Über dieses Buch

Cover

Überwältigt stehen 1519 Cortés und seine Truppen vor einer Stadt, die an Größe, Pracht, Einwohnerzahl und Baukunst alles übertrifft, was sie aus der alten Welt kennen: Tenochtitlan. Durch die Augen eines aztekischen Weisen erzählt Sánchez von der Gier der Eroberer nach Gold und Macht, von der Zerstörung und vom Untergang des Aztekenreichs.

José León Sánchez

José León Sánchez (*1930) war mit 19 Jahren an einer Aktion beteiligt, bei der von den Spaniern geraubte Schätze zugunsten der Ureinwohner entwendet werden sollten. 20 Jahre verbrachte er daraufhin in Haft. Dort lernte er Lesen und Schreiben und verfasste seinen ersten Roman.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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José León Sánchez

Tenochtitlan

Die letzte Schlacht der Azteken

Roman

Aus dem Spanischen von Leni López

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Tenochtitlan – La última batalla de los aztecas bei Editorial Grijalbo, México.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1992 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Originaltitel: Tenochtitlan - La ultima batalla de los aztecas (1986)

© by José León Sánchez 1986

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30444-4

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Version vom 21.03.2021, 14:21h

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Für Eulalia Guzmán, Miguel León Portilla,
Juan Rulfo und Octavio Paz.

Und es wird kommen der Tag,

an dem die Verkündung wahr wird,

dass niemals ein Mensch auf Erden

den Glanz, die Ehre und den Ruhm

von México Tenochtitlan zerstören

oder auslöschen kann.

Anonymer Gesang zur Gründung Colhuacans im Jahre 1281,
aufgezeichnet 1620 von Chimalpahin Cuauhtlehuanitzin.

TENOCHTITLAN

(Tlacchitonatiuh – die Sonne auf Erden)

Sonne der Erde …

Schlafender Smaragd inmitten einer Lagune.

Ort der Wasserbinsen.

Ort im See.

Ort, wo die Blumen ihre Blüten dem Licht öffnen …

Indes … Was bedeutet heute schon die wirkliche Übersetzung? Dies war die große Stadt México Tenochtitlan im Jahre 1519. Die Stadt, in der es kein einziges Maiskorn mehr gab und die Bäume ihrer Wurzeln beraubt wurden, damit die Menschen etwas zum Essen hatten und weiterkämpfen konnten für ihre Freiheit und das Überleben ihrer Götter, bis auch das letzte der zweihunderttausend Feuer endgültig erlosch.

Ihnen,

Den Unsterblichen von Tenochtitlan,

widme ich diesen Roman.

José León Sánchez

1

Der Priester Schwarzes Gesicht legte die Hand auf meinen Kopf und sprach: »Du wirst ein Amoxua, ein Herr der Bücher, sein und eines Tages unser Herr Schwarzes Gesicht.«

So sprach zu mir der Priester, als ich zwölf wurde und schon drei Jahre die Tempelschule, das Haus des Wissens, besuchte, in der ich unserem Herrn Quetzalcóatl diente. Mein Vater, Rauschender Wind, sah mir mit einem Blick, der mir endlos erschien, tief in die Augen und fügte hinzu: »Du stehst in der besonderen Gunst des Herrn Schwarzes Gesicht, und nichts zwischen den Ufern der Zeit soll dir verborgen bleiben. Du wirst weise sein wie die Brücke, die mit dem Wasserschwall von Chapultepec einherkommt, und du wirst die Weisheit entdecken, die in jedem Stein verborgen ist auf dem Weg, der zum Volk der Tlaxcalteken führt und vom Volk der Tlaxcalteken zum Land der Früchte, wo das Meer mit dem Himmel verschmilzt und unendlich wird und wo die Totonaken leben.« 

An jenem Tag, an jenem Abend, in jener Nacht wich meine Mutter nicht von meiner Seite, als wüsste sie bereits, was geschehen würde und was dann auch geschah: dass mein Vater, der Tequitlato aus dem Haus der Weisen, am anderen Tag fortgehen würde, um den Tanz gegen einen Ort der Tarasken anzuführen und nie wieder heimzukehren. Schon am nächsten Morgen, als die Reiher gerade anfingen, zwischen den Fischnetzen in der großen Lagune von Tenochtitlan ihr Spiel zu treiben, hatte sie sich das Gesicht und die Hände und den Kopf mit Asche bestreut, wie es die Frauen zu tun pflegten, deren Männer in den Krieg zogen, denn dann bestand Gefahr, dass sie nicht zurückkehrten. Und so geschah es. Mein Vater kehrte nicht wieder von dem Krieg gegen die Bewohner von Michoacán heim, und meine Mutter lebte viele Jahre mit kurz geschorenem Haar und Asche auf den Händen und den Augen und dem Kleid.

Danach trat ich in das Tepuchcalli, das Jungmännerhaus, ein, um die Geschichte der Amoxua zu lernen und die Weisheit der Tequitlato, welche die Gabe besaßen, in den farbigen Bilderhandschriften die Geschichte der Zeit zu lesen. Die Geschichte der gelben Knoten. Die Geschichte der blauen und weißen und roten Knoten, in denen die Weisen alles festhielten, was sich seit der Zeit unseres Herrn Moctezuma, unseres Herrn Tizoc, unseres Herrn Nezahualcóytl ereignet hatte.

