskant sein könnte, es darauf ankommen zu lassen. Dies ist ein Posten, sagte er sich, ein Berufssoldat von einem Eliteregiment, der beweisen muß, daß er Mumm hat, ehe sie ihn auf die Akademie schicken, die Attraktionen für Touristen fabriziert. Möglicherweise war er sogar Marineinfanterist. Wie bist du nur so schnell hierher gekommen?
Langsam und sorgfältig streckte Ryan die Pistole auf Armeslänge von sich. Er drückte mit dem Daumen auf den Knopf, der den Schieber ausrasten ließ, und das Magazin fiel scheppernd auf die Straße. Dann drehte er die Waffe um, damit der Soldat sehen konnte, daß sie leer war. Als nächstes legte er sie auf den Boden und trat zwei Schritte zurück. Er versuchte, die Hände zu heben, aber die linke wollte nicht gehorchen. Der Posten lief die ganze Zeit auf ihn zu und sah dabei immer wieder nach links und rechts, ohne ihn eine Sekunde aus dem Blickfeld zu lassen. Drei Meter von ihm entfernt blieb er, das Bajonett auf seine Kehle gerichtet, genau nach den Instruktionen, wie angewurzelt stehen. Seine Brust hob und senkte sich, aber sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Der Polizist – sein Gesicht war rot angelaufen, und er schrie etwas in ein kleines Funkgerät – hatte ihn noch nicht eingeholt.
«Immer langsam, Kamerad», sagte Ryan, so fest er konnte. «Da liegen zwei von den Killern. Ich gehöre nicht zu ihnen.»
Der Posten verzog keine Miene. Der Junge war tatsächlich ein Profi. Ryan meinte hören zu können, wie er dachte – wie leicht es wäre, ihn mit dem Bajonett zu durchbohren. Er, Ryan wäre im Moment nicht in der Lage, den Stoß zu verhindern oder zu parieren.
«Daddy, Daddy, Daddy!» Ryan wandte den Kopf und sah seine kleine Tochter an den stehenden Autos vorbei in seine Richtung laufen. Sally blieb ungefähr drei Meter von ihm entfernt mit großen, verängstigten Augen stehen. Dann stürzte sie zu ihm, schlang die Arme um seine Beine und krähte den Soldaten an: «Du darfst meinem Daddy nichts tun!»
Der Mann sah verblüfft vom Vater zur Tochter, als auch Cathy sich mit hocherhobenen Händen vorsichtig näherte.
«Sir», sagte sie mit beherrschter, geschäftsmäßiger Stimme, «ich bin Ärztin und werde jetzt diese Wunde versorgen. Sie können also das Gewehr sinken lassen, aber bitte sofort!»
Der Polizist faßte nach der Schulter des Soldaten und sagte etwas, das Jack nicht verstand. Der Mann lockerte sich ein bißchen und ließ seine Waffe wenige Grad sinken. Ryan sah weitere Polizisten auf den Schauplatz rennen, und jetzt näherte sich ein weißer Wagen mit heulender Sirene.
«Du bist wahnsinnig.» Cathy betrachtete die Wunde fachmännisch. Die Jacke von Ryans neuem Anzug wies an der Schulter einen dunklen Fleck auf, und die graue Wolle hatte sich purpurn verfärbt. Er zitterte nun am ganzen Leib. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und schwankte unter dem Gewicht Sallys, die sich immer noch an seine Beine klammerte. Cathy nahm seinen rechten Arm und zwang ihn sanft, sich auf die Straße zu setzen und am Wagen anzulehnen. Sie streifte die Jacke von der Wunde und drückte zart seine Schulter. Es fühlte sich gar nicht zart an. Sie langte in seine Gesäßtasche, holte das Taschentuch heraus und drückte es auf die Wunde.
«Das sieht nicht schön aus», bemerkte sie zu sich selbst.
«Daddy, du bist überall voll Blut!» Sally stand jetzt vor ihm, und ihre Arme flatterten wie die Flügel eines jungen Vogels. Jack wollte die Hände nach ihr ausstrecken und sagen, daß alles in Ordnung sei, aber der knappe Meter, der ihn von ihr trennte, hätte ebensogut ein Kilometer sein können, und seine Schulter sagte ihm, daß es absolut nicht in Ordnung war.
Jetzt standen vielleicht zehn Polizisten, die meisten außer Atem, um den Wagen herum. Drei hatten eine Pistole in der Hand und musterten die Neugierigen, die sich ansammelten. Aus westlicher Richtung kamen noch zwei rotberockte Soldaten. Dann erschien ein Polizei-Sergeant. Ehe er etwas sagen konnte, sah Cathy auf und rief im Befehlston: «Rufen Sie sofort einen Krankenwagen.»
