Cover

Simone Elkeles

Du oder der Rest der Welt

Aus dem amerikanischen Englischen
von Katrin Weingran

DANKSAGUNG

Dieses Buch wäre ohne meine Lektorin Emily Easton nicht denkbar, die sich mit mir durch die vielen Fassungen von Carlos’ Geschichte gekämpft hat. Ich finde, dafür solltest du heiliggesprochen werden.

Dr. Olympia González gebührt besonderer Dank dafür, dass sie sich die Zeit genommen und mir geholfen hat, das Buch mit spanischer und mexikanischer Kultur zu würzen. Ich übernehme die volle Verantwortung für alle Fehler, die ich möglicherweise gemacht habe, denn es sind ganz und gar meine. Aber ich hoffe, Sie sind stolz auf mich.

Ich habe so ein Glück, dass Ruth Kaufmann und Karen Harris meine Freundinnen und Kolleginnen sind. Ihr habt mir beide von Anfang bis Ende geholfen. Ich kann Euch beiden nicht genug dafür danken, dass Ihr für mich da ward, als ich Euch am meisten brauchte.

Ich möchte Alex Strong dafür danken, dass er mich zu meiner Figur Tuck inspiriert hat. Ich hoffe, er ist nur halb so amüsant und schlagfertig wie Du, Alex.

Außerdem danke ich meiner Agentin Kristin Nelson für ihre unendliche Unterstützung während der Arbeit an diesem Buch. Es hat mir sehr viel bedeutet, eine Cheerleaderin zu haben, die mich anfeuert. Du bist mit mir Wildwasser-Raften in Colorado gegangen, als ich zu Recherchezwecken dorthin gefahren bin, Du Arme. Das hat man davon als Rund-um-Service-Agentin!

Weitere Menschen, die mir bei diesem Buch geholfen haben oder mich als Freunde (und Familie) sehr unterstützt haben sind: Nanci Martinez, Dayna Plusker, Marilyn Brant, Erika Danou-Hasan, Meko Miller, Randi Sak, Michelle Movitz, Amy Kahn, Joshua Kahn, Liane Freed, Jonathan Freed, Debbie Feiger, Nickey Sejzer, Marianne To, Melissa Hermann, Michelle Salisbury und Sarah Gordon. Die Treffen mit Jeremy, Maya, Sarah, Koby, Victor und Savi haben mir einen Einblick vermittelt, wie es ist, ein Teenager in Colorado zu sein. Und mir würde nie einfallen, zu vergessen, Rob Adelman für seine unendliche Weisheit zu danken.

Ich möchte mich auch bei meinen Fans bedanken. Sie sind das Beste an meiner Arbeit, und ich werde es nie müde, die Fanpost und E-Mails zu lesen, die sie mir schicken.

Zu guter Letzt, aber nicht weniger inständig, möchte ich mich bei Samantha, Brett, Moshe und Fran bedanken. Sie sind definitiv meine Inspiration und waren so wundervoll und geduldig, während ich dieses Buch geschrieben habe.

Ich freue mich immer, von meinen Lesern zu hören. Also vergesst nicht, mich unter www.simoneelkeles.net zu besuchen!

Epilog

SECHSUNDZWANZIG JAHRE SPÄTER

Carlos Fuentes sieht der Frau, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet ist, dabei zu, wie sie die Tageseinnahmen verbucht. Die Geschäfte der McConnell’s Autowerkstatt laufen gut, der Laden ist in ihrer Hand, seit Carlos seinen Abschied vom Militär genommen hat. Sogar in den mageren Jahren sind sie gut über die Runden gekommen. Seine Frau hat die einfachen Dinge des Lebens schon immer zu schätzen gewusst, selbst in Zeiten, in denen sie sich mehr hätten leisten können. Zum Teufel, mit ihm zusammen in der Gegend um den Dome wandern zu gehen, macht sie nach wie vor glücklicher als alles andere. Die Wanderung ist zu einem wöchtentlichen Ritual für sie beide geworden.

Mit dem Skifahren oder Snowboarden verhält es sich jedoch völlig anders. Carlos ist jahrelang mit Kiara und den Kindern in den Winterurlaub gefahren, hat aber lieber aus sicherer Entfernung zugesehen, wie Kiara ihren drei Töchtern erst Skifahren und dann Snowboarden beibrachte. Ganz besonders toll fanden sie es immer, wenn ihr Onkel Luis mitkam, denn er ist der einzige Fuentes-Bruder, der verrückt genug war, sie die schwarzen Pisten hinunterzujagen.

Carlos wischt sich die Hände an einem Tuch ab, nachdem er das Öl vom Wagen seines alten Freudes Ram gewechselt hat. »Kiara, wir müssen über diesen Jungen reden, den dein Vater uns aufgezwungen hat.«

»Er ist kein schlechter Junge«, sagt Kiara, guckt zu ihrem Mann hoch und lächelt ihn beruhigend an. »Er braucht nur etwas Führung und ein Zuhause. Er erinnert mich ein wenig an dich.«

»Machst du Witze? Hast du gesehen, wie viele Piercings dieser Übeltäter hat? Ich wette, er hat sie an Stellen, die ich mir noch nicht mal vorstellen möchte.«

Wie aufs Stichwort fährt ihre älteste Tochter Cecilia vor, der Übeltäter sitzt auf dem Beifahrersitz neben ihr.

»Seine Haare sind zu lang. Er sieht aus wie eine chica, die eine Rasur braucht«, sagt Carlos.

»Wo wart ihr?«, fragt er im nächsten Moment anklagend, als die zwei Highschoolschüler gleichzeitig aus Cecilias Wagen steigen.

Keiner der beiden antwortet.