Bis der Tag kam, an dem meine Mutter ihre Hände, ihre Augen und ihr Gesicht von der Asche reinigte und ein Kleid anzog, das mit weißen und roten, roten und grünen, grünen und blauen Schmetterlingen geschmückt war. Wir bereiteten uns auf das große Fest der Mutter der Ernten vor, denn dies war der Tag, an dem sich für meine Schwester Schmetterlingsflügel das Schicksal erfüllen sollte, das ihr von Geburt an vorbestimmt war: unsere kleine Mutter Hoffnung, unser kleiner Morgenstern zu werden und ihr Blut dem Gott mit dem hölzernen Bein darzubringen, unserer Gottheit im Großen Tempel.

Unser Haus füllte sich mit Besuchern. Die Leute kamen, um für meine Schwester Dinge zu erbitten und mit ihr zu lachen. Schmetterlingsflügel war außer sich wegen der großen Freude, die sie im Herzen fühlte.

»Morgen werde ich ein Teil des Gottes sein«, sagte sie ein um das andere Mal, bis ihre heiteren und schönen Augen vor Tränen ganz feucht wurden.

An jenem Abend vor dem Tag, an dem meine Schwester für immer zu den Regionen des Lichtes aufbrechen sollte, beteten wir in Dankbarkeit für meinen Vater, der die Weisheit besessen hatte, meine Schwester als Opfergabe dem Herrn Schwarzes Gesicht darzubieten, dem Gott mit dem hölzernen Bein, der alles weiß, der den Lauf der Welt bestimmt und den Himmel und das Land rund um den großen See erhalten hat, damit die Menschen ihn verehren. Es war das erste große Glück, das mir in meinem Leben widerfuhr.

Das Fest ist eine bleibende Erinnerung in meinen farbigen Knoten. Und die Zeremonie, mit der wir unsere Schwester verabschiedeten, löste bei meiner Mutter Tränen unendlicher Freude aus, die bis zum letzten Tag ihres Lebens nicht versiegten.

Eine Blumenkarawane geleitete meine Schwester bis zum Großen Tempel. Ich erinnere mich, dass sie ein Kleid aus weißem Papier trug, auf das blaue Schmetterlinge geprägt waren. Und die Mädchen, die sie begleiteten, trugen gleichfalls Papierkleider, verziert mit bunten Schmetterlingen, die genauso aussahen wie jene, die wir als Kinder zwischen den Binsen fingen. Vor Beginn des Rituals setzte der Tanz ein. Als Mutter eines blauen Schmetterlings eröffnete unsere Mutter den Tanz.

Die Jungen umringten uns im Halbkreis. Sie trugen einen Kopfschmuck, an dem rote Tonglöckchen hingen. Ihnen gegenüber befand sich der Chor von jungen Mädchen, auch blaue Glöckchen genannt. Beide Gruppen bildeten so viele Reihen, wie ein Regenbogen Farben hat. Die jungen Männer bliesen gegen die kleinen Glocken, die vor ihnen in Augenhöhe an roten Schnüren baumelten. Und jedes Mal, wenn ein Junge blies, schaukelte das Glöckchen hin und her und machte pling, pling, pling … Und in der Mitte des Kreises tanzte meine Schwester Schmetterlingsflügel den Tanz, den sie so viele Male geübt hatte.

In geordneten Scharen drängten die Menschen, Einwohner aus den verschiedensten Stadtteilen von Tenochtitlan und Tlatelolco, herbei, um an dem Geschehen teilzuhaben. Hoch oben, auf der letzten Stufe des Großen Tempels, warteten die würdigen Priester in ihren schwarzen Gewändern mit den Obsidianmessern.

Schmetterlingsflügel tanzte den Tanz des Samenkorns, während die Mädchen des Chores den Abend belebten und die Farben des Regenbogens nachgestalteten. Die erste Reihe war ein einziger Glockenklang. Die zweite ahmte den Pfiff jener geheimnisvollen Vögel nach, die aus dem Land der Früchte und dem Land des Windes kamen und auf den Märkten angeboten wurden. Die nächste Reihe seufzte wieder wie kleine Glöckchen. Wirklich, es war etwas Wunderschönes, und die Leute genossen es mit großer Andacht.

Schmetterlingsflügel begann, die Geschichte des Samenkorns zu erzählen. Und sie schien in ihrem Tanz zu wachsen, so wie der Verolis wächst. Sie war schön wie eine aufbrechende Blüte.

Und sie tanzte wirklich einzigartig, als sie die Frucht der Pflanze darstellte. Danach überschüttete eine Gruppe Jungen sie mit Wasser. Die blauen Blumen und Schmetterlinge auf ihrem Gewand zerflossen, und das weiße Papierkleid war ganz und gar mit blauen Tupfen übersät. Meine Schwester setzte ihren Tanz fort. Das Papierkleid wurde nass und nasser, bis es am Ende zerriss und von ihr abfiel, sodass nur noch ihr schöner nackter Körper zu sehen war. Und nackt tanzte sie weiter, bis sie sich endlich über den Boden beugte und die feuchte Mutter Erde küsste.

Das währte nur einen kurzen Augenblick, denn schon forderte sie der Anführer der Priester auf, zum Tempel emporzusteigen, wo die fünf Herren Opferpriester sie erwarteten, auf dass sie die tiefe Freude empfinde, ihr jungfräuliches Herz dem Gott der Götter und dem Gott des Regens und der Göttin der Ernte darzubringen, so wie es von jeher Brauch gewesen ist bei unserem Volk in Tenochtitlan.

In Tenochtitlan, dem Ort in der Lagune, wo die Wasserlilien ihre Blüten dem Lichte entgegenstrecken.

