Inhalt

I.    LITERATUR

1.   Gattung und Form – Eine Sekundärtextanalyse zu Rudolf von Ems „Der guote Gêrhart“

Stefan Schweizer

1.1   Einleitung und Themeneinführung

1.2   Gang der Untersuchung

1.3   Hauptteil

1.3.1   Gattungskategorisierungen des „Guten Gerharts“ in Literaturgeschichten

1.3.1.1   De Boor: Exemplum bzw. Legendendichtung

1.3.1.2   Bäuml: Nachklassisch-chronistische Prosa

1.3.1.3   Bumke: Höfische Literatur

1.3.1.4   Walz: Späthöfische Epoche

1.3.2   Detailanalysen

1.3.2.1   Sengle: Patrizierdichtung

1.3.2.2   Ertzdorff: Höfischer Roman

1.3.2.3   Zöller: Eine Bispelgeschichte

1.4.  Zusammenfassung und Ausblick

1.5   Literatur

2.   Kleine Epochengeschichte – Aufklärung, Romantik und Realismus

Stefan Schweizer

2.1   Probleme von Epochenkonstrukten und Spezifizierung der Vorgehensweise

2.2   Aufklärung

2.3   Romantik

2.4   Realismus

2.5   Fazit

3.   Sprachräume und Lokalitäten – Personenkonstellationen und soziale Einordnungen in Schnitzlers Reigen

Gertraud Johne/Stefan Schweizer

3.1   Einleitung

3.2   Begegnungsorte

3.2.1   In aller Öffentlichkeit – Die Kontingenz der Begegnung

3.2.2   Private Räume

3.2.3   Gekaufte Privatheit und der Kitzel des beinahe Öffentlichen

3.3   Sprache

3.3.1   Hochsprache und dialektales Sprechen

3.3.2   Die Sprache der Besänftigung

3.3.3   Adel und Bohème

3.4   Schluss

3.5   Literatur

4.   Impressionistische Sexualmoral bei Arthur Schnitzler?

Stefan Schweizer

4.1   Vorüberlegungen: Literatur- und Kulturwissenschaft

4.2   Sozialgeschichtliche Implikate des Impressionismus

4.3   Impressionismus

4.4   Schnitzler und sein Werk

4.5   Der „Reigen“

4.6   Schluss

4.7   Literatur

II.   KULTUR

5.   Nonverbale Kommunikation: Signale zwischen Menschen – Formen nichtsprachlicher Kommunikation

Stefan Schweizer

5.1   Einleitung

5.1.1   Zur Person des Autors

5.2   Kommunikation durch geruchliche Signale oder die olfaktorische Kommunikation

5.3   Kommunikation durch Berührungssignale oder die taktile Kommunikation

5.4   Kommunikation durch hörbare Signale oder akustische Kommunikation

5.5   Kommunikation durch sichtbare Signale oder die visuelle Kommunikation

5.5.1   Proxemik

5.5.2   Gestik

5.5.3   Kopfnicken und Kopfschütteln

5.5.4   Mimik

5.5.4.1   Lächeln

5.5.4.2   Weinen

5.5.4.3   Das finstere Brauenzusammenziehen

5.5.4.4   Das Naserümpfen

5.5.4.5   Das Ekelgesicht

5.5.4.6   Fazit des Kapitels Mimik

5.6   Symbolische Kommunikation – ein Beispiel aus Hochland-Neuguinea

5.7   Literaturverzeichnis

6.   Evolutionäre Erkenntnistheorie

Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer

7.   Mehrdimensionalität künstlerischer Selbstreflexivität in Wenders „Hammett“

Stefan Schweizer

7.1   Dashiell Hammett

7.2   Gattung

7.3   Selbstreflexivität der Kunst und das Überlappen realer und fiktiver Identitäten

7.4   Der Film als Bewertung der schreibenden Kunst

7.5   Isolation des Protagonisten und Beziehungen

7.6   Filmbezüge

7.7   Umherirren und Suchen

7.8   Zusammenfassung

8.   Die Schwierigkeit, neue Akzente zu setzen

Stefan Schweizer

III.  IDEENGESCHICHTE

9.   Leviathan und Lauschangriff

Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer

9.1   Einleitung

9.2   Grundgemeinsamkeiten von Kontraktualisten

9.3   Prinzipien der (rationalen) Rekonstruktion

9.3.1   Similarität

9.3.2   Präzision

9.3.3   Konsistenz

9.4   (Rationale) Rekonstruktion von Hobbes' „Leviathan“

9.4.1   Biographischer Abriss von Hobbes' Leben und Skizzierung historischer Ereignisse bzw. sozialgeschichtlicher Implikate

9.4.2   Hobbes' Wissenschaftsverständnis

9.4.3   Das Menschenbild in Hobbes‘ „Leviathan“

9.4.4   Der Naturzustand in Hobbes‘ „Leviathan“

9.4.4.1   Die natürlichen Gesetze und Verträge in Hobbes‘ „Leviathan“

9.4.5   Der Vertrag in Hobbes‘ „Leviathan“

9.4.6   Monarchie, Aristokratie und Demokratie im „Leviathan“

9.4.6.1   Machtfülle des Staates in Hobbes‘ „Leviathan“

9.4.7   Über bürgerliche Gesetze, bürgerliche Freiheit, bürgerliche Rechte und Pflichten in Hobbes‘ „Leviathan“

9.4.7.1   Über Verbrechen, seine Bestrafung und über irreguläre Vereinigungen in Hobbes‘ „Leviathan“

9.5   Problemlösung anhand der (rationalen) Rekonstruktion

9.5.1   Problemvorstellung und Begriffsklärungen

9.5.2   Möglichkeit zweier unterschiedlicher Lösungsansätze

9.5.3   Erster Lösungsvorschlag

9.5.4   Alternativlösung

9.5.5   Abwägen beider Lösungsvorschläge

9.6.  Abschlussdiskussion

10. Mensch und Staat: Antworten des Kontraktualismus

Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer

10.1 Einführung

10.2 Hobbes

10.2.1 Herleitung des Staatsvertrages

10.2.2 Exkurs: Vergleich mit dem französischen Existentialismus

10.2.3 Die Naturgesetze

10.3 Rousseau

10.3.1 Wider die Gesellschaft

10.3.2 Volonté générale und volonté; de tous

10.4 Der Versuch eines Vergleiches von Hobbes und Rousseau: Ist der Mensch ein Mensch vor oder nach dem Gesellschaftsvertrag?

