Als der Essener Kommissar Alex Michelsen an einem grauen Novembermorgen in eine heruntergekommene Wohnung am Stadtrand gerufen wird, erwartet ihn ein schreckliches Bild: Mitten im Wohnzimmer liegen zwei abgeschlagene Köpfe – vom Rest der Leichen keine Spur. Als kurz darauf eine weitere furchtbar zugerichtete Tote auftaucht, wird klar, dass ein Serienmörder in Essen sein Unwesen treibt. Aber nach welchen Kriterien sucht er seine Opfer aus? Die Ermittler tappen im Dunkeln, bis die junge Polizeipraktikantin Laura einen Blick auf die Tatortfotos erhaschen kann und eine entscheidende Entdeckung macht: Offenbar ist der Mörder ein Kunstliebhaber, der mit seinen Opfern berühmte Gemälde nachstellt. Doch schon bald gerät Laura selbst ins Visier des Killers ...
Paul Buderath, geboren 1981, lebt mit seiner Familie in Essen, im Herzen des Ruhrgebiets. Dort scheibt er nervenzerreißende Geschichten, wie sie nur im Moloch der Großstadt entstehen können. Der Künstler ist sein erster Roman.
Der Künstler
Thriller
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Nadine Buranaseda
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © Contrail/shutterstock, © homydesign/shutterstock, © HorenkO/shutterstock, © shutterstock_STEVEN CHIANG
eBook-Erstellung: 3 w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-8539-7
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Für Regina und Paul Moritz
Nur ein schmaler Lichtstreif über dem Horizont durchdrang die Dunkelheit. Am Himmel türmten sich dichte Wolken unheilverkündend auf, und es war schwer zu sagen, ob die Sonne unterging oder der Tag anbrach. Das Gegenlicht verwandelte die Umrisse der Bäume und Sträucher in die Silhouetten geheimnisvoller Waldwesen, die sich kauernd dem Blick des Betrachters entzogen. Was immer in den Schatten lauerte, blieb besser dort verborgen.
Ein übernatürlicher Schein beleuchtete die Figur im Vordergrund. Der Mann hatte die Augen nach oben gerichtet und schien direkt in den Ursprung des Lichts zu schauen, der außerhalb des Gesichtsfelds des Beobachters lag. Im Spiel von Licht und Schatten auf dem perfekt proportionierten Körper zeigte sich die wahre Meisterschaft des Künstlers: die kleine Vertiefung unter dem Schlüsselbein, die gespannten Sehnen auf dem Fußrücken, der hervorspringende Adamsapfel. Jedes Detail war so plastisch, dass man mit den Händen danach greifen wollte. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein Ausdruck zwischen Schmerz und tiefer Ergebenheit, der den Zuschauer gefangen nehmen musste.
Peter Paul Rubens war nicht ohne Grund einer der prägenden Künstler der Barockmalerei gewesen. Die sinnliche Kraft seiner Personendarstellungen war beispiellos und von atemberaubender Schönheit. Selbst hier, als Reproduktion in einem Katalog, entfaltete das Meisterwerk einen Sog, dem sich zu entziehen unmöglich war. Wie konnte man nicht voller Ergriffenheit innehalten vor diesem blutenden, sich in Todesqualen windenden Mann, der so real war, als atmete er tatsächlich. Wie nicht mitfühlen mit diesem makellosen Wesen, das blutüberströmt seinem Schöpfer ins Antlitz sah?
Die schwere Standuhr schlug ein Uhr. Jetzt war nicht die Zeit zum Genießen. Erst gab es noch eine Menge Arbeit zu erledigen. Der Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Holzdielenboden lag, würde bald wieder zu sich kommen. Dann galt es, zügig zu handeln, ehe er das volle Bewusstsein zurückerlangte und womöglich Probleme machte. Bei Nummer eins hatte alles hervorragend funktioniert, so durfte es weitergehen, damit der Plan aufging. Vor dem Fenster herrschte tiefe Nacht. Verheißungsvoll spiegelte sich das fahle Mondlicht auf der glänzenden Klinge. Ja, die Zeit zum Genießen würde bald kommen.
Kriminalhauptkommissar Alexander Michelsen pfiff durch die Zähne und verschränkte die Arme vor der Brust. Was für ein Start in den Tag!
Die Frau von der Einsatzzentrale hatte nicht zu viel versprochen, als sie ihn am Morgen um halb sechs aus dem Bett geklingelt und von einem »speziellen Fall« gesprochen hatte.
Mit einer Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit betrachtete er die groteske Szene. Es war Anfang November und draußen um diese Zeit noch stockdunkel. Allein das Licht der Straßenlaterne vor den schmutzig trüben Fenstern der leer stehenden Dreizimmerwohnung in Essen-Altendorf tauchte den Raum in einen dämmrigen Schein. Er sah sich um. Die Dunkelheit gab die Details nur widerwillig frei. Die Tapeten waren von den Wänden gerissen, der nackte Putz an etlichen Stellen mit Spachtelmasse ausgebessert. Er registrierte den Umriss der abmontierten Deckenleuchte als hellen Kreis an der vom Zigarettenrauch gelblich verfärbten Zimmerdecke, in der Mitte drei Stromkabel ohne Isolation.
