Melanie Milburne
Küsse im Strandhaus der Liebe
IMPRESSUM
ROMANA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
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© 2006 by Melanie Milburne
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 1718 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Veramaria Schwallbach
Fotos: dolgachov / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86349-315-8
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
„Aber du musst mich heiraten!“, sagte Gemma in verzweifeltem Ton. „Es ist nicht mal mehr eine Woche bis zu meinem Geburtstag. Ich werde alles verlieren, wenn du mich nicht heiratest!“
Das mechanische Surren von Michael Carters Rollstuhl, als er sich weiter von ihr entfernte, ließ Gemma das Blut in den Adern gefrieren.
Er war ihre letzte Hoffnung.
Alles, was sie durchgemacht hatte – alles, was sie beide durchgemacht hatten – all der Kummer und das Leid wären vergeblich gewesen, wenn er sich nicht an ihre Abmachung halten würde.
„Ich kann es nicht“, erwiderte Michael und wich ihrem panischen Blick aus. „Ich dachte, ich könnte es tun, aber es geht einfach nicht. Es wäre nicht richtig.“
„Richtig?“ Sie spuckte dieses Wort aus, als würde es ihr die Kehle verbrennen. „Was ist nicht richtig daran, dass ich Anspruch auf das erhebe, was mir rechtmäßig zusteht? Du hast den Bedingungen zugestimmt, Herrgott noch mal!“
„Ich weiß, aber die Dinge liegen jetzt anders.“
Gemma blickte ihn nun erschrocken an. „Willst du mehr Geld?“, fragte sie und rechnete in Gedanken schon durch, wie viel Geld sie noch vom Vermögen ihres verstorbenen Vaters abzweigen konnte. Sie würde The Landerstalle Hotel verkaufen müssen, aber das war ihre geringste Sorge. Sie wollte es sowieso nicht.
Sie warf Michael einen durchdringenden Blick zu. „Geht es dir darum? Willst du mehr Geld?“
Er wendete den Rollstuhl mit einem Geschick, das sie insgeheim immer bewundert hatte, und seine grauen Augen wurden von einem Ausdruck erfüllt, den sie noch nie darin gesehen hatte. „Hör mir zu, Gemma. Du weißt, dass ich nie ein richtiger Ehemann für dich werde sein können …“
„Ich will keinen richtigen Ehemann! Gerade du solltest das wissen.“
„Es tut mir leid … du musst denken, dass ich dich absichtlich im Stich lasse, aber so ist es absolut nicht“, erwiderte er.
In Gemmas kobaltblauen Augen begannen Tränen aufzusteigen, doch mit der Entschlossenheit, die nach dem Unfall, der ihrer beider Leben verändert hatte, zu ihrem Markenzeichen geworden war, gelang es ihr, sie zurückzuhalten.
„Ohne dich kann ich es nicht schaffen, Michael. Es ist doch nur für sechs Monate. Sechs lächerliche Monate! Ist das zu viel verlangt?“
Er sah ihr nicht in die Augen. „Ich habe andere Pläne … Ich gehe weg. Vielleicht nach Übersee … Ich habe das Gefühl, dass ich einen gewissen Abstand zwischen meiner Vergangenheit und meiner Zukunft brauche.“
„Und was ist mit meiner Zukunft?“, fragte sie. „Ohne dich habe ich keine Zukunft! Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Ich brauche einen Ehemann, und zwar in einer knappen Woche, sonst …“ Sie konnte die Worte nicht einmal laut aussprechen, es schmerzte zu sehr.
„Schau, es tut mir leid, aber so ist es nun einmal. Ich kann es nicht. Du musst jemand anderen finden.“
Fassungslos sah sie ihn an. „Sieh mich an, Michael. Ich bin nicht gerade eine Schönheit. Wo soll ich wohl in weniger als einer Woche einen Ehemann herbekommen?“
„Das ist nicht mein Problem. Außerdem solltest du dein Aussehen nicht immer schlechtmachen. Du hast keinen Grund, dich zu schämen.“
Nein, dachte sie in einem plötzlichen, schmerzhaften Anfall von Schuldgefühlen. Nur für die Tatsache, dass ich in einem Moment unüberlegter Dummheit unser beider Chancen auf ein normales Leben zerstört habe.