«Schon unterwegs, Madam», antwortete der Sergeant überraschend höflich. «Warum überlassen Sie das nicht uns?»
«Ich bin Ärztin», sagte sie kurz. «Haben Sie ein Messer?»
Der Sergeant drehte sich um, zog das Bajonett vom Gewehrlauf des ersten Gardisten und bückte sich, um ihr zu assistieren. Cathy hielt die Jacke und die Weste so, daß er ein Segment herausschneiden konnte, und dann schnitten sie ihm das Hemd von der Schulter. Sie schüttelte das Taschentuch aus. Es war bereits mit Blut getränkt. Jack fing an zu protestieren.
«Halt den Mund.» Sie blickte zu dem Sergeant und deutete auf Sally. «Bringen Sie sie hier weg.»
Der Sergeant winkte den Soldaten zu sich. Er trat zu ihnen und hob Sally hoch. Sie zärtlich an die Brust drückend, brachte er sie ein paar Meter weiter. Jack sah, daß seine kleine Tochter mitleiderregend weinte, aber all das schien weit fort zu sein. Er fühlte, wie seine Haut kalt und feucht wurde – Schock?
«Verdammt», sagte Cathy leise. Der Sergeant gab ihr einen dicken Verband. Sie drückte ihn auf die Wunde, und er färbte sich sofort rot, als sie versuchte, ihn zu befestigen. Ryan stöhnte. Er hatte das Gefühl, jemand traktiere seine Schulter mit einem Beil.
«Was zum Teufel hast du vorgehabt?» fragte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, während sie mit den Stoffenden hantierte.
Sein plötzlicher Zorn trug dazu bei, den Schmerz zu dämpfen, und er knurrte zurück: «Ich habe es nicht vorgehabt – ich habe es geschafft!» Die Anstrengung, die ihn die paar Worte kostete, beanspruchte die Hälfte seiner Energie.
«Hm-hm», grunzte Cathy. «Auf jeden Fall blutest du wie ein Schwein, mein Bester.»
Aus der entgegengesetzten Richtung kamen noch mehr Männer gelaufen. Ryan hatte den Eindruck, wenigstens hundert vollbesetzte Mannschaftswagen seien mit heulenden Sirenen am Tatort eingetroffen, und nun sprangen die Männer – einige in Uniform, andere in Zivil – heraus und schlossen sich der Gruppe an. Ein uniformierter Beamter mit üppigeren Schulterstücken fing an, den anderen Befehle zuzurufen. Die Szene war eindrucksvoll. Ein Teil seines Gehirns, der vom Rest getrennt zu sein schien, registrierte sie. Cathy, deren Hände mit seinem Blut beschmiert waren, versuchte immer noch, den Verband richtig anzubringen. Seine Tochter schluchzte keuchend in den Armen eines stämmigen jungen Soldaten, der ihr in einer Sprache, die Jack nicht genau ausmachen konnte, etwas vorzusingen schien. Ihr verzweifelter Blick war auf ihn gerichtet. Der losgelöste Teil seines Verstands fand all das sehr amüsant, bis eine neue Schmerzwelle ihn in die Wirklichkeit zurückrief.
Der Polizeibeamte, der offenbar die Führung übernommen hatte, kam zu ihnen, nachdem er kurz den Tatort besichtigt hatte. «Sergeant, schieben Sie ihn beiseite.»
Cathy sah auf und zischte wütend: «Machen Sie die andere Tür auf, verdammt. Ich hab’ hier jemand, der fast verblutet!»
«Die andere Tür ist blockiert, Madam. Lassen Sie mich mit anfassen.» Ryan hörte eine andere Sirene, als sie sich bückten. Die drei hoben ihn einen halben Meter zur Seite, und der ranghöhere Beamte versuchte, die Wagentür zu öffnen. Sie hatten ihn nicht genug weit weggetragen. Als die Tür endlich aufging, erwischte ihn die Kante an der Schulter. Das letzte, was er hörte, ehe er das Bewußtsein verlor, war sein Schrei.
