Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Dieses Buch ist meiner Tochter
Elizabeth Rose Mortimer gewidmet.
Aus dem Englischen von Karin Schuler
© Ian Mortimer, 2012
Titel der englischen Originalausgabe: »The Time Traveller’s Guide to Elizabethan England« bei The Bodley Head, London 2012
deutschsprachigen Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2020
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: akg-images (Science Source; De Agostini Picture Lib. / A. Dagli Orti; Heritage Images / Mithra – Index; Heritage Images / Ashmolean Museum, University of Oxford; British Library); Bridgeman Images (Philip Mould Ltd, London; Look and Learn)
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Doch wenn Erinnerung die Nacht umhüllt, seh ich die Tage, lang vergangen, wie das uralte Licht erloschener Sterne, noch auf dem Weg und weiter leuchtend.
Wir schreiben Freitag, den 16. Juli 1591 – es ist ein ganz normaler Morgen in London. Auf der breiten Cheapside gehen die Menschen zwischen den Marktständen ihren Geschäften nach. Händler bemühen sich lautstark, die Aufmerksamkeit der Kaufmannsfrauen auf sich zu lenken. Reisende und feine Herren flanieren auf dem frisch reparierten Straßenpflaster, gehen bei den Goldschmieden und Geldverleihern ein und aus. Dienstleute und Hausfrauen schieben sich durch die Menschenmenge zum Little Conduit in der Nähe der St. Paul’s Cathedral, um Wasser zu holen, manche mit Ledereimern, andere mit Fässern, die an einem Joch auf ihren Schultern hängen. Die Morgensonne spiegelt sich in den Glasfenstern der reichen Kaufmannshäuser. Eine Magd, die gerade das Schafzimmer ihres Herrn putzt, schaut auf das Gedränge auf der Straße hinunter.
Plötzlich bricht am Rand des Markts ein Tumult aus. »Tu Buße, England! Tu Buße!«, brüllt ein Mann aus vollem Hals. Er ist ganz in Schwarz gekleidet und verteilt auf seinem Weg gedruckte Handzettel. »Tu Buße!«, ruft er wieder und wieder, »Jesus Christus ist gekommen, um die Spreu vom Weizen zu trennen und über die Erde zu richten!« Dieser Mann ist kein armer Irrer; er ist ein wohlhabender Londoner Bürger, Mr Edmund Coppinger. Ein anderer Gentleman, Mr Henry Arthington, ebenfalls ganz in Schwarz, folgt ihm auf dem Weg von der Gasse Old Change auf die Cheapside. Auch er verkündet lauthals, dass »der Tag des Jüngsten Gerichts über uns alle gekommen ist! Die Menschen werden sich erheben und einander töten, wie Metzger Schweine schlachten, denn der Herr Jesus ist auferstanden.« Die von ihnen verteilten Zettel geben kund, dass sie eine vollständige Reformation der Kirche in England planen. Für die vielen Menschen, die nicht lesen können, rufen sie ihre Botschaft aus: »Die Bischöfe müssen abgesetzt werden! Alle Geistlichen sollten gleich sein! Königin Elizabeth hat ihre Krone verwirkt und verdient es, ihr Königreich zu verlieren. Jesus Christus ist zurückgekommen. Der wiedergeborene Messias ist gerade jetzt in London, in Gestalt von William Hacket. Jeder Mann, jede Frau soll ihn als göttliches Wesen und Herrn der ganzen Christenheit anerkennen.«
William Hacket selbst liegt noch im Bett, in einem Haus in der Pfarrei St. Mary Somerset. Als neuzeitlicher Messias gibt er eine eher seltsame Figur ab. Sein Gedächtnis ist hervorragend – er kann ganze Predigten memorieren und sie dann in den Tavernen vortragen und mit amüsanten Witzen ausschmücken. Er hat eine Frau wegen ihrer Mitgift geheiratet, das Geld ausgegeben und sie dann verlassen. Er gilt als Frauenheld, ist jedoch noch bekannter für seinen unkontrollierbaren und gewalttätigen Jähzorn. Jeder, der sein Verhalten im Dienst von Mr Gilbert Hussey beobachten konnte, wird das bestätigen. Als ein Schulmeister Mr Hussey beleidigt hatte, traf sich Hacket mit diesem in einer Schankwirtschaft und gab vor, die Meinungsverschiedenheit aus der Welt schaffen zu wollen. Nachdem er das Vertrauen des Schulmeisters gewonnen hatte, legte er ihm in aller Freundschaft einen Arm um die Schultern. Dann plötzlich ergriff er den Mann, schubste ihn zu Boden, warf sich auf ihn und biss ihm die Nase ab. Als er das Stück Fleisch hochhielt, flehten ihn die verblüfften Zuschauer an, er solle dem blutenden Schulmeister doch erlauben, damit zu einem Wundarzt zu eilen, um es möglicherweise wieder anzunähen und so eine schreckliche Entstellung zu verhindern. Hacket lachte nur, steckte sich die Nase in den Mund und schluckte sie hinunter.
Hacket, der da gemütlich im Bett liegt, weiß, was die Messrs Coppinger und Arthington vorhaben: Er selbst hat ihnen frühmorgens die Anweisung dazu gegeben. Seiner so überzeugenden Persönlichkeit und seines glühenden Eifers wegen halten sie ihn für den wiedergeborenen Christus, und gemeinsam haben sie in den letzten sechs Monaten ein Komplott geschmiedet, um die Bischöfe zu vernichten und die Herrschaft der Königin zu untergraben. Sie haben mit Hunderten Menschen gesprochen und Tausende Flugblätter verteilt. Allerdings weiß Hacket nicht, dass gerade eine riesige Menschenmenge seine beiden Engel der Verheißung umschwirrt. Einige sind neugierig, einige lachen über ihre Verkündigungen; andere wollen sich ihnen anschließen. Die meisten möchten Hacket persönlich sehen. Eine so große Menschenmenge drängt heran, dass Mr Arthington und Mr Coppinger bald in der Falle sitzen. Sie suchen Zuflucht in einer nahen Wirtschaft, The Mermaid, und können durch die Hintertür fliehen, um wieder in die Pfarrei St. Mary Somerset und zu ihrem Langschläfer-Messias zurückzukehren.