»Dylan, komm mit. Wir müssen uns von Mann zu Mann unterhalten.« Carlos erwischt den Übeltäter dabei, wie er mit den Augen rollt, aber er folgt ihm in sein Büro in einer Ecke der Werkstatt. Carlos schließt die Tür und setzt sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch, während er Dylan bedeutet, auf dem Besucherstuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen.

»Du bist jetzt schon eine Woche bei uns, aber ich war so beschäftigt in der Werkstatt, dass ich versäumt habe, die Hausregeln mit dir durchzugehen«, sagt Carlos.

»Hör zu, alter Mann«, erwidert der Junge gedehnt, dann lehnt er sich zurück und legt seine dreckigen Schuhe auf Carlos’ Schreibtisch. »Ich befolge keine Regeln.«

Alter Mann? Ich befolge keine Regeln? Verdammt, dieser Junge braucht einen kräftigen Tritt in den Hintern. Um ehrlich zu sein, Carlos entdeckt tatsächlich ein bisschen von seinem alten, rebellischen Selbst in dem Jungen. Dick war der beste Ersatzvater, den Carlos sich hätte wünschen können, damals, als er nach Colorado kam. Zum Henker, er hat den Professor sogar schon Dad genannt, bevor er und Kiara heirateten, und kann sich nicht vorstellen, was ohne das Engagement ihres Vaters aus ihm geworden wäre.

Carlos schubst Dylans Füße von seinem Schreibtisch und denkt an den Moment zurück, als Kiaras Vater ihm einen Vortrag hielt, der dem sehr ähnelte, den er jetzt halten wird. »Uno, keine Drogen oder Alkohol. Dos, keine vulgären Ausdrücke. Ich habe eine Frau und drei Töchter, also pass auf, was du sagst. Tres, an Wochentagen bist du um zehn Uhr dreißig zu Hause, an Wochenenden um Mitternacht. Cuatro, von dir wird erwartet, dass du deinen eigenen Dreck wegmachst und im Haushalt mithilfst, wenn du darum gebeten wirst, genau wie unsere eigenen Kinder. Cinco, bevor du deine Hausaufgaben nicht erledigt hast, wird kein Fernsehen geguckt. Seis …« Ihm fällt nicht mehr ein, was die sechste Regel seines Schwiegervaters war, aber das spielt auch keine Rolle. Carlos hat seine eigene Regel, die er laut und deutlich äußern wird. »Etwas mit Cecilia anzufangen kommt nicht infrage, also denk nicht mal dran. Noch Fragen?«

»Yeah, eine.« Der Übeltäter beugt sich vor und sieht Carlos mit einem provozierenden Grinsen direkt in die Augen. »Was passiert, wenn ich eine Ihrer beschissenen Regeln breche?«

1

Carlos

Ich träume davon, ein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu führen. Aber ich bin Mexikaner, also wacht mi familia über alles, was ich tue, egal, was ich davon halte. Na ja, von Überwachung zu reden ist im Grunde viel zu harmlos, es ist eher so, als würde man in einer Diktatur leben.

Mi’amá hat mich nicht gefragt, ob ich Mexiko verlassen und nach Colorado zu meinem Bruder Alex ziehen möchte, um dort meinen Highschool-Abschluss zu machen. Sie hat die Entscheidung ganz allein getroffen, mich »zu meinem eigenen Besten« (ihre Worte, nicht meine) zurück nach Amerika zu schicken. Und als dann noch der Rest meiner familia sie darin bestärkt hat, war es beschlossene Sache.

Glauben die wirklich, dass sie damit verhindern können, dass ich sechs Fuß unter der Erde oder im Knast ende? Seit ich vor zwei Monaten in der Zuckerfabrik rausgeflogen bin, habe ich einen auf la vida loca gemacht. Und ich habe nicht vor, das zu ändern.

Ich gucke aus dem kleinen Fenster, während das Flugzeug über die schneebedeckten Spitzen der Rockies schwebt. Ich bin definitiv nicht mehr in Atencingo … aber genauso wenig in den Suburbs von Chicago, wo ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, bis mi’amá uns gezwungen hat, unsere Sachen zu packen, um uns nach Mexiko zu verschleppen.

Als der Flieger landet, beobachte ich, wie die anderen Passagiere hektisch ihre Sachen zusammensuchen. Ich bleibe noch etwas sitzen und versuche, das alles auf die Reihe zu kriegen. Gleich werde ich meinen Bruder zum ersten Mal seit fast zwei Jahren wiedersehen. Verdammt, ich bin nicht mal sicher, ob ich ihn überhaupt sehen will.

Das Flugzeug ist beinah leer, also kann ich das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern. Ich schnappe mir meinen Rucksack und folge den Schildern bis zur Gepäckausgabe. Als ich den Sicherheitsbereich verlasse, sehe ich meinen Bruder Alex, der hinter der Absperrung auf mich wartet. Ich habe gedacht, ich würde ihn vielleicht nicht erkennen oder das Gefühl haben, wir wären Fremde statt Familie. Aber mein großer Bruder ist eben mein großer Bruder. Sein Gesicht ist mir so vertraut, als wäre es mein eigenes. Einen kurzen Moment lang spüre ich Triumph darüber, dass ich inzwischen größer bin als er und nicht mehr der halbwüchsige, dünne Spargel, den er zurückgelassen hat.

»Ya estás en Colorado«, sagt er und zieht mich an sich.

Als er mich loslässt, fallen mir die verblassten Narben über seinen Augenbrauen und neben seinen Ohren auf, die noch nicht da waren, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er sieht älter aus, aber der wachsame Blick, der zu ihm gehörte wie ein Schutzschild, ist verschwunden. Ich glaube, ich trage diesen Schutzschild nun.

»Gracias«, sage ich ausdruckslos. Er weiß, dass ich nicht hier sein will. Onkel Julio ist nicht von meiner Seite gewichen, bis er mich in den Flieger bugsiert hatte. Und er hat gedroht, am Flughafen zu bleiben, bis mein Hintern sich in die Lüfte erhoben hätte.