11. Hobbes und Locke: Fallbeispiel Speichelprobe. Politische Ideengeschichte zur Legitimierung von Politik

Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer

11.1 Problem

11.2 Politisches Problem

11.3 Reformulierung als politikwissenschaftliches Problem

11.4 Alltagsperspektivische Abgrenzung und Problemspezifizierung

11.5 Wissenschaftsperspektivischer Argumentationsgang

11.5.1 Begründete Analyserasterwahl und Modellrekonstruktion

11.5.2 Hobbes' Modell

11.5.2.1 Problembezogene Ausrichtung des Modellzusammenhangs, empirisches Relativ und Problemlösung

11.5.3 Lockes Modell

11.5.3.1 Problembezogene Ausrichtung des Modellzusammenhangs, empirisches Relativ und Problemlösung

11.6 Problemlösung und Fazit

11.7 Literatur

12. Die Begründung staatlicher Gewalt – Legitimationsbeispiele der Politischen Ideengeschichte

Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer

12.1 Einleitung

12.2 Einordnung in den Unterrichtszusammenhang

12.3 Fachwissenschaftliche Analyse und didaktische Begründung des Unterrichtsstoffs

12.4 Begründung des methodischen Vorgehens

12.5 Formulierung der Lernziele

12.6 Geplanter Unterrichtsverlauf

12.7 Literatur

12.8 Tafelbild zu Hobbes

12.9 Materialien

13. Terrorismus und Internationale Politik – Der Neorealismus und der 11. September

Stefan Schweizer/Pia-Johanna Schweizer

13.1 Problem

13.2 Politisches Problem

13.3 Politikwissenschaftliches Problem

13.4 Alltagsperspektivische Abgrenzung und Problemspezifizierung

13.5 Wissenschaftsperspektivischer Argumentationsgang

13.5.1 Begründete Analyserasterwahl und Modellrekonstruktion

13.5.2 Problembezogene Ausrichtung des Modellzusammenhangs und empirisches Relativ

13.6 Problemlösung

13.7 Literatur:

14. Moderne Demokratietheorie – Demokratie und Staatsbürger

Stefan Schweizer

14.1 Moderne Theorie der Demokratie

14.2 Pluralismus

14.3 Fragekatalog Grundrechte

14.4 Das Bundesverfassungsgericht und der Demokratiebegriff

15. Verschwörungstheoretiker auf dem Vormarsch

Stefan Schweizer

I.    LITERATUR

1.      Gattung und Form – Eine Sekundärtextanalyse zu Rudolf von Ems „Der guote Gêrhart“

Stefan Schweizer

1.1     Einleitung und Themeneinführung

Vor dem Hintergrund des Booms kulturwissenschaftlicher Ansätze und Theorien in der Literaturwissenschaft erlangen traditionell-philologische Vorgehensweisen schnell den Ruf des Ordinären und Veralteten. Dies gilt auch für sogenannte formalistische Ansätze. Im Folgenden soll demonstriert werden, dass man (alleine) an Hand der Frage der Gattung literarische Produkte umfassend und tiefgründig analysieren kann. Der Aufsatz bewegt sich allerdings nicht auf der Ebene einer Primärtextanalyse. Vielmehr werden Sekundärliteraturtexte aus verschiedenen Zeitpunkten hinsichtlich der Gattungsfrage des „Guoten Gêrhart“ analysiert. Auf einer Beobachtungsstufe dritten Grades ergibt sich somit ein gehaltvoller wissenssoziologischer Ansatz, welcher zugleich Erkenntnis über den Primärtext und die Sekundärtexte erlaubt.1 Hierbei sollten die Differenzen zwischen den Eigenbeschreibungen historischer Systeme und den durch wissenschaftsimmanente Beobachter vorgenommene Fremdbeschreibungen späterer Zeiten zumindest immanent bewusst sein. Dieses Diktum Luhmanns gilt ebenso für mittelhochdeutsche Literatur. In diesem Aufsatz werden Forschungsstandpunkte und Positionen zu Rudolf v. Ems Werk „Der gute Gerhart“ referiert.

Diese entstammen unterschiedlichen Zeitpunkten. Somit verfährt der Aufsatz zugleich diachron und wissenschaftshistorisch. Zuerst wird ein Aufsatz aus dem Jahre 1950 von dem Heidelberger Germanisten Friedrich Sengle dargelegt und kritisch gewürdigt. Dieser Aufsatz wirkte zu seiner Zeit sehr aufsehenerregend, und er produzierte viel wissenschaftlichen Widerspruch, da er in der Forschung bisher stark vernachlässigte bzw. nichtbeachtete Aspekte an das Tageslicht brachte. Quasi als eine mögliche Gegenposition zu Sengle wird die 1967 publizierte Position Xenja v. Ertzdorffs dargestellt. Bei Ertzdorffs Werk handelt es sich um eine größere Abhandlung über die höfischen Romane des 13. Jahrhunderts. Als letzter Abschnitt wird dann die neuere Forschung von Sonja Zöller aus dem Jahre 1993 mit einbezogen und untersucht. Hierbei handelt es sich um eine Dissertation über Rudolf v. Ems' Dichtung „Der guote Gêrhart“.

Vor dieser detaillierteren Analyse von Forschungsstandpunkten erfolgt ein kurz gehaltener Überblick über Darstellungen des „Guten Gerharts“ in Literaturgeschichten. Gemeinsam ist diesen Texten, dass sie nicht ihr Hauptaugenmerk auf die Gattungsfrage des „Guten Gerhart“ legen, sondern eher inhaltlich-thematische Aspekte, epochengeschichtliche Skizzierungen sowie sozialgeschichtliche Implikate fokussieren. Gattungswissenschaftliche Detailfragen werden an diesen Orten weniger ausführlich diskutiert. Trotzdem ist es interessant zu untersuchen, welche gattungstheoretischen Ansätze hier Präferenz erfahren. Ferner lohnt es, einen Blick auf die jeweils gegebene Begründung zu werfen. Um die große Diversität und mögliche Gegensätzlichkeit bzw. Nähe der Gattungsklassifizierungen des „Guten Gerhart“ aus derartig beschaffenen

Sekundärliteraturwerken zu belegen, werden bereits an dieser Stelle zwei Beispiele dafür gegeben. Martini sieht im „Guten Gerhart“ „die ständische Gebundenheit des höfischen Romans“2 als durchbrochen an, während Gla- ser/Lehmann/Lubos den „Guten Gerhart“ unter der Gattung der Novelle subsumieren und gesellschaftlich-soziale Veränderungen nicht direkt beim Namen nennen.3 Beide Ansätze müssen sich trotz der scheinbaren Gegensätzlichkeit nicht unbedingt ausschließen, da man z. B. die Durchbrechung von Standesschranken unter starren Gesellschaftsstrukturen als eine solch unerhörte Begebenheit betrachten kann, so dass diese als ein vorzügliches Novellenkriterium fungieren kann.

1.2    Gang der Untersuchung

In älterer Sekundärliteratur findet sich zumeist eine relativ späte Datierung von Rudolf v. Ems' Werk „Der gute Gehrhart“: so z. B. auf nach 1230.4 In der neueren Forschung hingegen wird die Dichtung auf einen wesentlich früheren Zeitraum, nämlich zwischen 1208 und 1212, datiert.5

Nicht nur die richtige Datierung bereitet Schwierigkeiten, sondern man kann behaupten, dass das Werk in mehr als nur einer Hinsicht problematisch ist. Es stellt bis zum heutigen Tage Literaturwissenschaftler vor viele unaufgelöste Ungereimtheiten, Fragestellungen, Rätsel und Probleme. Eine dieser Frage- und Problemstellungen, die bis zum heutigen Tage nicht zufriedenstellend aufgelöst worden ist, umfasst die in der wissenschaftlichen Diskussion lebhaft und konträr geführte Frage, welcher Gattung die Dichtung zuzuordnen ist. Zwei zentrale Fragen des Aufsatzes können so formuliert werden:

In welche Gattungskategorie wird Rudolf v. Ems' Werk „Der gute Gerhart“ in der Sekundärliteratur eingeordnet?