Die Nachricht macht in der Stadt die Runde. Mittags marschieren die Stadtwachen von Haus zu Haus. Um ein Uhr sind alle drei Männer von den Behörden gestellt und verhaftet worden. Nicht einmal zwei Wochen später sind zwei von ihnen tot. Hacket wird wegen Hochverrats vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Am 28. Juli wird er aufgehängt – nicht ohne den Henker vorher mit wüsten Beschimpfungen überschüttet zu haben –, dann vom Galgen abgeschnitten und geköpft. Sein kopfloser Körper wird wie üblich in vier Teile zerteilt, an denen je ein Körperglied hängt. Mr Coppinger stirbt im Gefängnis: Die Obrigkeit behauptet, er habe sich zu Tode gehungert. Mr Arthington hat mächtige Freunde im Kronrat und rettet so sein Leben. Als Teil seiner Buße veröffentlicht er einen Widerruf all der Dinge, die er gesagt hat.[1]
Diese Episode mutet seltsam an, aber sie bietet einen guten Einstieg, um Shakespeares England zu beschreiben. Sie führt uns die Unsicherheit des Lebens in der Hauptstadt genau in dem Moment vor Augen, in dem Shakespeare sich dort allmählich einen Namen macht. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Behörden Hacket verfolgen, und die gnadenlose Effizienz, mit der sie den Aufruhr unterdrücken, sind typisch für diese Zeit. Es ist zwar nicht alltäglich, dass ein Mann öffentlich zum auferstandenen Christus ausgerufen wird und angesehene Gentlemen in einem gewalttätigen, flegelhaften, ungebildeten Schürzenjäger den Messias sehen; ganz und gar nicht ungewöhnlich ist aber, dass die Bürger extreme religiöse Standpunkte vertreten und die Absetzung der Monarchin fürchten. In den letzten Jahrzehnten hat sich so viel geändert, dass die Leute einfach nicht mehr wissen, was sie glauben oder denken sollen. Sie haben sich daran gewöhnt, mit schwelenden Krisen zu leben, die jederzeit lebensbedrohlich auflodern können.
Dieses Bild Englands zur Zeit Shakespeares wird manche Leser überraschen. Im 21. Jahrhundert hören wir gewöhnlich Positiveres über die Gesellschaft, die das goldene Zeitalter des englischen Theaters hervorbrachte. Wir schätzen Shakespeare als einen der größten Schriftsteller, den die Welt je gesehen hat – und stellen ihn damit auf eine Stufe mit den großen Wortführern anderer »großer« Zeitalter – Homer für das alte Griechenland, Vergil für das kaiserzeitliche Rom oder Dante und Petrarca für die italienische Renaissance. Die Königin ist für uns die Gloriana. Wir denken an die Niederlage der spanischen Armada und an Sir Francis Drakes Weltumseglung mit der Golden Hind. Wir denken an andere Autoren wie Francis Bacon und Sir Walter Raleigh, die Dichter Edmund Spenser und Sir Philip Sidney und die Dramatiker Christopher Marlowe und Ben Jonson. Kann man eine Gesellschaft, die solche architektonischen Meisterwerke wie Hardwick Hall, Burghley, Longleat und Wollaton Hall geschaffen hat, anders als triumphal nennen? Einem kleinen Königreich, das seine Marine vor der Küste Mittelamerikas in die Schlacht schickt, kann man doch sicher keine Selbstzweifel unterstellen? Und kann man von der Gesellschaft, die uns William Shakespeare schenkte, wirklich sagen, sie sei von Furcht durchdrungen?
Doch unsere Sicht auf die Geschichte schränkt die Realität der Vergangenheit ein. Wir konzentrieren uns auf das historische Ereignis und sehen nicht den Moment, in dem es geschieht. Wenn wir zum Beispiel das Wort »Armada« hören, denken wir an den englischen Sieg in der Schlacht von Gravelines, bei dem die bedrohlichen spanischen Schiffe vernichtet und Sir Francis Drake als Held gefeiert wurde. Doch im Augenblick des Angriffs war alles möglich. Als Drake in Plymouth an Bord ging, bestand die reale Möglichkeit, dass sein eigenes Schiff versenkt werden und die Armada in England landen würde. Er wusste bestimmt, dass ein Wechsel der Windrichtung alles ändern konnte – falls sich der Wind drehte, war seine Kriegstaktik in Gefahr und seine Flotte somit der Vernichtung preisgegeben. Wir Heutigen können uns eine Landung der Armada in England gar nicht mehr vorstellen. Unsere Sicht auf das Ereignis als etwas Vergangenes beschränkt unser Verständnis der Zweifel, Hoffnungen und Realitäten der Zeit.
Dieses Buch ist ein Versuch, die Schichten der Verklärung, Vereinfachung und des aufgeblasenen historischen Urteils, die die Vergangenheit auf Distanz zu uns halten, so weit wie möglich abzutragen. Dadurch will ich Shakespeares England nicht als etwas Behagliches und Vertrautes zeigen, aber auch nicht als etwas völlig anderes, das große Unbekannte. Vielmehr geht es darum, es aus der Nähe zu betrachten, als ob man wirklich in Shakespeares England mit den Menschen dort leben würde. Wo werden Sie unterkommen? Wie werden Sie sich kleiden? Was werden Sie essen? Da so viel über diese Zeit bekannt ist, ist zu erwarten, dass ein Historiker auf solche Fragen eine Antwort weiß. Doch es gibt natürlich Grenzen: Historiker können die Vergangenheit nicht tatsächlich wiederherstellen, zumal es bei einigen Einzelheiten wirklich schwierig ist, sich einen persönlichen Besuch vorzustellen. Man weiß vielleicht, warum Shakespeare unbedingt ein eigenes Wappen wollte – aber wie putzte er sich die Zähne? Trug er Unterwäsche? Was verwendete er als Toilettenpapier? Diese Dinge sind nicht so gut belegt. Wir müssen jeden kleinen Informationsschnipsel heranziehen, um unsere kollektive wissenschaftliche Neugier wenigstens teilweise zufriedenzustellen.
Was fällt uns wohl zuerst auf, wenn wir das England Shakespeares besuchen? Ich glaube, es werden die Gerüche in den Städten sein. Nach ein paar Tagen allerdings ist es wohl eher die Unsicherheit des Lebens. Zu Ihrem Entsetzen werden Sie bei einer Grippe- oder Pestepidemie Leichen in den Straßen liegen sehen, daneben halb verhungerte Bettler in ihren schmutzigen Lumpen. Auch die Spitze der Gesellschaft ist verletzlich – die Königin ist selbst Ziel mehrerer Attentatsversuche und Aufstände, von einer Rebellion des Landadels bis hin zu ihrem Leibarzt, der sie angeblich zu vergiften versucht. Die Unsicherheit durchzieht jeden Aspekt des Lebens. Die Menschen wissen nicht, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne dreht; die Lehren der Kirche stehen im Widerspruch zu Kopernikus’ Erkenntnissen. Die reichen Kaufleute von London wissen nicht, ob ihre Schiffe womöglich in einem nordafrikanischen Hafen stranden, die Mannschaften von Piraten massakriert und die geladenen Waren gestohlen werden. Um zu ermessen, wie man in dieser Zeit lebt, müssen wir den entsetzten Männern und Frauen in die Augen schauen, die hören, dass die Pest im Nachbardorf angekommen ist. Wir müssen uns die Bauern im Jahr 1595 vorstellen, die nun schon das zweite Mal hintereinander zur Erntezeit auf verregnetes, schwarzschimmliges Getreide starren. Das nämlich ist die Realität für viele Menschen zu dieser Zeit: die Angst, dass sie ihre kranken und weinenden Kinder nicht ernähren können. Wir müssen verstehen, dass solche Menschen, egal ob Protestanten oder Katholiken, ihren Hunger damit in Verbindung bringen, dass die Regierung sich in religiöse Überzeugungen und Traditionen einmischt. Sie suchen nach etwas Stabilem in ihrem Leben und halten sich an die Königin als ein Hoffnungszeichen. Und haben Sie jetzt nicht die stolze Gestalt von Königin Elizabeth, aufrecht und unerschütterlich in ihrem prächtigen, juwelengeschmückten Kleid auf dem Deck eines schönen Schiffs auf ruhigem, von der Sonne beschienenem Wasser vor Augen. Stellen Sie sich lieber vor, dass sie darum ringt, ihre Position auf dem Staatsschiff in schwerer See zu behaupten, sich an den Mast bindet und Kommandos in den Sturm hinausbrüllt. Das ist die wahre Gloriana – Elizabeth, von Gottes Gnaden Königin von England, Stütze des Glaubens und der gesellschaftlichen Sicherheit in den schwindelerregenden Umbrüchen des 16. Jahrhunderts.