»Du hast hoffentlich nicht vergessen, wie man Englisch spricht, oder?«, fragt mein Bruder auf dem Weg zum Auto.

Ich rolle mit den Augen. »Wir leben erst seit zwei Jahren in Mexiko, Alex. Oder sollte ich sagen: Mamá, Luis und ich sind erst vor zwei Jahren nach Mexiko gezogen. Du hast uns sitzenlassen. «

»Ich hab euch nicht sitzenlassen. Ich gehe aufs College, um was Sinnvolles aus meinem Leben zu machen. Solltest du auch mal versuchen.«

»Nein, danke. Ich steh auf mein sinnloses Leben.«

Ich schultere meine Tasche und folge Alex nach draußen.

»Warum trägst du das da um deinen Hals?«, fragte mein Bruder mich.

»Das ist ein Rosenkranz«, erwidere ich und fingere an dem Kreuz, das an einer Kette aus schwarzen und weißen Perlen hängt. »Ich bin gläubig geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«

»Von wegen gläubig. Ich weiß genau, dass es ein Gangsymbol ist«, sagt er, als wir vor einem silbernen BMW-Sportcoupé stehen bleiben. Mein Bruder könnte sich so einen heißen Schlitten nie leisten; er muss ihn sich von seiner Freundin Brittany geliehen haben.

»Und wenn schon.« Alex war selbst in einer Gang, als wir noch in Chicago gelebt haben. Mi papá war ebenfalls ein Gangster. Ob es Alex passt oder nicht, ein böser Junge zu sein wurde mir in die Wiege gelegt. Ich habe versucht, ein normales Leben zu führen und mich an Regeln zu halten, und habe mich nie beschwert, obwohl ich für lumpige fünfzig pesos jeden Tag nach der Schule wie ein Hund geschuftet habe. Aber dann, nachdem ich rausgeworfen wurde und mich den Guerreros del barrio angeschlossen hatte, habe ich an einem Tag über tausend pesos verdient. Es war vielleicht kein sauber verdientes Geld, aber es hat dafür gesorgt, dass wir was zu essen auf dem Tisch hatten.

»Hast du denn gar nichts aus meinen Fehlern gelernt?«, will er wissen.

Scheiße, als Alex noch ein Latino Blood war, damals in Chicago, da habe ich ihn angebetet. »Meine Antwort auf diese Frage willst du nicht hören.«

Alex schüttelt gefrustet den Kopf, greift sich meine Sporttasche und wirft sie auf den Rücksitz des Wagens. Er hat den Ausstieg aus der Gang geschafft. Na und? Die Tattoos wird er den Rest seines Lebens tragen. Ob er es glauben will oder nicht, die anderen werden in ihm immer das Latino Blood sehen. Es spielt gar keine Rolle, ob er in der Gang aktiv ist.

Ich mustere meinen Bruder ausgiebig. Er hat sich verändert, kein Zweifel. Das habe ich vom ersten Augenblick an gespürt. Er sieht vielleicht aus wie Alex Fuentes, aber ich weiß, dass er den Kampfgeist verloren hat, den er einst besaß. Jetzt, wo er aufs College geht, meint er, die Welt in einen besseren, funkelnden Ort verwandeln zu können, wenn er sich nur schön brav an die Regeln hält. Schon erstaunlich, wie schnell er vergessen hat, dass wir vor nicht allzu langer Zeit im Vorortabschaum von Chicago gelebt haben. Manche Teile der Welt bringst du nicht zum Funkeln, egal wie sehr du versuchst, sie vom Dreck zu befreien und auf Hochglanz zu polieren.

»¿Y Mamá?«, fragt Alex.

»Ihr geht’s gut.«

»Und was ist mit Luis?«

»Dem auch. Unser kleiner Bruder ist fast so schlau wie du, Alex. Er denkt, er wird mal Astronaut wie José Hernández.«

Alex nickt wie ein stolzer Papa, und ich habe den Eindruck, er glaubt allen Ernstes, dass Luis seinen Traum verwirklichen wird. Die zwei haben doch Wahnvorstellungen … sie sind Träumer, alle beide. Alex glaubt, er könnte die Welt retten, indem er Heilmittel gegen die Seuchen der Menschheit findet, und Luis meint, er könne von dieser Welt zu neuen Ufern aufbrechen und ferne Welten entdecken.

Als wir auf den Highway biegen, sehe ich in der Ferne eine Bergkette. Sie erinnert mich an die raue Landschaft Mexikos.

»Die Berge da sind die Front Range«, erklärt Alex mir. »Die Uni liegt am Fuß der Berge.« Er deutet zu seiner Linken. »Die dort drüben werden Flatiron genannt, weil die Steine so platt sind wie Bügelbretter. Ich nehm dich irgendwann mal dahin mit. Brit und ich gehen immer in den Bergen spazieren, wenn wir eine Auszeit von der Uni brauchen.«

Als er mir einen kurzen Blick zuwirft, starre ich meinen Bruder an, als hätte er plötzlich zwei Köpfe.

»Was ist?«, fragt er.

Macht er Witze? ¿Me está tomando los pelos? »Ich frage mich nur, wer du bist und was zum Teufel du mit meinem Bruder gemacht hast. Mein Bruder Alex war ein Rebell, und jetzt redet er über Berge, Bügelbretter und Spaziergänge mit seiner Freundin.«

»Wäre dir eine Geschichte übers Saufen und Abstürzen lieber?«

»Ja!«, sagte ich und tue so, als hätte er damit ins Schwarze getroffen. »Und wenn du mir bitte verrätst, wo ich mich hier besinnungslos betrinken kann, denn ich halte es nicht lange ohne irgendeine illegale Substanz in meinem Blut aus.« Ich lüge ihn an. Mi’amá hat ihm wahrscheinlich erzählt, sie vermute, dass ich Drogen nehme, also kann ich genauso gut so tun, als sei da was dran.