Er ging in die Knie. Vor ihm auf dem Boden lagen zwei abgetrennte Köpfe, jeder auf ein weißes Tuch gebettet. Wie sie dort in der hinteren Ecke des Raums lagen, wirkte es beinahe, als habe sie jemand beim Räumen der Wohnung dort vergessen. Der linke Kopf gehörte einem jüngeren Mann mit feinen Gesichtszügen. Auf dem Hals, unmittelbar unter dem rechten Ohr, trug er ein Tattoo. Michelsen neigte den Kopf zur Seite, um die Schrift besser lesen zu können. R. G. stand in geschwungenen Lettern auf der Haut des Toten. Vielleicht die Initialen einer Verflossenen? Er hatte nie nachvollziehen können, warum Menschen ihre Körper freiwillig derart verschandelten. Immerhin, bei der Identifikation von Leichen konnten Tätowierungen überaus hilfreich sein. Mit geschlossenen Augen – fast friedlich – ruhte der schmale Kopf auf der linken Wange, dem rechten zugewandt. Der gehörte einem älteren, bärtigen Mann. Seine Augen waren halb geschlossen. Der Mund, aus dem wenige gelbe Zähne ragten, war wie zu einem müden Schrei geöffnet. Das Blut aus den beiden Halswunden hatte die Tücher darunter dunkelrot verfärbt, als thronten die abgetrennten Häupter auf einem roten Kissen.
Was, zur Hölle, lief falsch in dieser Welt? Sicher, Menschen töteten andere Menschen seit Anbeginn der Zeit. Menschen, die sie hassten. Menschen, die sie liebten. Manchmal aus verständlichen Gründen und manchmal ohne ersichtlichen Grund. In sechs Jahren als Leiter der Mordkommission der Essener Polizei hatte Michelsen schon einige Male gedacht, er habe alles gesehen. Und jetzt befand er sich mit zwei abgehackten Köpfen in einer leeren Wohnung im Norden der Stadt.
»Haben wir irgendeine Idee, was diese Scheiße soll?«, fragte er, ohne ernsthaft auf eine Antwort zu hoffen.
»Um ehrlich zu sein, nein.« Der Beamte vom Kriminaldauerdienst neben ihm, ein junger Typ Ende zwanzig, sah unglücklich aus. »Wir wissen nicht mal, wer die beiden Opfer sind.«
Der Kriminaldauerdienst, kurz KDD, stellte so etwas wie die schnelle Eingreiftruppe der Kriminalpolizei dar. Wann immer eine Straftat vorlag oder vermutet wurde, leiteten die Mitarbeiter des KDD die ersten Schritte ein. Sie kümmerten sich um den ersten Angriff, die Sicherung von Spuren oder Befragung von Zeugen, bevor die Spezialisten des zuständigen Fachkommissariats die weiteren Ermittlungen übernahmen. Wenn jedoch, wie in diesem Fall, offensichtlich ein Tötungsdelikt vorlag, informierte der KDD umgehend die Mordkommission und übergab den Tatort.
»Wo sind die Körper?«, wollte Michelsen wissen.
Der Beamte zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls nicht in der Wohnung.«
Michelsen seufzte. Er verließ den wenig hilfreichen Kollegen und lief die restlichen Räume ab. Alle waren leer. Das Apartment war seit zwei Monaten nicht vermietet, wie er am Telefon erfahren hatte. Die Wohnungstür war gewaltsam geöffnet worden.
Eine Mieterin hatte den schrecklichen Fund in den frühen Morgenstunden gemacht. Gegenüber den Beamten hatte sie beteuert, durch die offene Wohnungstür neugierig geworden zu sein. Sie hatten keinen Anlass, ihre Version der Geschichte anzuzweifeln.
Eine leere Wohnung mit offener Tür – viel schlechter konnte man ein Mordopfer nicht verstecken. Hatte der Täter die Köpfe hierhergeschafft und drapiert, damit sie jemand fand? Welcher kranke Irre enthauptete zwei Männer und deponierte die Köpfe in einem Apartment, in dem niemand lebte? Hatte der Mörder die Köpfe ebenfalls verschwinden lassen wollen wie die dazugehörigen Leichen? Oder hatte es eine Bedeutung, dass sie dort lagen?
Michelsen hatte normalerweise ein gewisses Talent, sich in die verdrehten Hirne der Verbrecher hineinzuversetzen, die er jagte, aber das ergab auf den ersten Blick wenig Sinn.
»Kriminalhauptkommissar Michelsen, da sind Sie ja!«
Michelsen hob den Kopf und sah Dr. Feliakis geradewegs auf sich zu laufen.
»Immer erfreut, Sie zu sehen, wie geht es Ihnen?« Im Heraneilen streckte ihm der Arzt die Hand entgegen. Es erstaunte Michelsen immer wieder, wie flink sich der kleine, korpulente Mann bewegte.
»Ging schon mal besser, Doktor.«
Der Oberarzt der Rechtsmedizin war eine verlässliche Konstante bei nahezu jeder Tatortbegehung. Sein schiefes Gesicht, das herzliche Lachen und der griechische Akzent waren noch weniger zu ersetzen als seine fachliche Kompetenz. Feliakis trug einen scheußlichen graublauen Strickpullover zu braunen Bundfaltenhosen. Die wenigen verbliebenen Haare kämmte er von einer Seite auf die andere über den kahlen Schädel. Bei jedem Schritt wippten sie auf und ab. Als sie sich begrüßten, verschwand die kleine Hand des Mediziners in Michelsens Pranke.