Wie alle Gesellschaften steckt auch Shakespeares England voller Widersprüche. Manche Gebräuche werden Ihnen überaus fortschrittlich und kultiviert erscheinen, andere werden Sie mit Abscheu erfüllen. Noch immer werden Menschen für bestimmte Formen der Häresie bei lebendigem Leibe verbrannt, und Frauen landen auf dem Scheiterhaufen, wenn sie ihre Ehemänner getötet haben. Die langsam verwesenden Köpfe von Verrätern werden über den Stadttoren Londons zur Schau gestellt und sollen Nachahmer abschrecken. Bei Verschwörungen zum Landesverrat ist die Anwendung von Folter erlaubt, um an Informationen zu gelangen. Die Kluft zwischen den Reichen und den Armen ist so groß wie eh und je, die Gesellschaft streng hierarchisch gegliedert. Bescheidene Häuser – manchmal ganze Dörfer – werden niedergerissen, um Platz für die Parks des Adels zu schaffen. Noch immer verhungern Menschen auf den Straßen. Und was die politische Situation angeht – nun, diese kurze Notiz eines Regierungsbeamten beschreibt die Lage der Nation zu Beginn der Herrschaft ganz treffend:
Die Königin arm, das Reich erschöpft, der Adel arm und heruntergekommen. Mangel an guten Feldherren und Soldaten. Die Menschen im Chaos. Recht nicht durchgesetzt. Alles teuer. Maßlosigkeit bei Fleisch, Trank und Kleidung. Spaltungen unter uns. Kriege mit Frankreich und Schottland. Der französische König das Reich umfassend, mit einem Fuß in Calais und dem anderen in Schottland. Unwandelbare Feindschaft, aber keine Freundschaften im Ausland.[2]
Diese Beschreibung klingt nicht gerade nach einem »Goldenen Zeitalter«, aber es gibt mindestens ebenso viele positive wie negative zeitgenössische Urteile. 1577 veröffentlicht Raphael Holinshed eine Chronik, in der er die Thronbesteigung Elizabeths mit folgenden Worten beschreibt:
Nachdem all das stürmische, tosende und lärmende windige Wetter der Königin Mary weggeblasen war, die dunklen Wolken des Unbehagens zerstreut, der mit Händen zu greifende Nebel und Dunst des unerträglichsten Elends vergangen und die zerschmetternden Schauer der Verfolgung überwunden, gefiel es Gott, England windstilles und ruhiges Wetter zu schenken, einen klaren und angenehmen Sonnenschein, ein quietus est nach den früheren Tumulten eines aufgewühlten Landes und eine Welt der Segnungen durch die gute Königin Elizabeth.
Ganz offenbar schreibt Holinshed für eine protestantische Minderheit, gebildet und reich genug, um sein teures, zweibändiges Werk zu kaufen. Aber wir müssen nicht unbedingt durch seine rosafarbene Brille schauen, um viele nationale Erfolge und positive Entwicklungen zu sehen. Elizabeths Regentschaft ist geprägt von der Entstehung gewaltiger Vermögen und von intensivem künstlerischem Streben. Englische Entdecker dringen, von Profitgier getrieben, bis in die kalten Gewässer vor Nordkanada und zum Polarkreis im Norden Russlands vor. Trotz Kriegen mit Frankreich und Spanien wird auf englischem Boden nicht gekämpft, sodass für die meisten Engländer die ganze Herrschaft friedlich verläuft. Neben den berühmten Gedichten und Theaterstücken gibt es auch viele Innovationen in Wissenschaft, Gartenbau, Verlagswesen, Theologie, Geschichtsschreibung, Musik und Architektur. Zwei englische Kapitäne umsegeln die Welt – und beweisen den Menschen des 16. Jahrhunderts, dass sie endlich über das Wissen der alten Griechen und Römer hinausgewachsen sind. Die Denker behaupten nicht mehr, dass sie weiter als die Alten sehen könnten, weil sie »Zwerge auf den Schultern von Riesen« seien. Sie sind jetzt selbst Riesen.
Dies ist das zweite Handbuch für Zeitreisende, das ich geschrieben habe. Das erste, Im Mittelalter, konzentrierte sich auf das 14. Jahrhundert. Ich wollte darin vor allem zeigen, dass wir die Vergangenheit nicht unbedingt objektiv beschreiben müssen; eine objektive Sicht auf die Vergangenheit ist vielmehr oft akademisch und distanziert und damit nicht unbedingt hilfreich. In diesem ersten Buch habe ich versucht, meinen Lesern die Zeit des Mittelalters näherzubringen, und beschrieben, was man vorfinden würde, könnte man das England des 14. Jahrhunderts besuchen. Mein Interesse an der Frühmoderne brachte mich natürlich dazu, über eine elisabethanische Fortsetzung nachzudenken; schließlich gelten die Prinzipien des ersten Zeitreiseführers auch für alle anderen Zeiten und Orte. Also schrieb ich dieses Buch, das im englischen Original den Titel Handbuch für Zeitreisende ins elisabethanische England trägt. Nun entspricht die Lebenszeit Shakespeares (1564 – 1616) nicht genau der Regierungszeit Elizabeths I. (1558 bis 1603); dennoch soll der Text aus drei Gründen unverändert bleiben: Erstens scheint es kontraproduktiv, zwei Fassungen eines Buches zu haben, das fast, aber nicht ganz dasselbe ist. Zweitens wurde Shakespeare in das elisabethanische England hineingeboren, und es hat ihn stark geformt – er war fast vierzig Jahre alt, als Elizabeth starb, und sein schriftstellerisches Werk endete acht oder neun Jahre nach ihrem Tod. Und drittens vermeiden wir es mit einem Text, der ursprünglich Elizabeths Reich und ihre Untertanen beschreiben sollte, eine Sozialgeschichte zu liefern, die allzu eng mit Shakespeare selbst verknüpft ist und seine Zeitgenossen nur unzureichend in den Blick nimmt. Wir sind nun einmal nicht Shakespeare, und wenn wir seine Welt verstehen wollen, lenkt es uns nur vom Wesentlichen ab, wenn wir so tun, als wären wir er, uns nur mit den Orten beschäftigen, an denen er lebte, und mit den wenigen Ereignissen in seinem Leben, von denen wir sicher wissen. Dies verweist auf einen vierten guten Grund dafür, den Text nicht zu ändern: Es geht in diesem Buch vor allem darum, dass wir uns vorstellen, wie es wohl ist, sein Heimatland zu besuchen, nicht aber darum, ihm selbst zu begegnen. Und die Erfahrungen, die wir dabei machen, formen unsere Beziehung zur Vergangenheit. Das geht weit über den Kontext hinaus, in dem Shakespeare lebte und seine Theaterstücke und Gedichte schrieb, es bezieht sich auf unserer gesamtes Verständnis der Menschheit im Laufe der Zeit – und folglich der menschlichen Natur.