»Alles klar. Spar dir den Mist für Mamá auf, Carlos. Ich falle genauso wenig darauf herein wie du.«

Ich lege meine Füße auf das Armaturenbrett. »Du hast ja keinen Schimmer.«

Alex schiebt sie runter. »Geht’s noch? Das ist Brittanys Auto.«

»Du stehst so was von unter dem Pantoffel, Mann. Wann gibst du der gringa endlich den Laufpass und legst dir einen ganzen Harem zu, wie alle anderen Collegetypen auch?«, frage ich ihn.

»Brittany und ich haben nichts mit anderen.«

»Warum nicht?«

»Es nennt sich miteinander gehen.«

»Es macht dich zu einem panocha. Wenn ein Typ nur ein Mädchen hat, ist das gegen die Natur, Alex. Ich bin völlig ungebunden und frei und plane das auch zu bleiben.«

»Nur damit wir uns verstehen, Señor Harem, in meinem Appartement legst du keine flach.«

Er ist vielleicht mein großer Bruder, aber unser Vater ist seit Langem tot und begraben. Ich brauche seine beschissenen Regeln nicht. Ich will sie nicht. Es ist an der Zeit, dass ich nach meinen eigenen Regeln lebe. »Nur damit wir uns verstehen, ich habe verdammt noch mal vor, zu tun und zu lassen, was ich will, solange ich hier bin.«

»Tu uns beiden den Gefallen und hör auf mich. Du könntest sogar was dabei lernen.«

Ich lache kurz auf. Ja, klar. Was will er mir schon beibringen? Mit dem Chemiebaukasten zu experimentieren? Wie man eine Collegebewerbung schreibt? Ich habe weder das eine noch das andere vor.

Wir schweigen beide, während wir weitere fünfundvierzig Minuten dahinbrausen. Die Berge rücken mit jeder Meile näher. Wir fahren mitten über den Campus der Universität von Colorado. Gebäude aus roten Ziegelsteinen ragen in die Landschaft hinein, und überall sind Studenten mit Rucksäcken unterwegs. Glaubt Alex wirklich, dass er dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann und einen hoch bezahlten Job findet, der ihn davon erlöst, sein Leben lang ein armer Schlucker zu sein? Das wird garantiert nicht passieren. Die Leute werden einen Blick auf ihn und seine Tattoos werfen und ihn schleunigst wieder vor die Tür setzen.

»Ich muss in einer Stunde auf der Arbeit sein, aber ich sorge erst noch dafür, dass du dich bei mir zu Hause zurechtfindest«, sagt er und lenkt den Wagen in eine Parkbucht.

Ich weiß, dass er einen Job in einer Autowerkstatt angenommen hat, um den Schuldenberg abzutragen, der sich durch die Studiendarlehen der Schule und der Regierung angehäuft hat.

»Das hier ist es«, sagt er und zeigt auf das Gebäude direkt vor uns. »Tu casa

Diese runde, achtstöckige Augenkrankheit von einem Gebäude, die an einen riesigen Maiskolben erinnert, ist so weit von einem Zuhause entfernt, wie es nur geht, aber egal. Ich ziehe meine Tasche aus dem Auto und schlurfe hinter Alex nach drinnen.

»Ich hoffe, wir sind hier im Armeleuteviertel der Stadt, Alex«, sage ich. »Von reichen Leuten kriege ich Pickel.«

»Ich lebe nicht im Luxus, wenn du das gemeint hast. Das hier ist subventionierter Wohnungsbau.«

Wir nehmen den Aufzug in den dritten Stock. Auf dem Gang riecht es nach kalter Pizza, und der Teppich hat etliche Flecken vorzuweisen. Zwei heiße Bräute in Sportklamotten kommen an uns vorbei. Alex lächelt sie an. So verträumt wie sie zurückgucken, wäre ich nicht überrascht, wenn sie plötzlich auf die Knie fielen und den Boden küssten, über den er wandelt.

»Mandi und Jessica, das ist mein Bruder Carlos.«

»Hal-lo, Carlos …« Jessica mustert mich von oben bis unten. Auf einmal bin ich mitten im siebten Collegehimmel. Und es fühlt sich geil an. »Warum hast du uns nicht gesagt, dass er so scharf ist?«

»Er geht noch auf die Highschool«, warnt Alex sie.

Was glaubt er, wer er ist? Mein Schwanzwärter? »Abschlussklasse«, platze ich heraus und hoffe, damit die Enttäuschung abzumildern, dass ich kein Collegestudent bin. »In ein paar Monaten werde ich achtzehn.«

»Wir schmeißen eine Geburtstagsparty für dich«, verspricht Mandy.

»Cool«, sage ich. »Kann ich euch beide als Geschenk haben? «

»Wenn Alex nichts dagegen hat«, flötet Mandy.

Alex geht davon und fährt sich mit der Hand durch das Haar. »Ich kann nur verlieren, wenn ich dazu einen Kommentar abgebe.«

Die Mädchen lachen. Dann joggen sie den Flur runter, aber nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und zum Abschied zu winken.

Wir gehen in Alex’ Appartement. Er lebt wirklich nicht im Luxus. Ein Bett mit einer dünnen schwarzen Fleecedecke darauf steht an der einen Wand, ein Tisch mit vier Stühlen rechts gegenüber, und neben der Wohnungstür geht eine Küche ab, die so klein ist, dass kaum zwei Leute gleichzeitig hineinpassen würden. Das ist noch nicht mal ein Einzimmerappartement. Es ist ein Studio. Ein kleines Studio.