Ist der Versuch einer solchen Gattungszuordnung überhaupt zulässig und sinnvoll?

Die erste Frage ist – dies sei an dieser Stelle vorweggenommen – kaum eindeutig auflösbar, da „Der gute Gerhart“ unterschiedlichste, einander beinahe antithetisch gegenüberstehende Gattungsmerkmale aufweist. Die zweite Frage wird hier trotz der schieren Unmöglichkeit einer eindeutigen Beantwortung von Frage eins zunächst einmal pauschal mit einem „Ja“ beantwortet. Der Aufsatz soll mitunter eine Begründung für die Bejahung dieser Frage sein und versuchen, eine Argumentationslinie zu entfalten, die den der Gattungsfrage innewohnenden Gehalt ersichtlich werden lässt.

Der Forschungsstand ist bei der Gattungskategorisierung von Rudolfs Dichtung nicht zufriedenstellend. Das ist nicht (nur) defizitärer Forschungsarbeit zuzuschreiben, sondern resultiert aus einem sehr komplex konstruierten und einem äußerst vielschichtigen Werk.

Im Aufsatz wird nicht der Versuch unternommen, neue Forschungsansätze und/oder Forschungsperspektiven zur Gattungsproblematik des „Guten Gerhart“ zu erarbeiten bzw. zu eröffnen. Dies würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. Vielmehr werden verschiedene Forschungsansätze auf die Gattungsproblematik von Rudolfs Dichtung „Der Gute Gerhart“ in einem am ehesten als eklektisch zu bezeichnenden Verfahren hin durchgesehen und die jeweiligen Forschungsergebnisse präsentiert. Wo es für angebracht gehalten wird, wird auch eine kritische Würdigung an verschiedenen inhaltlichen (und eventuell formalen) Punkten stattfinden. Der Aufsatz ist in fünf Teile gegliedert. Im Gegensatz zu den vier kurz dargestellten Ansätzen aus Literaturgeschichten, werden drei Ansätze ausführlicher diskutiert und gewürdigt. Jeder dieser drei Ansätze wird als ein Hauptteil betrachtet. Inhaltlich-thematische Aspekte werden bei diesen drei verschiedenen Interpretationsansätzen im Vordergrund stehen und diese werden Schlussfolgerungen über die Gattungsbeschaffenheit des „Guten Gerharts“ erlauben. Dabei ist zu sagen, dass manchmal nicht offensichtlich mit der Gattungsproblematik in Zusammenhang stehende Aspekte für diese doch überraschenderweise aufschlussreich sein können. Im fünften Arbeitsschwerpunkt, dem Schlusskapitel, werden die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel kurz und pointiert referiert. Es wird der Versuch unternommen, die verschiedenen Ansätze zur Gattungsthematik in ein grobes Klassifizierungsraster einteilen zu können. Aus diesem Klassifizierungsraster heraus wird zu belegen versucht, dass die verschiedenen Ansätze – entgegen den ersten Eindrücken – nicht unbedingt allzu weit voneinander entfernt liegen müssen.

Die größtenteils kontrovers geführte Debatte um die Gattungsproblematik lässt sich mit dem Argument rechtfertigen, dass durch mögliche Gattungsverschiebungen auch inhaltliche Themenverschiebungen stattfinden können. Diese Themenverschiebungen können z. B. so aussehen, dass im Gegensatz zur vorherigen mittelalterlichen Dichtung "ritterlich-höfische Tugenden und Ideale offensichtlich nicht (mehr, S.S.) die eigentlich ritterliche, d. h. adelige oder ministerialische Welt zur Voraussetzung haben.“6 müssen. Wenn das Diktum stimmt, dass die Form eines Werkes seinen Inhalt bestimmt, ist es von äußerster Relevanz, Gattungskategorisierungen vornehmen zu können, um die inhaltlichen Aspekte richtig gewichten und bewerten zu können. Dass dies insbesondere beim "Guten Gerhart" Not tut, wird im Folgenden kurz zu erklären sein.

1.3    Hauptteil

Für den „Guten Gerhart“ ist das folgende Bibelzitat von besonderer Bedeutung: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in Gottes Reich kommt“ (Matthäus 19,24). Im „Guten Gerhart“ wird ausdrücklich betont, dass ein reicher Kaufmann dem Reich Gottes durch sein gottgefälliges, aber durchaus weltlich orientiertes Leben und Verhalten nahe ist und aussichtsreiche Chancen besitzt, als Reicher in das Reich Gottes einziehen zu können. Diese an sich schon brisante Thematik wird gesteigert. Der Kaufmann wird dem Kaiser durch Mithilfe von Engeln und damit göttlicher Hilfe als positives Beispiel für Gottgefälligkeit und Demütigkeit vorgestellt. Kaiser Otto versündigt sich, weil er anmaßende Stellungnahmen zu seinen eigenen Taten vor Gott äußert und Kaufmann Gerhart erfährt eine ethische Handlungsmotivation alleine durch Gottes Gebot.7 Die Demütigkeit des Kaufmanns Gerhart liegt v. a. darin begründet, dass er, ganz im Gegensatz zum Kaiser, sich nicht vor Gott seiner Taten rühmt und in einem als kaufmännisch zu betrachtendem Verfahren seinen Himmelsplatz errechnen möchte. Die Thematik dieser Gottesnähe und Gottgefälligkeit anhand eines Großkaufmanns und Fernreisekaufmanns zu exemplifizieren war bis zum „Guten Gerhart“ in der mittelalterlichen Literatur nicht vorgekommen und undenkbar, weswegen eine inhaltliche Innovation Rudolf v. Ems' Werk „Der gute Gerhart“ immanent ist. Dies ist in der Sekundärliteratur einhelliger Tenor. Dabei kommt es aber auf die unterschiedlichen Gewichtungen an, die man diesen Innovationen konzediert. Ob Neuerungen im Bereich der Gattung stattgefunden haben, wird im Folgenden anhand von Sekundärliteraturtexten zu untersuchen sein.