Sie hatte nie verstanden, mit welcher Verbissenheit Michael die Folgen dieses schrecklichen Tages akzeptierte, selbst jetzt, mehr als fünf Jahre später, verstand sie es nicht. Beide hatten sie keine Erinnerung an den Unfall selbst, was vielleicht ein kleiner Segen war. Sie erinnerte sich jedoch vage daran, dass sie zu Michaels Haus gefahren war, nachdem sie sich einmal mehr heftig mit ihrer Stiefmutter gestritten hatte, doch an die genaueren Umstände dieses Streits konnte sie sich nicht erinnern.
Michael hatte Gemma nie offen die Schuld gegeben, aber in letzter Zeit hatte sie unterschwellig eine Veränderung an ihm gespürt. Wollte er deswegen in letzter Minute aussteigen, um sie zu bestrafen für das, was sie ihm angetan hatte?
„Ich muss jetzt gehen“, sagte er in das lastende Schweigen hinein. „Ich werde abgeholt.“ Er schaltete seinen Rollstuhl ein, fuhr etwas näher zu ihr und streckte ihr die Hand hin. „Leb wohl, Gemma. Ich hoffe, dass sich für dich alles zum Guten wendet. Das meine ich ehrlich. Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir uns nicht wiedersehen. Wir beide müssen unser Leben weiterleben, müssen endlich loskommen von … jenem Tag.“
Gemma sah ihm tief in die Augen, aber er schien ihren Blick nicht aushalten zu können. „Leb wohl, Michael“, erwiderte sie und zwang ihre Stimme zu einem kalten, harten Tonfall, der gleichgültig klingen sollte, obwohl sie doch innerlich das Gefühl hatte, dass alles um sie herum zusammenbrach.
Wie versteinert stand sie noch immer da, als ein paar Minuten später ein junger Mann erschien. Er half Michael hinaus und in den wartenden Wagen, der speziell für den Transport von Rollstühlen ausgerüstet war. Dann fuhren sie mit knatterndem Motor in dem alten Gefährt davon, was Gemma noch wie eine zusätzliche Beleidigung erschien, wenn sie daran dachte, welche Summe sie Michael dafür geboten hatte, sechs Monate lang ihr Ehemann zu sein, um die Bedingungen des Testaments ihres Vaters zu erfüllen.
Gemma stand kurze Zeit später noch immer im Türrahmen, da hielt plötzlich ein glänzender schwarzer Lamborghini vor ihrem kleinen Haus. Sie sah zu, wie eine große, irgendwie vertraute Gestalt aus dem luxuriösen Sportwagen stieg und mit ausholenden Schritten auf ihre Haustür zukam.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, woher sie ihn kannte. Vielleicht war er irgendwann einmal Gast im The Landerstalle gewesen, oder er war ein Prominenter. Seine glamouröse Aura war unverkennbar. Mit seinen langen Beinen bewegte er sich sicher und elegant, und sein schlanker, muskulöser Körper ließ vermuten, dass er regelmäßig trainierte. Er war mindestens einen Meter fünfundachtzig groß und hatte glänzende schwarze Haare, die kunstvoll so gestylt waren, dass seine Frisur ganz natürlich und leicht zerzaust wirkte. Selbst ohne seine Luxuskarosse hätte man ihm angesehen, dass er Geld hatte. Seine Garderobe saß perfekt und sah eindeutig nach teurer Designermode aus.
Normalerweise hätte Gemma schnell die Tür geschlossen und nicht aufgemacht, wenn es an der Tür geklingelt hätte, doch jetzt siegte ihre Neugier.
Sie bekam so gut wie nie Besuch.
Gemma konnte sich nicht daran erinnern, wann ihr das letzte Mal jemand einen spontanen Besuch abgestattet hatte; sogar Michael hatte sie mit einem selbst gekochten Essen, einem guten Wein und einer neuen DVD ködern müssen, damit er sie besuchen kam.
„Miss Landerstalle?“ Der Mann sprach mit starkem Akzent, der zusammen mit seinem dunklen Teint und seinem guten Aussehen unverkennbar auf eine italienische Abstammung hindeutete.
