Turhan, Su Tödliche Auszeit

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de

 

Wenn Ihnen dieser Krimi gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Tödliche Auszeit« an empfehlungen@piper.de, und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Getty Images und Shutterstock.com

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Erster Tag

1 Der Ursprung des Verbrechens, das aufzuklären Zeki Demirbilek und sein Migra-Team in Atem halten sollte, beruhte auf fünf Faktoren. Vier davon waren Zufall, Neugier, Lust und Gelegenheit.

Berin Aksals Schicksal war besiegelt, als sie sich an dem Vormittag im Februar vor einem Regenschauer in ein Tagescafé flüchtete. Die Gäste saßen bei Kaffee und Tee, sie waren in Gespräche und Gerätschaften vertieft. Der erste Faktor, Zufall, wollte, dass in dem überfüllten Lokal ein einziger Platz frei geblieben war. Sie setzte sich zu einem Mann im Anzug, der in einen Laptop blickte. Aksal verstand einiges von Computern. Sie erkannte das brandneue Modell und sah den Diebstahlschutz am Tischbein. Ihre Neugier, Faktor zwei, war geweckt. Faktor drei, die Lust zu tun, was sie gut beherrschte, kam hinzu. Sie setzte sich dem Mann gegenüber und zog die Spange aus ihren schwarzen Haaren. Dann hob sie die Hand, um der Kellnerin Bescheid zu geben. Der Fremde ignorierte sie. Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. Er war wohl Anfang fünfzig. Das Haar halblang, grau und gescheitelt. Trotz von Arbeit und Stress gezeichnetem Gesicht wirkte er sympathisch auf sie.

Sie hatte den Kaffee gerade serviert bekommen, als der Mann den Laptop zuklappte und zur Toilette ging. Auf den vierten Faktor, die Gelegenheit, war Aksal vorbereitet. Verschiedene Szenarien war sie im Kopf durchgegangen. An diese, die einfachste, dass er den Tisch verlassen könnte, hatte sie nicht gedacht. Niemand um sie herum beachtete sie. Blitzschnell steckte sie einen daumengroßen Stick in den Slot des Laptops. Auf dem Handy startete sie eine App und legte es umgedreht vor sich ab.

Die Spyware führte noch ihre Programmzeilen aus, um einen Zugang auf dem Fremdgerät zu installieren, als sie den Tischnachbarn zurückkommen sah. Fünfzig Sekunden waren vergangen. Das Programm benötigte zwei Minuten, um sich komplett auf die Festplatte aufzuspielen und die Spuren zu beseitigen. Sie konnte den Vorgang nicht unterbrechen, nicht, ohne sich verdächtig zu machen. Sie musste etwas unternehmen, und sie tat es.

Sie sprang auf und lief quer durch das Café auf den Laptopbesitzer zu. Eine Minute Zeit musste sie gewinnen, zurückkehren und den Stick aus dem Laptop ziehen, bevor er etwas bemerkte. Sie sprach ihn an, ruhig und freundlich fragte sie, ob er auf ihren Rucksack aufpassen könne, während sie zur Toilette gehe. Mit der Frage riss sie ihn aus den Gedanken. Er bat um Entschuldigung, er habe sie nicht verstanden. Sie tat es ihm gleich. Wie er bat sie um Verzeihung und wiederholte ihre Bitte. Er sah zum Tisch und entdeckte ihren Rucksack auf dem Stuhl. Er müsse gleich aufbrechen, warte aber gerne, bis sie zurück sei, erwiderte er mit norddeutscher Färbung in der Stimme. Aksal lächelte dankbar und fragte nach seinem Laptop, ob er zufrieden sei mit dem Modell; es sei ja neu auf dem Markt, sie überlege, sich dasselbe anzuschaffen. Fünfzehn Sekunden gewonnen, rechnete sie. Seine Antwort, wonach der Laptop von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wurde und er erst seit ein paar Tagen damit arbeite, brachte weitere zehn Sekunden Zeit. Die Kellnerin kam Aksal zu Hilfe. Sie bat den Mann und sie, den Weg frei zu machen. Aksal nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich nach dem Kuchenangebot. Der Fremde empfahl ihr den französischen Schokoladenkuchen. Mit gezücktem Notizblock bedauerte die Kellnerin, just der sei aus. Aksal bestellte Käsekuchen mit einer klitzekleinen Portion Sahne, während sie im Kopf die Sekunden herunterzählte und bei einhundertzwanzig landete. Die App hatte sich gerade aus dem fremden System ausgeloggt. Was fehlte, war der Stick.

Sie zauberte ein verschämtes Lächeln auf ihr Gesicht, meinte, die Toilette habe sich erledigt, stornierte ihre Bestellung und schob sich an dem Mann vorbei. Am Tisch beugte sie sich zu ihrem Rucksack, zog dabei unbemerkt den Stick aus dem Laptop und drehte sich um. Der Herr war ihr gefolgt. Er staunte über ihren hastigen Aufbruch. Sie legte das Geld für den Kaffee auf den Tisch.

»Der Regen hat aufgehört«, sagte sie ihm.

Der Mann folgte ihrem Blick durch die Fensterfront. Sonnenstrahlen drangen durch die Wolkenformationen. Der Vormittag verlief anders, als die Wettervorhersage angekündigt hatte. Die Straßen glänzten nass, beschienen von der spät erwachenden Sonne. Menschen strömten aus den Gebäuden und wagten sich nach dem Schauer wieder ins Freie. Augenblicke später sah er die schwarzhaarige Frau mit den dunklen Augen und dem netten, offenen Lächeln an der Kreuzung stehen. Sie schlenderte mit dem Rucksack zur U-Bahn-Station.

Schade, dachte er, sie hätten denselben Weg gehabt.

 

2 Der fünfte Faktor, der zum Ursprung des Verbrechens gehörte, hing mit Berin Aksals besonderen Wohnumständen zusammen: Sie lebte allein und abgeschieden.

Nach dem Verlassen des Cafés stieg sie in die U2 und fuhr bis zur Haltestelle Feldmoching. Die Endstation der Linie lag im Nordwesten Münchens. Bei der Fahrt vergewisserte sie sich und atmete durch. Die von ihr in monatelanger, unbezahlter Arbeit programmierte App funktionierte. Der Laptop des Fremden war infiltriert. Ein Gefühl des Triumphes erfüllte sie. Der Plan war aufgegangen. Bald würde sie wissen, was sich auf dem sündhaft teuren Hightech-Gerät an Informationen tummelte. Mit Informationen bestritt Berin Aksal ihren Lebensunterhalt. Ohne gesicherte Daten war sie nichts, mit ihnen empfand sie sich als mächtig und überlegen.