Die Opfergabe meiner Schwester Schmetterlingsflügel hat sich mir ins Gedächtnis gegraben wie die schönste Seite aus dem Buch der Weisheit, dem Buch der Grünen Verse im Haus des Wissens von Texcoco. Und sie war die letzte Freude meiner Mutter, die von da an nur noch von großen Erinnerungen lebte. Die erste Erinnerung war die an unseren Vater, den die Feinde von Tenochtitlan ergriffen und gezwungen hatten, sein Herz dem Gott des Sees darzubieten. Die letzte war die schöne Opfergabe meiner Schwester, der Herrin Schmetterlingsflügel, die an einem sonnigen Abend ihr kleines Herz den Göttern schenkte.

Jahrzehnte später war ich in der Schule der Erwachsenen dazu berufen, mein Amt auszuüben. Zu jener Zeit war mein Haar bereits ergraut und mein Augenlicht trüb. Aber wahr ist auch, dass es nichts gab, was meine Augen noch hätten sehen müssen, da ich bereits alles kannte und wusste, so wie mein Vater es vorausgesagt hatte.

Ich war einer der Weisen von Tenochtitlan, Texcoco, Tlatelolco und Cholula. Ich wusste, was geschehen würde. Ich wusste auch, was geschehen war und in den Büchern der Weisheit stand. Der Herrscher, genannt Tlatoani, der Sprecher, und sein Rat der Dreißig konsultierten mich in vielen Fragen.

Ich kannte das Schicksal der Dammstraße von Cuepopa, dem Ort im Nordosten, wo die Blumen blühen; ich wusste um das Geschick des Dammwegs von Moyotlan, dem Ort der Stechmücken, im Südwesten gelegen, wo Tausende Kinder, Männer und Frauen sich vom Fang kleiner Mückeneier ernährten; ich habe die Straße nach Südosten vor Augen, nach Teopan, dem Ort der Götter, wo sich der Heilige Bezirk des Großen Tempels erhob; und auch die nordwestliche Dammstraße, die nach Aztacalco führt, dem Ort, wo die Reiher nisten.

Und jetzt, da alles so gekommen ist, wie die Bücher weissagten, jetzt, da Tenochtitlan, die große Stadt von Mexiko, nicht mehr existiert; jetzt, da man uns, die Bewohner dieser großen Stadt, wie den Stein am Wege zählt, jetzt stelle ich mir die gleiche Frage, die auch andere mir zu stellen pflegen: »Wie war der Anfang der Geschichte? War er schön?«

Es ist ein Morgen, ein Morgen so goldgelb wie ein Maisfladen auf dem Comal, der tönernen Backplatte. Der Wind streicht über den Texcoco-See und fächelt sanft die blühenden Binsen. Es ist ein zarter Wind, einer von jenen, die man kaum wahrnimmt, von denen sich die Bewohner der Stadt jedoch inspirieren lassen bei der Namensgebung ihrer Töchter, ihrer Söhne und Enkelkinder und auch der Gegenstände. Von der Stelle, an der ich mich befinde, vernehme ich das Knarren eines Ruders, das durchs Wasser zieht. Ich höre nur das Echo des Ruders. Es ist ein kleines Kanu, das sich durch Tausende blühender Binsen einen Weg bahnt. Und da sehe ich die Frau, die es lenkt. Sie unterscheidet sich nicht von den anderen Frauen, die Stunde um Stunde, Tag um Tag – selbst wenn kein Markttag ist – zu Tausenden und Abertausenden mit ihren Kanus von allen Ufern des Sees nach Tenochtitlan kommen. Von meinem Platz aus beobachte ich, wie sie Blumen abschneidet und auf den Boden des Kanus wirft, wo bereits unzählige bunte Blütenstängel liegen. In der Ferne sieht man den Dammweg von Ixtapalapa, den großen und schönen Dammweg, der auf dem Festland beginnt, wo der Weg zwischen den Vulkanen hindurch seinen Anfang nimmt, und über eine Entfernung von zehn Meilen in die Stadt hineinführt.

Dann lenke ich meinen Blick in die Richtung, die die Frau einschlägt, und mache Tausende anderer Kanus aus. Alle werden von Frauen gelenkt. Manche sind fast noch Kinder, andere wiederum sehr alt. Und all die vielen Kanus sind über und über mit Blumen beladen. Mir scheint, als habe ich in meinem Leben noch nie so viele Blumen auf einmal gesehen.

Und diese blumenbekränzten, von Frauen gelenkten Kanus streben alle der gleichen Stelle zu. Vom Dachgarten meines Hauses aus sehe ich, wie sie nahe dem Dammweg von Ixtapalapa anlegen und die Straßen mit ihren Blumen bestreuen. Nie zuvor hat man auf der großen Straße von Ixtapalapa ein so einzigartiges, schönes Schauspiel erlebt. Der zehn Kilometer lange Damm ist über und über mit Blumen besät. Für einen Augenblick trenne ich mich vom Anblick der Kanus, der Frauen und ihrer Blumenladung, und mein Blick schweift über die blühenden Agavefelder und über unseren Vater Horizont, an dem sich der schneebedeckte Vulkan abhebt, den an diesem Morgen eine Rauchfahne umwölkt. Und noch weiter zum Texcoco-See, durch den der große Deich geht, der verhindert, dass das salzige Wasser des Sees sich mit dem süßen unserer Schwesterlagune von Tenochtitlan vermischt.