„Ja“, antwortete sie, ergriff aber seine höflich ausgestreckte Hand nicht.
Dadurch, dass sie nicht in der Lage war, sich an ihn zu erinnern, fühlte sie sich deutlich im Nachteil. Seine dominante Gegenwart war nahezu greifbar. Sogar ein wenig bedrohlich …
„Erinnern Sie sich nicht an mich?“, fragte er und sah sie mit Augen an, die so braun waren, dass sie an die Farbe eines starken Espressos erinnerten.
Gemma spürte eine seltsame Empfindung bei seinen Worten. Irgendetwas an dieser samtigen Stimme mit ihrer deutlichen Aussprache und an diesen dunklen Augen löste eine vage Erinnerung bei ihr aus. Der Unfall hatte einen Teil ihrer Erinnerungen ausgelöscht; hin und wieder fielen ihr Bruchstücke ihres früheren Lebens wieder ein, aber im Großen und Ganzen war sie froh, dass sie sich nicht allzu genau daran erinnern konnte.
„Ähm … nein … es tut mir leid“, sagte sie unsicher. „Haben wir uns schon einmal getroffen?“
Er schenkte ihr ein rätselhaftes kleines Lächeln. „Allerdings. Mehr als ein Mal. Aber es ist schon lange her.“
Gemma sah ihn von Zweifeln geplagt an, und ein furchtsamer Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schluckte, um ihren trockenen Mund zu befeuchten. „Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor …“
„Erlauben Sie mir, mich Ihnen erneut vorzustellen. Mein Name ist Andreas Trigliani. Vor zehn Jahren habe ich im The Landerstalle Hotel für Ihren Vater gearbeitet.“ Er hielt einen Moment inne, bevor er hinzufügte: „Ich war einer der Pagen.“
Gemma hatte plötzlich das Gefühl, als wenn jemand ihr einen Schlag in den Magen versetzt hätte. Ihr wurde ganz flau, denn jetzt erinnerte sie sich voller Scham wieder an den jungen Mann, der sich so sehr bemüht hatte, ihr zu gefallen, und daran, wie sie ihn behandelt hatte. Andreas Triglianis Verliebtheit in die einzige Tochter des Besitzers des exklusiven Landerstalle Hotels hatte sie damals maßlos amüsiert.
Wie sie hinter seinem Rücken mit ihren Freunden über ihn gelacht hatte – ein Hotelpage war verliebt in sie!
Ein Page, der dachte, dass er bei der Alleinerbin eines riesigen Vermögens eine Chance hätte!
Ein einundzwanzig Jahre alter Italiener, der kaum ein paar Sätze in Englisch zustande brachte!
Nein, das war ungerecht, fiel Gemma voller Schuldgefühle ein. Er hatte ziemlich gut Englisch gesprochen, aber sie hatte sich trotzdem darüber lustig gemacht, wie er sprach. Sie erschauerte innerlich, wenn sie daran dachte, wie sie sich damals verhalten hatte. Wie hatte sie so grausam sein können?
Aber warum war er jetzt hier? Er sah nicht so aus, als ob er heute noch das Gepäck anderer Leute trug. Er wirkte eher so, als sei er es gewohnt, bedient zu werden und jeden seiner Wünsche mit einem Fingerschnippen erfüllt zu bekommen.
Körperlich hatte er sich sehr verändert, sodass es kein Wunder war, dass sie ihn nicht auf Anhieb wiedererkannt hatte. Er musste jetzt einunddreißig sein – ein Mann im wahrsten Sinne des Wortes. Vor zehn Jahren war er ein schüchterner, eifrig bemühter Jüngling gewesen, unterentwickelt für sein Alter, wie sie damals gedacht hatte. Er hatte eine erfrischende Unschuld an sich gehabt, die sie, wie sie sich zu ihrer Schande eingestehen musste, zu ihrem Vorteil benutzt hatte.
Sie hatte ihn fürchterlich behandelt – das war wirklich unverzeihlich.