Fest davon überzeugt, dem Herrn mit den grauen Haaren nie wieder zu begegnen, setzte sie ihren Heimweg zu Fuß fort. Sie erreichte das kleine Haus mit maroder Holzgarage und Vorgarten, in dem sie wohnte. Allein und abgeschieden. Einst war das von Münchnern Teufelshäuschen genannte Gebäude das Zuhause einer fünfköpfigen Familie gewesen. Sie hatte die Tragödie im Netz nachgelesen. Ein Sparkassenangestellter hatte seiner schwangeren Frau sowie ihren Kindern, acht und zehn Jahre alt, jeweils eine Kugel in den Kopf geschossen. Weil er sein eigen Fleisch und Blut mehrfach verfehlt hatte, war keine Munition für ihn selbst übrig geblieben. Bei dem Versuch, sich in der Garage zu erhängen, tauchte ein Spaziergänger auf. Aufgeschreckt von den Schüssen, hatte der Mann die Garagentür eingetreten und ihn gerettet. Irgendwie hatte Berin Aksal mit der Manipulation der Online-Bewerbung den Zuschlag für das Haus erhalten. Nach ihrer Familie, Mann und Kind, die sie bei der Selbstauskunft angegeben hatte, hatte niemand gefragt. Sie hatte Ruhe und Abgeschiedenheit gesucht und sie in dem Häuschen gefunden.

Im Flur entledigte sie sich der Jacke, schlüpfte in Sneakers und eilte zum Arbeitsraum in den Keller. Mit dem Betreten in ihr Heiligstes ertönte Musik. Hart, laut und durchdringend. In einer festgelegten Reihenfolge hauchte sie Computern und Monitoren an der Wand Leben ein. In dreißig Sekunden waren ihre Lieblinge so weit. PCs und Server surrten. Displays flackerten. Sie setzte sich in den Gamer-Stuhl, vollgeklebt mit »Nein«-Aufklebern und von Musikfestivals, die sie besucht hatte. Nachdem sie sich einen Überblick über Gewinn und Verlust ihrer Online-Wetten verschafft hatte, stellte sie eine Verbindung zwischen Handy und einem der Hauptrechner her. Mithilfe der App baute sie sodann den Zugang zum Laptop des grauhaarigen Mannes auf.

Ein Hinweis informierte sie, dass der Remote-Rechner nicht eingeschaltet war. Enttäuscht griff sie nach der Schüssel mit den Gummibärchen. Sie kaute bedächtig und dachte eine Weile nach. Dann gab sie eine Befehlszeile ein, die ihr die Information lieferte, mit wem der fremde Laptop zuletzt verbunden gewesen war. Augen und Gehirn weigerten sich, zu glauben, wer ihr da ins Netz gegangen war. Sie sprang vom Stuhl auf und tanzte sich vor Freude zur peitschenden Melodie den Teufel aus dem Leib. »Shit! Berin!«, schrie sie gegen die ohrenbetäubende Lautstärke der Musik an. »Du Luder! Das wird fett!«

In dem Moment läutete die Glocke des alten Hauses, das selten unangemeldeten Besuch empfing.

Aksal erwartete niemanden. Kein Airbnb-Gast war für den trüben Tag im Februar angemeldet. Paketzusteller hatten die Anweisung, Sendungen in der Garage abzulegen. Aufgedreht von den Möglichkeiten, die sich durch das Entern des Laptops ergaben, vergewisserte sie sich über die Videoanlage. Sie erschrak über die Person, die am Hauseingang auf Einlass wartete. Mit leichter Panik im Herzen drückte sie den Hauptschalter ihres Heimarbeitsplatzes und geduldete sich, bis das System heruntergefahren war.

Kurz darauf öffnete sie mit einem Ruck die Haustür. Die grauen Haare des Mannes aus dem Café glänzten in der Sonne.

»Ach«, sagte Berin Aksal. »Das ist ja eine Überraschung.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Fremde außer Atem. »Ich habe so etwas noch nie gemacht.«

Aksal traute Gefühlen weniger als Zahlen und Algorithmen. Dennoch hatte sie den Eindruck, der sympathische Mann könne nicht für Tod und Schrecken stehen wie der Rüstungskonzern, für den er arbeitete. »Sie sind mir nachgestiegen. Den ganzen Weg vom Café?«

Er lächelte verhalten. »Ich war in derselben U-Bahn wie Sie. Sie sind ganz schön flott zu Fuß.« Er reichte ihr eine Haarspange. »Die haben Sie im Café liegen gelassen.«

Aksal nahm die silbern glänzende Spange und überlegte, ob sie die Zufallsbekanntschaft hereinbitten sollte oder nicht.

Zweiter Tag

3 Zeki Demirbilek stand mit einem wärmenden Glas çay am Fenster seiner Wohnküche und dachte darüber nach, ob er sich freinehmen sollte. Er war uneins mit sich. Die triste Stille am frühen Morgen des fahlgrauen Februartages lud nicht dazu ein, eine Entscheidung zu treffen. Mit dem zweiten Glas çay entschied er sich dagegen, der großen Lagebesprechung im Polizeipräsidium fernzubleiben. Keine weise, eine vernünftige Entscheidung. Dennoch fragte er sich, was er zum Teufel dort verloren hatte. Was hatte sein Sonderdezernat mit der Münchner Sicherheitskonferenz zu tun?

Nach Rasur und Dusche schlüpfte er in den zum Tag farblich passenden grauen Anzug. Der offizielle Anlass verlangte eine Krawatte zum hellblauen Hemd. Im Kleiderschrank entdeckte er Özlems Geburtstagsgeschenk aus dem vergangenen Sommer. Mit vor Stolz funkelnden Augen hatte ihm seine Tochter zum vierundvierzigsten Geburtstag das Werk eines Istanbuler Textildesigners geschenkt. Heute, knapp ein halbes Jahr danach, schien ihm der richtige Tag gekommen zu sein, die Arbeit des geschmacksunkundigen Künstlers der Welt zu präsentieren. Unter Selmas Anleitung knotete er die mit Punkten und Strichen übersäte Krawatte vor dem Flurspiegel. Nach etlichen Versuchen war er zufrieden mit dem Sitz der Schlinge um seinen Hals.

»Danke, canım«, sagte er zum Spiegel. »Legst du dich wieder hin?«

Er lauschte.

»Ja, tu das«, lächelte er. »Bis heute Abend. Ich denke nicht, dass es spät werden wird.«

Elegant gekleidet wie ein italienischer Politiker im Maßanzug, betrat er das Schlafzimmer. Die in Weiß gehaltenen Möbel, Ehebett, Kleiderschrank und Nachtkästchen, waren dieselben wie an dem Tag, als Selma ihn verlassen und zurück in ihre gemeinsame Geburtsstadt Istanbul gezogen war. Nacheinander öffnete er die Schubladen der Kommode. Drei an der Zahl. Jede beherbergte fein säuberlich gefaltete Stofftaschentücher. Ein jedes Exemplar hatte eine Bedeutung für den bayerisch-türkischen Hauptkommissar. Nicht, dass er ihnen Namen gegeben hätte. Wobei ein paar spezielle darunter waren, die nach dem Schenker benannt waren. Rund ein Dutzend Selmas fanden sich in den Schubladen. Mehrere Özlems und Aydins, Mitbringsel oder Entschuldigungskäufe seiner erwachsenen Zwillingskinder. Wenige, dafür umso eigenartigere Exemplare menschlicher Schaffenskunst, trugen den Namen seines besten Freundes Robert. Die Deryas unter den Tüchern, benannt nach seiner ermordeten Freundin, bewahrte er separat auf.

Die Auswahl an Taschentüchern war vielfältig wie das Leben. Einfache Vertreter, meist weiß mit bestickten, zum Teil farbigen Kanten. Edle und besondere Stücke, aufwendig verziert, aus Gegenden der Welt, wo Zeki nie einen Fuß hingesetzt hatte. Ohne selbst zu merken, wofür er sich entschied, wanderten drei Selmas in seine Hosentasche. Gewappnet für die Unwägbarkeiten des Alltags warf er den Mantel über und verließ Münchens einsamste Dreizimmerwohnung.