1.3.1    Gattungskategorisierungen des „Guten Gerharts“ in Literaturgeschichten

1.3.1.1 De Boor: Exemplum bzw. Legendendichtung

Die „Geschichte der deutschen Literatur Band II“ von de Boor und Newald stellt fest, dass in Rudolf v. Ems' Dichtung „Der gute Gerhart“ zum ersten Mal der Stand des Bürgers als Neuerung und Erweiterung zu den bis dahin in der mittelalterlichen Literatur häufig auftauchenden Ständen der Geistlichen, Ritter und Bauern hinzugefügt wird.8 Aus dieser Aussage ergibt sich, dass de Boor in der Dichtung vorkommende Standestransparenzen zwischen bürgerlichen und ritterlichen bzw. adeligen Ständen erkennt. Seine Gewichtung in der Gattungskategorisierung legt er aber auf die Rahmengeschichte mit ihrem Exemplum und

dessen Nähe zur Legende.9 Aus den transparenter gewordenen Standesschranken zieht de Boor folglich keine gattungstechnischen Konsequenzen. Sowohl das Exemplum als auch die Legende sind zwei Gattungen, welche lange Zeit vor Rudolfs Dichtung „Der gute Gerhart“ existierten. Unter Exempel sind „allgemein kurze Erzählformen mit prakt. Nutzanwendung“10 zu verstehen, welche sowohl in epischen Werken als auch in Predigten vorkommen können. Legende meint die „Darstellung einer heiligmäß., vorbildhaften Lebensgeschichte oder einzelner exempl. Geschehnisse daraus.“11 Als eigentlich neues Moment am "Guten Gerhart" sieht de Boor, dass real-historisches Hintergrundgeschehen in die Dichtung mit einbezogen wird und ferner, dass „der Einstrom der staufisch-höfischen Idealität in den Bezirk der Legende.“12 spürbar wird.

De Boor erkennt und benennt die wesentlichen innovativen literarischen Neuerungen im „Guten Gerhart“. Er betont, dass zum ersten Mal ein Kaufmann in einer durchweg positiven Art und Weise in einer Dichtung dargestellt wird. Auch das eigentlich Revolutionäre daran, dass diese positive Darstellung sich im religiösen Bereich abspielt, wird von de Boor benannt. An dieser Stelle wäre meines Erachtens allerdings eher auf den in der Dichtung beinahe ständig existenten Dualismus des säkularisiert-kaufmännischen und des religiös-transzendenten Charakters hinzuweisen. Tiefgreifende, die Gattungsthematik betreffende Konsequenzen zieht de Boor aus seinen Erkenntnissen nicht. Alte, bis zu diesem Zeitpunkt tradierte Gattungsformen wie das Exemplum und eng damit verbunden die Legendendichtung halten trotz der analysierten thematischen Neuerungen als Gattungskategorisierung(en) her.

1.3.1.2 Bäuml: Nachklassisch-chronistische Prosa

Gedanklich knüpft Franz. H. Bäuml in der „Geschichte der deutschen Literatur“ an de Boor an, ohne allerdings dessen Gattungsanalyse und - kategorisierung nachzuvollziehen. Einig ist Bäuml mit de Boor in dem Punkt, dass staufisch-höfische Idealität das Neue am „Guten Gerhart“ ist; allerdings in einem pseudogeschichtlichen Rahmen mit einem Kölner Kaufmann als Protagonisten.13 Bäuml betont, dass der „Gute Gerhart“ sowohl räumlich als auch zeitlich bestimmt ist: „die Zeit Ottos I. und die Stadt Köln ergeben einen Rahmen, der die vom Guten Gerhart, einem Kaufmann, erzählte Geschichte in Verbindung bringt mit identifizierbarer, außerpoetischer Welt.“14 Bäumls Ansatz geht also dahin, eine Entfiktionalisierung der Dichtung festzustellen. Außerpoetische Realität wird in Fiktionales transformiert. Gattungstechnische Transformierungen sieht er in diesem Vorgehen nicht. Die eigentliche Gattungsklassifizierung Bäumls muss man der Kapitelüberschrift „Der nachklassische Roman und die chronistische Prosa“15 entnehmen. Durch den Terminus nachklassisch soll suggeriert werden, dass es sich nicht mehr um Reinformen der höfischen Dichtung handelt, wobei unter höfischer Dichtung eine „Sammelbez. für Dichtung, die sich themat. Und formal an einer höf. … Adelsgesellschaft ausrichtet und sie ihrerseits mitprägt.“16 verstanden wird. Bäuml sieht im „Guten Gerhart“ Gattungsmischformen verschiedenster Couleur, welche die Eigenartigkeit des Werkes ausmachen. Unter dem Begriff der chronistischen Prosa ist wohl der Einbruch realhistorischer Ereignisse in mittelalterliche Fiktion gemeint. Die genauere Analyse und Beschreibung dieser Gattungsmischformen beim „Guten Gerhart“ unterbleibt aber bei Bäuml.

1.3.1.3 Bumke: Höfische Literatur

Zu einem anderen Ergebnis als de Boor und Bäuml kommt Joachim Bumke in seiner „Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter“. Dieser weigert sich, den „Guten Gerhart“ als Patrizierdichtung oder „auf die Interessenlage der Ministerialiät (hin, S.S.) festgelegt.“17 zu interpretieren. Zum ersten Mal stehe in der höfischen Literatur ein Kaufmann im Mittelpunkt und dieser erlange eine sonst nur Adligen vorbehaltene Vorbildlichkeit, worin er die Widerspiegelung der „Entwicklung der Stadtwirtschaft und der Stadtgesellschaft in dieser Zeit.“18 sieht. Bumkes, auf dieser Analyse basierende, Schlussfolgerungen gehen nicht dahin, zu vermuten, dass zumindest eine periphere Gattungsverschiebung zu der von ihm verneinten Patrizierdichtung stattgefunden hat, sondern dass ein Stück höfischer Literatur mit all dessen (typischen) Gattungsmerkmalen vorliegt. Diese Argumentation gipfelt in der Aussage, dass es im „Guten Gerhart“ keineswegs um die Darstellung eines steigenden Selbstbewusstseins des Bürgertums geht, sondern im Gegenteil, dass Gerharts Handlungen (bzw. die Handlungsstränge der Dichtung) darauf bestrebt seien, die eventuell ins Wanken geratene ständische Ordnung wiederherzustellen.19

1.3.1.4 Walz: Späthöfische Epoche

Hubert Walz sieht Rudolf v. Ems Werk „Der Gute Gerhart“ in "Die deutsche Literatur im Mittelalter" als der späthöfischen Epoche zugehörig an und behauptet, dass anhand dieser Dichtung „einige charakteristische Züge der späthöfischen Dichtung aufgezeigt werden.“20 können. Die Tendenz seiner Charakterisierung und Einordnung ist durch diese Aussagen vorgegeben. Sie geht dahin, den „Guten Gerhart“ als höfisches Epos mit eingebauten realhistorischen Geschehnissen zu betrachten.21 Ferner konstatiert Walz, dass der reale Hintergrund sogar im Detail auszumachen sei (räumlichgeographische Bestimmung) und dass zum ersten Mal in der höfischen Literatur ein Kaufmann zum Helden (zumindest in der Binnengeschichte) gemacht wird.22 Erstaunlich ist zunächst, dass diese Beobachtungen in ihren potentiellen Konsequenzen radikal sind, Walz aus diesen Ableitungen aber keinerlei innovative Auswirkungen für die Gattungstypologisierung des „Guten Gerhart“ abliest. So stellt er folgendes fest:

„Im „Guten Gerhart“ ist zum ersten Mal in einem höfischen Epos ein Bürger ein Hauptheld. Die ständische Schranke dieses Romantypus ist durchbrochen. Eine neue soziale Schicht, die vor allem wirtschaftlich schon eine lange Rolle spielte, dringt nun auch in die Literatur ein.“23

Aus diesem Zitat lassen sich mindestens zwei markante Punkte herauslesen und kritisch hinterfragen. Die Gattung bleibt als höfische Literatur tituliert, obwohl die neuartige Literaturfähigkeit eines Standes festgestellt wird. Es wird dieser neuen Bürgerschicht eine große ökonomisch-materielle Relevanz konzediert und ausgesagt, dass es gerade diese Schicht war, die im Begriff war, die alten Standesschranken aufzubrechen. Noch stärker schwächt Walz seine potentiellen Aussagen über eine mögliche Gattungsverschiebung einen Abschnitt später ab, wenn er diktumähnlich als eine Art Schlussfazit behauptet:

„Von einer „bürgerlichen“ Kultur kann jedoch nicht die Rede sein. Denn das Epos ist im Grunde höfisch konzipiert. Das gilt sowohl für die gedankliche Problematik wie auch für die äußere Darbietung.“24 Zwar erkennt Walz eine gewisse Durchlässigkeit der Standesschranken und verweist auf die zunehmende Relevanz bürgerlicher ökonomischer Potenz, jedoch leitet er aus diesen werkimmanenten Akzentuierungen keinerlei Konsequenzen für die Gattungsthematik ab. Man kann sagen, dass er thematische Neuerungen immensen Ausmaßes in bis dahin tradierten Gattungskategorien feststellt.

1.3.2    Detailanalysen

1.3.2.1 Sengle: Patrizierdichtung

Dem heidelberger Germanisten Friedrich Sengle ist es als wissenschaftliche evolutionäre Entwicklung zuzuschreiben, dass er 1950 die Gattungsproblematik von Rudolf v. Ems' Werk „Der gute Gerhart“ unter einem völlig neuen Forschungsansatz betrachtete und damit gleichzeitig den Blick für neue inhaltliche Akzentuierungen und historische Hintergründe des Werkes öffnete und schärfte. Er interpretiert den „Guten Gerhart“ als Patrizierdichtung,25 von welcher er grundlegend behauptet, dass sie insgesamt betrachtet als eine Form der Übergangserscheinung zwischen ritterlicher und bürgerlicher Dichtung angesehen werden könnte.26 Als Patrizier gilt im Mittelalter ein vornehmer, wohlhabender Bürger. Da Sengle seinen verwendeten Begriff der Patrizierdichtung nicht genau definiert, suggeriere ich zwei verschiedene Lesarten des Begriffs in seinem Sinne. Einmal kann Patrizierdichtung bedeuten, dass Literatur im Sinne eines vorherrschenden Mäzenatentums für die Klasse der Patrizier geschrieben wird. D. h., dass dem Dichter ein Auftrag und die damit verbundenen materiellen Zuwendungen von Seiten der Patrizier zugekommen lassen wird. Patrizierdichtung kann aber auch bedeuten, dass das jeweilige Kunstwerk Leben und Lebensweisen der Patrizierklasse als Mittelpunkt besitzt bzw., dass es diese als Basis der Dichtung nimmt. Wie aus Sengles Ausführungen zu schließen ist, vereinen sich beim „Guten Gerhart“ die beiden gerade eben beschriebenen Stränge. Für den Punkt des Mäzenatentums ist dies allerdings nicht ganz eindeutig. Es ist aber anzunehmen, dass für Rudolfs Vorlage (die lateinische Geistlichendichtung) sich eben die Patrizierfamilie Unmâze (wenn auch vielleicht indirekt) als Mäzen verantwortlich zeichnete. Wie Sengle zu diesen nicht en Detail ausgearbeiteten Thesen kommt und aus welchen Aussagezusammenhängen er sie am „Guten Gerhart“ festmacht, wird im Folgenden auszuführen sein. Sengles erste wirkliche Frage in seinem Aufsatz ist von besonderer Wichtigkeit. Es wird nämlich gefragt, inwieweit Rudolf v. Ems der epigonalen Literatur angehöre.27 Genauer betrachtet lautet die Frage, welcher Art von Epigonentum Rudolf v. Ems zuzurechnen sei. Epigonale Literatur wird hier verstanden als: „Bez. für Dichtungen, die geistig und formal im Gefolge der als klass. empfundenen Muster stehen,…, die sich am Vorbild der stauf. klass. Dichtung orientierten (Rudolf v. Ems u. a.)…“28 Sengle stellt zum Thema von Rudolf v. Ems Epigonentum zwei verschiedene Thesen auf. Die erste besagt, dass das eigene Bekennertum Rudolfs zum Epigonentum in seinen eigenen Werken für bare Münze genommen werden müsste und Rudolf damit ohne weiteres als reiner Epigone zu bezeichnen sei.29 Beinahe als konträr zu These eins ist seine zweite zu verstehen. Hier konstatiert Sengle, dass es durchaus möglich sei, „daß umgekehrt das Wissen um die Unerreichbarkeit der Meister die Voraussetzung für das Beschreiten neuer Wege ist.“30 Bei einer Bejahung der ersten Hypothese muss man davon ausgehen, dass Rudolf alleine aufgrund seiner künstlerischen Selbsteinschätzung nicht die tradierten Bahnen der höfischen Dichtung verlässt. Dieser Auffassung zufolge müsste der „Gute Gerhart“ v. a. als (nach-) klassischer, höfischer Roman verstanden werden. Eventuell sind aber auch Interpretationen als Lehr-, Beispiel-, Exempel-, und Lehrdichtung möglich. Gibt man der zweiten Hypothese hingegen den Vorzug dann ist Rudolf v. Ems eine immense dichterische Innovationskraft im Sinne einer innovativen Erschaffung der Patrizierdichtung zuzugestehen. Als Quelle von Rudolf v. Ems „Guten Gerhart“ verweist Sengle auf eine rabbinische Geschichte.31 Diese rabbinische Geschichte war vermutlich Vorlage der eigentlichen Vorlage, die aus einer Kölner Geistlichendichtung bzw. einem Predigtmärlein bestand.32 Bei der eigentlichen Vorlage nimmt Sengle an, dass sie kurz vor 1200 entstanden und mit besonderer Rücksicht auf den realen Kölner Kaufmann Gerhârt Unmâze geschrieben worden sei.33 Auf die Quelle bezogen werden von Sengle logisch stringent und plausibel inhaltliche und strukturelle Parallelen zu Rudolfs Werk aufgezeigt. Eine besonders markante gattungstheoretische Gemeinsamkeit ist das jeweilige Vorkommen einer Rahmen- und Binnengeschichte, sowie im thematischen Bereich eine sogar über rudimentäre Züge hinausgehende identische Handlung. Es ist Sengles Anliegen, anhand der (wahrscheinlichen) historischen und der (gegebenen) fiktiven Figurenkonstellation den real-historischen Hintergrund der Fiktion deutlich zu machen.