Alex deutet auf die Tür neben seinem Bett. »Das Badezimmer ist da. Dein Zeug kannst du in den Schrank gegenüber der Küche tun.«

Ich schmeiße meine Tasche in den Schrank und gehe weiter in den Raum hinein. »Mm, Alex … wo soll ich eigentlich schlafen?«

»Ich habe eine Luftmatratze von Mandy geliehen.«

»Está buena – sie ist süß.« Ich sehe mir das Zimmer genauer an. In unserem Haus in Chicago habe ich mir ein viel kleineres Zimmer mit Alex und Luis geteilt. »Wo ist der Fernseher?«, frage ich.

»Ich hab keinen.«

Scheiße. Das ist nicht gut. »Was zum Henker soll ich machen, wenn mir langweilig ist?«

»Lies ein Buch.«

»Estás chiflado, du spinnst doch. Ich lese nicht.«

»Ab morgen wirst du es tun«, sagt er, während er gleichzeitig ein Fenster öffnet, um etwas frische Luft hineinzulassen. »Ich habe deine Zeugniskopien schon eingereicht. Sie erwarten dich morgen an der Flatiron High.«

Schule? Mein Bruder fängt von der Schule an? Mann, das ist das Letzte, worüber man als Siebzehnjähriger nachdenken will. Ich hatte angenommen, er gibt mir mindestens eine Woche, um mich wieder in den Staaten einzuleben. Zeit, einen anderen Gang einzulegen. »Wo hast du dein Gras versteckt?«, frage ich und bin mir bewusst, dass ich damit seine Geduld auf eine harte Probe stelle. »Du solltest es mir lieber verraten, damit ich nicht in deiner Wohnung rumschnüffeln muss, um es zu finden.«

»Ich hab keins.«

»Okay. Und wer ist dein Dealer?«

»Du kapierst es einfach nicht, Carlos. Ich mach diesen Scheiß nicht mehr.«

»Du hast gesagt, dass du arbeiten gehst. Verdienst du da kein Geld?«

»Doch, und damit kaufe ich ein, gehe aufs College und überweise, was immer übrig bleibt, an Mamá

Während ich noch versuche, die News zu verarbeiten, öffnet sich die Wohnungstür. Ich erkenne seine blonde Freundin sofort. In der einen Hand hat sie den Wohnungsschlüssel und ihre Handtasche, in der anderen hält sie eine große braune Papiertüte. Sie sieht wie eine zum Leben erweckte Barbiepuppe aus. Mein Bruder nimmt ihr die Papiertüte ab und küsst sie. Sie könnten genauso gut verheiratet sein. »Carlos, du erinnerst dich doch bestimmt noch an Brittany.«

Sie öffnet die Arme weit und zieht mich in eine Umarmung. »Carlos, es ist so schön, dass du da bist!«, zwitschert Brittany fröhlich. Ich hatte ganz vergessen, dass sie an der Highschool Cheerleaderin war, aber sobald sie den Mund aufmacht, fällt es mir wieder ein.

»Für wen?«, sage ich abwehrend.

Sie tritt einen Schritt zurück. »Für dich. Und für Alex. Er vermisst seine Familie.«

»Na klar.«

Sie räuspert sich und wirkt ein bisschen verunsichert. »Hm … okay, also ich hab euch Jungs was vom Chinesen geholt. Ich hoffe, ihr seid hungrig.«

»Wir sind Mexikaner«, erzähle ich ihr. »Warum hast du kein mexikanisches Essen geholt?«

Brittanys perfekt geformte Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Das soll ein Witz sein, oder?«

»Eigentlich nicht.«

Sie wendet sich der Küche zu. » Alex, kannst du mir hier mal helfen?«

Alex erscheint mit Papptellern und Plastikbesteck in den Händen. »Carlos, was ist dein Problem?«

Ich zucke mit den Achseln. »Ich hab kein Problem. Ich habe deine Freundin nur gefragt, warum sie kein mexikanisches Essen gekauft hat. Sie ist diejenige, die so ein großes Ding draus macht.«

»Denk an deine Manieren und bedank dich, anstatt sie blöd anzumachen.«

Es ist glasklar, auf welcher Seite mein Bruder steht. Einmal hat Alex zu mir gesagt, er sei der Latino Blood nur beigetreten, um unsere Familie zu beschützen – und damit Luis und ich nicht in die Gang müssten. Aber jetzt zeigt sich, dass ihm die Familie einen Scheißdreck bedeutet.

Brittany hebt abwehrend die Hände. »Ich möchte nicht, dass ihr zwei meinetwegen streitet.« Sie schiebt den Riemen ihrer Handtasche auf der Schulter weiter nach oben und seufzt. »Ich denke, ich geh dann mal besser, damit ihr euch wieder aneinander gewöhnen könnt.«

»Geh nicht«, sagt Alex.

Dios mio. Ich befürchte, mein Bruder hat seine Eier irgendwo zwischen Mexiko und hier verloren. Oder vielleicht trägt Brittany sie ja auch in ihrer schicken Handtasche mit sich herum.» Alex, lass sie gehen, wenn sie gehen will.« Es ist Zeit, die Leine zu kappen, die sie ihm angelegt hat.

»Ist schon okay, wirklich«, sagt sie und küsst meinen Bruder. »Lasst euch das Mittagessen schmecken. Ich seh dich dann morgen. Ciao, Carlos.«

»Hm, hm.« Sobald sie weg ist, schnappe ich mir die braune Tüte von der Anrichte und bringe sie zum Tisch. Ich lese die Beschriftung der einzelnen Boxen laut vor. Hühnchen Chow Mein … Rind Chow Fun … Pu-pu-Platte. »Pu-pu-Platte?«

»Das sind gemischte Vorspeisen«, erklärt Alex.