Unweit des ochsenblutroten Mietshauses, in dem er vor vielen Jahren mit Selma und ihren Kindern eingezogen war, erreichte er die Trambahnhaltestelle. Die Straßenbahn ließ nicht lange auf sich warten. Bald schon fand er sich am Schreibtisch seines Dienstzimmers wieder. Als sein Blick die Wanduhr streifte, zuckte er und blieb stehen. Zeki Demirbilek hatte keine Erinnerung, wie er von zu Hause in das Präsidium gekommen war. Und er verstand nicht, was er morgens um sechs im Büro zu suchen hatte.

 

Der Tag von Oberkommissarin Isabel Vierkant begann ganz anders wie der ihres Vorgesetzten, dem Leiter der Migra. Auf dem Küchentisch in der Neubauwohnung stand eine dampfende Henkeltasse mit dünnem Kaffee. Peter, ihr Ehemann, hatte sich nach dem gemeinsamen Frühstück in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, wo er als freiberuflicher Programmierer mehr oder minder ständig anzutreffen war.

Ein lokaler Radiosender brachte Vorberichte über die Münchner Sicherheitskonferenz am kommenden Wochenende. Vierkant hörte nicht einmal mit einem Ohr zu. Zu fasziniert war sie von den Ausführungen ihrer Tante aus Niederbayern, in denen sie lange nicht mehr geblättert hatte. Zu Lebzeiten hatte die Hausfrau Rezepte in altdeutscher Schrift in einem Schulheft zusammengetragen. Kunstvolle Zeichnungen der Arbeitsschritte und Skizzen der Gerichte komplettierten die Sammlung niederbayerischer Hausmannskost. Der andere, aus der städtischen Bibliothek entliehene Schmöker wartete mit Rezepten aus der türkischen Küche auf. Vierkant versuchte sich in Überlegungen, die beiden Kochkulturen in einen Topf oder in eine Bratpfanne zu bringen. Rindsrouladen mit Hackfleischfüllung kam ihr unter anderem als verwegene Kombination in den Sinn. Doch bald musste sie sich eingestehen, mit ihrer Bemühung, Harmonie in die beiden Welten zu bringen, den Bogen zu überspannen. Das Problem, was sie für das Abendessen, zu dem sie ihren Chef einladen wollte, kochen sollte, war gar kein Problem. Denn sie hatte ihn noch nicht gefragt, aus Sorge, er könne ihre Einladung ausschlagen.

Wie das Schulheft war die Wanduhr ein Erbstück ihrer Lieblingstante. Die Uhr tickte laut und kräftig und schlug zur vollen Stunde. Zeitgleich mit dem Piepsen aus dem Radiolautsprecher. Zeit, aufzubrechen. Das Abräumen überließ sie Peter. Er war den ganzen Tag über daheim. Irgendwann würde er Zeit finden, sich um den Haushalt zu kümmern. Ohne Verabschiedung – eine Vereinbarung, um ihn in der Konzentration nicht zu stören – griff sie nach ihrer Umhängetasche und machte sich auf den Weg ins Präsidium.

Kaum hatte sie die Wohnung verlassen, fiel ihr etwas ein. Sie kramte in den Untiefen ihrer Tasche zwischen Wasserflaschen, Ersatzbatterien, Notfallwaschbeutel, Notizbuch, Zahnstochern und sonstigen unverzichtbaren Utensilien des täglichen Bedarfs herum. Endlich fand sie das, wonach sie suchte. Einen Haargummi, mit dem sie ihre langen schokoladenbraunen Haare zusammenband.

 

4 Zwanzig Minuten später parkte Oberkommissarin Vierkant den Dienstwagen im morgendlichen Berufsverkehr auf der Nymphenburger Straße. Mit eingeschaltetem Radio wartete sie auf ihre Kollegen. Serkan Kutlars schickes Cabriolet war in der Werkstatt. Der U-Bahn-Verweigerer hatte sie gebeten, ihn und Jale Cengiz mitzunehmen. Die zwei jüngeren Beamten aus dem Migra-Team teilten sich mit Jales dreijährigem Sohn Memo eine kleine Wohnung. Das Zusammenleben der drei war nicht einfach, ging ihr durch den Kopf, als die Beifahrertür aufgerissen wurde.

Mit blutverschmiertem Papiertaschentuch über der Nase warf sich Serkan Kutlar auf den Beifahrersitz. Ohne sich zu wundern, holte Vierkant Feuchttücher aus der Umhängetasche. Kutlar griff danach. Mit Blick in den heruntergeklappten Schminkspiegel tupfte er die letzten Blutflecken weg.

Vierkant beobachtete ihn stumm. Der jüngere Kollege sah ihrem Chef nicht ähnlich, trotzdem hatten sie Gemeinsamkeiten. Demirbileks Augenbrauen waren markanter, seine Nase war kleiner, aber prägnanter. Die tiefschwarzen Haare und beider Hang zu Anzügen verband sie am stärksten. Serkan Kutlar hätte gut und gerne als Demirbileks jüngerer Bruder durchgehen können.

Sie kramte nach einem Plastikbeutel aus der Wundertasche und öffnete ihn. Kutlar stopfte die blutbefleckten Tücher hinein und schwieg weiter. Vierkant hatte nicht vor, zu fragen, was geschehen war. Entweder, vermutete sie, hatte er Nasenbluten, einfach so. Oder einen Streit mit Jale.

»Danke«, sagte Kutlar. »Ich hatte Streit mit Jale.«

»Wegen Memo?«, fragte Vierkant.

»Wegen der Spülmaschine. Sie funktioniert nicht«, erwiderte er. »Ich habe mich geduckt und bin an den Schrank geknallt.«

»Porzellan?«

»Memos Plastikschüssel«, erklärte er. »Jale macht noch sauber. Sie kommt mit den Öffentlichen nach. Lass uns fahren. Demirbilek will, dass ich ihn zur Lagebesprechung begleite.«

»War was in der Schüssel?«

Kutlar seufzte. »Biomüsli mit Biobananen und Biojoghurt.«

Regentropfen purzelten aus der grauen Wolkendecke, als Vierkant in Gedanken den Motor startete und den Blinker setzte. Sie drückte auf das Gaspedal, um sich Richtung Königsplatz in den Verkehr einzufädeln.

Jale Cengiz’ aufbrausendes Temperament war nichts Neues, dachte sie. Dass sie mit Dingen um sich warf, war ebenso bekannt. In letzter Zeit war ihr Nervenkostüm jedoch besonders angespannt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie verstand sich seit dem ersten Arbeitstag in der Migra gut mit Jale, die im Herzen Berlinerin geblieben war. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was in der Kollegin vorging, die ihrer Meinung nach viel zu jung Mutter geworden war.