Sengle möchte zu belegen versuchen, dass Nicht-Fiktionaltiät in Fiktionen auf sozialgeschichtliche Implikate, die mitunter für die Gattungskonstitution bestimmend sind, hinweisen kann. Sengle betont damit die Wissensbasiertheit von Literatur. Zudem nimmt Sengle eine reale Person als Vorbild für den Protagonisten (der Binnengeschichte) der Dichtung an, wobei es sich nach seinen Überlegungen und Vermutungen um den Kölner Kaufmann Gerhârt Unmâze handelt.34 Als weiteren Beleg für die Vorbildfunktion des Kölnischen Kaufmanns richtet er zunächst sein Augenmerk auf die in dem Werk vorkommenden Reisemotive. Aus der Analyse der Reisemotive auf die Geschichte bezogen ergibt sich für ihn, „daß der geographische Horizont entschieden kölnisch ist.“35 Dieser kölnisch gefärbte geographische Hintergrund der Dichtung wird mit den sehr stark ausgeprägten realen kaufmännischökonomischen Realitäten der damaligen Zeitgeschichte zwischen Köln und England in Korrelation gesetzt.36 Ein weiteres bestechendes Argument für den Charakter einer Patrizierdichtung und die aufstrebende Funktion des Patriziertums ist, daß der Kölner Erzbischof mit der Familie des in der Dichtung vorkommenden Kaufmanns Gerhart gut befreundet ist (4330 ff.)37 Die Reisemotive, eine sehr plausibel erscheinende wirkliche Vorlage für den literarischen Kaufmann (nämlich den Kölner Kaufmann Gerhârt Unmâze wie später bei Zöller en detail zu beweisen versucht wird) und die Freundschaft des Erzbischofs zu der Kaufmannsfamilie ergeben zusammen eine starke Argumentationslinie dafür, dass es sich nicht um höfische, sondern um patri- zische Literatur handelt. Zumindest in der Binnengeschichte ist der Protagonist eben kein Ritter, sondern ein sehr reicher und einflussreicher Kaufmann, der eine Geschichte erlebt, welche dem Kaiser als Exemplum zu dienen hat. Es gibt einen Rollentausch auf religiös-funktionaler Ebene: Der Kaiser ist der Gedemütigte, der bei einem und anhand der Geschichte eines Menschen aus dem bürgerlichen Stand Demut erlernen soll. Nach Sengle geben diese Züge der gesamten Dichtung einen märchenhaft-verklärten Charakter38 und nur dieser kann erklären, dass bürgerliche Geschlechter (in der Literatur, sicher aber auch zeitgenössischen realen Tendenzen entsprechend) nach Hoffähigkeit streben.39 Dieses in der Literatur und Realität vorkommende Streben bürgerlicher Stände nach Hoffähigkeit ist in seiner Radikalität nicht zu unterschätzen. So stellt Sengle fest:

„Einer höfischen Formung scheint die Dichtung des Kölners nicht stilistisch, aber insofern vorgearbeitet zu haben, als sie von der damals bildenden Wirklichkeit des höfischen Kaufmanns, des Patriziers, ausging. Jenseits ihres religiösen Rahmens … mußte die Kölner Dichtung als Verherrlichung des Kölner Patriziats überhaupt wirken,…“40

Als weiteren Beleg einer nicht-höfischen Dichtung nennt Sengle eine in dem Werk festzumachende „Wandlung der Adelsidee“,41 welche er dahingehend beschreibt, dass die Betonung der Gleichheit aller Stände vor Gott ausgesprochen werde, abstrakt-geistliche Momente eine stärkere Akzentuierung erführen und dass ein Begriff des persönlichen Adels wüchse.42 Nur in diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, wenn Sengle an späterer Stelle konstatiert: „Wie immer entspricht der Entmythisierung eine Ethisierung des Weltbildes.“43 Das Weltbild und damit auch die Betrachtung, die Wertung und das Verständnis der Adelsidee an sich sind transformiert worden. Nicht nur gottgegebene oder -geschenkte Aspekte machen die Bewertung und Wertanmaßung eines Menschen aus, sondern es kommt jetzt ganz konkret auf Verhaltensweisen und -arten der einzelnen Menschen an. Nicht mehr nur Geburt, sondern auch „Wesen“ sind für irdische als auch zum himmlischen hinführende Momente entscheidend. Diesen Gedanken kann man auch auf die ökonomische Komponente projizieren: Entscheidend ist faktisch nicht mehr nur, wer die ideelle und konstitutionelle Macht innehat, sondern es ist ein ganz wesentlicher Faktor, wer diese Macht durch ökonomische Potenz zu stützen oder gefährden weiß. Dieser Entmythisierung des Weltbildes entspricht in der Dichtung eine Profanisierung des Ritterlichen, da die Besonderheit dieses Ritterlichen nun auf andere Stände übertragbar geworden ist, denn die (von bürgerlicher Seite ausgetragenen) Feste in London und Köln weisen durchaus alle dem höfischen Roman eigenen Komponenten auf; sie bleiben aber stark als Hintergrunddekoration der Geschichte erkennbar und vermitteln nicht den Eindruck wirklichen Erlebens.44

Diese Beobachtungen Sengles sind zutreffend, jedoch gelten sie meines Erachtens für weite Teile der gesamten Dichtung, was heißen will, dass das unmittelbare Erleben an und in der Dichtung meistens nicht ohne weiteres möglich ist. Man könnte insgesamt auch von einer Annäherung des Bürgerlichen an das Höfische sprechen. In Marokko duzt Gerhart den heidnischen Fürsten (1480), in London bewundert man bei Hofe seine prächtigen Kleider (5343 ff.) und man will ihn schließlich sogar sozusagen als absoluten Kulminationspunkt in London zum König krönen (5508 ff.).45 Es scheint, als ob Standesschranken in einem gewissen Bereich (zwischen Patrizier und Adel) ihre Wirksamkeit verloren haben. Höfischer und bürgerlicher Stand haben Kontaktschwierigkeiten überkommen und finden Formen des gegenseitigen Umgangs. Eine weitere Komponente, welche gegen eine rein höfische Dichtung spricht, ist, dass eine starke Vermengung zwischen höfischen und bürgerlichen Idealen stattfindet. Als einen Beleg dafür nimmt Sengle die Stelle, an der die in Marokko losgekaufte junge Königstochter von Gerhart mit sehr teuren und schönen Sachen ausgestattet wird (2920 ff.). Die Reaktion der Königstochter auf diese Geschenke ist nicht nur – wie damals wohl dem höfischen Stand entsprechend – auf ideeller Ebene vorhanden, sondern verlagert sich auch auf eine materielle Ebene (2940 ff.), denn sie wünscht Gerhart Glück ins seinen (weltlichen, kaufmännischen) Geschäften, „-- eine eigentümliche Mischung des Bürgerlichen und Höfischen“46, wie Sengle kommentiert. Es wurde also von Sengle festgestellt, dass die höfischen Komponenten in ihrer Darstellung im Vergleich zum klassischen höfischen Roman an Gewicht verloren hätten und vor allem als entscheidendes Distinktionskriterium, dass sie auch auf andere Stände übertragbar geworden seien. Sengle verbindet nun das in den Vordergrund tretende bürgerliche und verbindet dieses mit dem der Dichtung innewohnenden geistlichen Moment und kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:

„Bürgervernunft und Geistlichenlehre sind einen Bund eingegangen, welcher dem Höfischen jede selbstherrliche Entfaltung verwehrt. Dennoch hieße es die Dichtung mißverstehen, wenn man sie so an der großen höfischen messen wollte. Man darf bei ihr das Höfische eigentlich gar nicht für sich betrachten. Die geistlichen, höfischen und bürgerlichen Elemente sind eine neue Verbindung eingegangen: die patrizische.“47

Sengle fasst den inhaltlich-thematischen Teil an dieser Stelle meines Erachtens gut und treffend zusammen. Er synthetisiert sozusagen die drei die Dichtung beherrschenden Themenkomponenten zu einer einzigen. Dieser Synthetisierungsvorgang beinhaltet natürlich die Gefahr, Komponenten über- oder unter zu bewerten und eventuell andere Bestandteile ganz außer Acht zu lassen. So könnte man aus jeweilig verschiedenen Standpunkten heraus für eine stärkere Betonung der geistlichen, der höfischen oder der bürgerlichen Komponente plädieren. Würde man die geistlichen Elemente akzentuieren, so müsste man auf die inhaltlichstrukturelle Parallelität von Rudolfs Dichtung zu der vermutlich als Vorlage dienenden Geistlichendichtung bzw. der Quelle hinweisen. Bei einer Betonung der höfischen Komponente sollte man darauf hinweisen, dass Standesschranken insgesamt im offiziellen Rahmen relativ unangetastet bleiben und der als Bittsteller zu Gerhart kommende Kaiser als Held der Dichtung zu betrachten ist. Bei der dritten möglichen Sichtweise wäre zu empfehlen, die im Werk vorkommenden ökonomisch-materiellen und irdischen Bezüge herausstellen. Das bestechendste Argument für eine starke Gewichtung dieser dritten Lesart ist, dass überhaupt zum ersten Mal in einer Dichtung ein Kaufmann als Held einer Binnengeschichte zu Ehren kommt. Dies stellt ein bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorkommendes Novum dar. Wie bereits zu Anfang dieses Kapitels erwähnt, möchte Sengle keine dieser drei Komponenten überbewerten, sondern sieht in der Dichtung eine Übergangserscheinung zwischen bürgerlicher und ritterlicher Dichtung. Diverse Merkmale der bürgerlichen und geistlichen Dichtung macht Sengle noch an einigen formal-stilistischen Merkmalen fest, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird. Sengle konstatiert für Rudolfs Erzählstil, dass dieser sehr knapp, zügig vorwärtsschreitend, aber mitunter auch hingebungsvoll ausfalle.48 Gefühle und Beschaulichkeiten werden alleine für die Höhepunkte der Dichtung aufgehoben49 und Wortspielereien, also eine der mittelalterlichen Dichtung typische Wortornamentik, „scheinen bloße Rhetorik, bloßer „Schmuck“ zu sein.“50 Sengle betont, dass Rudolf ein „Meister der Komposition“51 und "ein umsichtig aufbauender Erzähler“52 sei. Beides zusammengenommen erläutert er anhand des Gewichtsverhältnisses verschiedener Erzählpartien (z. B. Rahmen- und Binnengeschichte) zueinander und anhand von in Erzählvorgängen eingeflochtener Wortspiele, welche die Handlung kunstvoll bremsen bzw. unterstreichen können. Es herrsche ein Auf und Ab des Erzählstils in der Dichtung vor, welches „dem Dualismus von Sachlichkeit und Wunschhaftigkeit“53 entspräche. Erklärt wird dieser Dualismus damit, dass eine bewusste Abwendung vom klassischen Ineinander zugunsten einer Hinwendung zu einem „Nebeneinander von Geist und Sache, Lehre und Erzählung“54 stattfindet. Im „Guten Gerhart“ kommen wie bereits mehrmals erwähnt sowohl geistige als auch säkularisierte Tendenzen zum Tragen. Die Dichtung sei insgesamt betrachtet eine weltliche.55

Untermauert wird diese These dadurch, dass „das Erzählen, nicht die Lehre“56 die Hauptsache in der Dichtung der „Gute Gerhart“ ist. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass nach Sengles Auffassung die weltlichen Tendenzen die geistigen bei weitem überwiegen. Selbstverständlich entspricht es dieser Sichtweise, den „Guten Gerhart“ als Patrizierdichtung zu klassifizieren: Weltliche real-ökonomische Konstellationen überwiegen geistige und auch höfische Komponenten. Die real-ökonomische Potenz des Kaufmanns vermag ein klares Gegengewicht zu höfischen und geistigen Idealen zu setzen. Die Feststellung, dass der Schwerpunkt beim „Guten Gerhart“ auf dem Erzählen liegt, spannt wieder den engeren Bogen zur Gattungsproblematik und -frage und somit ist es nicht überraschend, wenn Sengle konstatiert, dass die Gattungsbezeichnung Erzählung für Rudolfs Dichtung charakteristischer und treffender als Doppelnamenbezeichnungen wie z. B. Legendenroman sei.57 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Sengles Anliegen war, den „Guten Gerhart“ als Patrizierdichtung klassifizieren zu können. Dies ist ihm (größtenteils) logisch stringent und plausibel geglückt. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn er manche seiner Thesen bzw. Aussagen etwas detaillierter ausgearbeitet und begründet hätte. Andere Ansatzpunkte an der Gattungsproblematik können zu ganz anderen Ergebnissen führen. Dies wird im nächsten Kapitel an Xenja v. Ertzdorffs Position demonstriert.

