Tessa Korber

Ich liebe dich nicht,
aber ich möchte es mal können

Ullstein

Für alle, die mir helfen, Simon zu tragen und zu lieben.
Und für Christian, der dasselbe für mich tut.

Inhalt

Vorwort

Alles noch heil oder das Wunschkind

Weil nicht sein kann …

Sprich es aus und es wird wahr

Exkurs: Scheiße, Arsch und Hass

Meine Jahre in der Niemandsbucht

Die stille Kerze neben dem brennenden Topf

Ganz unten

»Hier ist eine Mutter«

Das Leben und die Bücher – und wiederum das Leben

Mein Leben als Hobby

Scheidung auf autistisch

Gute Tage, schlechte Tage

»Bring ihn mir, wenn er Transzendentalphilosophie sagen kann.«

Non scolae sed vitae …?

Vater – Mutter – Kind … und Heim?

Wofür es gut ist

Epilog

Danksagung

Literatur

Vorwort

Eigentlich wollte ich ein Buch über zwei Menschen schreiben – über meinen autistischen Sohn Simon und mich. Wobei dieser zweite Mensch im Grunde nur in meiner Interpretation auftaucht. Simon kann nicht kommunizieren, er kann sich nicht selber darstellen, kann kein Bild von sich vermitteln, so wie wir alle das tun. Zu weiten Teilen bleibt er ein Rätsel. Er ist darauf angewiesen, dass jemand seine Handlungen und Äußerungen deutet und vermittelt, daher liegt es in der Natur der Sache, wenn nur ich erzähle. In gewisser Weise ist das ein Abbild unseres Lebens: Ich bin seine Aufpasserin, sein Halt, seine Energiezelle, seine Antreiberin, sein Felsen, seine Uhr, seine Erklärerin, seine Weltvermittlerin, sein Butler, seine Übersetzerin, seine Interpretin – die meiste Zeit des Tages, und das sind Tage, die gegen fünf beginnen und oft bis 22 Uhr und länger dauern. Manchmal finde ich das ungerecht mir gegenüber.

Was für ein Buch Simon über uns oder sich schreiben würde, vermag ich nicht einmal ansatzweise zu ahnen. Und das ist natürlich eine schreiende Ungerechtigkeit ihm gegenüber, ein Teil der Ungerechtigkeit des Lebens, das er führen muss, zur Unselbständigkeit verdammt, und es ist kein Wunder, wenn er bisweilen laut schreit vor Wut und Frustration.

Meist habe ich in solchen Momenten Verständnis für ihn, obwohl ich mir zur selben Zeit nichts sehnlicher wünsche, als dass dieses aus scheinbar heiterem Himmel über uns hereinbrechende Schreien und Sich-selber-auf-den-Kopf-Schlagen einfach wieder aufhören möge. Weil es nervt, weil es so erschreckend hemmungslos ist, weil es auf Dauer mürbe macht und weil es einem die eigene Hilflosigkeit vor Augen führt. Und letztlich die Unfähigkeit, sein Kind glücklich zu machen.

Dabei habe ich noch Glück: Simon ist ein Autist, der sich anfassen lässt, meistens zumindest. Zuzeiten darf ich ihn einfach in den Arm nehmen und halten und mir einbilden, ihm dabei all meine Liebe geben zu können. Ich weiß nicht genau, was davon bei ihm ankommt.

Meistens lacht Simon glücklicherweise, allerdings auch das oft ohne von außen erkennbaren Grund, genauso rückhaltlos und ebenso schwer zu steuern. Ich lebe leichter mit dem Lachen als mit dem Schreien, es ist das erträglichere Rätsel. Bisweilen erinnert es mich sogar an das archaische Lächeln der frühen griechischen Götterstatuen. Es ist, wie Simon selbst, auf ferne Weise schön. Aber dann wieder wünschte ich mir – und vielleicht ging es den Griechen mit ihren unergründlichen Göttern ja ebenso –, dieses ewige Lächeln möge doch bitte wieder enden. Weil das nicht Verstehbare so schwer auszuhalten ist.

Auch wenn ich es also bin, die unsere Geschichte erzählt, wird es dabei immer um meinen Sohn gehen. Weil mein ganzes Leben sich um ihn und fast nichts anderes dreht. Was immer ich auch tue, Romane schreiben und Lesungen halten, mich schminken und ausgehen, eine neue Beziehung beginnen, Zeit mit Freunden verbringen, es ist nur ein kleiner, gestohlener Teil meines Lebens. Ich bin immer zugleich die Mutter eines Kindes mit Autismus. Ich habe lebenslänglich.

Manchmal liebe ich meinen Sohn leidenschaftlich, manchmal möchte ich in einen Zug steigen und einfach davonfahren. Ich könnte ihn nie aufgeben, er ist ein Teil von mir. Aber mit ihm zu leben kostet mich alle Kraft. Schon oft habe ich davon geträumt, mit ihm ganz fest im Arm von einem Hochhaus zu springen. Was wir aus verschiedenen Gründen nicht tun werden.