Ich werde nichts anrühren, dass als Pu-pu bezeichnet wird. Mich nervt, dass mein Bruder überhaupt weiß, was eine Pu-pu-Platte ist. Ich lasse die Box in Ruhe, schaufle mir etwas von dem identifizierbaren chinesischen Essen auf meinen Teller und beginne zu kauen. »Isst du nichts?«, frage ich Alex.

Er guckt mich an, als sei ich ein völlig Fremder.

»¿Qué pasa?«, frage ich.

»Brittany wird nirgendwohin gehen, verstehst du.«

»Das ist ja das Problem. Warum siehst du das denn nicht?«

»Was ich sehe, ist mein siebzehnjähriger Bruder, der sich aufführt, als sei er fünf. Zeit, erwachsen zu werden, mocoso

»Damit ich so scheißlangweilig werde wie du? Nein, danke.«

Alex schnappt sich seine Schlüssel.

»Wo willst du hin?«

»Ich gehe mich bei meiner Freundin entschuldigen und dann zur Arbeit. Fühl dich wie zu Hause«, sagt er und wirft mir die Wohnungsschlüssel zu. »Und mach keinen Ärger.«

»Wenn du sowieso mit Brittany reden willst«, sage ich und nehme einen Bissen von einer Frühlingsrolle, »warum fragst du sie bei der Gelegenheit nicht gleich, ob sie dir deine Eier zurückgibt?«

2

Kiara

»Kiara, ich kann nicht glaube, dass er per SMS mit dir Schluss gemacht hat«, sagt mein bester Freund Tuck, während er die drei Sätze auf meinem Handy liest. Wir sind in meinem Zimmer, und Tuck sitzt an meinem Schreibtisch. »Das m uns lft nich. Sry. Don’t h8 me.« Er wirft mir das Handy wieder zu. »Das Mindeste wäre gewesen, alles auszuschreiben. Don’t h8 me? Der Typ ist ein Witz. Natürlich hasst du ihn jetzt.«

Ich liege auf dem Rücken auf meinem Bett und starre die Decke an, und ich denke an das erste Mal zurück, als Michael und ich uns geküsst haben. Es war beim Open-Air-Sommerkonzert in Niwot hinter der Eisbude. »Ich hatte ihn gern.«

»Hm. Ich konnte ihn noch nie leiden. Man sollte niemandem trauen, den man im Wartezimmer seines Therapeuten kennenlernt.«

Ich drehe mich auf den Bauch und stütze mich auf meine Ellbogen. »Ich war beim Logopäden. Und er hat nur seinen Bruder hingebracht.«

Tuck, der bisher noch keinen Jungen leiden konnte, mit dem ich gegangen bin, zieht ein pinkfarbenes Notizbuch aus meinem Schreibtisch, auf dem ein Totenkopf prangt. Er wackelt mahnend mit dem Zeigefinger. »Vertrau niemals einem Kerl, der dir beim zweiten Date erzählt, dass er dich liebt. Ist mir mal so gegangen. Die Beziehung war für’n Arsch.«

»Warum? Glaubst du nicht an Liebe auf den ersten Blick?«

»Nein. Ich glaube an Lust auf den ersten Blick. An Begehren. Aber nicht an Liebe. Michael hat dir nur gesagt, dass er dich liebt, damit du ihn ranlässt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich bin ein Kerl, daher weiß ich es.« Tuck runzelt die Stirn. »Du hast es nicht mit ihm gemacht, oder?«

»Nein«, sage ich und schüttle den Kopf, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Wir haben nur so rumgemacht, aber ich wollte den nächsten Schritt nicht gehen. Ich war … ach, ich weiß auch nicht. Ich war einfach noch nicht so weit, schätze ich.

Ich habe Michael weder gesprochen noch gesehen, seit vor zwei Wochen die Schule wieder angefangen hat. Klar, wir haben ein paar SMS hin- und hergeschickt, aber er hat die ganze Zeit behauptet, er habe viel um die Ohren und würde sich melden, wenn er eine freie Minute hätte. Er ist Senior in Longmont, das sind zwanzig Minuten von hier, und ich gehe in Boulder zur Schule, also habe ich gedacht, er sei einfach mit Schulkram beschäftigt. Aber jetzt weiß ich, dass der Grund für die Funkstille nicht der Hausaufgabenoverkill war. Der Grund war, dass er Schluss machen wollte.

Ist es, weil er eine andere kennengelernt hat?

Ist es, weil er mich nicht hübsch genug findet?

Ist es, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte?

Es kann nicht daran liegen, dass ich stottere. Ich habe den ganzen Sommer geübt und seit Juni nicht einmal mehr gestottert. Jede Woche bin ich zum Logopäden gegangen, jeden Tag habe ich vor dem Spiegel sprechen geübt, in jeder Minute achte ich darauf, die Worte ganz bewusst auszusprechen, die aus meinem Mund kommen. Früher war es eine Tortur, etwas zu sagen. Ich wartete auf den verwirrten Blick der Leute und die »Oh, sie hat ein Problem«-Erkenntnis. Dann kam der mitleidige Blick. Und dann die »Sie ist bestimmt zurückgeblieben«-Annahme. Für einige Mädchen an meiner Schule war ich mit meinem Stottern die perfekte Lachnummer.

Aber ich stottere nicht mehr.

Tuck weiß, dass ich entschlossen bin, allen meine selbstbewusste Seite zu zeigen – die Seite, die ich den Leuten von der Schule bisher nicht präsentiert habe. Die ersten drei Jahre auf der Highschool war ich schüchtern und introvertiert, weil ich eine ungeheure Angst davor hatte, dass die Leute sich über meine Stotterei lustig machen. Von heute an werden sie statt Kiara Westford der Schüchternen Kiara Westford die Selbstbewusste kennenlernen, die keine Angst davor hat, ihre Meinung zu sagen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Michael mit mir Schluss machen würde. Ich war fest davon ausgegagenen, wir würden zusammen zum Homecoming-Ball gehen und zum Abschlussball …

»Hör auf, an Michael zu denken«, befiehlt mir Tuck.