„Es tut mir leid …“ Sie senkte die Augen in der Hoffnung, dass er ihr die Lüge nicht ansehen würde. „Ich kann mich nicht erinnern … ich hatte vor ein paar Jahren einen schweren Autounfall. Mir fehlen immer noch Teile meiner Erinnerung.“
„Das tut mir sehr leid“, erwiderte er, und seine Stimme klang so aufrichtig, dass sie unwillkürlich den Blick wieder hob. „Es muss sehr schwierig sein, mit so etwas fertig zu werden.“
Gemma spürte, wie sein Blick den ihren festhielt, und ihr Herzschlag begann, außer Kontrolle zu geraten. Sie sah zur Seite und antwortete mit heiserer und viel zu leiser Stimme: „Ja … ja … das ist es …“
Danach entstand ein angespanntes Schweigen zwischen ihnen.
Gemma spürte seinen dunklen, unergründlichen Blick forschend auf sich ruhen. Seine Augen schienen sie zu durchleuchten, die tief in ihrem Innern verborgenen Geheimnisse ans Licht zu bringen, die Schande, die sie vor allen zu verheimlichen gesucht hatte, die Schande ihrer vergeudeten Jugend, die Schande ihrer Vergangenheit und ihrer inneren Wunden, die keine heilende Hand je erreichen konnte.
„Ich nehme an, Sie wundern sich, warum ich nach so langer Zeit wieder hier in Sydney bin.“ Das tiefe, volltönende Timbre seiner Stimme verursachte ihr ganz unerwartet eine Gänsehaut.
Wieder befeuchtete sie ihre völlig ausgetrockneten Lippen und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. „Machen Sie wieder einen Arbeitsurlaub hier, oder sind Sie auf Geschäftsreise da?“
Sein Lächeln entblößte ebenmäßige weiße Zähne, aber es lag kein Fünkchen Humor in dieser Bewegung seiner Lippen. „Man könnte sagen, ich habe eine Mission. Ich bin dabei zu expandieren und will mein Unternehmen um einige Luxusunterkünfte in Australien erweitern. Ich interessiere mich für das The Landerstalle.“
„Sie haben es seit Ihrer Zeit als Page offensichtlich weit gebracht“, erwiderte sie und versuchte, ihr Unbehagen zu verbergen. „Wie haben Sie das gemacht? Haben Sie vielleicht im Lotto gewonnen?“
Der Ausdruck seiner Augen wurde hart. „Nein, mit Glück hatte das nichts zu tun. Ich habe es auf die übliche Art geschafft, durch gute, altmodische Arbeit. Ich verwalte Luxusimmobilien im Wert von einigen Billionen Dollar auf der ganzen Welt. Das Einzige, was mich traurig macht, ist, dass mein Vater nicht lange genug gelebt hat, um in den Genuss der Früchte meines Erfolges zu kommen.“ Er hielt einen Moment inne und fuhr dann fort. „Er starb kurz nachdem ich von meinem Praktikum in Australien zurückgekehrt war.“
Gemma blickte ihn schweigend an, überwältigt von dem Kummer über den kürzlichen Tod ihres eigenen Vaters. Sie hätte nie gedacht, dass der junge Mann, der in einer so niedrigen Position im Hotel ihres Vaters gearbeitet hatte, eines Tages sein eigenes Imperium besitzen würde. Er hatte damals genauso gewirkt wie jeder andere Rucksacktourist, der knapp bei Kasse war und sich seine Reise rund um den Globus durch Gelegenheitsjobs verdiente. Soweit sie sich erinnerte, hatte es damals kein Anzeichen für so hochgesteckte Ziele gegeben.
„Das mit Ihrem Vater tut mir sehr leid …“, sagte sie und wusste, wie schrecklich unzulänglich das klang, hatte aber trotzdem das Bedürfnis, ihr Mitgefühl auszudrücken.
„Vielen Dank“, erwiderte er, und sein Ton wurde sanfter. „Mir tat es auch leid, von Ihrem Verlust zu hören. Für Sie als Einzelkind muss das besonders hart gewesen sein. Ich war sehr dankbar, dass ich meinen Kummer mit meiner Familie teilen konnte.“
Gemma, die nicht daran gewöhnt war, dass man ihr Mitgefühl entgegenbrachte, spürte ihre Schutzmechanismen schwinden, die Schutzmechanismen, auf die sie so verzweifelt angewiesen war. Ganz bewusst setzte sie einen harten und kalten Gesichtsausdruck auf. „Nun ja, wie Sie sich wahrscheinlich erinnern, standen mein Vater und ich uns nicht sehr nahe.“
„Er war ein guter Mann“, erwiderte er. „Manchmal ein wenig rücksichtslos, aber die meisten Männer, die nach Erfolg streben, müssen so handeln.“
„Ja …“ Sie versuchte zu lächeln, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen – zu lange war es her, dass sie diese speziellen Muskeln benutzt hatte; sie hatte anscheinend vergessen, wie es ging.