Bei der quälenden Fahrt durch die Stadt dachte Vierkant an den Jahrestag von Derya Tavuks Ermordung vor ein paar Wochen. Jale hatte ein inniges Verhältnis zu Demirbileks Lebensgefährtin. Die Frauen waren vertraut wie Schwestern. An Deryas Todestag hatte sich Jale freigenommen, hatte Memo bei ihr und Peter abgegeben und Serkan gebeten, woanders zu übernachten. Sie verbrachte den Tag allein in der Wohnung, sang türkische Schnulzen, die sie mit Derya gehört hatte, und versuchte, zu kochen wie die Verstorbene. Vielleicht lag es daran, überlegte Vierkant, dass sie Diskussionen anzettelte und Entscheidungen des Migra-Leiters hinterfragte. Ganz so, als hätte Demirbilek Schuld an Deryas Schicksal und nicht der Sexualstraftäter, der Jales engste Freundin vergewaltigt und ermordet hatte.

Serkan Kutlar holte aus der Mittelkonsole ein Tuch und wischte die beschlagene Windschutzscheibe frei. Der Regen nahm zu. Ein trister, wenig Hoffnung spendender Morgen. Er war froh, dass seine Kollegin nicht weiter nachbohrte. Defekte Spülmaschinen waren das geringste Problem im Zusammenleben mit Jale. Genauso wenig wie ihr Sohn Memo. Den Kleinen himmelte er an. Nicht anders als Demirbilek, der seinen ersten und bisher einzigen Enkelsohn über alles liebte und verwöhnte. Dass sich Jale kurz vor der Heirat von Demirbileks Sohn Aydin getrennt hatte, war nun drei lange Jahre her. Bei einem Urlaub in Istanbul hatte er ihn getroffen. Aydin war vollkommen anders als sein Vater. Er brauchte seine Freiheit, wie er die Musik brauchte, mit der er seinen Lebensunterhalt bestritt. Mit unterschiedlichen Bands tingelte der Saxofonist durch die Welt. Dass er Jale betrogen hatte und von ihr vor die Tür gesetzt worden war, darüber hatte er nicht mit ihm gesprochen. Bei Jale war das Thema ebenfalls tabu. Sie behauptete, über die Trennung hinweg zu sein. Serkan wollte ihr glauben, konnte es aber nicht.

»Immer, wenn Jale mit Aydin skypt, ist sie schlecht gelaunt«, sagte er.

»Wann sieht er denn den Kleinen mal?«, fragte sie.

»Wird wohl dauern«, antwortete er. »Soviel ich weiß, spielt er zurzeit in einem Fünfsterneschuppen in Tiflis.«

»Ich bin lieber zu Hause«, sagte sie nachdenklich. »Meins wäre das nicht.«

»Jales auch nicht«, gab er ihr recht. »Wird Zeit, dass Aydin sich um seinen Sohn kümmert. Memo braucht ihn.«

Mit gespielter Sorglosigkeit lenkte Vierkant in vorgeschriebenem Tempo den BMW über den Königsplatz. An der nächsten Kreuzung, direkt an der Hochschule für Musik, stieg von der Querstraße kommend ein Lastwagenfahrer zu stark in die Bremsen. Die glitschige Fahrbahn verzieh ihm das Manöver nicht. Das tonnenschwere Fahrzeug kam ins Schleudern und rammte den Dienstwagen. Der Laster schob den Wagen einige Meter vor sich her. Kurz vor der Bordsteinkante kam der BMW zum Halten. Der Motor surrte weiter. Isabel Vierkant und Serkan Kutlar waren mit dem Schrecken davongekommen.

»So schnell kann’s gehen«, sagte Vierkant und bekreuzigte sich.

Die gläubige Katholikin schloss die Augen und dankte Gott mit einem Gebet, Serkan und sie verschont zu haben.

»Fehlt dir was?«, fragte er sie.

»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte sie.

Kutlar stieg aus und untersuchte das Heck. Eine ordentliche Delle, ein Blechschaden, mehr nicht. Er wandte sich zum Laster, aus dem der Fahrer ausstieg und in einer ihm unverständlichen Sprache etwas rief. Ungläubig starrte er auf das Kennzeichen. Der Lkw stammte aus Georgiens Hauptstadt Tiflis.

 

5 Verspätet und abgehetzt trafen die Migra-Mitarbeiter im Präsidium ein. Umgehend erledigte Vierkant im Dienstzimmer die Papierarbeit wegen des Unfalls. Kutlar eilte weiter zur Lagebesprechung in den Pressesaal. Zeki Demirbilek hielt für seinen jungen Kollegen einen Platz frei. Einen zweiten hatte er hergegeben. Jale Cengiz hatte ihn telefonisch darum gebeten, später zum Dienst erscheinen zu dürfen. Einen Grund hatte sie ihm nicht genannt. In der Regel war irgendetwas mit Memo, wenn er als ihr Vorgesetzter nachfragte. Da nichts Dringliches an aktuellen Fällen zu erledigen war, hatte er nicht nachgehakt. Die eigenwillige Krawatte hatte er abgenommen. Sie lag als Platzhalter auf dem Stuhl. Eiligst stopfte er das Design-Ungetüm in die Hosentasche, als Kutlar auftauchte. Zeit für eine Unterhaltung blieb nicht.

Auf dem Podium traf das Team der Einsatzleitung ein. Mit Routine und Gelassenheit erläuterten die Beamten die Maßnahmen bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Rund viertausend Polizisten sorgten für den Schutz der Gäste und Teilnehmer. Darunter waren sowohl Sicherheitsexperten, Militärs, Politiker, Vertreter der Rüstungsindustrie als auch Staatspräsidenten und Regierungschefs. Aus ganz Bayern abkommandierte Einsatzkräfte unterstützten die Münchner Behörden. Bei den Protestkundgebungen, achtzehn Demonstrationen über die drei Konferenztage verteilt, erwarteten die Ordnungshüter keine Ausschreitungen. Die Veranstalter der Hauptkundgebung am Marienplatz rechneten mit etwa fünftausend Demonstranten aus ganz Deutschland. Eine Projektion veranschaulichte den rot eingefärbten Absperrriegel in der Altstadt. In der Sicherheitszone galt höchste Alarmbereitschaft. Über Zufahrtsschleusen und Durchgänge wurde der Bereich strengstens kontrolliert. Der Leiter des Unterstützungskommandos witzelte, dass der Veranstaltungsort am Promenadeplatz, das Fünfsternehotel Bayerischer Hof, in Hotel Fort Knox umgetauft gehöre.

 

Später an dem regnerischen Vormittag saß Demirbilek an seinem Schreibtisch. Vierkant hatte den Autounfall für sich behalten. War ja nicht der Rede wert, dachte sie, warum an die große Glocke hängen? Kutlar legte mit seinem Bericht über den Stand der laufenden Migra-Ermittlungen los. Müde und unaufmerksam folgte der Leiter des Sonderdezernats seinen Ausführungen. Kutlar merkte, wie abwesend er war. Er sprach langsamer, wurde leiser und verstummte schließlich. Zusammen mit Vierkant beobachtete er ihren Vorgesetzten voller Sorge. Demirbilek zeigte keine Reaktion auf die Unterbrechung. Regungslos starrte er auf die Wanduhr, als zähle er die Sekunden.