»Haben Sie sich den Schlamassel schon angesehen?«, fragte Feliakis in für seine Verhältnisse trübsinnigem Tonfall.
»Viel zu sehen gibt’s ja nicht, das meiste von den Leichen fehlt.« Michelsen lächelte bitter. »Also, was haben Sie, Doktor?«
»Nun ja, wir haben zwei Männer im Alter von etwa fünfunddreißig und fünfzig Jahren. Enthauptet durch scharfe Gewalt.«
»Scharfe Gewalt?«, hakte Michelsen nach.
»Ja, die Halswirbelsäule, die Muskulatur, die Gefäße, alles mit einem sauberen Schnitt durchtrennt. Selbst mit einem Schwert oder einer Axt schafft man das nicht ohne Übung.« Feliakis war ganz in seinem Element.
»Und wie hat der Täter das dann hingekriegt? Mit einer Kreissäge?«
»Dafür sind die Schnittflächen zu glatt. Vor zweihundert Jahren hätte ich auf ein Fallbeil getippt.« Lachfältchen tanzten um die freundlichen Augen des Doktors, die schon so viel Tod und Gewalt gesehen haben mussten, dass es für drei Leben reichte.
Auch Michelsen konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Okay, Doktor, jetzt wüsste ich nur noch gerne, wo der Scharfrichter seine Guillotine aufgebaut hat.«
Gespielter Ernst verdunkelte Feliakis’ Miene, doch in seinen Augen lag nach wie vor ein schelmisches Funkeln. »Nun, man hat das früher meist auf öffentlichen Plätzen gemacht. Aber ich denke, eine Doppelhinrichtung auf dem Borbecker Markt wäre bestimmt jemandem aufgefallen.«
Michelsen war sich da nicht so sicher. Er machte diesen Job lange genug, um sich über nichts mehr zu wundern. Dennoch nickte er. »Wir sind uns also einig, dass die Enthauptung nicht am Fundort stattgefunden hat.«
»Ganz bestimmt nicht. Es sei denn, der Täter hat danach ziemlich gründlich geputzt. Und dem Zustand der beiden Köpfe nach zu urteilen, ist die Tat nicht lange her. Vielleicht erst letzte Nacht.« Dr. Feliakis stemmte die Hände in die Hüften.
»Haben die Männer noch gelebt, als man ihnen die Köpfe abgeschlagen hat?«, fragte Michelsen.
Der Doktor wiegte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Dazu müssen wir die Köpfe erst untersuchen.« Er zögerte. »Und außerdem wird es schwierig sein, die Todesursache einzugrenzen, wenn die Leichen fehlen.«
Michelsen nickte. »Danke.«
Er verabschiedete sich von dem Rechtsmediziner und kehrte in das Zimmer zurück, in dem nun etliche Beamte des Erkennungsdienstes Fotos aufnahmen und Spuren sicherten. Inzwischen hatten die Kollegen Flutlichtscheinwerfer aufgestellt, um den Fundort auszuleuchten. Das kalte weiße Licht zeigte die Szene in ihrer ganzen schrecklichen Klarheit und verjagte den unwirklichen Schleier, den das schummrige Licht darübergelegt hatte.
Michelsen wandte sich ab und schaute auf die Uhr. Halb acht, höchste Zeit, das Frühstück nachzuholen. Er hatte ohnehin genug gesehen, um zu wissen, dass er die nächsten Tage mit der Suche nach zwei kopflosen Leichen und einem Irren mit einer Guillotine zubringen würde. Sein Tag hatte mit dem Anruf aus der Zentrale am Morgen schon den denkbar schlechtesten Anfang genommen. Seine Bereitschaft endete Montag früh, dann würde seine Kollegin Sandra Rehbein für eine Woche übernehmen. Vierundzwanzig Stunden später wäre er für die beiden Enthaupteten nicht mehr zuständig gewesen. Doch es half alles nichts. Nun galt es, wenigstens den Rest des Tages in geordnete Bahnen zu lenken. Und das hieß zuallererst einmal, dass er endlich etwas essen musste.
Im Treppenhaus sprachen Polizeibeamte mit zwei aufgelösten Nachbarn, einem älteren Paar. Die Kollegen nahmen in solchen Fällen routinemäßig die Personalien aller Hausbewohner auf und führten sie einer Vernehmung zu. Unmittelbar nach dem Fund hatte die Polizei das dreigeschossige Mehrfamilienhaus evakuiert. Die Mieter waren inzwischen in ihre Wohnungen zurückgekehrt, da sich kein Anhalt für eine Gefährdung ergeben hatte. Der oder die Täter waren offensichtlich längst über alle Berge.
Durch die Haustür gingen Tatortfotografen, Spurensicherungsexperten und Schutzpolizisten ein und aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Presse von dem spektakulären Verbrechen Wind bekommen würde.