Und so wie später die Invasoren ihre Namen mit feuerrotem Eisen auf die Gesichter unserer Krieger, die Schultern unserer Jungfrauen, die Waden unserer Kinder brennen werden, um sie zu Sklaven zu machen, in einem ebenso grellen Rot sehe ich über dem blauen See eine Schrift auftauchen, die besagt: 8 Ehecatl Quecholli 8 Wind-Flamingo

Und ich höre den Ruf einer Frau, und die Worte, die sie spricht, klingen gleichfalls rot.

Es ist der Morgen des 8. November 1519, wie es in der Sprache der fremden Besucher heißt, die andere die Gesandten unseres Herrn Quetzalcóatl nennen; Söhne der Götter und Götter sie selbst. Ich wende den Blick wieder der großen Stadt zu, der schönen, durch Jahrhunderte gefügten Stadt, und ich weine. Es ist der letzte Tag unserer Freiheit. Denn so ist der Wille unserer Götter.

Von da an schritt die Zeit anderwärts, als würden die Vögel mit einem Mal beginnen, unter der Erde zu fliegen.

Nie zuvor hatte eines Menschen Auge die große Dammstraße von Ixtapalapa in ihrer ganzen Länge so schön gesehen: von ihrem Ausgang am Rande der Stadt über das Adlerportal, das Froschportal bis zum Jaguarportal im Herzen unseres Tempels. Ein leiser Windhauch fuhr durch die Zweige der Bäume, die voller Früchte und Blüten hingen. Von einem Baum zum anderen baumelten Tausende und Abertausende Blumenketten aus Papier. Die Herrin im Haus der Mädchen hatte dafür gesorgt, dass alle Blumen, die im Land der Mexica vorkamen, mit buntem Papier nachgestaltet wurden; und so war alles ringsum mit Matten und Teppichen aus Rosen und Binsenblüten ausgelegt.

Inmitten der Knospenpracht, die sich ausbreitete, bis sie sich am Ende des Weges mitten im See dem Blick entzog, erklang plötzlich eine Flöte. Dem Flötenton folgte ein dumpfer Trommelschlag, wie auch sonst bei Festlichkeiten. Dann trat Stille ein, und mit der Stille zog ein leichter Nebel auf – wie er manchmal über der Lagune tanzte – und verhüllte alles, sodass die Straße von Ixtapalapa mit dem bloßen Auge nicht mehr auszumachen war.

Der Nebel verflüchtigte sich wieder, und da standen sie, die Mexica. Alle Einwohner nach ihrem gesellschaftlichen Rang: Frauen und Kinder, junge Kriegerinnen und Krieger. Die Sonne sandte ihre Strahlen herab, und in der Luft schwebte Wohlgeruch. Ein Duft nach Rosen und Binsen, der aufstieg und sich verbreitete, bis er schließlich an unseren Händen haften blieb. Den großen Dammweg zu beiden Seiten säumend, standen wir, die Bewohner von Tenochtitlan, dicht gedrängt nebeneinander; Fuß bei Fuß, Kopf an Kopf, Schulter an Schulter. Da standen wir mit unserem Herzen wie eine Blume und warteten. Und da waren unsere Füße, unbeschuht die einen, in Sandalen steckend die anderen. Viele hatten ihre besten Kleidungsstücke angelegt, und jeder hielt einen Blütenzweig in der Hand. Hinter uns, auf dem klaren Blau des Sees, trieben die Chinampa, die Inselgärten.

Ich weiß nicht, was die andere Geschichtsschreibung sagt, die von jenen überliefert wurde, die mit den Sonnenstrahlen des frühen Morgens in unsere Stadt gezogen kamen. Ich glaube, sie schrieben nieder, was ihnen als Erstes in die Augen sprang. Das Erste, was sie in ihren Büchern festhielten, war unser Gesicht. Ihre Augen blieben an unseren Augen hängen. So war es, denn so beginnt jede Geschichte.

Sie blickten in unsere Gesichter. In die Gesichter von Mädchen und Knaben, von Frauen und Jungfrauen, von alten Männern und alten Weibern, und sie sahen auch die Augen der Adler-Ritter, der Kojote-Ritter, der Jaguar-Ritter … Und ganz sicher hörten sie, wie weit entfernt am Eingang der Stadt der Herr der Schneckentrompete mit aller Kraft zu blasen anhub, um die zweite Stunde des Tages anzukündigen. Die Schneckentrompete tönte und sang. Dann erklang eine andere Schnecke. Sie wurde vom Gehilfen des Herrn der Schneckentrompete geblasen, und sie ertönte, bis sie in einer letzten, vom Echo unseres Atems getragenen Kadenz ausklang.

Abermals blickte ich empor zur Stätte unseres Vaters Sonne, und ich sah, dass er die Hälfte des Himmelsbogens fast schon erreicht hatte, und also unser letzter Tag, der letzte Tag der Azteken, immer weiter vorrückte.