Bedrückt von Demirbileks unheimlicher Ausstrahlung, wandte der Jüngste im Team sich an die Oberkommissarin, die mit Notizblock auf dem Schoß ähnlich besorgt war wie er. Die Stimmung fühlte sich anders an als sonst, nicht so, als unternehme ihr Chef einen gedanklichen Ausflug. Die Migra-Mitarbeiter kannten seinen Zustand, wenn er sich zurückzog, wenn er im Geiste den Dschungel aus Aussagen und Fakten und Sachinformationen im Flug durchdrang. Aus der Vogelperspektive ordnete er Verdächtige und Zeugen ein, wägte Schuldwahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit ab. Wenn er abhob, im Geiste flog, um sich adlergleich ein Bild über den Fall zu verschaffen, ließ man ihn besser in Ruhe. Dasselbe galt für das Nickerchen, das er zu unmöglichen Tages- und Nachtzeiten während des Dienstes in einem Verhörzimmer einschob.

Die schreiende Stille im Dienstzimmer wurde immer unerträglicher, wirkte bedrohlich und angespannt. Die beiden sahen mit ihrem Chef auf die Uhr. Durch das Ticken hatten sie das Gefühl, er habe eine Bombe gezündet und zähle die Sekunden bis zur Explosion.

Kutlar faltete das Papier mit Stichworten von der Lagebesprechung zusammen. Im Prinzip hatte Demirbilek recht, überlegte er. Die aktuellen Fälle der Migra waren zum derzeitigen Ermittlungsstand nicht zu klären. Bei dem tot aufgefundenen syrischen Flüchtling waren bislang keine Spuren aufgetaucht. Der ukrainischen Puffmutter war kaum beizukommen, weil ihre minderjährigen Prostituierten sich für sie einsetzten. Das ausgehobene illegale Rechenzentrum eines italienischen Internetgurus wurde von der digitalen Forensik untersucht. Bei den anderen Fällen stand das an, was Teil des Berufes war. Alles auf Anfang. Alles nochmals von vorne. Akten und Protokolle sichten, Zusammenhänge erkennen, Hinweise bewerten, die hoffentlich zu neuen Spuren führten. Ändert das Suchbild, wenn ihr nicht vorankommt, hatte Demirbilek sie einmal angewiesen. Fakten wie Puzzleteile in die Hand nehmen, schütteln und auswerfen. Dann neu zusammensetzen. Wenn Teile fehlten, nicht zusammenpassten, raus, weg vom Schreibtisch und nach den fehlenden Informationen suchen. Zeugen ein zweites und drittes Mal befragen, Tatorte erneut besichtigen, dem kriminaltechnischen Labor Arbeit verschaffen. Der Schlüssel zum Ermittlungserfolg hing mehr denn je vom Erbgut des Menschen ab. DNA-Spuren waren immer häufiger Ausgangspunkt eines geklärten Deliktes.

Bei der Lagebesprechung hatte sich Kutlar notiert, dass alle Abteilungen angehalten waren, sich Gedanken über Sicherheitslücken und potenzielle Gefahrenherde zu machen und gegebenenfalls Rückmeldungen zu geben. Die Migra war eine überschaubare Einheit mit fünf Mitarbeitern. Das Aufklären eines verübten Kapitalverbrechens, bei dem Opfer oder Täter einen Migrationshintergrund aufwies, war Aufgabe des Teams. Präventives Vorgehen war in dem Zusammenhang schwierig. Aus dem Grund hatte Demirbilek mit sich gerungen, ob er überhaupt zur Lagebesprechung gehen sollte.

Unvermittelt ertönte Demirbileks Stimme. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass du mit deinem Bericht zu Ende bist«, sprach er zur Wanduhr.

»Der Rest ist unwichtig«, erwiderte Kutlar.

Demirbilek drehte sich zu seinen Mitarbeitern um, die ihn überrascht anblickten, als hätte er nach Jahren die Sprache wiedergefunden.

»Dann danke, Serkan«, sagte er. »Haben wir Ideen zur Prävention?«

Sein Mitarbeiter räusperte sich. »Eine hätte ich. Ist aber heikel.«

»Beim Brainstorming gibt es keine blöden Ideen«, meinte Vierkant neugierig. »Sag’s ruhig.«

Demirbilek lächelte und stand auf. »Ich bin gegen eine inszenierte Bombenwarnung, um im Vorfeld Hausdurchsuchungen zu rechtfertigen.«

Der Oberkommissar blickte verdutzt auf den Zettel. Offenbar hatte Demirbilek gelesen, was er sich bei der Besprechung notiert hatte. »Sag ich doch, eine dumme Idee«, rechtfertigte er sich. »Wir haben Bereitschaft. Wir sind zur Stelle, sollte etwas passieren.«

 

6 Wie aufs Stichwort trat Jale Cengiz ein und ließ die Tür hinter sich geöffnet. Die Form der Entschuldigung für die Verspätung hatten ihre Kollegen am liebsten. Einem jeden überreichte sie eine Butterbreze aus der mitgebrachten Bäckereitüte. »Kaffee ist unterwegs«, sagte sie abgehetzt.

Gleich darauf hastete Pius Leipold durch die offene Tür. Auf einem Tablett balancierte er vier Kaffeetassen und eine Mokkatasse mit kahve. »Sorry, hab’s auch nicht früher geschafft. War an was dran. Erzähl ich gleich. Jetzt gibt’s erst mal Frühstück.«

»Nicht etwas zu spät dafür?«, murrte Demirbilek.

»Ach, Zeki. Feste feiern, wie sie fallen, haben die alten Römer gesagt. Ihr Türken habt doch auch so nette Sprüche.«

»Der frühe Vogel fängt den Wurm, zum Beispiel«, antwortete er und griff dankbar nach der Mokkatasse. »Wir hören. An was warst du dran?«

Seit Hauptkommissar Pius Leipold mehr oder weniger offiziell ins Migra-Team berufen wurde, tat sich der Urmünchner mit besonders viel Fleiß und Engagement hervor. Er ließ sich tief in den Stuhl sinken, schlürfte vom zu heißen Kaffee und meinte: »Ich habe Döner-Läden und Asia-Imbisse in der Innenstadt abgeklappert. Präventiv, sozusagen, wegen der Siko. Hab den Herrschaften ganz nebenbei erzählt, was die Münchner Polizei an brutalen Bullen aus ganz Bayern auffährt.«

»Pius!«, schimpfte Vierkant ihn. »Du hast den armen Leuten Angst gemacht!«

»Woher denn!«, erwiderte Leipold unschuldig. »Transparenz gezeigt habe ich.«

Kutlar schüttelte den Kopf über den einzigen waschechten Münchner im Team und brach, in Absprache mit Demirbilek, zu einer Zeugenbefragung auf.

Cengiz blickte ihm wehmütig nach. Sie hätte ihren Mitbewohner und Kollegen am liebsten begleitet, nur um weit weg von Demirbilek zu sein, der zu ihr blickte, als führe er etwas im Schilde. »Ich sehe mir die Dokumente des Russen an«, sagte sie mit übertriebener Euphorie in der Stimme. »Könnte mir vorstellen, dass sie gefälscht sind. Vielleicht bringt uns das auf eine Spur. Okay, Zeki?«

»Habe ich schon erledigt«, erwiderte Demirbilek und stellte sich zu ihr an den Schreibtisch. »Heute war ich etwas früher im Dienst als üblich.«

»Und ich später als sonst? Oder was?«, verteidigte sie sich, ohne dass ihr Vorgesetzter einen Grund dafür gegeben hätte.