Ryans Augen gewöhnten sich langsam an das Licht, aber sein Verstand war ein verschwommenes, kaleidoskopartiges Ding, das Sachen meldete, die zeitlich und örtlich nicht zueinander paßten. Einen Augenblick lang befand er sich in einem Fahrzeug. Die seitlichen Fahrbewegungen setzten sich, tausend Qualen verursachend, in seinem Brustkasten fort, und in der Ferne, allerdings nicht sehr weit weg, erklang ein scheußliches, mißtönendes Geräusch. Außerdem glaubte er zwei Gesichter zu sehen, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Cathy war ebenfalls da, nicht wahr – nein, da waren einige grüngekleidete Leute. Alles war vage und unscharf, bis auf die brennenden Schmerzen in Schulter und Brust, doch als er die Augen zusammenkniff, waren alle fort. Er war wieder woanders.
Die Decke war weiß und zuerst nackt und glatt. Ryan wußte irgendwie, daß er unter dem Einfluß von Drogen stand. Er erkannte das Gefühl, konnte sich aber nicht erinnern, warum. Er konzentrierte sich einige Minuten, so gut es ging, bis er erkennen konnte, daß die Decke aus weißen, schalldämmenden Kacheln auf einem Metallrahmen bestand. Einige der Kacheln hatten Wasserflecke und dienten ihm als Bezugspunkte. Andere waren aus durchscheinendem Kunststoff und verdeckten die Beleuchtungskörper. Man hatte ihm etwas unter die Nase gebunden, und jetzt merkte er, daß etwas Kühles in seine Nasenlöcher strömte – Sauerstoff? Seine anderen Sinne meldeten sich nacheinander. Sie begannen, seinen Körper zu erkunden und seinem Gehirn Bericht zu erstatten. Man hatte ihm einige Dinge auf die Brust geklebt, die er nicht sehen konnte. Er spürte, wie sie an den Haaren zupften, mit denen Cathy gern spielte, wenn sie einen Schwips hatte. Seine linke Schulter fühlte sich – nein, er fühlte sie gar nicht. Sein Körper war so schwer, daß er ihn keinen Zentimeter bewegen konnte.
Ein Krankenhaus, folgerte er nach mehreren Minuten. Warum bin ich im Krankenhaus... Er mußte sehr lange nachdenken, bis ihm einfiel, warum er hier war. Als es ihm einfiel, war es ganz gut, daß er nur vernebelt daran denken konnte, daß er einen Menschen getötet hatte.
Ich bin auch getroffen worden, aber warum? Langsam drehte er den Kopf nach rechts. An einem metallenen Infusionsgeräteständer neben dem Bett hing eine Infusionsflasche, deren Gummischlauch unter die Bettdecke führte, wo sie seinen Arm angebunden hatten. Er versuchte, das Kitzeln des Katheters zu spüren, der unterhalb des Ellbogens in der Vene stecken mußte, schaffte es aber nicht. Als nächstes versuchte er den Kopf nach links zu drehen. Etwas Weiches, aber sehr Festes hinderte ihn daran. Selbst seine Neugier auf den Zustand, in dem er sich befand, war unbeständig. Aus irgendeinem Grund kam ihm die Umgebung viel interessanter vor als sein Körper. Er blickte hoch und sah ein Gerät, das wie ein Fernsehapparat aussah, und andere elektronische Instrumente, die er in dem unmöglichen Winkel nicht richtig erkennen konnte. Ein Enzephalograph? Ja, wohl so etwas ähnliches. Es paßte alles zusammen. Er lag im Nachbehandlungszimmer eines Operationssaals, während das chirurgische Team diskutierte, ob er überleben würde. Die Drogen halfen ihm, wunderbar objektiv über das Problem nachzudenken.
«Oh, wir sind ja wach.» Eine Stimme, die nicht aus dem Lautsprecher der Rufanlage kam. Ryan ließ das Kinn fallen und sah eine etwa fünfzigjährige Krankenschwester. Sie hatte ein von jahrelangem Stirnrunzeln gezeichnetes Bette-Davis-Gesicht. Er versuchte, etwas zu ihr zu sagen, aber sein.Mund war wie zugeklebt. Was herauskam, war eine Mischung von Röcheln und Krächzen. Die Schwester verschwand, während er noch überlegte, wie der Ton eigentlich geklungen hatte.
Ungefähr eine Minute darauf trat ein Mann zu ihm ans Bett. Er war auch in den Fünfzigern, groß und hager, und trug einen grünen Chirurgenkittel. An seinem Hals hing ein Stethoskop, und er schien etwas zu tragen, das Ryan nicht richtig sehen konnte. Er wirkte ziemlich erschöpft, lächelte aber befriedigt.