Der Historiker ist immer ein Vermittler: Er erleichtert dem Leser das Verständnis der Vergangenheit. Das ist bei mir nicht anders, auch wenn dieses Buch im Präsens geschrieben ist und auf der Voraussetzung beruht, dass die eigene Anschauung der direkteste Weg ist, etwas zu lernen. Allerdings ist mein Umgang mit den Quellen in einem Buch wie diesem eher ungewöhnlich. Natürlich sind literarische Texte (Dramen, Dichtung, Reiseberichte, Tagebücher, Ortsbeschreibungen aus der Zeit) ebenso wichtig wie ein breites Spektrum gedruckter Akten. Doch um all diesen Quellen Informationen zum Alltagsverhalten abzugewinnen, muss der Historiker auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen. Wie schon in meinem Zeitreiseführer Im Mittelalter gesagt: »Der Schlüssel, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, mag ein verfallenes Gebäude oder ein Archiv sein, doch das Instrument, mit dem wir sie zu erschließen suchen, sind wir selbst – und das wird immer so bleiben.«
Dieses Buch folgt in seiner Form mehr oder weniger dem Mittelalter-Zeitreiseführer – aber es stellt nicht sklavisch dieselben Fragen. Es wäre mühsam, noch einmal all dieselben Beobachtungen zu Aspekten des Alltagslebens anzustellen, die sich vom Leben in unserer Gesellschaft unterscheiden. Zudem wäre es unangemessen, in einem Buch über das England des späten 16. Jahrhunderts haarklein einer Formel zu folgen, die doch entwickelt wurde, um das Land im 14. Jahrhundert zu beschreiben. So ist es zum Beispiel unmöglich, die Religion auf ein Unterkapitel in diesem Buch zurückzustufen: Sie braucht ein eigenes Kapitel, weil sie im Leben der Elisabethaner eine so große Rolle spielt. Das England des Jahres 1558 hat viel mit dem des Jahres 1358 gemein, aber es hat sich auch viel geändert. Deshalb beschäftigt sich dieses Buch nicht nur mit dem Vergleich zwischen dem elisabethanischen England und heute; es untersucht auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu seinen mittelalterlichen Wurzeln.
Weil die ursprüngliche Fassung dieses Buches sich ausschließlich mit dem England unter Elizabeth I. beschäftigte, habe ich nur sehr selten Details aus der Zeit nach 1603 aufgenommen. Hin und wieder führe ich spätere Belege an, aber nur, um eine Vorgehensweise oder einen Brauch zu illustrieren, die es sicher schon vor 1603 gab. Öfter berufe ich mich auf Quellen aus der Zeit vor 1558: Das elisabethanische England besteht in vielem aus Überbleibseln des Mittelalters und der früheren Tudor-Zeit. Das gilt natürlich für die Burgen, Stadtmauern, Straßen und Kirchen, aber auch für Bücher, die immer noch gelesen und oft in elisabethanischer Zeit wiederaufgelegt wurden. Und vor allem gilt es für die Gesetzgebung: Die Gesetze beruhen zu einem großen Teil auf mittelalterlichen Vorgängern. Und jedes Haus, jedes Bauwerk, das im Mittelalter oder der früheren Tudor-Zeit gebaut wurde und noch steht, ist natürlich auch elisabethanisch. Gleiches gilt für viele Ausdrücke und Bräuche aus der Zeit vor 1558. Unter Beachtung all dieser Vorbehalte habe ich mein Bestes getan, um das England zwischen Elizabeths Thronbesteigung am 17. November 1558 und ihrem Tod am 24. März 1603 möglichst korrekt darzustellen.
Willkommen also im England Shakespeares und Elizabeths – mit all seinen Zweifeln, Gewissheiten, Veränderungen, Traditionen und Widersprüchen. Es ist ein mit Edelsteinen besetztes, vor Schlamm strotzendes Reich, funkelnd und hungernd, gleichermaßen hoffnungsvoll und angsterfüllt – immer am Rande wunderbarer Entdeckungen und brutaler Rebellionen und immer sorgsam bedacht auf die Schönheit, Macht und Gefahr, die Worte in sich bergen.
Verschiedene Gesellschaften nehmen Landschaften unterschiedlich wahr. Man kann sich das elisabethanische England anschauen und ein überwiegend grünes Land sehen, geprägt von großen offenen Feldern und Wäldern, doch ein elisabethanischer Freisasse wird Ihnen seine Heimat eher anhand der Städte, Häfen, Herrenhäuser, Brücken und Straßen beschreiben. In Ihren Augen ist es vielleicht ein dünn besiedeltes Land – 1561 nicht einmal dreiundzwanzig Menschen pro Quadratkilometer (verglichen mit mehr als dem Zehnfachen heute) –, die Zeitgenossen dagegen werden von Übervölkerung und den Problemen des Bevölkerungswachstums sprechen.[3] Landschaftsbeschreibung ist also eine Sache der Perspektive: Die eigenen Prioritäten beeinflussen, was man sieht. Wenn man die Einwohner von Devon bittet, ihre Grafschaft zu beschreiben, werden die meisten Exeter erwähnen, die Hafenstädte Dartmouth, Plymouth und Barnstaple und die kleinen Marktstädte. Unterschlagen werden sie in der Regel Dartmoor, das riesige Moor, das die Region beherrscht und an manchen Stellen mehr als sechshundert Meter über dem Meeresspiegel liegt und insgesamt über fünfhundert Quadratkilometer groß ist. Durch diese Ödnis führen keine Straßen, nur Fußpfade. In den Augen der Elisabethaner spielt sie nur als Weideland, beim Zinnbergbau und als zuverlässige Wasserversorgung durch die dort entspringenden Flüsse eine Rolle. Viele Menschen haben Angst vor solchen Mooren und Wäldern. Man befindet sich dort »im tief düstern, rauhen Wald … wie von Natur für Mord geschaffen und für Schändung«, wie Shakespeare in Titus Andronicus schreibt. Ganz sicher findet niemand Dartmoor irgendwie schön. Die Künstler des 16. Jahrhunderts malen reiche Menschen, wohlhabende Städte und Nahrungsmittel, aber keine Landschaften.