Vor dem Haus begegnete er Mike Stanojevic, seinem Partner bei der Mordkommission. Sie arbeiteten seit Michelsens erstem Tag zusammen und mussten für Außenstehende das Bild eines seltsam ungleichen Paars abgeben. Gut einen Kopf größer als Michelsen und von schlaksigem Körperbau, besaß Stanojevic bei Weitem nicht Michelsens körperliche Präsenz. Während sich Michelsens Fliegerjacke über dem muskulösen Kreuz spannte, wirkte Stanojevic, der wie immer ein weißes Hemd mit Krawatte unter dem dunklen Wollpulli trug, eher wie ein Buchhalter denn wie ein Ermittler. Meistens kam Stanojevic vor ihm am Tatort an, wenn sie nicht ohnehin gemeinsam anrückten. Heute hatte Michelsen ihn aus den Federn geworfen, als er Stanojevic als Ersten in der Benachrichtigungskette der Kommission angerufen hatte. Dass er erst jetzt eintraf, war ungewöhnlich.
»Schön, dass du auch schon da bist«, begrüßte Michelsen seinen Partner.
»Sorry, ich hab’s nicht sofort gefunden.«
»Hat dein Fahrrad kein Navi?«
»Sehr witzig. Warst du bereits oben? Wie sieht’s aus?«
»Geh’s dir ruhig angucken, ich hab richtig Appetit gekriegt.«
Stanojevic verdrehte die Augen. »Kannst du deinen Thunfisch nicht später essen und mit mir hochgehen?«
»Eier, Mike. Zum Frühstück gibt es Eier«, korrigierte Michelsen. »Und ich gehe ganz bestimmt nicht noch mal hoch. Wenn ich verhungere, macht das die beiden Typen auch nicht wieder lebendig.« Mit sanftem Druck schob er ihn aus dem Weg.
Seufzend ließ sein Partner ihn vorbei. Er hatte wohl eingesehen, dass es keinen Zweck hatte, mit ihm zu diskutieren. Michelsen zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und trat ins Freie.
Es war ein wolkenverhangener, nasskalter Tag, wie es sie in dieser Stadt zur Genüge gab. Unwillkürlich fiel ihm der Ausspruch eines Bekannten ein, mit dem der ihn einmal nach dem Aussteigen am Essener Hauptbahnhof begrüßt hatte: »Wenn das Essen ist, wie sieht dann Kotzen aus?« Vermutlich hatte sein Bekannter keine Ahnung, wie viel Wahrheit in diesen zynischen Worten steckte.
Fröstelnd öffnete er die Tür seines Dienstwagens und stieg in den dunkelblauen Passat ein.
Einige Stunden später saß Michelsen im Polizeipräsidium und nahm die Aussage von Sven Patzek zu Protokoll. Der Malermeister wohnte in der Ehrenzeller Straße in Essen-Altendorf, schräg gegenüber dem Haus, in dem die beiden Köpfe gefunden worden waren. Die Nachricht hatte im Viertel schnell die Runde gemacht, und Patzek war nicht der einzige Anwohner, der sich umgehend bei der Polizei gemeldet hatte, um eine Zeugenaussage zu machen.
»Sie haben also letzte Woche wiederholt dieselbe Gruppe südländisch aussehender Männer in das Haus Ehrenzeller Straße vierundsiebzig hineingehen sehen«, wiederholte er Patzeks Worte.
»Libanesen, es waren Libanesen.«
»Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie die Männer nicht kennen?«, erkundigte sich Michelsen.
»Ich erkenne Libanesen, das können Sie mir glauben.«
Michelsen unterdrückte ein Seufzen. »Also gut, Libanesen. Können Sie die Männer genauer beschreiben?«
»Vier dunkelhaarige junge Männer. Einer etwas dicker. Ich habe sie immer nur aus der Entfernung gesehen. Ich will keinen Stress. Die Typen machen sowieso bloß Ärger in der Gegend.«
Michelsen gab es ungern zu, aber wo Patzek recht hatte, hatte er recht. Altendorf war seit Jahren fest in der Hand libanesischer Großfamilien, die nach ihren eigenen Regeln und Gesetzen über das Viertel herrschten. Die übrigen Bewohner hatten nicht selten darunter zu leiden, und so überraschte es wenig, dass viele die Täter unter den Angehörigen der verhassten Clans vermuteten. Michelsen hielt das für unwahrscheinlich. Zwar kam es im Milieu der Großfamilien immer wieder zu Tötungsdelikten. Zumeist handelte es sich dabei jedoch um Familienfehden, in die Außenstehende wie die beiden nicht arabischstämmigen Opfer fast nie hineingezogen wurden. Enthauptungsmorde gehörten außerdem nicht zum bekannten Repertoire dieses Täterkreises.
»Denken Sie, Sie können unseren Kollegen von der Fahndung ein paar genauere Angaben machen, mit denen sich Phantombilder erstellen lassen?«
»Ich kann’s versuchen«, brummte Patzek.
Michelsen legte dem Mann das Protokoll seiner Aussage vor, bevor er die Befragung abschloss. Nachdem Patzek gegangen war, machte er sich auf den Weg zur Teeküche, wo er die Tupperdose mit Reis und Thunfisch aus dem Kühlschrank nahm, um seinen Nachmittagssnack in der Mikrowelle aufzuwärmen.
Dort traf er Stanojevic, der sich gerade einen Kaffee aus dem Automaten gezogen hatte und eine Handvoll Gummibärchen verschlang.