«Aha», sagte er. «Wir sind wach. Wie fühlen wir uns?» Diesmal brachte Ryan ein einwandfreies Krächzen zustande. Der Arzt – ? – nickte der Schwester zu. Sie trat vor und ließ Ryan durch einen Strohhalm einen Schluck Wasser trinken.
«Danke.» Das Wasser schwappte in seinem Mund. Er hatte nicht die Kraft zu schlucken. Seine Mundschleimhäute schienen die Flüssigkeit aber schnell zu absorbieren. «Wo bin ich?»
«Sie sind in der Chirurgie des St. Thomas Hospital. Sie erholen sich von einem Eingriff in Ihrem linken Oberarm und in der Schulter. Ich habe Sie operiert. Meine Leute und ich haben ungefähr, warten Sie, ungefähr sechs Stunden an Ihnen gearbeitet, und es hat den Anschein, als würden Sie durchkommen», fügte er salbungsvoll hinzu.
Ryan dachte langsam und träge, der britische Humor, so bewundernswert er sonst sein mochte, sei für diese Situation ein wenig zu trocken. Er legte sich gerade eine Antwort zurecht, als Cathy in sein Gesichtsfeld trat. Die Bette-Davis-Schwester traf Anstalten, sie abzuwehren.
«Entschuldigen Sie, Mrs. Ryan, aber nur medizinisches Personal...»
«Ich bin Ärztin.» Sie hielt einen kleinen Plastikausweis hoch. Der Chirurg prüfte ihn.
«Wilmer-Augeninstitut, Johns Hopkins Hospital.» Der Mann streckte die Hand aus und schenkte Cathy ein freundliches Kollegenlächeln. «Guten Tag, Doktor. Ich bin Charles Scott.»
«Sir Charles Scott? Professor Scott?»
«Eben der.» Ein mildes Lächeln. Wer hat es nicht gern, wenn man ihn erkennt? dachte Ryan, der die Szene von hinten beobachtete.
«Einer von meinen Lehrern kennt Sie – Professor Knowles.»
«Ach, wie geht es Dennis?»
«Sehr gut, Doktor. Er ist jetzt außerordentlicher Professor für Orthopädie.» Cathy kam schnell wieder zur Sache. «Haben Sie die Röntgenaufnahmen hier?»
«Ja.» Scott hielt einen braunen Umschlag hoch und zog ein großes Negativ heraus. Er hielt es vor einen beleuchteten Schirm. «Das war vor dem Eingriff.»
«O Gott!» Cathy kräuselte die Nase. Sie setzte die Brille mit den halben Gläsern auf, die sie bei solchen Gelegenheiten benutzte, die Brille, die Jack haßte. Er beobachtete, wie sie den Kopf langsam von einer Seite zur anderen bewegte. «Ich habe nicht geahnt, daß es so schlimm war.»
Professor Scott nickte. «Leider war es das. Wir nehmen an, daß das Schlüsselbein gebrochen war, ehe er angeschossen wurde. Eine Neun-Millimeter-Kugel ist kein Pappenstiel. Wie Sie sehen, war der Schaden erheblich. Wir hatten viel Mühe, all die Knochensplitter zu finden und wieder einzupassen, aber... hier ist das Ergebnis.» Scott hielt ein zweites Negativ neben das erste. Cathy sagte einige Sekunden nichts und ruckte den Kopf hin und her.
«Gute Arbeit, Doktor.»
Sir Charles’ Lächeln wurde ein Grad wohlwollender. «Von einer Johns-Hopkins-Chirurgin nehme ich das Kompliment an. Diese beiden Nägel sind permanent, und ich fürchte, die Schraube auch, aber alles andere dürfte gut verheilen. Wie Sie sehen können, sind alle größeren Splitter wieder da, wo sie hingehören, und wir haben allen Grund, mit einer vollständigen Verheilung rechnen zu können.»
«Wie groß wird die Beeinträchtigung sein?» Eine nüchterne Frage. Es war entnervend, aber in beruflichen Dingen konnte Cathy kalt wie eine Hundeschnauze sein.
«Wir sind noch nicht ganz sicher», antwortete Scott langsam. «Wahrscheinlich eine geringfügige Gebrauchsminderung, aber es dürfte nicht allzu schlimm sein. Wir können nicht garantieren, daß die Funktion ganz wiederhergestellt wird – dafür war der Schaden zu groß.»
«Könnten Sie es vielleicht so ausdrücken, daß ich es verstehe?» Ryan versuchte zornig zu klingen, aber es kam nicht richtig heraus.