Die Gründe dafür sind nicht schwer auszumachen. In einer Gesellschaft, in der noch immer Menschen verhungern, ist ein Obstgarten an sich nichts Schönes: Seine Schönheit liegt darin, dass er Äpfel und Most liefert. Ein weites, ebenes Feld ist »schöner« als zerklüftete Felsen, denn dort kann Weizen wachsen, aus dem man das gute weiße Brot backt. Ein kleines reetgedecktes Cottage, das wir heute hübsch finden würden, ist in den Augen eines elisabethanischen Reisenden unattraktiv, denn die Bewohner solcher Häuschen sind im Allgemeinen arm und können Gästen kaum etwas bieten. Hügelketten und Bergzüge sind Hindernisse und ganz und gar nicht die pittoresken Sehenswürdigkeiten, für die wir heute einen Umweg machen. Hügel mögen in der Grafschaftsbeschreibung eines elisabethanischen Autors eine Rolle spielen, weil dort Schafe weiden können, doch insgesamt wird er vor allem die Häuser und Parks des Landadels aufzählen.
Man muss sich diese Unterschiede klarmachen. Gerade die Dinge, die Ihnen besonders auffallen werden, nehmen die Elisabethaner als gegeben hin: die riesigen offenen Felder, die schlammigen Straßen und die winzigen Arbeiterhäuschen. Tatsächlich sprechen die Menschen erst kurz vor 1600 erstmals überhaupt von »Landschaft«, um einen Ausblick zu beschreiben. Vorher haben sie so ein Wort nicht gebraucht, denn sie sehen eine »Landschaft« nicht als solche, sondern nur die konstituierenden Elemente, die ihnen wichtig sind: die Wälder, Felder, Flüsse, Obstgärten, Gärten, Brücken, Straßen und vor allem die Städte. Shakespeare verwendet das Wort »Landschaft« nie; er spricht von »Land« – ein Konzept, in dem Menschen und stoffliche Dinge eng miteinander verbunden sind. Wenn Sie also die elisabethanische Landschaft beschreiben, ist das nicht notwendigerweise das »Land« der Elisabethaner. Jedes Sehen ist einzigartig – und das gilt für einen elisabethanischen Bauern, der sein Getreide betrachtet, ebenso wie für Sie, die Sie ins 16. Jahrhundert zurückreisen.
Stratford-upon-Avon liegt im Herzen Englands, etwa hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von London. Die mittelalterliche Pfarrkirche steht am Südende der Stadt, nur ein paar Meter vom Avon entfernt, der träge im leichten Bogen am östlichen Rand entlangfließt. Der Kirchturm trägt eine gedrungene hölzerne Spitze. Im Norden sieht man die hübsche Steinbrücke mit vierzehn Bögen, die Sir Hugh Clopton in den 1490ern hat bauen lassen. Vieh grast auf der großen Wiese am anderen Ufer, weiter unten, wo die Mühle an der Verengung des Flusses steht, gibt es eine kleine hölzerne Brücke.
Wenn man im November 1558, ganz am Anfang der Regentschaft Elizabeths, in diesem Teil von Stratford steht, sieht es zunächst so aus, als habe sich die Stadt seit dem Mittelalter kaum verändert. Wenn Sie Richtung Zentrum gehen, stammen die meisten Bauten noch aus dem Mittelalter. Direkt gegenüber vom Friedhof liegt der steinerne Innenhof des College, das Stratfords bekanntester Sohn, John Stratford, Erzbischof von Canterbury, in den 1330ern gegründet hat. An einem Obstgarten und ein paar niedrigen, zweistöckigen Reetdachhäuschen vorbei kommen Sie zu einer schlammigen Ecke: Biegen Sie dort nach rechts in die Church Street. Vor sich sehen Sie jetzt regelmäßig gebaute Wohnhäuser, große Fachwerkbauten, die oft die vollen siebzehn Meter der Parzellen aus der Gründungszeit der Stadt im 12. Jahrhundert einnehmen.[4] Hundert Meter weiter zu Ihrer Rechten liegen die Armenhäuser der mittelalterlichen Guild of the Holy Cross (Gilde vom Heiligen Kreuz). Sie bilden eine Reihe zweigeschossiger Fachwerkbauten mit unverglasten Fenstern, Ziegeldächern und Auskragungen, die in einer Höhe von zwei Metern über die Straße vorspringen. Danach kommen die Lateinschule und das Versammlungshaus der Gilde, ein ähnlich langes, niedriges Gebäude mit getünchten Balken und Holzstreben vor den Fenstern. Direkt daneben steht die Kapelle der Gilde mit ihrem hübschen Steinturm. Die Uhr schlägt zur vollen Stunde, während Sie in der feuchten Herbstluft die schmutzige Straße entlanggehen.
Schreiten Sie weiter aus! Rechts, gegenüber der Kapelle, steht das repräsentativste Haus der Stadt: New Place, gebaut von Sir Hugh Clopton – dem Mann, der die Brücke errichten ließ. Es ist drei Stockwerke hoch und aus Fachwerk, mit Backsteinen statt Weidenzweigen und Lehmputz zwischen den Balken. Fünf Joche breit, hat es ein großes Fenster auf beiden Seiten der zentralen Eingangshalle, fünf Fenster im Stockwerk darüber und fünf in den ebenso vielen Giebeln im obersten Stock. 1558 ist Sir Hugh der zweitberühmteste Mann Stratfords (nach dem Erzbischof) und wird von den Stadtbewohnern bewundert. Die Jungen, die aus der Lateinschule ins Zentrum gehen, sehen in diesem Gebäude einen Ausweis für den wirtschaftlichen Erfolg des Besitzers, und ein zukünftiger Schüler, William Shakespeare, wird irgendwann in Sir Hughs Fußstapfen treten, in London viel Geld verdienen, auf seine alten Tage in seine Heimatstadt zurückkehren und genau dieses Haus kaufen.