Als der Ruf einer weiteren Schneckentrompete erklang, wandten wir, die wir zu beiden Seiten der Straße in einer Reihe standen, die Augen zu den Vulkanen. In der Ferne tauchte die Gestalt eines Mannes auf, der als Erster seinen Fuß auf den Dammweg setzte. Er war der Erste, der auf die Blumen trat. Mit ihm nahm das Zertreten des großen Blumenteppichs seinen Anfang. Laut rufend und eine Fahne mit fremden Farben schwenkend, kam er näher und näher. Später sollten wir erfahren, dass dies die Standarte des sogenannten Sohnes der Götter war, der aus Kastilien und Aragón kam, fremde Namen von fernen Ländern, die sich weit hinter dem Land der Früchte, des Honigs, der Baumwolle und der Quetzalfedern befanden. Der Fahnenträger, ein Krieger aus Tlaxcala, rief in unserer besten Sprache: »Einwohner von Tenochtitlan, Kriegerinnen und Krieger, Herren des Tempels und Herren des Krieges, Töchter und Söhne der Herren des Krieges, Bewohner dieser und aller anderen Lagunen: Freude komme über euch, Freude, nichts als Freude! Die Stunde des Staunens ist gekommen! In die große Stadt Tenochtitlan zieht das unbesiegbare Heer des großen Kapitäns Don Hernán Cortés ein, der euch im Namen zweier allmächtiger Majestäten, Seiner kaiserlichen Hoheit Don Carlos und der Frau Mutter Doña Juana, besucht. Edle Kriegerinnen und Krieger, Kinder der Sonne: Jeder, der es wagen sollte, sich diesem Heer in den Weg zu stellen, wird auf der Stelle zweigeteilt.«

Auf den Gesichtern der Tausende und Abertausende, die zu beiden Seiten der Straße standen, spiegelte sich die Verwunderung wider, die diese Worte hervorriefen. Wir waren es gewohnt, dass Gäste, die in unsere große Stadt kamen, ihre Rede in honigsüße Worte kleideten. Und hier nun geschah es, dass ein Krieger der Tlaxcalteken, unserer uralten Feinde, schon mit der Zunge der soeben Angekommenen redete, um uns Übles vorauszusagen. Nichts von Gesängen. Nichts von Tänzen. Nichts von Blumen.

Alles vollzog sich, wie ich es in den heiligen Büchern der Zeitläufe gelesen hatte. Mit einem Mal wurde mir das Herz so groß wie eine mit rotem Chili gefüllte Faust. Unser Herr Nezahualcóyotl hatte einst geschrieben, dass wir Azteken im Jahre Ce Acatl unsere Freiheit verlieren würden. Und so kam es auch.

Ich kann nicht sagen, was dann geschah. Es war seltsam. Eine feierlich schöne Melodie erklang. Es war ein Marsch. Ein Marsch aus Spanien. Der Erste, den wir hörten und dem noch viele andere folgen sollten. Er begann in der Ferne und kam allmählich immer näher, bis er sich tief in jedes Ohr, in jedes unserer Augenpaare eingrub. Das unbesiegbar geheißene Heer der Söhne der Sonne tat seine ersten Schritte auf der riesengroßen Blumenmatte.

Ein Adlerkrieger, der in meiner Nähe stand, hörte mit verdrossener Miene die prahlerischen Worte des Kriegers aus Tlaxcala, des Ersten, der nach hundert Jahren als freier Mann unsere Stadt betrat. Das verdrossene Gesicht gehörte dem Herrscher von Tlatelolco, dem jungen Cuauhtémoc. In seinem funkelnden Blick lag Zweifel.

Jedes der vielen Gesichter zeigte Freude, Zweifel und Erstaunen. Wie auch nicht, wo doch vor unseren Augen die Söhne der Sonne, die weißen Götter, in Reih und Glied vorbeimarschierten. Und da hörten und lernten wir auch schon das Echo der galoppierenden Pferde kennen, jener Tiere, die so groß wie unsere Hirsche waren. Schulter an Schulter, mit aufgerichteter Lanze, in Achterreihen die gesamte Breite der Straße einnehmend, so zog die Reiterschar an uns vorbei.

Dann sahen und hörten wir das Hecheln einer Meute großer weiß und schwarz gefleckter Hunde. Sie keuchten, und der Geifer troff aus ihren Mäulern, als sie versuchten, sich von ihren Führern, Soldaten, die über der Schulter Jagdspieße trugen, loszureißen und sich auf uns zu stürzen. Diese Meute bildete einen Teil des großen unbesiegbaren Heeres von Hernán Cortés, und dass die Hunde uns so merkwürdig anblickten, lag daran, dass die Soldaten sie mit dem Fleisch von Kriegern zu füttern pflegten, die sie im Kampf gefangen nahmen. Mit ihrem Geheul erschreckten sie die Kinder, die sich ängstlich an die Röcke ihrer Mütter klammerten.

Und ich sah, wie die weißen Krieger, die Söhne der Sonne, nicht auf den Teppich achteten, den wir für ihren Einzug ausgebreitet hatten. Sie hatten nur Augen für die Brüste der Frauen. Sie starrten auf die Brüste Tausender und Abertausender kriegerischer Jungfrauen, die, blumenbekränzt und mit freiem Busen, dicht gedrängt in einer Reihe standen. Sie blickten auf die entblößten Brüste Tausender Jungfrauen, als wären ihre Augen nicht die Augen von Söhnen eines Gottes.

Wir sahen die Pferde vorüberziehen, schweißgetränkt, die Mäuler voller Schaum; der Tag neigte sich seinem Ende zu. Und das Ganze wurde untermalt von der klirrenden Waffenrüstung der Soldaten, die, ausgerichtet wie der Wind am Rande des Deiches, an uns vorbeimarschierten.

Der Klang einer einsamen Trompete riss uns aus unserem Staunen. Wir wandten den Blick und sahen einen einzelnen Mann, der als Letzter in Tenochtitlan einritt. Ein junger Bursche mit nacktem Rücken führte die Zügel seines Pferdes. Meine Augen ruhten auf den Hufen des Pferdes, das gerade an mir vorüberzog. Hinter dem Pferd blieben nur die schmutzigen Reste von Millionen zertretener Blumen zurück. Mit dem Blick folgten wir Hernán Cortés, der hinter seinem Heer auf die Festung des Xólotl zuritt, wo ihn die Herrscher von Tenochtitlan, Texcoco und Tlacopan erwarteten.