»Ist das dein Mittagessen?«
»Frühstück«, antwortete Stanojevic mit vollem Mund.
»Du solltest mehr auf dich achtgeben.«
»Du klingst schon wie meine Frau.«
»Solange ich nicht mir dir in einem Bett schlafen muss«, erwiderte Michelsen schulterzuckend und stellte sein Essen in die Mikrowelle. »Wie läuft’s bei dir?«
»Nichts Konkretes bisher. Aber immerhin kriegen wir eine Menge Hinweise aus der Nachbarschaft.«
Michelsen verdrehte die Augen. »Kann man wohl sagen. Das ist ja das Schlimme. Ich kann mir eine bessere Sonntagsbeschäftigung vorstellen, als mir Geschichten über irgendwelche mysteriösen Libanesen anzuhören.«
»Schon klar, dass die Schreibtischarbeit nicht dein Ding ist«, entgegnete Stanojevic. »Du würdest am liebsten irgendwo draußen eine Wohnung stürmen oder einen flüchtigen Verdächtigen verfolgen.«
Michelsen grinste. »Ich sehe, du kennst deine Frau ganz gut.«
Lustlos stocherte Laura in ihrem Müsli herum, die Schale wollte einfach nicht leerer werden. Das Frühstück war nie ihre Mahlzeit gewesen, und an einem Tag wie diesem brachte sie kaum einen Bissen herunter. In den letzten drei Jahren hatte sie morgens oft gar nichts gegessen, doch seit sie wieder zu Hause wohnte, tat sie ihrer Mutter den Gefallen und stopfte wenigstens ein paar Löffel in sich hinein. Ihre Mutter war der festen Überzeugung, man könne ohne Frühstück unmöglich aus dem Haus gehen, und heute hatte sie es offensichtlich besonders gut gemeint. Laura wollte nicht wissen, seit wann sie in der Küche gestanden, frisches Obst geschnitten, Kaffee gekocht und Milchschaum geschlagen hatte. Sie wirbelte nach wie vor durch die Küche und hielt Monologe, was Laura alles Spannendes sehen würde, worauf sie aufpassen solle und welche Fehler sie unbedingt vermeiden müsse. Wie eine automatische Bandansage, die in unzähligen Variationen das Gleiche sagte: Du bist noch so klein, mach keine Dummheiten, hör auf deine Mama.
Laura war erst seit Kurzem zurück in Deutschland, aber schon jetzt nahm ihr die Fürsorge ihrer Mutter mit jedem Tag mehr und mehr die Luft. Wie das Müsli, das ihr bereits nach zwei Löffeln zu den Ohren rauskam.
»Sei ganz du selbst. Stell dich überall vor. Und frag, ob du was helfen kannst.«
»Ja, Mama.«
Jetzt näherte sich das wandelnde Tonband und kam direkt gegenüber von ihr am Küchentisch zum Stehen. »Ich hab dir ein paar Brote geschmiert.«
Laura ließ den Löffel sinken und schenkte ihrer Mutter ihr Brave-Tochter-Lächeln. »Vielen Dank, die kannst du dann ja gleich neben die Schultüte legen. Bindest du mir auch die Schuhe zu?«
Das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich. Mit einem Mal tat Laura ihr Sarkasmus leid. Mama war so glücklich, ihr Nesthäkchen wieder bei sich zu haben. Früher oder später musste sie jedoch endlich einsehen, dass ihre Tochter dreiundzwanzig Jahre alt war und an diesem Morgen nicht zu einer Weltreise aufbrach, sondern lediglich ihren ersten Praktikumstag vor sich hatte.
Um die unbehagliche Pause zu beenden, stand Laura auf und räumte ihr Geschirr in die Spülmaschine. »Ich geh hoch, mich anziehen.«
Ihre Mutter reagierte nicht. Natürlich war sie beleidigt, Laura beschloss allerdings, dass sie jetzt keine Zeit hatte, sich darüber Gedanken zu machen. Sie musste in einer Viertelstunde los. Am ersten Tag wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen.
Oben im Bad zog sie sich aus und warf die Sachen in die Wäschetonne. Womöglich hatte ihre Mutter recht. Wer einen Blick in die Tonne warf, konnte denken, Laura sei noch ein kleines Mädchen. In den roten Boxershorts mit den Ostereiern darauf, ihrer Lieblingsschlafhose seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, und dem ausgewaschenen grauen Shirt in XL durfte sie sich nicht wundern, wenn man sie nicht als Erwachsene ernst nahm. Laura schloss den Deckel und zog ihre Unterwäsche an.
Bis zum Abitur hatte Mama immer alles für sie geregelt. Das Studium in Paris war ihr erstes großes Abenteuer gewesen, das erste Mal, dass sie tatsächlich auf sich allein gestellt gewesen war. Die Zeit hatte einem Traum geglichen, einem endlosen Jahrmarktbesuch, bei dem alle Fahrgeschäfte kostenlos waren. Zum ersten Mal war sie ernsthaft verliebt gewesen. In Paris, die Stadt, in der das Leben so viel echter und frischer schmeckte als im grauen Essen, wo sie sich nie richtig wohlgefühlt hatte, seit sie aus Hamburg hergezogen waren. Und natürlich in Pierre, den Jungen mit den wuscheligen braunen Locken und den frechen Augen, der ihr die Zeit in Frankreich versüßt und ihr den Abschied so unendlich erschwert hatte. Laura hatte nicht gewollt, dass dieser Traum jemals endete.