1.3.2.2 Ertzdorff: Höfischer Roman

Xenja v. Ertzdorff stellt mit ihrer Kapitelüberschrift „Die Metamorphose zu den höfischen Romanen I“ ihr Programm auf und legt ihre Tendenz zur Gattungscharakterisierung des „Guten Gerharts“ offen. Es geht ihr bei der Einordnung von Rudolf v. Ems Werk darum, die Dichtung als höfischen Roman klassifizieren zu können. Zunächst stellt Ertzdorff fest, Rudolfs Vorlage sei in einer Predigtgeschichte zu finden, was sie damit begründet, dass diese Art von Literatur zunächst mündlich weiter überliefert würde und Rudolf gleichzeitig Aussage, sie gelesen zu haben.58 Gravierende Einwände bringt sie aber gegen die Gleichheit dieser Vorlage und Rudolfs Werk auf stilistischem Niveau hervor, da Rudolfs Dichtung im Gegensatz zum knappen und skizzenhaften Charakter des Predigtmärleins reichlich ausgeschmückt ist und der Predigtgeschichte höfische Sittenverfeinerung, Beschreibung gesellschaftlicher Konventionen sowie jegliche psychologische Zeichnung fehle.59 Quasi als Neuerung wird betont, dass der Erzähltypus der Streitnovelle dem Ganzen zugrunde liegt, welche sich durch die beiden aneinander anschließenden charakteristischen Fragen auszeichnet: Wer „ist vollkommen, und welche Wege führen zur Vollkommenheit?“60 Diese Fragen beziehen sich auf transzendentale, aber auch weltliche Ebenen, denn durch das vor Gottes Augen vollkommene irdische Leben wird das Tor zum Himmel für das Individuum aufgestoßen. In der konkreten Quellenfrage gehen Ertzdorff und Sengle konform. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass es sich um die jüdische Geschichte von einem Rabbi und einem frommen Metzger handelt, welche „letztlich aus derselben spätantiken Erzähltradition stammt, die uns in den Mönchsgeschichten des 5. Jh.'s erhalten ist.“61 Ertzdorff verweist auch auf die Strukturparallelität bzw. auf die Identität von Rahmen- und Binnenhandlung, allerdings mit der Einschränkung, dass natürlich die soziale Stellung der Menschen in der Quelle eine andere als in Rudolfs Werk sei.62 Einmal handelt es sich um einen Metzger, der einem frommen Rabbi als Vorbild entgegengestellt wird, das andere Mal wird ein Kaiser zu einem im ökonomischen Bereich potenten Kaufmann geschickt, um sich von ihm in Sachen Frömmigkeit und Demut belehren zu lassen. Zunächst scheint Ertzdorff Sengles Argumentationsstrang „zu einer historisierenden Kölner Geistlichendichtung über Kaiser Otto (I.) und einen Kölner Kaufmann Gerhard“63 als Rudolfs wahrscheinlich kurz vor 1200 entstandene Vorlage zu folgen, ohne dies weitergehend zu kommentieren. Nun aber folgen bei Ertzdorff Modifikationen im inhaltlich-thematischen Bereich. Ertzdorff konstatiert drei verschiedene miteinander verknüpfte Erzählstränge in Rudolf v. Ems Werk "Der gute Gerhart": einmal die Rahmen- bzw. Kaisergeschichte, dann der in der Binnengeschichte erfolgende Erzählstrang von Gerharts guten Taten und abenteuerlichen Erlebnissen und schließlich die in der Binnengeschichte vorkommende Geschichte von Wilhelm und Irene.64 Die Einteilung in diese drei Erzählstränge scheint z. T. zu stark konstruiert zu sein, da zum Beispiel schon alleine in der auf Gerharts Erlebnisse fokussierte Binnengeschichte andere Erzählstränge als die von Wilhelm und Irene hervorgehoben werden könnten, man denke dabei nur an Gerharts Auf- und Abtauchen an verschiedenen Adelsstätten, z. B. Marokko und England. Verfolgt man aber Ertzdorffs Argumentation weiter, so argumentiert sie auf dieser Basis und erweitert das Argument der drei Erzählstränge um ein weiteres: „Diese drei miteinander verknüpften Erzählstränge und die psychologische Motivation heben die Geschichte über das Niveau der Predigtexempla weit hinaus.“65 Damit scheidet die Predigtexempla als Vorlage für Rudolf aus, was Ertzdorff zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Geschichte aus einer auf literarischem Gebiet „anspruchsvolleren Schicht geistlicher Erzähltradition als die Exempla“66 stamme. Auf dieser Argumentationsbasis folgend stellt sie fest, – obwohl sie sich an anderer Stelle in dem Kapitel zu diesem Thema zunächst eher Sengles These positiv gegenüberstand – dass Sengles Annahme einer „Kölner Geistlichendichtung zu Ehren einer Kölner Kaufmannsfamilie“67 zumindest nicht zu beweisen sei. Sie subsumiert diese Art der Literatur in einer neuen (und m. E. nicht Sengles Auffassung entsprechenden) Terminologie:

„Sie (die Kölner Geistlichendichtung, S.S.) würde damit in den Kreis hausund sippengebundener lateinischer Adelsliteratur zu zählen sein, … Ob eine derartige Preisdichtung auf ein Mitglied einer Kaufmannsfamilie Ende des 12. Jh's in der Stadt Köln denkbar ist, erscheint mir allerdings solange etwas unsicher, solange nicht Vergleichsstücke beigebracht sind.“68

Ertzdorffs Ansatz zu der Vorlage für Rudolfs Werk unterscheidet sich also entschieden von dem Sengles. Ihr redundant vorgetragenes, wenn auch in feinen Nuancierungen immer wieder variierendes Hauptargument lautet, dass „die Vorlage, die Rudolf von Ems erhielt, das literarische Niveau in Handlungsverknüpfung und psychologischer Zeichnung gehabt haben (muss, S.S.), das auf einen literarisch und theologisch geschulten Bearbeiter schließen läßt, dem dieser anspruchsvollere Erzählfundus zugänglich war.“69 Bis zu diesem Punkt kann man Ertzdorff g g f. zustimmen, obwohl meines Erachtens zu fragen bleibt, ob sie die feinen Differenzierungs- und Nuancie- rungsmöglichkeiten zwischen einer sicherlich nicht so sehr geeigneten Vorlage der Predigtexempla und der von Sengle vermuteten historischen Geistlichendichtung zugunsten eines Kölner Kaufmanns richtig wahrgenommen hat. Auch ist ihr Argument, dass es keine Vergleichsstücke einer solchen Geistlichendichtung zu Ehren eines Kölner Kaufmanns gibt, kritisch zu hinterfragen. Selbst wenn keine Vergleichsstücke existent sind, so ist doch die Existenzmöglichkeit einer solchen Geistlichendichtung nicht ausgeschlossen. Vielleicht stellte diese nicht bewiesene Geistlichendichtung zu Ehren einer Kölner Kaufmannsfamilie ja auch ein gewisses Novum da, welches sich dann in Sengles Sinne auf ein gattungsinnovatorisches Moment im „Guten Gerhart“ niedergeschlagen hat. Ertzdorff vermutet, dass Rudolf seine Vorlage in einem als eklektisch zu bezeichnenden Verfahren aus verschiedensten Quellen, ähnlich der Methodik des Verfassers der Kaiserchronik, zusammengesetzt hat: „historische, pseudohistorische Überlieferung vermischt mit der literarischen Überlieferung der lateinischen Literatur, wie sie im Unterricht der Schulen gelesen wurde, und der monastischen Erzählliteratur, den Heiligenlegenden und Mönchsgeschichten.“70 Allerdings kommt die Selbstüberschätzung und der Hochmut wie im „Guten Gerhart“ durch die absolute superbia, also dem fordernden Gegenübertreten zu Gott, in den anderen höfischen Romanen nicht in dieser Extremform vor,72 Diese germanische und christliche Dichtung kann man als vor- und frühhöfische Literatur kategorisieren und von da aus kann man den Bogen zum „Guten Gerhart“ (als höfischer Literatur) spannen.74