Der Sonderdezernatsleiter blieb ruhig. Er rückte die Fakten gerade. »Du warst nicht zu spät. Ich habe dir erlaubt, später zu kommen. War was mit Memo? Geht’s ihm gut?«

Cengiz nickte und bereute ihren Ausbruch. Völlig unnötig, dachte sie, du brauchst nicht nervös zu sein. Zeki geht es nichts an, was du mit deinem Leben machst, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sein freundlicher Blick machte ihr Hoffnung, dass alles in Ordnung war.

»Wenn die Zeugnisse des Russen gefälscht sind, dann verdammt gut«, sagte er in geschäftlichem Ton. »Der eidesstattliche Übersetzer ist sauber, ihn habe ich kontrolliert.«

Mit zwei Klicks holte Cengiz die Fallakte auf den Monitor und überflog mit dem Großvater ihres Sohnes die Anzeige eines türkischen Restaurantbesitzers. Ein russischer Kellner namens Sergej hatte vorgegeben, als Investmentbanker in Moskau tätig gewesen zu sein, und den Gastronomen mit faulen Geldanlagen betrogen.

»Worauf wartest du?«, fragte er ungeduldig. »Check mal das Netz, da bist du doch wie zu Hause.«

Das Öffnen des Browsers dauerte. Cengiz wusste ohnehin, was sie erwartete. Das Internet geizte nicht mit Angeboten für Zeugnisse und Abschlüsse. Das Fälschergeschäft florierte. Um an einen Arbeitsplatz oder staatliche Unterstützung zu kommen, waren Menschen bereit, zu lügen und zu betrügen. Fadenscheinige Lehrinstitute und Hochschulen stellten gegen Entgelt Bescheinigungen über erfolgreich abgeschlossene Studiengänge aus. Sergej hatte dem Gastronomen einen Abschluss in Wirtschaftsinformatik eines Sankt Petersburger Instituts vorgelegt und behauptet, auf Hilfsjobs angewiesen zu sein, weil sein Abschluss nicht anerkannt werde. Nicht Gutgläubigkeit, Gier hatte dem Restaurantbesitzer die Sicht auf die Wahrheit vernebelt.

»Was genau suchst du?«, fragte Demirbilek nach, als ihn das Scrollen über die Webseiten zu nerven begann.

»Die Nadel im Heuhaufen«, antwortete sie.

»Stich dich nicht daran«, entgegnete er und zog sich in sein Dienstzimmer zurück.

Augenblicklich entspannte sich Cengiz, ihr Körper entkrampfte sich, sie drückte ihren Rücken fest in die Lehne. In den letzten Wochen war alles viel schwieriger geworden, stellte sie besorgt fest. Zeki versteifte sich darauf, seinen Enkel, sooft es ging, zu sehen. Meist besuchte sie ihn mit Memo zu Hause oder überließ ihm den Kleinen für ein paar Stunden. Sie gönnte ihm von Herzen das Gefühl, das sein Enkel ihm bescherte. Memos Vater steckte in dem fröhlichen Lachen des kleinen Mannes. Die Augen hatte er definitiv von Selma, der Frau, die Zeki nach wie vor und inniger denn je liebte. Bei den gemeinsamen Stunden suchte und fand er in den Gesprächen stets einen Grund, Selma, die in Istanbul lebte, in seine Münchner Wohnküche zu holen. Er erzählte Anekdoten von ihren Zwillingen Özlem und Aydin, gab Ratschläge, wie Selma dies und jenes gemacht hätte. Wenn sie mit ihm als Teil seiner Familie zusammen war, fiel es ihr leicht, ihn zurechtzuweisen oder mit Charme darauf hinzuweisen, dass sie Memos Mutter war. Im Beruf war das anders. Nicht umsonst wurde er von den Kollegen »Pascha« genannt. Er war das Oberhaupt mit einem großen Herzen und klaren Vorstellungen, was die Aufteilung der Arbeit anging.

Cengiz kam nicht weiter mit dem halbstaatlichen Institut in Sankt Petersburg, das Sergej das Zeugnis ausgestellt hatte. Per Mail nahm sie Kontakt zu einem deutsch-russischen Dolmetscher auf. Die Migra hatte ihn aus den Fängen eines ukrainischen Zuhälters befreit. Er war ihnen einen Gefallen schuldig.

Kaum hatte sie die Anfrage abgesetzt, sprang Isabel Vierkant von ihrem Stuhl auf. Das Erscheinen einer jungen Frau in Hoodie und Leggings versetzte sie derart in Aufregung, dass sie nicht bemerkte, wie ihre Umhängetasche umkippte. Zu Cengiz’ Verwunderung purzelte, zusammen mit Taschentüchern und einem Erste-Hilfe-Set, ein Gummiball heraus. Der Flummi in leuchtenden blau-gelben Farben schoss quer durch den Raum.

Leipold telefonierte gerade. Er winkte der wartenden Besucherin an der Tür zu, erhob sich und beabsichtigte, im Flur das Gespräch mit seiner Ehefrau Elisabeth weiterzuführen. Im drohenden Streit über das Abholen der Kinder übersah er die Gefahr in Form des Flummis, der über den Boden hüpfte.

Was Demirbilek im Dienstzimmer nebenan kurz darauf hörte, ließ ihn das Schlimmste befürchten. Eine Messerattacke, in Leipolds Bauch oder Rücken, geführt von einem der türkischen Döner-Laden-Besitzer, denen er klargemacht hatte, dass während der Sicherheitskonferenz Ruhe zu herrschen habe. Er stürzte vom Schreibtisch und blieb im Türrahmen stehen.

Sein Münchner Original schwamm in keiner Blutlache. Er lag auf dem Boden, krümmte sich vor Schmerzen und drückte eine Hand in den Rücken. Sein niederbayerischer Harmonieengel entschuldigte sich in einer Dauerschleife bei ihm. Seine Berliner Göre stand neben ihrer untröstlichen Kollegin. Jale hielt einen Gummiball in den Vereinsfarben von Fenerbahçe Istanbul in der Hand. Er konnte sich nicht entsinnen, Memo einen derartigen Ball geschenkt zu haben. Erleichtert, Leipold nicht im Sterben vorzufinden, verfolgte er, wie sein lädierter Kollege von den zwei Frauen zurück auf die Beine gebracht wurde. Eine nicht unmögliche, aber schweißtreibende Aufgabe bei seinem Übergewicht.

Demirbilek gab sich einen Ruck und ging zu der Besucherin. Gastfreundschaft lag ihm im Blut, er wollte nicht unhöflich sein. Mit den Händen vor dem Mund beobachtete die junge Frau, wie Leipold auf seinen Stuhl gehievt wurde.

»Zu wem wollen Sie?«, fragte er sie.

Er wartete vergebens auf eine Antwort, kein Wort drang aus dem kleinen Mund. Juristisch hatte sie wohl die Altersgrenze zur Erwachsenen überschritten. Er schätzte sie auf neunzehn oder zwanzig Jahre ein. Wohlwollend beschrieb er sie für sich als schlank und zierlich. Mit dünn und zerbrechlich oder drahtig und sportlich wie eine unterernährte Bodenturnerin hätte er sie genauso gut beschreiben können. Am liebsten hätte er ihr etwas zu essen angeboten.