Manchmal ist der Alltag einfach lähmend. Manchmal tanzen wir durch unsere Tage. Manchmal erarbeiten wir Fortschritte, dann wieder frisst uns das Chaos auf. In manchen Momenten glaube ich, die Kraft reicht für keinen weiteren Schritt, dann gibt es wieder wunderbar skurrile Nachmittage, an denen wir, egal ob schlechtes Wetter oder nicht, barfuß durch den Frühlingswald marschieren und Weihnachtslieder singen. An denen wir auf dem Trampolin springen bis in den blauen Himmel hinauf und in einem gemeinsamen Spiel abwechselnd Freunde und Obstsorten aufzählen: »Gabi sagt: Mmh, Banane.« – »Christoph sagt: Mmh, Zitrone.« – »Janek sagt: Mmh, Melone.« Und so ad infinitum, bis uns Freunde, Obstsorten oder die Lust ausgehen. Oder jene Momente, in denen mein Sohn, der normalerweise überwiegend dadaistische Wortgebilde produziert, plötzlich einen Satz von sich gibt, der aus dem innersten Kern seines Wesens zu stammen scheint. Einen Satz, den er an seinen fehlfeuernden Hirnsynapsen vorbeigeschmuggelt hat und den er mir schenkt, wie ein Orakel seinen Spruch. Einen Satz wie den, der diesem Buch seinen Titel gab.

Da hatte ich Simon zugeflüstert, dass ich ihn liebe, und, der Teufel ritt mich, ich fragte ihn, ob auch er mich liebhabe. Zu meinem Erstaunen antwortete er. Er sagte: »Nein, aber ich möchte es mal können.«

Simon weiß es vielleicht gar nicht, doch er hat es mehr als gelernt.

Alles noch heil oder das Wunschkind

Wenn etwas schon so lange andauert und einen noch das gesamte weitere Leben begleiten wird, ist es nicht einfach, einen Anfang zu finden. Simon ist jetzt elf. Und ich kann mir kaum mehr vorstellen, wie ein Leben ohne Autismus aussieht.

Könnte ich das Haus verlassen, wann immer ich wollte? Mal in die Stadt gehen, in ein Café? In meiner eigenen Geschwindigkeit durch die Straßen schlendern, mich umschauen nach Dingen, die mich interessieren, mal stehen bleiben, mal weitergehen. Ohne dabei jemanden anzutreiben, der nach fünf Schritten vergisst, den sechsten zu tun, wenn ihn keiner daran erinnert? Ohne ständig durch Stimme und Geste Ruhe vermitteln zu müssen, im Minutentakt immer wieder das nächste Ziel zu benennen wie der Ansager in der Straßenbahn, damit die Struktur fassbar bleibt? Ohne stets in Eile zu sein, damit sich nichts zu lange hinzieht, damit alles klappt, ehe das Kind einen Koller kriegt, und ohne dauernd darauf vorbereitet zu sein, laute Geräusche, Menschenansammlungen, Hunde und andere Aversionsobjekte, ja überhaupt alle möglichen Irritationen vorausschauend zu umkurven? Könnte ich Arbeiten beginnen und auch beenden, ohne tausend Unterbrechungen – »Mama, hilf mir!« Ohne die stets gespitzten Ohren, die darauf achten, was er tut, ob er Unfug macht, Dinge zerstört, Chaos anrichtet. Ohne die Geräuschkulisse von Simons permanent wiederholten Sätzen, die ohne Sinn sind, ohne sein ständiges Singen, sinnloses Lachen und ohne die plötzlichen Ausbrüche von Aggression, die ich zu ignorieren oder ganz beiläufig zu handhaben suche?

Es wäre ein Leben, ohne die eigenen Emotionen immer flach halten zu müssen. Ohne immer zusammenzuzucken: Wo ist er? Was stellt er jetzt wieder an? Ohne auf den nächsten Schrei zu warten.

Möglich ist das wohl. Aber vorstellbar?

Wo also beginnen?

Ich könnte bei Simons Geburt beginnen. Die verlief wunderbar, viel besser als die meines ersten Sohnes. Und brachte jenen rundgesichtigen, liebenswerten, ausgeglichenen, früh lächelnden Säugling hervor, über den die Ärztin bei der U1-Untersuchung zu unserem maßlosen Stolz sagte: »Ein schönes Kind.« Was für ein trügerischer Start.

Tatsächlich hatten wir drei glückliche Jahre mit einem kaum auffälligen, wunderhübschen, viel lachenden, verschmusten und sich normal entwickelnden Sohn. Es gibt die Fotos alle noch: Bilder, auf denen er strahlt. Bilder, die beweisen, dass er mal mit anderen Kindern spielte. Bilder aus einer Zeit, die so was von vorbei ist. Ich habe sie später mitgeschleppt von einem Arzt zum nächsten, wie einen Talisman, als könnte ich damit irgendetwas abwehren. Niemand wollte sie sich ansehen; es zählte nicht, was einmal gewesen war. Nur noch die blanken Fakten, der Ist-Zustand. Das Kind lachte nicht. Es spielte nicht. Es nahm keinen Blickkontakt auf. Es sprach keines der Wörter mehr, die ich auf einer Liste als Simons erste Begriffe notiert hatte.