Und doch hatte sie schließlich einsehen müssen, dass es eben genau das gewesen war: ein Traum. Das Studentenleben in der Stadt der Liebe, die grenzenlose Freiheit und die Beschäftigung mit den schönen Künsten waren toll – aber sie machten Laura nicht glücklich. Ihre Eltern hatten aufgeatmet, als Laura ihr brotloses Studium nach dem Bachelor beendet hatte. Zumindest kurz, denn der neue Berufswunsch ihrer Tochter überzeugte sie noch weniger.
Egal, jetzt galt es, ihr Leben endlich auf die Reihe zu bekommen.
Der würzige Duft des frisch gebrühten Kaffees stieg Michelsen aus dem Becher in seinen Händen in die Nase. Mit geschlossenen Augen nahm er einen tiefen Atemzug. Es existierte wenig auf dieser Welt, von dem er ohne Zögern gesagt hätte, dass es sich dafür zu leben lohnte. Frischer Kaffee gehörte ohne Zweifel dazu. Echter Kaffee. Die neue teure Maschine, für die die Kollegen letztes Jahr zusammengeschmissen hatten und die nichts als fade Brühe produzierte, konnte ihm gestohlen bleiben. Deshalb brühte er sich seinen Kaffee im Büro mit einer alten Filtermaschine selbst. Michelsen versank in diesem Moment, in dem es nichts gab außer ihm, dem tiefschwarzen Getränk und dem Aroma, das seinen Kopf nach und nach zu durchströmen schien.
Er setzte die Tasse ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben, und richtete sich auf. Als er die Schultern zurücknahm und den Kopf nach links und rechts neigte, knackten seine Halswirbel geräuschvoll. Ob die ständigen Nackenverspannungen ein Tribut an die Schreibtischarbeit oder das jahrelange Gewichttraining waren, konnte er unmöglich sagen. Vielleicht lag es auch nur am Alter. Seit er die Vierzig überschritten hatte, fühlte er sich manchmal, als wäre er reif für die Rente.
Er schob die Gedanken beiseite und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit. Seit der Auffindung der beiden Köpfe waren kaum mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, aber was die Ermittlungen an nützlichen und weniger nützlichen Informationen zutage gefördert hatten, füllte schon jetzt unzählige Seiten. Der gestrige Tag war lang gewesen, die darauffolgende Nacht umso kürzer. Der Lösung des Falls waren sie trotzdem keinen Schritt näher gekommen.
Im Wesentlichen war Michelsen mit seinem Team mit einem Haufen ungeklärter Fragen konfrontiert. Darin glichen sich alle Mordfälle, die er in seiner Laufbahn bearbeitet hatte: Wer konnte eine solche Tat begangen haben? Warum hatte der Täter das getan? Wer waren die Opfer? In welcher Verbindung standen sie zueinander? Hatten sie den Mörder gekannt? Und hatte jemand, der zu einem solchen Verbrechen in der Lage war, in der Vergangenheit schon einmal getötet? Wird er es wieder tun? Einige dieser Fragen würden die Ermittlungen hoffentlich in den nächsten Tagen beantworten. Andere womöglich nie.
Durch die offene Tür seines Zimmers konnte Michelsen das geschäftige Treiben auf dem Gang und im Büro gegenüber beobachten. Mitarbeiter telefonierten, hämmerten in Computertastaturen und trugen Papiere hin und her. Die Stimmen vermischten sich zu einem undifferenzierten Rauschen. Die unverwechselbare Büroluft, eine Mischung aus dem Geruch heiß laufender PCs und mangelndem Sauerstoff, kroch in sein Zimmer.
Michelsen schaute auf die Uhr. Fast halb eins. In wenigen Minuten begann die Besprechung im Konferenzraum. Er trank einen Schluck Kaffee, fuhr sich mit der Hand über die Augen und erhob sich von seinem Platz.
Als er aus seinem Büro trat, eilte ihm Stanojevic vom anderen Ende des Gangs entgegen. Wie immer war er wahnsinnig gehetzt, und Michelsen musste unwillkürlich schmunzeln, als Stanojevic fast einen Kollegen umgerannt hätte.
»Was ist denn mit dir los, ist deine Schwiegermutter hinter dir her?«
Stanojevic lächelte gequält. »Nicht ganz. Aber ich denke, ich habe etwas, das dich interessieren könnte.«
Gemeinsam legten sie die restlichen Meter bis zum Konferenzraum zurück, wo sich die Mitglieder der Kommission um den großen, ovalen Tisch versammelten.
Stanojevic klappte die Mappe auf, die er unter den Arm geklemmt hatte. Das oberste Blatt zeigte die Kopie eines Personalausweises.
Michelsen erkannte den Mann auf dem Foto sofort. »Wie habt ihr ihn gefunden?«
»Er wurde heute Morgen als vermisst gemeldet«, antwortete Stanojevic.