Wenn Sie weitergehen, stoßen Sie auf schmalere Häuser; dort sind die alten Parzellen in zwei, drei oder sogar vier Hausstellen aufgeteilt: Auch diese Häuser sind meist drei Stockwerke hoch und ragen mit jedem Stockwerk weiter auf die Straße vor. Anders als in anderen Städten aber verdunkeln sie die Straßen damit nicht. Marktstädte wie Stratford, die im Mittelalter sorgfältig geplant wurden, haben so breite Durchgangsstraßen, dass die guten Stuben und Werkstätten mehr als genug Licht bekommen. Hier in der High Street finden Sie Handschuhmacher, Schneider und Metzger sowie ein paar reiche Stoff- und einen Wollhändler.[5] Sechs Tage die Woche klappen sie ihre Ladentische auf die Straße und präsentieren dort den Passanten ihre Waren. Die meisten haben Firmenschilder aus Holz – verziert mit Drachen, Löwen, Einhörnern, Kesseln, Fässern –, die an Metallhaken von vorstehenden Holzbalken herabhängen. Dabei entsprechen die Symbole nicht notwendigerweise dem Gewerbe, so kann sich etwa ein Goldschmied »Der grüne Drache« nennen oder ein Handschuhmacher unter dem Namen »Das weiße Herz« bekannt sein. Rechterhand führt die Sheep Street zur Wiese am Fluss hinunter, wo noch weitere Wollhändler wohnen und Wolle sowie die dazugehörigen Tiere gehandelt werden. Linkerhand wechseln in der Ely Street Schweine den Besitzer. Noch einmal hundert Meter die High Street hinunter erreichen Sie das große Marktkreuz: Eine überdachte Fläche, auf der Nadelmacher, Strumpfwirker und ähnliche Handwerker ihre Waren verkaufen. Dahinter liegt die Bridge Street, einst eher ein lang gestreckter, offener Platz als eine Straße, deren Mitte jetzt jedoch von Ständen, Läden und Wohnungen darüber eingenommen wird.
Hier sehen Sie, wenn Sie sich nach rechts wenden, Sir Hugh Cloptons großartige Brücke über einen breiten, flachen Flussabschnitt. Links liegen zwei Straßen mit Fachwerkhäusern: Die Wood Street führt zum Rindermarkt, in der Henley Street steht rechts das Haus des Handschuhmachers John Shakespeare, seiner Ehefrau Mary und ihrer erstgeborenen Tochter Joan. Wie fast alle anderen Häuser im Viertel sind auch hier die Balken mit Geflecht und Lehm gefüllt, ein niedriges Dach beschirmt die drei Joche. In diesem Haus wird im April 1564 ihr genialer Sohn geboren.
An diesem Ende der Henley Street sind Sie fast schon am Stadtrand. Noch einmal hundert Meter weiter stehen Sie auf der Straße nach Henley-in-Arden. Und wie immer an den Rändern von Siedlungen steigen Ihnen auch hier die üblen Gerüche des Misthaufens in die Nase, den die Anwohner auch als Abfallgrube benutzen. Man weiß, dass John Shakespeare einen Teil seines eigenen Pachtlands als Misthaufen benutzt, aber er unterhält außerdem eine Gerberei im Hof hinter seinem Haus, wo er das Leder für seine Handschuhe vorbereitet – und nichts stinkt so furchtbar wie ein Gerberhof. Ein Spaziergang an den Rückseiten dieser Häuser in der Henley Street entlang offenbart, dass Mr Shakespeare nicht der Einzige ist, der sein Grundstück nutzt, um Unrat abzuladen. Viele seiner Nachbarn tun Ähnliches, kippen Fisch- und Tierinnereien, Kot, Gemüsereste und alte Binsen vom Boden auf die Abfallhaufen am Rand des Feldes hinter ihrem Haus. Wenn Sie einen Blick in die unaufgeräumten Hinterhöfe werfen, sehen Sie dort auch Gemüsegärten, Misthaufen, Apfel-, Birn- und Kirschbäume, Hühnergärten, Wagenschuppen und Scheunen – dort werden Essensreste entsorgt und neue Nahrung angebaut. Man könnte sagen, dass Stratford auch eine Bauernstadt ist. Viele dieser Nebengebäude sind mit Reet gedeckt: ein deutlicher Gegensatz zu den schicken Ziegeln der Häuser an der Straße. Beachten Sie bei einigen älteren Häusern die getrennten Küchenbauten im Garten und die Schweine, die in manchen Gärten mit den Küchenabfällen gemästet werden.
Hier denken Sie vielleicht wieder über die mittelalterliche Anmutung des Orts nach. Die Müllkippen Stratfords stinken genauso schlimm wie zweihundert Jahre zuvor, und die Häuser sind noch immer vor allem aus Fachwerk gebaut. Viele von ihnen sind mehr als hundert Jahre alt. Die Grenzen und der Plan der Stadt haben sich seit 1196 kaum geändert. Die Marktplätze sind noch dieselben. Was ist anders geworden?
Die wichtigsten Veränderungen sind nicht sichtbar. Edward VI. hat Stratford zum Beispiel 1553 das Stadtrecht verliehen, und jetzt, fünf Jahre später, werden die Geschicke des Orts von einem Amtmann, Ratsherren und den wichtigsten Bürgern gelenkt. Vor 1547 wurde die Stadt von der Gilde verwaltet. Die ist jetzt aufgelöst, ihr Besitz ist auf die neue Gemeindeverwaltung übergegangen. Die Stadt sieht also 1558 noch fast genauso aus wie 1500, doch die Führung ist eine radikal andere. Vor allem geht es aber um das, was sich gerade jetzt verändert. Die meisten mittelalterlichen Häuser, die 1558 noch stehen, sind Hallenhäuser: ein oder zwei Räume im Erdgeschoss (eine Halle und eine Kammer) mit gestampftem Lehmboden, zum Dach hin offen, und eine Feuerstelle in der Mitte der Halle. Sie haben keine Kamine. Doch Kamine ändern alles. Durch sie lassen sich beheizte Räume übereinander bauen. So können viele Zimmer auf der Grundfläche einer alten Halle entstehen. Auch auf dem Grundstück von John Shakespeare stand einst zweifellos ein Hallenhaus; der »Neubau« hat jetzt Kamine und einen Schornstein durch das Haus, die zwei Kammern oben und zwei unten Wärme geben. Am anderen Ende heizt ein weiterer Kamin die Werkstatt und die Kammer darüber. Viele Nachbarn leben noch in einstöckigen Häusern, doch im November 1558 hat Stratford wie alle anderen Kleinstädte in England schon zu wachsen begonnen – vor allem nach oben.
Diese drastischen Veränderungen werden Ihnen ins Auge fallen, wenn Sie vierzig Jahre später, gegen Ende von Elizabeths Regentschaft, wieder einmal vorbeikommen. Im Jahr 1598 ist die Kirche noch da, die Straßen sehen genauso aus, die Gebäude der Gilde und die Schule haben sich kaum verändert – aber mehr als die Hälfte der Stadt ist neu gebaut. Grund sind einmal die beiden katastrophalen Brände 1594 und 1595, die hundertzwanzig Häuser zerstört und damit ein Viertel der Bevölkerung obdachlos gemacht haben. Jetzt gibt es viel mehr gemauerte Kamine und daher auch viel mehr hohe Häuser. Ziegel sind tatsächlich ein Schlüsselfaktor für den Wandel. Die erschwingliche Produktion von haltbarem und feuerfestem Kaminbaumaterial führt dazu, dass selbst dort Häuser mit zwei und drei Stockwerken in die Höhe wachsen, wo Stein knapp und Steinmetzarbeit teuer ist. Gehen Sie auf der Henley Street zurück über den Marktplatz und in die High Street, und Sie werden sehen, dass sich die ganze Stadtsilhouette verändert hat. Fast alle Häuser zu Ihrer Rechten sind jetzt dreistöckig, ihr Fachwerk ist eleganter und symmetrischer, mit mehr Schnitzereien auf den Balken zur Straße hin. Bei einigen sieht man gefettetes Papier oder Stoff hinter einem Holzgitter in den Fenstern, sodass ein bisschen Licht hineinfällt, die Zugluft aber draußen bleibt. Andere haben jetzt Glasfenster in den Stuben zur Straße hin. Glas, das in den Stadthäusern 1558 sehr selten zu finden war, wird für die einigermaßen Wohlhabenden in den 1570ern erschwinglich.[6] Nicht alle neuen Gebäude an der Straße haben schon Glasfenster, denn es ist auch 1598 immer noch schwer zu bekommen; doch die meisten Menschen mit finanziellem Spielraum versuchen, es sich zu besorgen – sie importieren es in vorgefertigten Rahmen aus Burgund, der Normandie oder Flandern, wenn sie kein englisches Glas kaufen können. Und sie statten nicht notwendigerweise gleich das ganze Haus damit aus, sondern vielleicht erst einmal nur die Halle und die Stube. 1558 ist ein Kamin das wichtigste Statussymbol. 1598 sind es Glasfenster.