Vor ihm waren zum Ruhme ihres Ruhmes und zu unserer Schmach Tausende Krieger aus dem Volk der Tlaxcalteken vorbeimarschiert. Auch sie kamen in unsere Stadt als Triumphatoren, nicht als geladene Gäste. Ihr Einzug erfolgte für uns so überraschend, dass wir nicht einmal Zeit fanden, ihnen gelbe Blumen auf den Weg zu werfen.

Fortan wird es in den Schriften und Zeugnissen der Geschichte heißen, dass das Heer der großen und unbesiegbaren Stadt Tlaxcala in unsere Stadt einzog und dem Echo seiner Schritte Hernán Cortés, der Sohn der Sonne, folgte, im Namen der Könige von Kastilien und Aragón. Und auch, dass er als Letzter einmarschierte, um in der langjährigen Geschichte unserer schönen Stadt México Tenochtitlan den Platz des Hundes einzunehmen.

2

Die Geschichte beginnt am Ufer des Meeres. An einem Meeresufer, tausendmal größer als alle Orte rund um den Texcoco-See. Es ist das Ufer des Meeres, an dem die Totonaken leben. Man nennt sie Totonaken, nicht, weil die Menschen dort dumm wären, sondern um ihnen irgendeine Bezeichnung zu geben. An diesem Morgen hatte Grünes Laub keine Lust verspürt, fischen zu gehen, aber Kleiner Stein hatte zu ihm gesagt: »Gehen wir, Vater! Gehen wir! Du wirst sehen, wir kehren mit reichem Fang heim.«

In der schmalen Bucht vertrieb sich Kleiner Stein die Zeit damit, Baumwollbällchen gegen die sanfte Flut der Wellen zu werfen, die kleiner und kleiner wurden, bis sie sich am Strand verliefen. Grünes Laub, der keinen großen Spaß am Spiel seines Sohnes fand, hörte, wie dieser plötzlich rief: »Sie kommen, Vater, sie kommen!«

Grünes Laub blickte in die Richtung, in die Kleiner Stein wies. Und wirklich, da kam der erste Tlacamichin. Sie sahen, wie er mit einer riesigen Beute im Maul auf sie zuschwamm. Die Beute, ein rosafarbener Fisch, zappelte hilflos in seinem Schlund. Grünes Laub lächelte. Nicht umsonst war er an allen Meeresufern, wo Früchte, Baumwolle, Kakao und Tabak gedeihen, als der beste Tlacamichinbändiger bekannt.

Der Tlacamichin näherte sich der Stelle, wo sich Vater und Sohn befanden, ließ die Beute los und kehrte um. Die Schleusentore aus kurzem Rohr, zwischen denen der Tlacamichin mit seiner Beute hereingeschwommen war, ließ der Junge offen. Sie brauchten nicht lange zu warten. Bald tauchte ein zweiter Fisch auf und dann noch einer und noch einer. Am Ende waren es sieben.

»Heute kriegen wir zwei Schnüre zum Trocknen voll, Vater, zwei Schnüre.«

Im Nu war das Netz mit roten und rosafarbenen Fischen gefüllt. Um sie zu betäuben, versetzte ihnen Grünes Laub ein paar Knüppelschläge auf den Kopf. Danach lenkte er seine Tlacamichin in einen abgegrenzten Teil der Bucht. Vater und Sohn lachten. Morgen war in ihrem Dorf Markttag, und sie würden genug Fischfleisch zum Tauschen haben, über den Anteil hinaus, den Grünes Laub als Tribut für die Stadt bestimmte.

Die Tlacamichin verschlangen die Innereien der Fische. In diesem Augenblick ließ Grünes Laub seine Augen über das Meer schweifen. Er war mit dem Meer vertraut, doch auf einmal schien ihm, als würde seine Sehkraft getrübt. Vielleicht war es das Alter, wie seine Frau, Heiterer Fluss, eines Abends zu ihm gesagt hatte. Wieder blickte er über die weite Fläche und bemerkte etwas Seltsames … dort, am Horizont, auf dem letzten Wellenberg. Er rieb sich mit der Rechten die Augen und schaute zu seinem Sohn, als wolle er ihn mit dem Blick fragen, ob er das Gleiche beobachte wie er. Aus der Ferne konnte man annehmen, es wären lauter Inselgruppen, so wie jene, die auf dem Fluss der Schmetterlinge in Tlacotalpan trieben. »Was ist das, Vater? Was ist das?«

Auf die ängstlich klingende Frage des Kindes wusste Grünes Laub nichts anderes zu antworten als: »Calli! Calli!«

»Ein Haus auf dem Meer? Auf dem Meer gibt es keine Häuser, Vater …«

»Du siehst doch, mein Sohn. Es ist ein Haus, und es schwimmt auf dem Meer.«

Wie ein Echo wiederholte Kleiner Stein: »Ja, natürlich … Ein Haus auf dem Meer!« Doch sofort fügte er hinzu: »Vater, auf dem Meer gibt es keine so großen Häuser!«

Der Vater wollte etwas erwidern, überlegte es sich aber anders. Er fasste seinen Sohn Kleiner Stein an der Hand und zog ihn hinter ein paar Kakaobäume, wo sie sich versteckten.