Michelsen sah erneut auf die Papiere. Holger Baniszewski, achtundzwanzig Jahre alt. Kein Zweifel, das Foto zeigte den jüngeren der beiden enthaupteten Männer. Es fühlte sich merkwürdig an, ihn lebendig und mit einem angedeuteten Lächeln in die Kamera blicken zu sehen. Mit dem mittellangen braunen Haar und dem fein geschnittenen Gesicht erinnerte er an eine Frau oder einen Teenager.
»Und wer ist dieser Baniszewski?«
Stanojevic deutete auf die Mappe in Michelsens Hand. »Alles, was wir wissen, steht da drin. Hat in einem kleinen Elektroladen gearbeitet. Ledig, keine Kinder. Bisher nicht polizeilich bekannt.« Er zuckte mit den Schultern.
»Angehörige?«
»Eine Schwester. Sie hat sein Verschwinden bemerkt. Die beiden haben zusammengewohnt.«
Michelsen warf einen erneuten Blick auf das Foto. Ein braver, biederer Mann. Irgendetwas passte nicht. »Gibt’s noch mehr Fotos von dem Jungen?«, murmelte er mehr zu sich selbst, während er in der Akte blätterte. Darin lagen weitere Aufnahmen, die Michelsen herumgehen ließ. Baniszewski mit einer Frau am Strand. Mit einem Bierglas am Gartentisch. Ganz normale Fotos eines ganz normalen jungen Mannes.
»Fällt irgendjemandem etwas auf?«, fragte er.
»An den Fotos?«, fragte ein Kollege.
»An dem Typen.«
Stanojevic beugte sich über die Mappe und betrachtete die Bilder ebenfalls. »Sieht ziemlich normal aus, wenn du mich fragst.«
»Eben.«
»Was genau meinst du?«
»Ich denke, du bist hier die Spürnase, der kein Detail entgeht. Mein Talent ist ja eher das Draufhauen«, foppte ihn Michelsen.
Stanojevic seufzte. »Alex, lass den Scheiß. Was soll an den Fotos Besonderes sein?«
»Der Typ auf den Fotos ist nicht tätowiert. Zumindest nicht am Hals.«
Stanojevic biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht ist das Tattoo neu?«
»Das müsste seine Schwester ja wissen. Ich will mit ihr sprechen.«
Stanojevic nickte. »Die Psychologen reden gerade mit ihr. Vermutlich wird sie erst morgen vernehmungsfähig sein. Hast du Zeitung gelesen?«
Michelsen wusste genau, worauf Stanojevic anspielte. Die Pressestelle hatte ihm alle Artikel hereingereicht. Es war immer das Gleiche. Ein Einsatz dieser Größenordnung rief rasch die Presse auf den Plan. Irgendjemand, wahrscheinlich der Vermieter, hatte von einem findigen Journalisten ein paar Euros bekommen und im Gegenzug brühwarm über den schaurigen Fund in seinem Haus berichtet. Jetzt überschlugen sich die Blätter mit ihren Theorien über die Hintergründe des Verbrechens. Von Ritualmord war da die Rede, von Hinweisen, die ins Milieu der arabischen Großfamilien führten. Die Reporter spekulierten darüber, wo und wann man den Rest der Leichen finden würde, und stürzten sich wie Aasgeier gierig auf die beiden Toten. Es überraschte Michelsen jedes Mal aufs Neue, wer sich alles berufen fühlte, seine Meinung öffentlich zum Besten zu geben.
Er wollte die Besprechung bereits beenden, doch sein Partner hob die Hand. »Vielleicht verrätst du uns, was es bei dir Neues gibt.«
Michelsen runzelte die Stirn in gespielter Überraschung. »Wie? Ich dachte, ihr fangt den Mörder. Ich hab in meinem Büro gesessen und Kaffee getrunken.«
Stanojevic überging den Spruch. »Also?«
Michelsen seufzte. »Nichts. Von den Hausbewohnern hat niemand etwas Verdächtiges bemerkt. Kein Lärm, keine ungewöhnlichen Geräusche. Die Wohnung scheidet als Tatort wohl tatsächlich aus. Der Vermieter war am Vorabend der Leichenauffindung vor Ort, um nach dem Rechten zu sehen. Also kann der Täter die Köpfe erst in der Nacht dort deponiert haben.«
»Was ist mit der alten Dame, die die Köpfe gefunden hat?«
»Ist noch nicht vernehmungsfähig, Mike. Aber ich bezweifle, dass sie irgendetwas Hilfreiches beitragen kann.«
Sein Partner nickte resignierend. »Wie geht’s jetzt weiter?«
»Wir haben bei der Hausverwaltung die Namen und Adressen aller Wohnungsinteressenten erfragt und jeden zur Vernehmung geladen, der die Wohnung seit dem Leerstand betreten hat. Die Vormieter wohnen in Süddeutschland. Die Kollegen dort nehmen Kontakt zu ihnen auf.«
Stanojevic blickte Michelsen ernst an. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn!«
»Was?«
»Der Mörder legt die Köpfe an einem Ort ab, an dem sie sofort gefunden werden. Die Leichen dagegen lässt er verschwinden. Er muss irgendwas damit vorhaben.«
»Ich glaube, es ist ihm scheißegal, ob und wann wir die Körper finden«, erwiderte Michelsen. »Was wir in der Wohnung gesehen haben, war eine Inszenierung. Es geht ihm um die Köpfe. Die sollten wir finden, und das haben wir getan. Das Einzige, was uns jetzt weiterbringt, ist die Frage nach dem Warum.«
»Was denkst du?«
»Ich denke, wir sollten uns beeilen, um Doktor Feliakis nicht unnötig warten zu lassen.«
Er klopfte auf den Tisch, um zu signalisieren, dass die Besprechung beendet war.