Ich könnte mit Simons Vorfahren beginnen, der beiderseitigen Ahnenreihe, die wir sorgsam auf verdächtige Außenseiter durchforsteten, die an jener Krankheit gelitten haben könnten, die zwar wie ein Blitz in unser Leben einschlug, aber eben doch eine logische Konsequenz unseres Erbgutes sein musste, sozusagen von langer Hand vorbereitet. Richtig fündig wurden wir allerdings nicht, kein schrulliger Junggeselle kam in Sicht, kein komischer Onkel, dessen Existenz alles erklärt hätte. Was vielleicht auch daran gelegen haben mochte, dass solche Störungen früher gar nicht diagnostiziert wurden. Jemand galt vielleicht als Sonderling, als etwas seltsam, und lebte doch sein Leben weitgehend innerhalb der Gesellschaft, die damals noch nicht so rigide sortierte. Auf dem Land fiel so einer oft nicht auf, es gab genug Freilauf und einfach strukturierte Arbeiten, mit denen er sein Leben halbwegs integriert hinbringen konnte.

Das, was wir fanden, gab lediglich Raum für Verdacht und bewies am Ende gar nichts. Mein Exmann hatte eine neurotische Mutter mit Angststörungen aufzuweisen, die sie ihm zweifellos weitergegeben hat. Es geht wohl kaum spurlos an einem dreijährigen Jungen vorüber, wenn die eigene Mutter durchs Haus tobt und ruft, sie sterbe, während das hilflose Kind sich im Schrank versteckt. Im Kindergarten hat er dann ein halbes Jahr nicht gesprochen. Angst? Trotz? Mutismus? Mein Exmann hat anfangs einmal sehr bitter zu mir gesagt, Simons Krankheit, das sei sein Autismus. Wahrscheinlich fiel es ihm deshalb auch so schwer, diese Behinderung anzunehmen, weil er an ihr so viele der Züge übernormal ausgeprägt fand, die er an sich selbst kannte und nicht mochte.

Aber ist so etwas pathologisch?

Auf meiner Seite gibt es einen Haufen Depressionen anzubieten, plus Paniksyndrom. Als mein Vater mit 67 deshalb zusammenbrach, war ich heilfroh, endlich gestehen zu können, dass mein Leben schon lange zwischen wenigen guten und vielen grauen Tagen pendelte. Dass diese Anfälle von »ich kann nichts, ich bin nichts« regelmäßig kamen. Und dass Urlaubsreisen, Flugzeuge, Schiffe, Autos und überhaupt das Verlassen meines Alltagslebens mir zunehmend Angst bereiteten.

Was gab es noch bei mir zu finden? Den Hang, die Welt manchmal nicht sehen zu wollen; dieses Gefühl, unter den Blicken der anderen zusammenzubrechen; diese plötzliche Introvertiertheit nach muntereren Phasen und das Genughaben von einem vertrauten Gegenüber; das Unbehagen in Gruppen, die mich erst aufdrehen und dann ganz schnell auslaugen; und die Unlust an manchen Tagen, auch nur den Telefonhörer abzunehmen.

Hatte Simon das also von mir?

Hätten wir, Simons Eltern, das alles kommen sehen müssen?

Im Rückblick denke ich, dass wir die Augen verschlossen, alles nur in Zeitlupe wahrgenommen haben, bis der Aufprall kam. Obwohl die beiden Züge doch schon in voller Fahrt aufeinander zurasten.

Vielleicht ist das ja der Beginn unserer Geschichte: der schleichende Verlust der Normalität, wenn plötzlich die Kindergärtnerin kommt und dir erzählt, dein Kind sei anders als alle anderen. Zuerst leugnest du das natürlich: Mein Kind, anders? Pah, klar ist es anders. Es ist was Besonderes! Diese Spießer haben doch für nichts Verständnis! Wir sind nie Mainstream gewesen, hatten nie Wert darauf gelegt, vielen Dank. Da ist schlicht Engstirnigkeit am Werk, Inkompetenz, Schubladendenken, ganz klar.

Du suchst die Schuld woanders: Im Kindergarten wird gemobbt. Die Erzieher sind unfähig. Die Großeltern haben ihm einen erschreckenden Fernsehfilm gezeigt. Oder hat der Gatte der Tagesmutter ihn etwa missbraucht? (Er möge mir vergeben, ein tadellos anständiger Mann. Es war auch nur ein Sekundenverdacht, geboren aus tiefster Verzweiflung.) Es musste irgendein Trauma gewesen sein, das dieses Kind verändert hat, uns zugemutet von der bösen Welt. Das Schlechte ist dort draußen. Aber bei uns zu Hause, in der Seele unserer Kinder, in der Familienatmosphäre, im Kern unseres Lebens, da ist alles heil. Und wenn wir nur genug Liebe um uns herumhäufeln, dann hält der Wall auch und alles wird gut.