„Wie geht es Ihrer Stiefmutter?“, fragte er.
Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu und sah dann weg.
„Die dürfte just in diesem Moment mit angehaltenem Atem darauf warten, dass ihr das Vermögen meines Vaters in den Schoß fällt“, erwiderte sie mit unverhohlener Bitterkeit.
Wieder breitete sich ein Schweigen zwischen ihnen aus, kürzer diesmal, aber nicht weniger nervenaufreibend für Gemma.
„Ihr Vater hat also alles ihr hinterlassen?“
Sie zwang sich dazu, ihm wieder in die Augen zu sehen. „Nein, eigentlich nicht, aber wie es aussieht, bekommt sie schließlich doch alles.“
„Wie kann das sein?“
„Weil im Testament meines Vaters festgelegt wurde, dass Marcia das gesamte Vermögen bekommt, wenn ich nicht bis zu meinem nächsten Geburtstag verheiratet bin und mindestens sechs Monate verheiratet bleibe.“
Andreas sah sie verwundert an. „Warum hat er sein Testament in dieser Form abgefasst?“
„Ich weiß es nicht genau … Ich vermute, er nahm an, dass ich niemals eine Heirat in Erwägung ziehen würde, wenn es nicht einen unwiderstehlichen Anreiz dafür gäbe.“
„Ohne ein entsprechendes Lockmittel erscheint Ihnen der Ehestand überhaupt nicht reizvoll?“
Einen Moment lang prüfte sie seinen Gesichtsausdruck und wunderte sich darüber, dass er sich weder zu der dünnen weißen Linie auf ihrer Stirn, die der Pony nur unzulänglich verdeckte, noch zu ihrem unbeholfenen Hinken, das ihm unmöglich entgangen sein konnte, geäußert hatte.
„Ich bin nicht gerade in Hochform“, erwiderte sie mit einem Anflug von trockenem Humor.
„Sie sind eine bildschöne Frau wie auch schon vor zehn Jahren. Jeder Mann wäre stolz darauf, Sie zur Ehefrau zu haben.“
Gemma forschte nach einem Anzeichen von Spott in seinem Blick, einem Spott, den sie mit Sicherheit verdient hatte nach dem, was sie ihm angetan hatte. Doch zu ihrer Verwunderung fand sie nichts als Aufrichtigkeit in seinem Blick. „Danke.“
„Wann haben Sie Geburtstag?“, fragte er.
„In sechs Tagen“, antwortete sie mit einem Seufzen, und ihr Magen begann panisch zu flattern. „Mein Verlobter hat mich gerade verlassen, kurz bevor Sie kamen.“
„Verlassen?“
Sie warf ihm einen zynisch-abgeklärten Blick zu. „Ja, endgültig. Die Hochzeit ist abgesagt.“
„Das tut mir leid für Sie.“
Sie verschränkte die Arme über der Brust, als wenn ihr kalt wäre, obwohl die Außentemperaturen typisch für einen schwülen Spätsommer in Sydney waren. „Mir tut es noch viel mehr leid, das können Sie mir glauben.“
Wieder machte sich ein Schweigen zwischen ihnen breit.
Andreas trat näher und baute sich direkt vor ihr auf. „Vielleicht finden Sie ja jemand anderen, der seinen Platz einnehmen kann?“
Gemma musste den Hals recken, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie hatte sich daran gewöhnt, sich zu Michael hinunterzubeugen, und es war schon lange Zeit her, dass sie einem Mann von normaler Körpergröße in die Augen gesehen hatte.