»Theresa will zu mir«, hörte er mit niederbayerischem Einschlag hinter sich rufen. »Darf ich sie Ihnen vorstellen, Chef?«

 

7 Das flache Kinn ließ Demirbilek an eine verwandtschaftliche Beziehung der Besucherin zu Vierkant vermuten. Haare, lang und schwarz, die schlanke Figur und die grünlich glänzenden Augen sprachen gegen die Annahme. Im Schein der Schreibtischlampen verstärkten sie den Eindruck, wie leid ihr alles tat. Sehr ernst nahm sie die Schuld an Leipolds Unfall auf sich. Wäre sie nicht unangemeldet erschienen, wäre der Hauptkommissar nicht auf den Ball getreten und ausgerutscht. Demirbilek erkannte den Charakterzug seiner Mitarbeiterin wieder. Isabel Vierkant war es nicht auszutreiben, sich unentwegt zu entschuldigen. Ob zu Recht oder zu Unrecht.

Nachdem Vierkant die Besucherin als ihr Patenkind Theresa Heigl, Tochter ihrer Schwester Cornelia, vorgestellt hatte, hieß Demirbilek sie willkommen und widmete sich seinem Münchner. Mit zusammengepressten Lippen starrte Leipold am Schreibtisch in die Unterlagen. Er wollte ihm glaubhaft machen, dass alles halb so schlimm sei. Ein Bulle kenne keinen Schmerz, bemühte er einen hinkenden Vergleich.

Die Frauen beruhigten indessen das Häuflein Elend in Leggings und Hoodie. Andere werden im Dienst angeschossen, das Flummiopfer sei mit einem läppischen Ausrutscher davongekommen, scherzte Cengiz. Vierkant bekreuzigte sich und schalt sie, nicht solche Horrorszenarien heraufzubeschwören. Mit einem Küsschen auf die Wange verzieh ihr Cengiz die Zurechtweisung. Mit steigendem Missmut beobachtete Demirbilek die vertraute Frauenrunde. Er ließ Leipold zurück und bedachte die Beamtinnen mit seiner Aufmerksamkeit.

»Pius soll sich den Rest des Tages freinehmen«, sagte er. »Wer überredet den Sturschädel? Und bringt ihn heim? Selbst fahren soll er nicht.«

Froh über die Aussicht, dem Dienstzimmer und Demirbilek entkommen zu können, bot Cengiz an, den Krankentransport zu übernehmen. Auf dem Rückweg könne sie bei dem Dolmetscher vorbeifahren und mit ihm die Webseite des Instituts genauer ansehen. Demirbilek hielt den Vorschlag für angemessen und brauchbar.

»Auf die Idee hättest du gleich kommen können, statt Mails zu schreiben«, genehmigte er ihr den Dienstgang ins Hauptbahnhofviertel.

Mit einem verdutzten Lächeln akzeptierte Cengiz den Kommentar und sah ihm nach, wie er sich in seinem Dienstzimmer verbarrikadierte.

»Der Herr Pascha fährt ja selbst kein Auto«, maulte sie ihm leise hinterher.

Leipold musste sie nicht groß überzeugen, nach Hause zu gehen. Die Schmerzen wollten nicht aufhören.

 

Vierkant war da schon unterwegs, um ihr einziges Patenkind, das sie die letzten Jahre sträflich vernachlässigt hatte, in die Kantine des Präsidiums zu führen. Sie setzten sich an einen der freien Tische. Einige Kollegen machten gerade Pause. Der Tumult des mittäglichen Essens war jedoch noch nicht angebrochen.

»Tut mir leid, Tante Isa«, entschuldigte sich Theresa abermals. »War wohl eine zu spontane und blöde Idee von mir.«

»Pius ist ein zäher Hund, der packt das schon. Morgen dackelt er wieder zum Dienst. Und jetzt hörst du auf, dich zu entschuldigen. Wenn, war es sowieso meine Schuld. Der Flummi ist mir aus der Tasche gesprungen.«

»Weil ich aufgetaucht bin.«

»Ja, schon«, gab Isabel ihr irgendwie recht. »Genauso gut könnten wir Demirbilek die Schuld geben. Gäbe es ihn nicht, gäbe es seinen Enkel nicht.«

»Das verstehe ich nicht, Tante.«

Wie auch, dachte Isabel. Sie hatte bei den Einkäufen für Theresas Besuch den Flummi in einem türkischen Laden entdeckt und für Memo mitgenommen. »Macht nichts«, sagte sie und wechselte das Thema. »Also, was machst du jetzt schon in München? Hast du frei?«

»Ja«, antwortete sie. »Dachte, ich schau mich um, bevor der Wahnsinn losgeht. Keine Sorge, Tante, du musst dich nicht um mich kümmern. Du arbeitest ja.«

»Aber bei Samstagabend bleibt es?«, fragte Isabel besorgt nach.

»Natürlich«, entgegnete Theresa. »Hast du Herrn Demirbilek gefragt, ob er Zeit hat?«

»Zeit hat er. Er wollte am Samstag mit Jale und Memo was unternehmen. Sie hat ihm abgesagt.«

»Hat er denn sonst niemanden, den er treffen könnte?«, sorgte Theresa sich. »Er sah etwas traurig aus, findest du nicht?«

Isabel nickte verhalten. »Mit solchen Schlussfolgerungen wäre ich vorsichtig. Fakten sammeln, bewerten, folgern.«

Theresa verzog das Gesicht. Sie wusste ganz genau, auf was die ältere Schwester ihrer Mutter abzielte. Sie hegte den Traum, ihrem großen Vorbild in der Familie nachzueifern. Wie ihre Tante wollte sie Kriminalbeamtin werden und zur Mordkommission gehen. Von ihren Erzählungen wusste sie, welch langer und beschwerlicher Weg mit Ausbildung und Prüfungen vor ihr lag. Erst einmal aber musst du den Einsatz bei der Sicherheitskonferenz überstehen, sagte sie sich. Sie hatte sich nicht darum gerissen, ein Wochenende lang Münchens Gäste und Straßen zu bewachen.

»Tut mir wirklich leid, dass wir in der Wohnung keinen Platz für dich haben«, sagte Isabel betrübt. »Du hast doch was gefunden, oder?«

Mit derselben Geste wie ihre Tante strich Theresa sich eine Strähne aus dem Gesicht und lachte. »Die ewige Entschulderei haben Mama und du von der Oma.«

Isabel grinste beglückt. »Du aber auch! Freches Ding.«

Dann stand die Oberkommissarin auf und holte nach, was in der Aufregung durch Leipolds Unfall zu kurz gekommen war. Sie umarmte und drückte ihr Patenkind fest an sich. »Schön, dass du da bist, mein Herz.«

»Danke, Tante Isa.«

»Bist viel zu schnell groß geworden.«

Theresa genoss in vollen Zügen die Umarmung. »Du warst jünger als ich, als du zur Polizeischule bist, hat Mama erzählt.«

Isabel schossen die Erinnerungen an den Tag des Abschieds durch den Kopf. Sie hatte Geschwister, Eltern, Freunde, das ganze gewohnte Leben in Niederbayern zurückgelassen, um die Polizeiausbildung in der großen Stadt zu machen. Der Schmerz von damals hallte in ihrem Inneren nach. Heimweh ergriff sie beim Duft von Theresas Haaren. Das Kind, das zu einer jungen, ähnlich schüchternen Frau wie sie herangewachsen war, roch nach Wald und Hof, nach Tieren und Getreide auf den Feldern. Demirbilek kam ihr in den Sinn. Er war gezwungen gewesen, als Zwölfjähriger seine Heimatstadt Istanbul hinter sich zu lassen, weil seine Eltern in Deutschland Arbeit gefunden hatten. Sie war nur ein paar Jahre älter gewesen, hatte aber aus freien Stücken das alte Leben aufgegeben, um ihr Glück zu suchen.