In der Stunde der Morgendämmerung erblickten zwei Fischer im Land der Wärme, im Land der Blumen, der Früchte und des Kachaos das erste Schiff, die erste Brigantine, auf der sich die Söhne der Götter dem Land der Totonaken näherten.

Vom Schiff aus stiegen zwei Soldaten in ein Boot, das größer war als unsere Kanus und das, mit einem gelben Seil vertäut, zu Wasser gelassen wurde. Zwei andere Soldaten rollten vom Deck kleine Fässer in den Bauch des Bootes. Zu den Vorigen gesellten sich drei weitere Männer, bis sie wie auf einer Schnur aufgereiht wirkten. Drei von ihnen trugen Waffen. Später erfuhren wir, dass diese Waffen Armbrüste genannt wurden. Die anderen Männer trugen Arkebusen, jene Furcht einflößenden Stöcke des Donners und des Rauchs.

Während die fünf Seeleute zum Ufer fuhren, blieben die anderen an Bord zurück. Die Brigantine schaukelte bei dem hohen Wellengang auf und ab. Die Matrosen gelangten zu einem Bächlein, füllten ihre Fässer mit Wasser und kehrten wieder um. Dann kamen sie erneut, kehrten abermals um, bis sie genug Wasser zum Schiff gebracht hatten. Grünes Laub und Kleiner Stein beobachteten aus nächster Nähe alles genau. Besonders Grünes Laub begriff, dass hier etwas vor sich ging, von dem der große Herrscher der Meeresküste unbedingt erfahren sollte. Das Netz mit den Fischen hatte er bereits vergessen. Er versuchte alles, was er sah, in seinem Gedächtnis festzuhalten. Manches, was er da erblickte, bestürzte ihn genau wie seinen Sohn Kleiner Stein, der angstvoll die Hand seines Vaters drückte. Tatsächlich jagten diese Männer Angst und Schrecken ein mit ihrer wie die Sonne funkelnden Bekleidung und Kopfbedeckung, mit ihren blonden Bärten und diesem misstrauischen Blick, mit dem sie um sich sahen, als erwarteten sie jeden Augenblick einen Angriff.

Nach der letzten Fahrt zum Ufer hievten ein paar Männer das Boot mithilfe des gelben Taus wieder an Bord. Grünes Laub begriff, dass sie nicht noch einmal zurückkehren würden, um Wasser zu schöpfen.

»Aber wer sind sie, Vater?«

»Sie …«

Es fielen ihm verschiedene Wörter ein, um den Wesen, die wie die Sonne leuchteten, einen Namen zu geben, doch vielleicht genügte es, sie einfach die Wassersucher zu nennen. Sie gelangten an ein blühendes Maisfeld und rannten los, ohne dabei auf die jungen Ähren zu achten.

Teotili schaute Grünes Laub an, ohne recht zu verstehen, was dieser ihm zu erklären versuchte. Rennend, beinahe keuchend, war er in den Palast gestürzt, seinen Sohn im Schlepptau hinter sich herziehend. Wie ein Staubwirbel, der in den Sommermonaten über die Wege fegt, hatte Grünes Laub das Dorf durchquert. Im Palast dann beugte er sein Knie zur Erde, legte seine Hand darauf und küsste sie in der Erwartung, dass Teotili ihn auffordern würde, seine Geschichte zu erzählen.

»Gebt ihm eine Kakaoschale mit Chili … und dem Kind auch eine«, befahl Teotili.

Beinahe zitternd nahm Grünes Laub eine große Trinkschale mit von Chili rot gefärbtem Kakao entgegen und trank sie in einem Zug aus. Teotili war ein großer Krieger, der Freund des Tlatoani von México Tenochtitlan und Statthalter aller Länder am Meer, die von den Azteken erobert worden waren, als Ahuízotl die Feldzüge anführte. In Teotilis Begleitung befanden sich Ritter der Adler-, Jaguar-, Ozelot- und Kojote-Orden sowie Kriegerinnen, deren Gesichter mit Schmetterlingen bemalt waren.

Teotili saß auf einer aus farbigen Federn geknüpften Matte. Rechts neben ihm hielt ein junger Bursche schon die Pinsel bereit, die er auf einer Farbpalette anfeuchtete, um das, was Grünes Laub berichtete, auf ein Baumwolltuch zu malen.

»In der Ferne sah ich die Häuser … zuerst eins … dann ein zweites und zum Schluss noch eins. Es waren mehrere Häuser nebeneinander, sie schaukelten auf den Meereswellen auf und ab. Es waren große Häuser, ganz aus Holz. In den Häusern waren Männer wie wir, aber sie trugen eine funkelnde silberne Haut … sie funkelte gleich dem Silberschein, der in den Vollmondnächten auf dem Meer glitzert. Sie stiegen in ein Kanu, blickten wachsam über die Kakaosträucher, blickten zur Sonne, probierten das Wasser und lächelten. Es waren die Wassersucher.«

»So groß wie jene Häuser waren ihre Kanus?«, fragte ein edler Tequitlato. Er bezog sich auf das, was der Maler auf dem weißen Baumwolltuch mit grüner, rosa und roter Farbe gezeichnet hatte. Grünes Laub betrachtete das Werk des Künstlers, der seine Worte in Bilder übertrug, und rief: »Genauso sahen sie aus, die Häuser der Wassersucher.«

»Waren es Männer des Krieges? Männer des Friedens?«, fragte Teotili.