«Selbstverständlich, Mr. Ryan. Sie werden den linken Arm wahrscheinlich nicht wieder in dem Maße gebrauchen können wie vorher, aber wie groß die Beeinträchtigung sein wird, läßt sich noch nicht sagen. Außerdem haben Sie nun ein eingebautes Barometer. Jedesmal, wenn das Wetter umschlägt, werden Sie es vor allen anderen wissen.»
«Wie lange muß der Gips bleiben?» fragte Cathy.
«Mindestens einen Monat.» Sein Tonfall war entschuldigend. «Ich weiß, es ist schrecklich hinderlich, aber wir müssen die Schulter mindestens so lange vollkommen ruhigstellen. Danach werden wir uns den Heilungsprozeß ansehen und wahrscheinlich einen normalen Gipsverband anlegen, der etwa . . . noch einen Monat oder ein wenig länger draufbleiben sollte. Ich setze voraus, daß die Wunde gut heilt und keine allergischen Reaktionen auftreten. Ihr Mann scheint in ganz guter Verfassung zu sein, körperlich einwandfrei in Form.»
«Ja, nur daß manchmal eine Schraube locker ist», sagte Cathy mit einem gereizten Unterton in ihrer müden Stimme.
«Schön», sagte Sir Charles. «Sie sehen also, daß Ihr Mann in guten Händen ist. Ich werde Sie jetzt fünf Minuten allein lassen. Dann sollte er ausruhen, und Sie sehen auch aus, als könnten Sie etwas Ruhe gebrauchen.» Der Chirurg verließ das Zimmer mit Bette Davis im Gefolge.
Cathy trat näher ans Bett und war jetzt nur noch besorgte Ehefrau. Ryan sagte sich vielleicht schon zum tausendstenmal, wie glücklich er sich schätzen konnte, sie zu haben. Caroline Ryan hatte ein kleines rundes Gesicht, kurzes strohblondes Haar und die hübschesten blauen Augen von der Welt. Hinter diesen Augen steckte eine Intelligenz, die der seinen mindestens gewachsen war, ein Mensch, den er so liebte, wie ein Mann eine Frau nur lieben kann. Er würde nie begreifen, wie er es geschafft hatte, sie zu erobern. Mit seinem struppigen Bart und seinem viereckigen Kinn nahm er sich neben ihr aus wie ein Waldläufer.
«Schatz», sagte er leise.
«Oh, Jack.» Sie versuchte ihn zu umarmen, aber der Gips – den er nicht mal sehen konnte – kam ihr in die Quere. «Jack, warum zum Teufel hast du das getan?»
Er hatte sich bereits eine Antwort auf diese Frage zurechtgelegt. «Es ist alles vorbei, und ich bin noch am Leben, okay? Wie geht es Sally?»
«Ich glaube, sie schläft jetzt endlich. Sie ist unten, ein Polizist ist bei ihr.» Cathy sah wirklich todmüde aus. «Wie sieht es wohl in ihrem Innern aus? Mein Gott, sie hat zugesehen, wie du um ein Haar getötet wurdest. Wir sind beide fast vor Angst gestorben.» Jack sah, daß ihre porzellanblauen Augen rotgerändert waren, und ihr Haar sah schrecklich aus. Nun ja, sie konnte sowieso nie viel aus ihrem Haar machen. Die OP-Masken ruinierten es immerzu.
«Ja, ich weiß. Aber es sieht so aus, als würde ich mich eine ganze Weile nicht mehr auf diese Art und Weise betätigen können», grunzte er. «Es sieht übrigens so aus, als würde ich mich eine Weile überhaupt nicht mehr betätigen können.» Das rief ein Lächeln hervor. Es tat gut, sie lächeln zu sehen.
«Um so besser. Du mußt mit deinen Kräften haushalten. Vielleicht wird dir dies eine Lehre sein – und erzähl mir nichts von all den Hotelbetten, die nun brachliegen werden.» Sie drückte seine Hand. Ihr Lächeln wurde schelmisch. «In ein paar Wochen werden wir uns sicher etwas einfallen lassen. Wie sehe ich aus?»
«Zum Weglaufen.» Jack lachte leise. «Ich nehme an, dieser Arzt ist eine Kapazität?»
Er sah, wie sie sich etwas entspannte. «Das kann man wohl sagen. Sir Charles Scott ist einer der besten Orthopäden der Welt. Er hat Professor Knowles ausgebildet – und er hat ein Meisterstück an dir vollbracht. Mein Gott, du kannst von Glück sagen, daß du noch einen linken Arm hast.»