Weniger schön sind die Veränderungen bei der Unterbringung der Armen. Sie werden vielleicht denken, die Umwandlung von Ställen in Wohnraum sei ein moderner Trend, aber ein Blick in die Hinterhöfe wird Sie eines Besseren belehren. Nicht wenige alte Scheunen sind an Arme vermietet, die sonst nirgendwohin können. 1558 wohnen etwa 1500 Menschen in Stratford; 1603 ist die Einwohnerzahl auf 2500 angestiegen.[7] Dabei sind wahrscheinlich noch gar nicht alle Armen und Landstreicher in der Stadt und im Umland mitgerechnet – ein Bericht aus dem Jahr 1601 erwähnt, dass die Gemeinde Mühe hat, mit siebenhundert Armen zurechtzukommen. Jetzt wissen Sie, warum die Wohlhabenden prahlerisch in hübschen Häusern mit Glasfenstern wohnen – das hebt sie von den Habenichtsen ab. Deshalb ist William Shakespeare, Sohn des Handschuhmachers, 1597 so stolz auf den Erwerb von New Place mit seinen Ziegelsteinen, Glasscheiben und Kaminen – das ist etwas ganz anderes als das übel riechende Haus, in dem er aufwuchs (und in dem sein alter Vater immer noch wohnt). Natürlich lebt auch Williams Frau Anne lieber in New Place als in dem Bauernhaus in Shottery, in dem sie groß wurde. Die Halle dort war offen bis zu den Dachsparren und hatte ebenso wie die Kammer, die sie mit ihren sieben Geschwistern teilte, einen Lehmboden. In New Place muss sie zwar damit zurechtkommen, dass ihr Ehemann immer wieder für längere Zeit nach London reist, doch in den sechzehn Jahren seit ihrer Heirat 1582 haben sich ihre Lebensumstände unglaublich verändert – sie hat nicht nur mehr Geld zur Verfügung, auch das Angebot dessen, was man für Geld kaufen kann, ist größer geworden.
Gleiches gilt auch für andere städtische Siedlungen. 1600 gibt es fünfundzwanzig Bischofsstädte und 641 Marktstädte in England und Wales.[8] Da sie gerade alle im Umbau begriffen sind, ist es schwer, sie zu vergleichen, denn ihre Einwohnerzahl verändert sich sprunghaft. So hat zum Beispiel London 1558 rund 70 000 Einwohner und 1603 etwa 200 000; es steigt von der sechstgrößten Stadt in Europa (nach Neapel, Venedig, Paris, Antwerpen und Lissabon) zur drittgrößten auf (nach Neapel mit 281 000 Einwohnern und Paris mit 220 000).[9] Einige andere englische Städte wachsen ähnlich dramatisch. Plymouth hat bei Elizabeths Thronbesteigung drei- bis viertausend Einwohner, bei ihrem Tod sind es achttausend. Die Bevölkerung von Newcastle verdoppelt sich zwischen 1530 und 1600. In manchen Orten bleiben die Zahlen dagegen gleich: Exeter beherbergt das ganze 16. Jahrhundert über etwa achttausend Menschen. Einige wenige Städte schrumpfen sogar, wie Salisbury und Colchester, die beide 1600 etwa zweitausend Seelen weniger zählen als Mitte der 1520er-Jahre. Insgesamt aber haben Mitte der 1520er-Jahre nur zehn Städte mehr als fünftausend Einwohner; 1600 sind es schon zwanzig.[10]
Die größten englischen Städte im Jahr 1600 [11]
Nr. |
Ort |
Geschätzte Bevölkerung |
|
Bischofsstädte in Großbuchstaben; Seehafenstädte mit * |
|
|
||
1 |
LONDON * |
200 000 |
2 |
NORWICH |
15 000 |
3 |
YORK |
12 000 |
4 |
BRISTOL * |
12 000 |
5 |
Newcastle * |
10 000 |
6 |
EXETER * |
8 000 |
7 |
Plymouth * |
8 000 |
8 |
Coventry |
6 000 |
9 |
SALISBURY |
6 000 |
10 |
Lynn * |
6 000 |
11 |
GLOUCESTER * |
6000 |
12 |
CHESTER * |
6000 |
13 |
Kingston upon Hull * |
6000 |
14 |
Ipswich * |
5000 |
15 |
CANTERBURY |
5000 |
16 |
Colchester |
5000 |
17 |
WORCESTER |
5000 |
18 |
Great Yarmouth * |
5000 |
19 |
OXFORD |
5000 |
20 |
Cambridge |
5000 |
Aus dieser Tabelle kann man einiges herauslesen. Zunächst einmal ist Stratford-upon-Avon mit seinen gerade einmal 2500 Einwohnern 1600 nicht gerade eine Großstadt, aber nur zwanzig Städte in England sind doppelt so groß. Wir können also sagen, dass Stratford wirklich repräsentativ ist für die Mehrheit der Städte in England und Wales. Zweitens findet sich nur die Hälfte der zweiundzwanzig englischen Bischofsstädte in der Liste. Die anderen elf – Winchester, Carlisle, Durham, Ely, Lincoln, Hereford, Lichfield, Rochester, Chichester, Peterborough und Wells – haben weniger als fünftausend Einwohner. Und drittens sind elf der zwanzig bevölkerungsreichsten Orte Hafenstädte (zwölf, wenn wir York mit seiner kleinen Anlegestelle dazuzählen). Die Städte, die am schnellsten wachsen – London, Newcastle und Plymouth –, haben Seehäfen, was uns daran erinnert, dass die lange Küstenlinie und die geografische Lage der Insel den Elisabethanern ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Im Mittelalter begriff man das Meer als Barriere oder Grenze. Unter den Tudor-Herrschern wird es zu einer der größten natürlichen Ressourcen des Landes.