Dann wirst du langsam weich und beginnst, voller Scham und schlechtem Gewissen, an deinem Kind zu zweifeln. Anfangs vertraust du ja darauf, es der Normalität erhalten zu können, indem du einfach fest daran glaubst, dass alles normal ist. Erst wenn du damit aufhörst, ins Wanken gerätst, zu fürchten beginnst, dann ergreift das System dein Kind, dreht es durch seine gleichmacherischen Mühlen und macht es zu einem Freak. Self fulfilling prophecy, weil das System nicht aushält, was anders ist, aus der Norm fällt. Du willst und wirst dieser Gesellschaft nicht erlauben, deinem Sohn ein Etikett aufzukleben. Du fühlst dich verachtet in deinem Kind. Du beginnst zu hassen.

Es dauerte Monate, bis wir aufhörten zu verdrängen und jener Augenblick kam, da ich abends in der Küche stand, den Telefonhörer am Ohr, zum ersten Mal weinend, wie ich später noch oft weinen würde, zum ersten Mal mit dem Gefühl, am Ende zu sein, obwohl ich noch so oft an solche Enden kommen würde. Und immer macht man weiter, einfach aus Mangel an Alternativen. Ich weiß noch, ich sagte zu meiner Mutter am anderen Ende der Leitung: »Mein Kind ist kaputtgegangen.« Es war, so empfand ich es, einfach zerbrochen.

Dieser Satz hat mich Überwindung gekostet. Ich hatte keine Vorstellung davon, welche Überwindungen noch kommen sollten. Erst die Ergotherapie, ein soziales Stigma, wie ich damals fand. Heute gehen wir in fünf Therapien, und ich bin für jede dankbar. Aber damals habe ich mich geschämt. Kaum, dass ich es jemandem zu erzählen wagte.

Die nächste Abweichung vom Pfad der Erwartungen: der Kinderpsychiater. Man steht auf dem Gehsteig und blickt scheu nach links und rechts, ehe man zum ersten Mal die Praxis betritt. Hoffentlich sieht mich keiner. Im Wartezimmer beobachtet man aus den Augenwinkeln neugierig die anderen Eltern, diese Verlorenen. Was haben die für ein Problem? Wie benehmen die sich? Gehören wir da jetzt dazu?

Und am Ende: das Ende. Die Behindertenschule, all die schlitzäugigen Trisomiekinder, die spastisch Gelähmten mit den sabbernden Mündern in ihren Rollstühlen, die seltsam Verwachsenen, Grunzenden, Hässlichen, Aussortierten. Gehörten wir da jetzt hin, ganz ans Ende des Spektrums?

Bitte seien Sie nachsichtig mit mir, nichts gegen Förder- oder Behindertenschulen. Heute haben wir dort unser Zuhause. Aber vielleicht erinnern Sie sich an die Hysterie und die heftigen Kämpfe, die an den Grundschulen in den vierten Klassen aufflammen, wenn es um die Frage geht: Gymnasium oder nicht, so, als ginge es um alles und jenseits des Königswegs Bayerisches Gymnasium sei kein menschenwürdiges Leben möglich. Auch wir waren nicht frei davon; wir hatten immerhin zwei Doktortitel aufzuweisen und gingen natürlich davon aus, dass unsere Kinder später einmal studieren würden. Beim Großen hat das auch alles wunderbar funktioniert. Doch für Simon führte die Rolltreppe scheinbar abwärts.

Es war ein heftiger Moment, nach drei Jahren des Wartens, Therapierens und Diagnostizierens, als die Scherben unserer Kindesträume den Namen Autismus bekamen. Ärzte sind vorsichtig mit Diagnosen in diesem Alter, alles nennt sich erst einmal »Entwicklungsverzögerung«, eine Lumpensammler-Kategorie; man will sich nicht vorzeitig festlegen, keine Pferde scheu machen. Entwicklungsverzögerung heißt schlicht, dass etwas nicht stimmt. Aber auch, dass es noch werden kann.

Bei Autisten zieht sich dieses Hoffen und Bangen und Zerren oft Jahre hin. Es war der Ergotherapeut, der uns als Erster die Wahrheit sagte, die im Grunde offensichtlich war. Wir hatten uns nur angewöhnt, sie nicht zu sehen. Wir klammerten uns an die Traumathese, den Verspätungsverdacht. Und wir waren ja inzwischen bereit, jeden Umweg mit Simon zu gehen, wenn er nur irgendwann wieder in die Normalität mündete. Jeden Fachmenschen, der mit Simon zu tun hatte, fragte mein Mann, in sehr aggressivem Ton: »Und, wird das jemals wieder werden?« Noch jeder war uns ausgewichen. Wir erwarteten gar nichts anderes mehr.