»Was ist?«, fragte Theresa nach, als sie etwas Trauriges im Gesicht ihrer Tante bemerkte.

»Nichts weiter, ich war in Gedanken.« Isabel löste die Umarmung und setzte sich wieder.

»Heute Abend gehen wir essen, Peter, du und ich«, befahl sie schmunzelnd. »Hast ja kaum was auf den Rippen.«

»Das höre ich von der Mama auch andauernd«, ärgerte sich Theresa.

»Keine Widerrede, junge Dame«, insistierte sie. »Gibt’s überhaupt eine Uniform in deiner Größe?«

Theresa verkniff sich eine Antwort. Die Ärmel der Uniformhemden und die Hosen ließ sie von einer Schneiderin enger machen und kürzen.

»Eigentlich eine schöne Idee, dass du früher gekommen bist«, nahm Isabel das Gespräch wieder auf.

»Überstunden bis zum Abwinken«, lächelte sie. »Ich habe ein günstiges Zimmer über Airbnb für die vier Tage gefunden. Bevor der Dienst bei der Siko beginnt, wollte ich mir München ansehen.«

»Das tust du. Von hier aus bist du ganz schnell auf der Museumsmeile. Und du vergisst nicht, zu Mittag zu essen, ja?« Ganz im Stil ihres Vorgesetzten holte sie den Geldbeutel heraus.

»Aber Tante, das muss doch nicht sein«, protestierte Theresa.

»Als Bereitschaftspolizistin verdienst du doch nichts«, beharrte Isabel. »München ist schön, aber so was von sauteuer.«

 

8 Es war früher Nachmittag geworden. Jale Cengiz hatte knapp zwei Stunden bei dem Dolmetscher im stickigen, verrauchten Büro gesessen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, hatte für sie Anrufe nach Sankt Petersburg getätigt und Mails auf Russisch verfasst. Über die offiziellen Webseiten war dem betrügerischen Russen und dem Institut, das ihm das Zeugnis ausgestellt hatte, nicht beizukommen.

Im Hauptbahnhofviertel wehte ihr der Geruch von gebratenem Fleisch entgegen. Aus welchem der Imbissläden in der Schillerstraße der penetrante Geruch strömte, konnte sie nicht ausmachen. Sie merkte, wie ihr leicht übel wurde. Seit Wochen ernährte sie sich vegetarisch. Sehr zum Missfallen ihres Mitbewohners Serkan, der Fleisch in jedweder Form gerne aß. Zekis Hang zur Dramatik hatte sie erschaudern lassen, als sie ihn unterrichtete, sich gesünder zu ernähren, eine Zeit lang mit Memo auf Fleisch zu verzichten. Er sah die Welt versinken in Gemüse und Obst und fragte sich, wer das einzige Gericht, das er einigermaßen zubereiten konnte, essen sollte. Ohne Fleisch wähnte er Memos männliche Psyche in Gefahr. Ein Trauma war nicht auszuschließen, wenn er auf sein mit Liebe gekochtes Zitronenhuhn verzichten musste – nur weil ihm die Mutter das Opfer fleischloser Ernährung abverlangte.

Jale ertappte sich dabei, wie sie das Interesse an der aussichtslosen Ermittlung gegen den betrügerischen Kellner verlor. Kurzerhand marschierte sie in den nächsten türkischen Supermarkt. Mitten im Dienst kaufte sie eine Packung nohut – Kichererbsen –, einen Berg Gemüse und Salat, um am Abend Eintopf zu kochen. Als wäre Zeki ihr auf den Fersen, drängelte sie sich mit vorgehaltenem Dienstausweis zur Kasse vor und zahlte schnell. Regen, peitschend und kalt, erwartete sie, zurück auf der Straße. Regenschirme mit Beinen flogen an ihr vorbei. Die Menschen flüchteten ins Trockene. In Geschäfte, in Cafés und Sexshops, rannten in den Untergrund, in das U- und S-Bahn-Geschoss.

Wie sehr sie der Schrecken durchfuhr, als sie ihn am parkenden Dienstwagen stehen sah, hätte sie niemandem auf der Welt erklären können. Sie stoppte, vollkommen durchnässt, ausgeliefert den Naturgewalten, die mit Blitz und Donner München in Dauerbeschuss nahmen.

Ungerührt von Wind und Regen, stand Zeki an ihren Dienstwagen gelehnt, die Arme in den Hosentaschen seines grauen Anzugs vergraben. Er starrte in den Himmel, als würde er Buch führen über die Anzahl Blitze und Donnerschläge. Jale fühlte sich verfolgt und ertappt. Sie spürte das Knirschen des schlechten Gewissens, weil sie ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. Mit den Einkäufen erreichte sie den Wagen. Regenwasser sammelte sich in den Plastiktüten. Wortlos öffnete sie mit der Fernbedienung die Türen.

»Lass mich fahren«, schrie Zeki ihr entgegen.

»Lieber nicht«, schrie sie zurück. »Setz dich rein.«

Sie legte die Tüten in den Kofferraum und rannte um den Wagen. Als sie sich auf den Fahrersitz fallen ließ, machte er immer noch keine Anstalten, einzusteigen und dem Regen zu entkommen.

Sie dachte nicht daran, ihn zu bitten, hoffte sogar, er würde sich entscheiden, doch die U-Bahn zu nehmen. Dann öffnete er jedoch die Tür und setzte sich mit dem durchnässten Mantel neben sie.

»Jale«, sagte er. »Was ist mit dir, mein Kind? Dich bedrückt etwas. Hat es mit Aydin zu tun? Du erwähnst ihn seit Monaten nicht mehr.«

Warum sie anfing zu weinen, konnte Jale der Welt erklären. Besser als das schlechte Gewissen, das sie abgehalten hatte, ihm die Wahrheit zu sagen. Wochenlang hatte sie die Last in sich getragen, hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn einzuweihen, dass ihre Zeit in München zu Ende ging. Der Antrag auf Versetzung nach Berlin lag versteckt unter der Schreibtischunterlage. Was fehlte, war seine Unterschrift. Die Unterschrift ihres Vorgesetzten, der alles dafür tun würde, Memo bei sich zu behalten. Nun, da die Tränen flossen und die Wörter sprudelten, wich das schlechte Gewissen unendlicher Erleichterung.

Zeki ließ sie reden und hörte mit starrem Blick durch die Windschutzscheibe aufmerksam zu. Als sie sich die Seele leicht geredet hatte, reichte er ihr ein Taschentuch. Ein besonders schönes, mit von Hand gestickten Rosen.

»Danke«, sagte Jale befreit. »Danke, dass du uns keine Steine in den Weg legst.«

»Memo muss dort sein, wo seine anne ist«, antwortete er gefasst. »Wie kommst du darauf, dass ich nicht Bescheid weiß?«

Jale schniefte und fragte verdutzt: »Wie bitte?«

 

9