Die wichtigste Information, die in der Tabelle der bevölkerungsreichsten Orte steckt, ist schwerer zu entschlüsseln. Wenn man diese Übersicht mit einer ähnlichen für das mittelalterliche England vergleicht, zeigt sie einen deutlichen Urbanisierungsprozess. In den Städten auf der Liste wohnen 336 000 Menschen; die zwanzig größten Städte 1380 beherbergten noch nicht einmal halb so viele. Zudem leben mehr Menschen in den vielen kleinen Marktflecken mit manchmal nur fünfhundert Einwohnern in ihren hundert Häusern, die sich um eine einzige Hauptstraße oder einen Marktplatz drängen. Aber es gibt auch mehrere Dutzend Orte von der Größe Stratfords mit all den Gewerben und Verwaltungsfunktionen, die man sich bei einer richtigen Stadt so vorstellt. 1600 leben fast 25 Prozent der Bevölkerung in einer kleinen oder großen Stadt, 1380 waren es nur etwa zwölf Prozent.[12] Das ist eine wichtige Entwicklung: Wenn ein Viertel der Engländer in einer Stadt aufwächst, wird die Kultur insgesamt urbaner. Die Gesellschaft als Ganze ist nicht mehr so eng mit dem Leben auf dem Land verbunden. Der selbstständige Städter mit einem Gewerbe und dem Ehrgeiz, seinen Status und Lebensstandard zu steigern, wird schnell zum vorrangigen Faktor des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Das alte System der Leibeigenschaft, bei dem der Herr die Bauern sogar mit dem Land verkaufen kann, findet sich kaum noch irgendwo.[13]
In vielen Städten bleibt das Straßennetz wie in Stratford gleich. Nicht weniger als 289 von ihnen bewahren auch ihre mittelalterlichen Stadtmauern.[14] Fast alle haben lange Reihen von giebelständigen Fachwerkhäusern zwischen den mittelalterlichen Kirchen und alten Gilden- und Rathäusern. In den meisten gibt es Bereiche, die wie eine Ansammlung »städtischer Bauernhöfe« mit großen Gärten aussehen: Norwich soll so viele Bäume haben, dass man es als »Stadt in einem Obstgarten oder Obstgarten in einer Stadt« beschrieben hat.[15] Auffallen werden Ihnen allerdings vor allem die Häuser, die gerade gebaut werden, mit ihrem Fachwerkskelett oder ihrer Steinfront hinter dem Gerüst. Die alten Klöster werden gerade in Lagerhäuser umgebaut oder abgerissen. In den Sommermonaten ähneln englische Städte riesigen Baustellen, auf denen mehrere Dutzend Fundamente für neue Häuser gegraben werden und halb nackte Männer mit Flaschenzügen schwere Eichenbalken heben. Schauen Sie zu, wie sie auf langen Ulmenbrettern in die oberen Stockwerke hinaufgehen, mit dem Zimmermeister reden, die Rahmen für die Fenster und Fensterläden ausmessen und zuschneiden und die Lücken zwischen den Balken mit Flechtwerk oder Ziegelsteinen füllen. Offenbar zieht gerade die ganze Welt in die Stadt.
Doch Städte dienen nicht nur ihren Einwohnern. Sie sind auch Schnittpunkte, an denen Landleben und städtische Gewerbe, Dienstleistungen und Verwaltungshandeln aufeinandertreffen. Ein Ort wie Stratford beherbergt vielleicht mehr als hundert Brauer, doch das heißt nicht, dass alle Städter trinken wie die Löcher; es deutet vielmehr darauf hin, dass all jene, die aus dem Hinterland an Markttagen in die Stadt kommen, nicht durstig nach Hause gehen müssen. Ähnlich versorgen die Ärzte nicht nur die Städter, sondern reisen in die Pfarreien im Umland und behandeln eine Bevölkerung, die die Einwohnerzahl der Stadt manchmal um ein Mehrfaches übertrifft.[16] Schauen Sie sich in den Häusern und Geschäften Stratfords um, und Sie werden all jene Professionen finden, die eine solche Siedlung ausmachen: Stellmacher, Zimmerer, Maurer, Hufschmiede, Spengler, Schneider, Schuhmacher, Handschuhmacher, Lebensmittelhändler, Metzger, Brauer, Mälzer, Winzer, Stoffhändler, Anwälte, Schreiber, Ärzte und Apotheker. In den meisten ähnlich großen Städten gibt es über sechzig anerkannte Berufe; eine große Stadt wie Norwich oder Bristol mag auf weit mehr als hundert kommen.
Bevor Sie Stratford verlassen, verwenden Sie noch einen Gedanken auf die Jahreszeiten in einer elisabethanischen Stadt. Die Straßen sind meist nicht gepflastert, also verwandelt der Aprilregen sie in Morast, vor allem an den Kreuzungen, wo Wagen wenden und den Schlamm aufwühlen. Egal wie viel Kies man auf die Haupteinfallsstraßen schüttet, es ist auf die Dauer nie genug. Im Sommer trocknet der Schlamm und bricht dann auf, sodass dieselben Wagen und Pferdehufe jetzt Staub aufwirbeln. Außerdem sind die Straßen belebter, denn die Menschen reisen meist im Sommer. Außer den Landbewohnern, die zum Markt kommen, sind da auch noch die Kaufleute aus den Küstenstädten, die zum Beispiel frischen Fisch im Angebot haben. Wenn es Herbst wird, ist weniger los auf den Straßen. An manchen Tagen sind sie fast leer, weil auf dem Land die Ernte ansteht. Im Spätherbst regnet es mehr, und Rinder, Schweine und Schafe werden in die Stadt getrieben, damit man sie vor dem Martinstag (11. November) verkaufen kann. Viele werden geschlachtet und für den Winter eingesalzen. Wenn Sie sich dieselben Straßen dann im Winter anschauen, mit dem Rauch der Holzfeuer überall, werden Sie dort wenige Leute sehen. Die Durchschnittstemperatur ist etwa zwei Grad kälter, als Sie es gewohnt sind, mit besonderen Kälteeinbrüchen in den 1570er- und 1590er-Jahren.[17] Wenn es schneit, ist die Straße morgens wie mit einem weißen Leintuch bedeckt – am Rand dünner, weil dort wegen der überstehenden Traufen weniger Schnee fällt. Die Häuser sind mit immergrünen Pflanzen um die Türen geschmückt. Lange Eiszapfen hängen von den Dächern, weshalb die Leute sich davor hüten, zu nahe an den Wänden vorbeizulaufen. Wagen hinterlassen Radspuren und verwandeln den Schnee in Schlamm und Matsch. Viele Menschen bleiben im Haus und öffnen nicht einmal ihre mit Läden verschlossenen, glaslosen Fenster. Das Bild der ganzen Stadt verändert sich mit den Jahreszeiten – viel stärker als das einer gepflasterten modernen Stadt voller Glasfenster, in der fast alle Aktivitäten vor den Elementen geschützt stattfinden.
[18]furlongs furlongs[19]