Umso überraschender kam die Antwort.

Simons Ergotherapeut, ein Mann mit einfühlsamem Wesen und leiser Stimme, sagte auf seine ebenso sanfte wie leise, sehr leise Weise einfach: »Nein, das wird es nicht.«

Mein Mann bekam einen Kreislaufzusammenbruch. Er wurde weiß und sank vom Stuhl. Wir legten seine Füße hoch.

Ich blieb, wo ich war. Ich saß an diesem Tisch, starrte vor mich hin und wiederholte immer wieder: »Ich habe es gewusst. Ich habe es gewusst.« Dann sagte ich noch, ohne mich zu rühren: »Jemand sollte ihm ein Glas Wasser geben.«

Näher als in diesem fernen Moment sind mein Mann und ich einander nie wieder gekommen.

Rückblickend war das trotz allem ein guter Moment. Weil man ganz unten angekommen war, so weit unten, dass man endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, egal, wie schlimm die Wahrheit war. Der Verlust aller Hoffnungen kann einen sehr soliden Halt geben.

Ist das also der Beginn unserer Geschichte?

Oder soll ich mit dem Jahr 2008 anfangen, in dem ich mich von Simons Vater trennte, um nur noch mit meinen beiden Söhnen zu leben? Als ich keine Lust mehr hatte, allein die Fassade einer heilen Familie aufrechtzuerhalten und mich zu lieben zu bemühen, wo definitiv keine Liebe mehr war, auch in mir selbst nicht mehr. Wie anstrengend, sich so lange zu belügen. Und als dann endlich die Angst weg war, dass das ganze vertraute Leben fortbrechen würde, und es tatsächlich umstandslos zusammenbrach: wie erleichternd.

Danach war ich, mit den Worten meines älteren Sohnes, alleine Simons »Zentrum«, und die Geschichte wurde wirklich seine und meine. Sein Vater wandelte sich zum Babysitter, als solcher engagiert und verlässlich, und vermutlich auch erleichtert über die gewandelte Last. Simon durfte Simon sein, ich schleppte mich nicht mehr mit der Angst ab, ihn jemandem erklären, annehmbar und liebbar machen zu müssen.

Ich war endlich wieder, so gut ich konnte, mit Übergewicht, Selbstzweifeln, Depressionen und doch einem neuen Lebenshunger: ich.

Es gab tatsächlich mal eine Zeit, als ich von Autismus und all dem noch nichts wusste. Wir führten ein ganz normales Kleinfamilienleben mit Vater, Mutter, zwei Kindern, zwei Katzen, diversen Meerschweinchen und Hasen. An diese Zeit kann ich mich zwar erinnern, nachempfinden kann ich sie allerdings nicht mehr. Es existieren nur noch die Fotos und ein paar vage Anekdoten, abgegriffen vom häufigen Erzählen.

In diesen drei Jahren nach Simons Geburt hatten wir zum ersten Mal so etwas wie eine normale bürgerliche Existenz, denn die mit Studienstress vollgestopften ersten Jahre unserer Studentenehe, in der ein Kind mit zwei Doktorarbeitsprojekten koordiniert werden musste, kann man nicht unbedingt als normal bezeichnen. Wir arbeiteten damals im Schichtbetrieb, einer in der Bibliothek, einer zu Hause bei Jonathan, aßen mit dem Kind in der Mensa, wechselten dann den Platz, tippten bis spät in die Nacht und starrten auf die tickende Zwei-Jahres-Uhr unserer Stipendien. Daneben und danach, denn das Ganze wollte ja auch im dritten Jahr finanziert sein, gab es, was mich betraf, Praktika und kleine Jobs in einer Werbeagentur. Ich erinnere mich gut an eine Nacht, in der ich meinen vom Reizhusten gebeutelten Säugling aufrecht herumtragen musste, damit er Luft bekam. Ich hielt ihn mit der Rechten an meine Schulter gedrückt und tippte mit der Linken Werbetexte für Kugelschreiber, die ich am nächsten Tag abgeben musste. Jonathan keuchte, die Mentholdämpfe quollen, es war 0.45 Uhr und ich textete: »Der Elegante unter den Bunten hat das Zeug zum Lieblingsstift Ihrer Kunden.« Oder etwas Ähnliches.

Irgendwie überstanden wir diese Zeit, unser Leben wurde etwas ruhiger. Ich weiß nicht mehr, ob es mir gefiel. Bei meiner zweiten Schwangerschaft war vieles anders, das meiste davon überaus positiv. Sicher, ich war sechs Jahre älter als beim ersten Mal, Jonathan hatte ich mit achtundzwanzig bekommen, jetzt war ich vierunddreißig, und das spürte ich deutlich. Ich war förmlich schlafkrank, mir fielen nachmittags mit solcher Macht die Augen zu, dass ich mich kaum dagegen wehren konnte. Ich lallte, es ging einfach nicht weiter. Dabei wollte doch ein Kind betreut sein, ein Haushalt gemacht, ein Roman geschrieben. Alles an mir war schwer.