„In weniger als einer Woche?“ Niedergeschlagen sah sie ihn an. „In Italien mag das alles etwas anders sein, aber glauben Sie mir, hier in Australien dauert es erheblich länger als sechs Tage, um einen Ehemann zu finden – jedenfalls einen legalen.“
„Und was wäre, wenn ich in diesem kurzen Zeitraum eine Lösung für Ihr Problem finden könnte?“ Mit festem Blick schaute er sie an.
„Eine Lösung?“ Wachsam und konzentriert sah sie ihn an, und ihr Herzschlag setzte einen Moment aus.
„Sie brauchen einen Ehemann“, sagte er, so als ob er über etwas ganz Alltägliches sprechen würde, wie Lebensmittel, die im Haushalt benötigt werden.
„Ja … schon … aber ich glaube kaum …“
„Ich kann mich Ihnen für diese Rolle zur Verfügung stellen“, unterbrach er ihren Protest, mit dem er offensichtlich gerechnet hatte. „Die nötigen Formalitäten zügig zu organisieren, dürfte kein Problem für mich sein, da ich über die notwendigen Beziehungen verfüge. Ich bin bereit, den Platz Ihres Verlobten einzunehmen.“
Gemma sah ihn mit einer verwirrenden Mischung aus unbeschreiblicher Furcht und zunehmender Erleichterung an.
Er war die Lösung für ihr Problem.
Er bot ihr gerade an, sie zu heiraten. Sie würde das Vermögen, das sie so dringend brauchte, nicht verlieren müssen … trotzdem konnte sie das Gefühl nicht loswerden, das hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Warum? Warum sollten Sie das tun?“
Seine dunklen Augen offenbarten nichts. „Sie brauchen doch ganz schnell einen Ehemann, oder?“
Gemma hätte diese Tatsache nur allzu gern abgestritten, aber die Wahrheit war in den Papieren dokumentiert, die ihr verstorbener Vater bei seinem Anwalt hinterlegt hatte, und ihr Geburtstag rückte unaufhaltsam näher.
„Ja …“
„Nun, und ich bin gewillt, in die Bresche zu springen.“
„Warum?“, fragte sie noch einmal misstrauisch.
„Ich brauche eine Ehefrau.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sie brauchen einen Ehemann.“
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. „So einfach ist das?“
„Ich bin jetzt einunddreißig Jahre alt“, meinte er pragmatisch. „Ich habe eine Phase in meinem Leben erreicht, in der ich mich niederlassen möchte. Ich bin Italiener – der Wunsch, eine Familie zu gründen, liegt mir im Blut.“
„Sie kennen mich doch überhaupt nicht.“
„Erlauben Sie mir, das richtigzustellen“, erwiderte er mit einem rätselhaften kleinen Lächeln. „Ich kenne Sie sehr gut – es sei denn, Sie hätten sich in den letzten Jahren extrem verändert.“
Es lag Gemma auf der Zunge, ihm zu gestehen, dass sie sich in der Tat extrem verändert hatte, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie hatte die Wahrheit hinter der kleinen Notlüge über ihren Gedächtnisverlust verborgen, und diese eine würde viele weitere kleine Notlügen nach sich ziehen. Es gab zwar sehr vieles über den Unfall und Teile ihrer Vergangenheit, woran sie sich tatsächlich nicht erinnerte, aber Andreas Trigliani und die Art, wie sie ihn behandelt hatte, gehörten nicht dazu. Deshalb konnte sie auch nicht verstehen, warum gerade er ihr aus der Patsche helfen wollte.
Er müsste doch eigentlich auf Rache bedacht sein. Schließlich hatte sie rücksichtslos seinen männlichen Stolz niedergemacht und konnte sich kaum vorstellen, dass er ihr vergeben hatte. Es sei denn, auch er hätte sich grundlegend geändert.
Körperlich hatte er sich im Laufe der Jahre mit Sicherheit geändert. Als er damals im Hotel gearbeitet hatte, hatte er noch nicht seine endgültige Körpergröße erreicht, und sein schlaksiger Körper war nicht so muskulös und gut geformt gewesen wie jetzt.
Andreas Trigliani war ein auffallend gut aussehender Mann. Er könnte jede Frau haben, die er wollte, und deshalb drängte sich die Frage auf, warum er sich ausgerechnet an sie binden wollte.