»Er war süß.«

»Das sind haarige Frettchen auch, aber ich würde trotzdem nicht mit einem ausgehen wollen. Du findest etwas Besseres als ihn. Verkauf dich nicht unter Wert.«

»Sieh mich an«, sage ich zu ihm. »Blick der Realität ins Auge. Ich bin nicht Madison Stone.«

»Und dafür danke ich Gott. Ich hasse Madison Stone.«

Madison katapultiert den Ausdruck »gemeine Schlampe« auf ein völlig neues Level. Diesem Mädchen gelingt alles, was es anpackt, und es würde die Wahl zum beliebtesten Mädchen der Schule locker gewinnen. Alle Mädchen wollen mit ihr befreundet sein, damit sie mit den coolen Leuten abhängen können. Madison Stone entscheidet, wer zu denen gehört. »Alle mögen sie.«

»Das liegt nur daran, dass sie Angst vor ihr haben. Insgeheim hassen sie alle.« Tuck beginnt, etwas in mein Notizbuch zu kritzeln, dann reicht er es mir. »Hier«, sagt er und wirft mir einen Stift zu.

Ich starre auf die Seite. Ganz oben steht Rezept fürs Verlieben, und ein fetter Strich teilt die Seite von oben bis unten in zwei Felder.

»Was soll das?«

»Wir notieren erst mal die Zutaten, die du mitbringst. In die linke Spalte schreibst du alles, was toll an dir ist.«

Will er mich verarschen? »Nein.«

»Komm schon, leg los. Betrachte es als Selbsthilfeübung und als Weg zur Erkenntnis, dass Mädchen wie Madison Stone überhaupt nicht attraktiv sind. Beende den Satz: Ich, Kiara Westford, bin toll, weil …«

Ich weiß, dass Tuck nicht lockerlassen wird, also schreibe ich irgendwas Blödes und gebe ihm das Buch zurück.

Er liest meine Worte und verzieht das Gesicht. »Ich, Kiara Westford, bin toll, weil ich weiß, wie man einen Football wirft, das Öl von meinem Wagen wechselt und einen Viertausender besteigt. Pah, daran sind Kerle nicht interessiert.« Er schnappt sich meinen Stift, setzt sich zu mir auf die Bettkante und beginnt wild zu kritzeln. »Lass uns mit den Basics anfangen. Man braucht Zutaten aus drei Bereichen.«

»Wer hat sich dieses Rezept ausgedacht?«

»Ich. Das hier ist ein Rezept aus der Sterneküche von Tuck Reese. Zuerst geht es um deine Persönlichkeit. Du bist klug, witzig und sarkastisch«, sagt er und listet die Eigenschaften der Reihe nach in meinem Notizbuch auf.

»Ich bin nicht sicher, ob das alles was Gutes ist.«

»Vertrau mir, das ist es. Doch halt, das ist noch längst nicht alles. Du bist außerdem eine Freundin, auf die man sich verlassen kann, du liebst Herausforderungen mehr als die meisten Jungs, die ich kenne, und du bist eine tolle große Schwester für Brandon.« Als er mit Schreiben fertig ist, guckt er hoch. »Beim zweiten Teil geht es um deine Fähigkeiten. Du weißt, wie man Autos repariert, du bist sportlich, und du hältst im richtigen Moment die Klappe.«

»Das Letzte ist keine Fähigkeit.«

»Süße, vertrau mir. Es ist eine.«

»Du hast meinen speziellen Walnuss-Spinat-Salat vergessen. « Ich kann nicht kochen, aber dieser Salat ist der Hit.

»Du machst einen Wahnsinnssalat«, sagt Tuck und schreibt es auf die Liste. »Okay, jetzt kommt der letzte Teil: körperliche Vorzüge.« Er sieht mich von oben bis unten abschätzend an.

Ich stöhne und frage mich, wann diese Demütigung endlich ein Ende nimmt. »Ich fühle mich wie eine Kuh, die versteigert werden soll.«

»Ja, ja, was immer. Du hast reine Haut und eine hübsche Vorwitznase, die perfekt zu deinen wohlgeformten Titten passt. Wenn ich nicht schwul wäre, käme ich vielleicht in Versuchung …«

»Iih.« Ich schlage seine Hand vom Papier. »Tuck, könntest du bitte dieses Wort nicht sagen oder schreiben?«

Er schüttelt sich die langen Haare aus dem Gesicht. »Welches denn? Titten?«

»Ugh. Ja, genau das. Sag einfach Busen oder Brüste, bitte. Das T-Wort klingt so … vulgär.«

Tuck schnaubt und rollt mit den Augen. »Okay, wohlgeformte … Brüste.« Er lacht sich schlapp. »Tut mir leid, Kiara, das klingt wie etwas, dass man auf den Grill schmeißt oder im Restaurant bestellt.« Er tut so, als sei mein Notizbuch eine Menükarte, und trägt mit gestelltem britischen Akzent vor: »Ober, ich hätte gern die gegrillten wohlgeformten Brüste mit Krautsalat.«

Ich werfe ihm Mojo, meinen großen blauen Teddybären, an den Kopf. »Nenn sie einfach Oberweite und mach weiter.«

Mojo prallt an ihm ab und landet auf dem Fußboden. Mein bester Freund lässt sich davon nicht irritieren. »Wohlgeformte Titten, weg damit. Wohlgeformte Brüste, weg damit.« Er macht großes Aufheben draus, beides durchzustreichen. »Ersetzen durch … wohlgeformte Oberweite«, sagt er und schreibt die Worte auf, während er sie sagt. »Lange Beine, lange Wimpern.« Er wirft einen Blick auf meine Hände und rümpft die Nase. » Krieg das nicht in den falschen Hals, aber du könntest eine Maniküre gebrauchen.«

»War ’s das?«, frage ich.