»Männer des Krieges, denn sie blickten nach allen Seiten um sich, als würden sie einen Angriff erwarten. Während die einen Wasser schöpften, wachten die anderen neben den Kakaobäumen. Sie hatten lange Bärte und weiße Gesichter.«

Teotili ließ eine riesige Karte von der gesamten Küstenregion ausbreiten, auf der alle von den Azteken beherrschten Völker und Gebiete im Land der Früchte, des Kachaos und der Sonne genau eingezeichnet waren.

»Wo hast du diese Wassersucher gesehen?«

Grünes Laub suchte mit den Augen das Bächlein in der Bucht, wo sich seine Falle mit den abgerichteten Tlacamichin befand, und sagte: »Hier … hier.« Und wie um seine Worte zu unterstreichen, fügte er hinzu: »Ihre Kanus sind größer als zwei unserer Häuser zusammen …«

Nachdem Grünes Laub seinen Bericht beendet hatte, beugten sich Teotili und seine Häuptlinge über die Zeichnung, die der Künstler angefertigt hatte, und studierten sie eingehend. Alles war da: die Schiffe auf dem Meer, Grünes Laub und Kleiner Stein, beide hinter ein paar Kakaobäumen versteckt, der Name der Bucht und des blauen Baches, neben dem der Fischer seine gezähmten Fische hielt. Hochgestellte Kriegerinnen und Krieger, Priester, Jungen und Mädchen, alle betrachteten voller Staunen das Bild, das noch in derselben Nacht durch Läufer dem Herrscher Moctezuma geschickt werden sollte, damit er es sich gemeinsam mit den Herrschern von Tlacopan und Texcoco ansähe, dort, in Tenochtitlan.

Grünes Laub wollte sich gerade verabschieden, als Teotili ihm noch eine letzte Frage stellte: »Hast du erkennen können, wer sie befehligt?«

»Gewiss, Herr. Auf einem der großen Häuser tauchte einer auf, der die anderen anschrie und viele Gesten machte. Ohne Zweifel war das ihr Anführer, doch merkwürdig, er sah nicht aus wie die Herrscher unserer Städte. Er wirkte wie die Hälfte von einem Mann, fast wie ein Zwerg.«

3

Auf dem Deck des Hauptschiffes gaben in Lumpen gehüllte Leute den Pferden zu fressen. Diese riesigen Tiere, die wir bis dahin noch nie gesehen hatten, waren an ein paar Hanfstricken festgebunden, damit sie vom Auf und Ab der wogenden See nicht ins Wasser geworfen wurden. Jeweils zwei Männer kümmerten sich um ein Pferd. Eine kleine Frau holte aus einem Fass ein weißes Pulver und fütterte damit ebenfalls die Pferde. Anschließend aß sie selber davon.

Auf dem höchsten Mast flatterte das königliche Banner und daneben die Kapitänsflagge des Hernán Cortés. An irgendeiner Stelle des Schiffes lachten und scherzten seine Soldaten. Einige murrten: »Seht nur, die besten Weiber haben sich die Offiziere genommen.«

»Wie immer«, bemerkte ein alter Soldat und fügte hinzu: »Ihr habt recht, aber meiner Meinung nach hat Portocarrero die Beste erwischt.«

Hauptmann Portocarrero, der zugegen war, sagte: »Ja, die Beste, aber zugleich auch die Scheueste. Es ist mir immer noch nicht gelungen, sie auch nur einmal zu küssen.« Seine Kameraden brachen in Gelächter aus und überschütteten ihn mit scherzhaften Bemerkungen. Dann brachten sie einen Trinkspruch auf den heiligen Jakobus, den Schutzpatron der Spanier, aus und riefen im Chor: »Auf Santiago!«

»Nur zu! Auf Santiago und das Gold!«

Bei dem Wort Gold blitzte es in ihren Augen, und sie wiederholten: »Auf das Gold! Auf das Gold!«

In diesem Augenblick erhob sich Hauptmann Portocarrero und verließ die Gruppe. Er war ein stattlicher junger Mann. Das Schwert, das er trug, hatte einen Griff aus feinstem Toledosilber. Er nahm eine Lampe und zündete sie an, um mit ihr in den Laderaum zu gehen, der sich unterhalb der Wasserlinie des Schiffes befand. Er stieg die Stufen hinab; der Ort war dunkel. Die Öllampe mit beiden Händen über seinen Kopf haltend, betrat er den Raum, der von einem Posten mit aufgerichteter Lanze bewacht wurde. Das Licht, das seine Lampe ausströmte, beleuchtete eine Gruppe Frauen. Bis auf eine hatten alle lange Zöpfe, erschrockene Augen und das typische Profil der Maya.

Das Licht fiel jetzt voll auf eine große, anmutige Frau, so dunkelbraun wie eine Tasse Schokolade, deren kleine Brüste sich unter dem Huipil, dem schönen, goldgelb und schwarz bestickten Hemdgewand, abzeichneten. Portocarrero ging auf die Frau zu, fasste sie bei den Haaren und versuchte, sie herauszuziehen. Sie wehrte sich. In Portocarreros Rücken schloss der Soldat, der als Wache für den Raum aufgestellt war, die Tür. Man vernahm den harten Schlag des Türklopfers. Portocarrero versuchte, die Frau zu vergewaltigen.

Unversehens warf er sie auf die Dielen des Fußbodens. Als sie ihm jedoch nicht zu Willen war, setzte er den Stiefel auf ihren Kopf und schrie sie wütend an: »Füg dich, Frau, du bist meine Sklavin …« Und ein um das andere Mal wiederholte er die Worte: »Meine Sklavin, verstehst du, meine Sklavin!«