Andererseits hatte ich diesmal nicht nebenbei eine Dissertation fertigzustellen, mit dem ewigen Zeitdruck und der Geldnot im Hintergrund. Das war schon einmal enorm erleichternd. Und ich brach mit der Schwangerschaft nicht aus einem völlig anderen, dem studentischen Milieu aus und hatte nicht gegen negative Erwartungen meiner Umwelt zu kämpfen wie beim ersten Mal, wo meine Freunde – ausgesprochen – erwarteten, ich würde jetzt verspießern, und meine Professoren – unausgesprochen – darauf lauerten, dass ich versagen würde.

Nein, diesmal passte alles: Ich wohnte in einem richtigen Haus, hatte einen Ehemann in Lohn und Brot, der, nach einem harten Jahr des Getrenntlebens aus beruflichen Gründen, endlich wieder mit mir unter einem Dach wohnte, dazu ein sechsjähriges Kind, das gerne entzückende philosophische Überlegungen anstellte wie: »Ich glaube, ich bin zum Denken auf der Welt.« Und ich trug ein absolutes Wunschkind in mir.

Nicht dass Jonathan nicht auch hocherwünscht gewesen wäre, das nicht, Jonathan, falls du das liest, ehrlich. Du warst sehr willkommen, sogar ein wenig riskiert worden, nur warst du nicht geplant gewesen. Zum festen Vorsatz hatte uns als Studenten noch der Mut gefehlt. Simon hingegen kam nach Plan. Er sollte unser Leben komplett machen.

Meine Eltern meldeten als Einzige Bedenken an, etwa dahin gehend, wir würden uns mit noch einem Kind emotional übernehmen. Wir seien doch beide keine so belastbaren, stressresistenten Menschen, und gerade liefe endlich mal alles rund und sei zu bewältigen. Ich wies das damals weit von mir. Meine Eltern waren immer schon der Ansicht gewesen, ich sei nicht wirklich alltags- oder lebenstauglich, ein Bücherwurm eben ohne praktische Begabung und wahnsinnig empfindlich, wenn auch sehr klug. Die halbe Wahrheit war das ja, aber eben nur die halbe, fand ich. Immerhin hatte ich bis dahin alles geschafft, was ich mir vorgenommen hatte: Doktortitel, Familie, Beruf, erster Roman. Ich war summa cum laude promoviert worden, ohne abgeschrieben zu haben, war zwei Jahre lang Alleinverdienerin als Texterin gewesen und hatte dabei die Anzahlung für das Haus zusammengekriegt. Mein erster Sohn war mehr als geraten und das dritte Buch in Arbeit.

Dass ich in dieser Phase mehrfach am Rand des Nervenzusammenbruchs gestanden hatte, verdrängte ich. Ebenso die Magengeschwüre, die Hörstürze, die schwere Lungenentzündung, die seltsamen Schwindelzustände, deren Ursache nie geklärt wurde. Die hysterischen Tränen, in die ich am Tag meiner mündlichen Prüfung noch im Flur der Uni ausgebrochen war, und die stundenlang nicht versiegen wollten. Mein Professor war regelrecht beleidigt gewesen: »Sie sind die Erste, die hier mit einem Summa rausgeht und heult.« Aber ich konnte mich nicht freuen, ich verlor nur die Fassung. Noch Wochen später lief ich mit einem unwirklichen Gefühl herum, wie ein Zombie, mit zitternden Händen und völlig konzentrationsunfähig. Ich erinnere mich noch gut, wie ich verzweifelt versuchte, die Rückenlehne des Vordersitzes umzuklappen, um das Kind hinten ins Auto zu bugsieren. Es war ein Viertürer. Oder wie ich heulend am Küchentisch saß, weil ich auf dem Weg zwischen Arbeitsplatte und Herd vergessen hatte, neben dem Messer auch den Kochlöffel aus der Schublade zu nehmen, den ich brauchte, und nun noch mal zwei Schritte extra gehen musste. Das war suboptimal, eine lächerliche Kleinigkeit, aber die allein brachte mich zur Verzweiflung.

Die hochbeschleunigte, durchrationalisierte und fein austarierte Choreographie meines Lebens war kurz davor gewesen, aus den Fugen zu geraten. Und obwohl der Druck von außen inzwischen weitgehend weggefallen war, surrten in mir die Rädchen weiter, und ich kam nicht zur Ruhe. Das Jahr der Trennung von meinem Mann hatte es auch nicht besser gemacht. Im Gegenteil. Ich war ein Mensch voller Ängste geworden, die sich in dem leeren Haus frei austoben konnten. Stundenlang hockte ich vor haarigen Kellerspinnen, die drauf und dran waren, in die höheren Stockwerke vorzudringen, unfähig, sie anzufassen oder auch nur ein Glas über sie zu stülpen. Es kostete mich unendliche Überwindung, schließlich irgendetwas nach ihnen zu werfen.