»Keine Ahnung. Fällt dir noch was anderes ein?«

Ich schüttle den Kopf.

»Okay, jetzt, wo wir wissen, wie unglaublich toll du bist, müssen wir festhalten, was für einen Typ Kerl du gern hättest. Wir schreiben es auf die rechte Seite. Es sind sozusagen die Zutaten, die du für das perfekte Verliebtsein noch brauchst. Lass uns mit seinem Charakter anfangen. Du willst einen Kerl, der … füll die Lücke.«

»Ich will einen Kerl, der Selbstvertrauen hat. Viel Selbstvertrauen. «

»Gut«, sagt er und schreibt es auf.

»Ich will einen Freund, der nett zu mir ist.«

Tuck schreibt weiter. »Netter Typ.«

»Einen, der klug ist«, füge ich hinzu.

»Lebensklug oder die Bücher verschlingende Sorte?«

»Beides?«, sage ich fragend, da ich nicht weiß, ob es die richtige oder falsche Antwort ist.

Er streicht mir über den Kopf, als wäre ich ein kleines Kind. »Also gut. Lass uns zu den Fähigkeiten kommen.« Er bedeutet mir zu schweigen und hindert mich so daran, noch etwas beizutragen. Womit ich gut leben kann. »Ich schreibe diesen Teil für dich auf. Du willst einen Kerl, der dasselbe drauf hat wie du und noch ein bisschen mehr. Jemand, der gern Sport macht, der zumindest Achtung davor hat, dass du diese dämliche alte Karre, die du ein Auto nennst, indstand setzen kannst und …«

»Mist.« Ich springe vom Bett auf. »Das hätte ich beinah vergessen. Ich muss in die Stadt, um etwas in der Werkstatt abzuholen.«

»Bitte sag mir, dass es keines dieser komischen Duftbäumchen ist, die man an den Rückspiegel hängt.«

»Es ist kein Duftbäumchen. Es ist ein Radio. Ein altes.«

»Oh, Wahnsinn! Ein altes Radio, das perfekt zu deiner alten Karre passen wird!«, sagt Tuck ironisch und klatscht ein paar Mal gespielt aufgeregt in die Hände.

Ich rolle mit den Augen. »Willst du mit?« »Nein.« Er schlägt mein Notizbuch zu und schiebt es zurück in meine Schreibtischschublade. »Ich habe keinen Bock, danebenzustehen und zu lauschen, während du mit Leuten, die sich ernsthaft dafür interessieren, über Autos redest.«

Nachdem ich Tuck zu Hause abgesetzt habe, brauche ich fünfzehn Minuten bis zu McConnells Autowerkstatt. Ich biege mit meinem Auto in die Werkstatt und entdecke Alex, einen der Mechaniker, der über den Motor eines VW Käfers gebeugt dasteht. Alex war im letzten Jahr einer von Dads Studenten. Mein Vater hat irgendwann nach einer Unterrichtsstunde herausgefunden, dass Alex Autos repariert. Er hat ihm von dem 1972er Monte Carlo erzählt, den ich restauriere, und Alex hat mir von da an geholfen, Teile für mein Auto zu bekommen.

»Hey, Kiara.« Er wischt sich die Hände an einem Tuch ab und bittet mich zu warten, während er das Radio holt. »Hier ist es«, sagt er und öffnet den Karton. Er zieht das Radio heraus und wickelt es aus seiner Luftpolsterfolie. Die Drähte auf der Rückseite stehen ab wie dürre Beinchen, aber es ist genau richtig. Ich weiß, ich sollte wegen eines Radios nicht so aus dem Häuschen sein, aber mein Armaturenbrett wäre ohne es nicht vollständig. Dasjenige, das ursprünglich in meinem Auto war, hat nicht funktioniert, und seine Plastikfront hatte Sprünge. Deshalb hat Alex im Internet nach einem authentischen Ersatz gesucht.

»Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, es auszuprobieren«, sagt er und wackelt an jedem Draht, um sicherzugehen, dass keiner lose ist. »Ich musste meinen Bruder vom Flughafen abholen, deswegen konnte ich nicht eher kommen.«

»Ist er zu Besuch aus Mexiko?«, frage ich.

»Er ist nicht zu Besuch. Er wird ab morgen Senior an der Flatiron sein«, sagt er, während er mir eine Rechnung schreibt. »Auf die gehst du doch auch, oder?«

Ich nicke.

Alex legt das Radio zurück in den Karton. »Brauchst du Hilfe beim Einbau?«

Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich es allein schaffen würde, aber nachdem ich es gesehen habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. »Vielleicht«, erwidere ich. »Als ich letztes Mal Drähte löten wollte, waren sie danach hin.«

»Dann zahl heute noch nicht«, sagt er. »Wenn du morgen nach der Schule Zeit hast, komm vorbei, und ich bau es dir ein. Auf diese Weise kann ich es auch in Ruhe ausprobieren.«

»Danke, Alex.«

Er sieht von der Rechnung auf und klopft mit seinem Stift auf den Tresen. »Ich weiß, das hört sich bestimmt loco an, aber kannst du meinem Bruder helfen, sich in der Schule zurechtzufinden? Er kennt noch niemanden.«

»Wir haben ein Buddy-Programm für solche Fälle«, sage ich, stolz, helfen zu können. »Ich kann euch morgen im Büro des Direktors treffen und mich als sein Buddy eintragen lassen. « Die alte Kiara wäre zu schüchtern dafür gewesen und hätte dieses Angebot nie gemacht, aber das gilt nicht für die neue Kiara.

»Ich muss dich warnen …«

»Wovor?«

»Mein Bruder ist manchmal nicht leicht im Umgang.«

Meine Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, denn wie Tuck gesagt hat: »Ich liebe die Herausforderung.«