Stanojevic nickte. »Ich geh nur meine Jacke holen. Aber fahr ruhig schon los. Mit dem Fahrrad bin ich sowieso schneller.«
Michelsen verkniff sich einen Kommentar. Seit dem Herbst radelte Stanojevic bei Wind und Wetter zur Arbeit. Angeblich hatte er sich vorgenommen, auf seine Gesundheit zu achten. Ausgerechnet Stanojevic, der sein Lebtag keinen Sport getrieben hatte und sich von Gummibärchen und Kaffee ernährte. Vielen Kollegen ging es wie ihm. Sie ließen sich von der Arbeit völlig auffressen. Allein deshalb hielt sich Michelsen eisern an seinen Ernährungs- und Trainingsplan. Sie hatten beide viel zu oft bis tief in die Nacht in dieser gottverdammten Bude gehockt. In der heißen Phase der Ermittlungen sahen sie meist kaum das Tageslicht – und Michelsen hatte die dumpfe Vorahnung, dass sie bald eine ziemlich lange heiße Phase erwartete.
»Kriminalhauptkommissar Michelsen, schön, Sie zu sehen.«
Obwohl die Stimme den langen Hauptgang des Essener Polizeipräsidiums entlanghallte, erkannte Michelsen den hochfrequenten Singsang von Herbert Behmer-Meißdorf sofort. Betont langsam drehte er sich um und sah den wie immer unerträglich vergnügten Kollegen auf sich zu tänzeln. Behmer-Meißdorf leitete die Verkehrsinspektion und war im gesamten Haus für seine Leutseligkeit bekannt. Ein großer, stämmiger Mann mit einer runden Brille, dem selbst im Winter Schweißperlen auf der Stirn standen. Mit seinen zu kurz geratenen Extremitäten erinnerte er Michelsen an einen übergewichtigen Dackel. Tatsächlich passte das Bild recht gut zu dem überall herumschnüffelnden Männlein. Heute befand sich Behmer-Meißdorf in Begleitung einer blonden jungen Frau Anfang zwanzig, die einen halben Schritt hinter ihm her trottete.
»Wie geht’s, wie steht’s?«, versuchte Behmer-Meißdorf, ihm in seiner typisch penetranten Art ein Gespräch aufzuzwingen.
»Bis Sie mir ins Ohr geflötet haben, dachte ich, es kann heute nicht mehr schlimmer kommen.«
Behmer-Meißdorf hielt das offenbar für einen außerordentlich gelungenen Scherz, denn sein Grinsen verbreiterte sich. »Nie um einen guten Spruch verlegen, der Herr Kriminalhauptkommissar. Gefällt mir, gefällt mir.«
Michelsen schwieg. Er musste grenzenlos genervt aussehen, aber Behmer-Meißdorf schien das nicht im Geringsten zu stören.
»Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen«, trällerte er, ohne innezuhalten. »Laura Stürmer, unsere Praktikantin für die nächsten Wochen.« Er deutete auf die junge Frau neben sich. Es musste ihn mit ausgesprochenem Stolz erfüllen, dass sich jemand freiwillig für die Arbeit seiner Abteilung interessierte. Behmer-Meißdorf suchte ständig nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Typisch Dackel.
Michelsen streifte Behmer-Meißdorfs Begleitung mit einem Blick und umschloss die zarte Hand, die sie ihm entgegenstreckte, mit seiner mächtigen Pranke.
»Na, dann lassen Sie sich mal zeigen, wie man Strafzettel ausstellt. Wird sicher eine spannende Zeit«, sagte er mit einem abschätzigen Lächeln und registrierte, wie die junge Frau den Mund öffnete. Allem Anschein nach nahmen ihr seine Erscheinung und sein Desinteresse jedoch jeden Mut zu einer Erwiderung, sodass sie den Kiefer zuklappte, ohne einen Ton hervorzubringen. Michelsen war das nur recht. Für Small Talk fehlte ihm aktuell definitiv die Zeit.
Pünktlich um ein Uhr mittags waren Michelsen und Stanojevic im Sektionssaal des Rechtsmedizinischen Instituts der Universitätsklinik Essen. Der geflieste Raum war nicht annähernd so groß, wie es die Bezeichnung »Saal« vermuten ließ. Regelmäßig legten Dr. Feliakis und seine Mitarbeiter ihnen hier Details über Todesursachen und mögliche Tathergänge dar. Obwohl die Besuche für die Ermittler zur Routine gehörten, hatte sich Michelsen nie richtig an die spezielle Atmosphäre der Rechtsmedizin gewöhnen können. Unter Skalpell und Mikroskop der Mediziner waren die Umstände eines Ablebens nur ein kaltes wissenschaftliches Faktum. Dennoch, den Hauch des Todes konnte selbst der beißende Gestank des Desinfektionsmittels nicht vertreiben.