Abends, wenn mein großer Sohn schlief und nicht sehen konnte, was ich tat, und ich mich also nicht schämen musste, ging ich durch das ganze Haus. Ich begann im Keller, durchsuchte jeden Raum, auch die Schränke, selbst die Hohlräume hinter den Heizöltanks, mit einem Messer in der Hand, und schloss, wenn ich fertig war, jede Tür hinter mir, damit ich merkte, wenn jemand sich im Haus bewegte. Mein Schlafzimmer kam als Letztes dran. Dort sah ich hinter der Tür, unterm Bett, im Schrank und in größeren Schubladen nach, bevor ich mich ins Bett legte. Mit dem Messer unter dem Kissen. Ich las bis zwei, drei Uhr morgens, bis mir die Erschöpfung die Lider herunterzog und ich mir sagte: In den paar Stunden bis zum Morgen wird schon nichts mehr passieren. Wenn der Bewegungsmelder draußen das Licht angehen ließ, lag ich regungslos da und starrte den gelblich blassen Kegel an, der durch das Fenster hereinfiel. Ich hatte Alpträume. Ich lebte mit angehaltenem Atem. Ich war sicherlich nicht gesund.

Einmal sprach ich meinen Hausarzt darauf an, der meinte, eine Therapie könne mir nur ein Psychiater verschreiben. Das Wort klang schrecklich in meinen Ohren, also ging ich nicht hin. So krank fühlte ich mich nicht, dass ich die Schwelle zum Reich des Anormalen hätte überschreiten mögen. Lieber riss ich mich zusammen, das hatte die letzten Jahre schließlich auch funktioniert.

Manchmal denke ich, dass meine Angst der körperliche Stoff war, aus dem Simon gemacht wurde, denn am Ende dieser Zeit war ich schwanger. Habe also doch ich ihn produziert? Haben der ständige Stress, unter dem ich stand, die Angst, die mich beherrschte und fühlbar in meinem Körper herumschwappte, der permanente Adrenalinausstoß sein Gehirn deformiert? Ich fürchte mich noch immer so sehr vor der Antwort, dass ich es bis heute nicht gewagt habe, einem Arzt diese Frage zu stellen. Lächerlich, nicht wahr?

Auch meine Ehe war, auf den zweiten Blick, nicht mehr das, was sie mal gewesen war. Andererseits: Was war sie je gewesen? Mir ist das Gespür dafür verlorengegangen. Ich brauche ein Foto aus unserer Kennlernzeit, um mir anhand des Blickes, den wir uns darauf zuwerfen, zu bestätigen, dass wir mal ineinander verliebt waren. Oder Jonathan, der mich kürzlich bat, die handschriftlichen Aufzeichnungen vorzulesen, die ich seinem Fotoalbum beigelegt hatte. Er konnte sie nicht entziffern, kein Wunder bei meiner Sauklaue. Beim Vorlesen wurde mir klar, dass wir gute Zeiten gehabt hatten. Es war das Tagebuch, das ich an dem Tag begonnen hatte, an dem ich erfuhr, dass ich mit Jonathan schwanger war. Ich führte es bis in die ersten Wochen nach seiner Geburt, bis die Arbeit das Weiterschreiben unmöglich machte. Es war für ihn und für mich eine schöne Lektüre: »Jedes Mal, wenn dein Vater dran war mit Wickeln, und sei es mitten in der Nacht, hob er dich als Erstes mit Schwung hoch über seinen Kopf, strahlte dich an und rief mit begeisterter Stimme ›Wickelkind‹.« Ich hatte es vergessen, aber es war so gewesen.

Schon das Jahr, in dem wir eine Wochenendbeziehung führten, hatte vieles verändert. Der Schwung war weg, die Begeisterung auch. Als Paar existierten wir kaum noch. Ich dachte: Die viele Arbeit, der Stress, die Dissertation mit ihrer Kopflastigkeit, die Mehrfachbelastung, all das wird schuld sein. Wenn wir erst einmal wieder zusammen sind, er eine feste, zukunftssichere Stelle hat und alles wieder seine Form besitzt, dann fängt unser Leben an. Dann würden wir in unserem Reihenhaus auf dem Land miteinander leben und zur Ruhe kommen.

Wir hatten schlechte Zeiten gehabt, die würden vorbeigehen. Es war auf beiden Seiten Aufbruchswille da. Simon sollte unseren Neuanfang besiegeln. Später, als mit ihm dann alles losging, wurde die Frage, was sich zwischen uns abspielte oder nicht abspielte, was wir uns wünschten oder nicht, vom Leben oder voneinander, ohnehin vollkommen sekundär.

Tatsächlich sorgte Simon schon vor seiner Ankunft für ein kleines Wunder: Die anstrengende Mehrfachbelastung der letzten Jahre, die auch emotional einigen Spagat verlangt hatte, hatte mir, wie gesagt, eine Reihe von Warnkrankheiten beschert. Vom letzten Hörsturz hatte ich einen üblen Tinnitus zurückbehalten, ein schepperndes metallisches Geräusch, das sich über alle Klänge legte und es zu einer Qual machte, sich in Räumen mit hohem Geräuschpegel aufzuhalten. Kneipen oder Restaurants waren ein Alptraum, manchmal flüchtete ich förmlich die Straße entlang vor dem nächsten Motorengeräusch. Jeder Laut schien nur gemacht, um mich zu quälen. Am schlimmsten aber war die Stille, wenn alles um mich herum zur Ruhe kam, nur in meinem Kopf alles surrte und schepperte.

Im sechsten Schwangerschaftsmonat war damit Schluss. Die erhöhte Blutmenge, die in meinen Adern kreiste, oder wer weiß, welcher Effekt es war, ließ den Tinnitus verschwinden. Es war traumhaft.

Die Geburt verlief ebenfalls hoffnungsvoll. Nicht dass ich nicht vor Schmerzen geschrien und mit den Nägeln versucht hätte, mich durch die Wand hinter der Liege im EKG-Zimmer zu graben, und gebrüllt hätte: »Mit wem muss ich hier verhandeln, ich will eine PDA!« (Natürlich kriegte ich keine.) Aber ich schaffte es, bis zum Ende zu atmen. Es wurde keine Glocke und keine Zange gezückt wie bei Jonathan, der stecken blieb, da meine Wehen offenbar zu schnell, zu kurz, zu wenig voranschiebend waren. Simons Geburt bescherte mir einen schmerzhaften Dammriss, zu dem ich die Vision eines explodierenden Rosettenfensters in einer gotischen Kathedrale hatte, ein Bild aus einem abgedrehten Comic von Boucq, das mir in diesem Moment klar vor Augen stand. Ich verlor mich trotzdem nicht im Schmerz wie beim ersten Mal, driftete nicht ab in irgendwelche roten Lande, um anschließend zu kaputt zu sein, um mich gegen die Aufnahme auf Station zu wehren. Ich stand es durch und ging morgens um acht, stolz auf mich und ihn, mit meinem Kind nach Hause.

Tausendmal habe ich Simon später erzählt, wie das war, als wir dort ankamen: Was Jonathan sagte, als er ihn das erste Mal sah (»Gott, ist der klein«), was seine Großeltern taten (Oma kochte, Opa räumte auf), was auf dem gemalten Willkommensschild an der Tür stand. Ich erzählte es dutzende Male am Tag, immer mit denselben Worten, wie ein alter Indianer den Mythos von der Entstehung seines Volkes. Im Grunde war es ja auch so etwas Ähnliches. Der Mythos der eigenen Entstehung. Ich glaube, es war sehr wichtig für Simon, diese Geschichten immer wieder zu hören. Er besaß und besitzt nicht unsere Wahrnehmung von Zeit und hat kein Kontinuitätsgefühl für sich selbst. Zeit scheint für ihn nicht zu vergehen, alles ist irgendwie gleichzeitig da. Monate dauerten seine wütenden Versuche, wieder ein Baby zu werden. »Ich will wieder klein sein«, verlangte er, vielleicht, weil er mit drei Jahren wohl zu begreifen begann, dass diese Welt ihn überfordern könnte.

Es war ein verzweifeltes Begehren. Wir erklärten ihm wieder und wieder, dass die Lebensreise des Menschen unumkehrbar ist, aber er schrie und beharrte. Wir verwiesen in unserer Not schließlich auf Gott im Himmel, der das eben so eingerichtet hatte. Tags darauf mussten wir unseren Sohn vom Dach retten. Er war aus dem Dachfenster hinaus auf die Ziegel geklettert, schon auf halbem Weg zum First, um in den Himmel zu gelangen und mal ein Wörtchen mit diesem Gott zu reden.

Simon war ein bildhübsches Kind, von Anfang an: blond, proper, mit riesigen, fast überwachen blauen Augen, die von Wimpern beschirmt wurden, deretwegen sich ältere Damen entzückt über seinen Kinderwagen neigten. Er war verschmust, fröhlich, seine tägliche Babymassage genießend, ein begeisterter Esser, der sich prächtig entwickelte, altersgerecht saß, krabbelte, lief, brabbelte und zu reden begann. Mit eineinhalb Jahren stand auf seiner Wörterliste: Ja, Nein, Mama, Papa, Okay, Hallo und Tschüs. Wasser, Flugzeug, Pipi und Wauwau konnte er ebenso sagen wie Tiger, samt dazugehörigem Gebrüll. Blume, Affe, Prost, Mist, Licht, Ball, Nase und Haare waren im Angebot, auch Ohr, Bauch und Bein. Daneben die üblichen Iahs, Muhs, Brummbrumms und Hüs.

Auf allen Bildern, die es von ihm aus dieser Zeit gibt, und es gibt viele, strahlt er wie der kleine Sonnenschein, der er war. Alles Friede, Freude, Eierkuchen in unserem dörflichen Reihenhausidyll.