„Ich bin nicht sicher, was Sie sich von diesem Arrangement erhoffen“, sagte sie schließlich. „Ich brauche einen Ehemann, ja – aber keinen richtigen, nur auf dem Papier. Meinem Exverlobten Michael Carter habe ich eine beträchtliche Summe dafür geboten, aber da Sie selbst über genug Geld verfügen, dürfte das kein Anreiz für Sie sein.“
Er sah sie lange schweigend an.
Gemma spürte die Stille heimtückisch herankriechen, als ob sie eine unsichtbare Drohung enthielt. Das Schweigen erstickte sie, ihr Puls begann zu rasen, und die dunkle Vorahnung verstärkte sich, als sie die Entschlossenheit in seinen dunkelbraunen Augen wahrnahm.
„Ich werde dich heiraten, Gemma“, sagte er und kehrte zum Du zurück, wie damals vor zehn Jahren. „Aber ich habe einige Bedingungen. Sollten diese Bedingungen für dich nicht akzeptabel sein, dann muss ich mein Angebot wieder zurückziehen.“
„Bedingungen?“, fragte sie mit erstickter Stimme, während sie mit zunehmender Angst in ihren dunkelblauen Augen zu ihm aufsah.
„Ja“, erwiderte er mit funkelnden Augen, in denen sich etwas spiegelte, das ihr tief im Inneren Unbehagen bereitete. „Ich will eine Ehefrau, aber genauso sehr will ich auch einen Erben.“
Gemma schluckte schwer, und es verschlug ihr vollkommen die Sprache.
Andreas hielt einen Moment inne, bevor er im selben ruhigen Ton fortfuhr: „Ich werde dich in sechs Tagen heiraten, wenn du einwilligst, die Mutter meines Kindes zu sein.“
Diese Worte trafen Gemma wie ein Schlag in die Magengrube. Sie riss sich mit der eisernen Disziplin zusammen, die ihr in den letzten Jahren geholfen hatte, mit dem Leben fertig zu werden, doch ihre Fassung hing nur an einem seidenen Faden. Ihrem Gesichtsausdruck konnte Andreas allerdings nichts von ihrem inneren Aufruhr ansehen.
„Das ist eine weitreichende Forderung“, brachte sie schließlich heraus und war selbst erstaunt, dass es ihr gelungen war, ihre Stimme so beiläufig klingen zu lassen.
„Vielleicht. Jedenfalls ist das nicht die einzige Bedingung. Als mein Vater vor zehn Jahren so unerwartet starb, war mir klar, dass ich irgendwann meine Verantwortung übernehmen und die Linie der Familie Trigliani weiterführen müsste. Ich bin der einzige Sohn, und es ist meine Pflicht, für einen Erben zu sorgen. Für den Fall, dass unsere Ehe nicht funktioniert, bestehe ich darauf, dass ich das Sorgerecht für die Kinder aus unserer Verbindung bekomme. Du wirst natürlich ein Besuchsrecht erhalten.“
Gemma wusste keine Antwort darauf und blieb stumm. Er würde das als Zustimmung auslegen, aber das war ihr jetzt gleichgültig.
„Als sich die Gelegenheit für mich ergab, nach Australien zurückzukehren, habe ich sie sofort ergriffen. Mein Vater hätte es so gewollt – er wollte, dass ich Erfolg habe.“
„Du … standest deinem Vater sehr nahe, nicht wahr?“, fragte sie ihn und hätte gern gewusst, ob er den neidischen Tonfall in ihrer Stimme mitbekam, den sie zu unterdrücken versuchte.
Es dauerte eine Weile, bevor er ihr antwortete. Gemma hatte den Eindruck, dass er seine Worte sorgfältig wählte, dass vielleicht das Thema auch nach zehn Jahren noch schmerzlich für ihn war. Sie beobachtete, wie er sich mit der Hand durch sein üppiges Haar fuhr, und bemerkte zum ersten Mal eine emotionale Tiefe in seinen Augen, die ihr vorher nicht aufgefallen war. In diesem Moment verspürte sie trotz seiner unverschämten Forderungen zum ersten Mal wirkliches Mitgefühl für ihn.
„Mein Vater hat sich für mich ein anderes Leben als sein eigenes gewünscht. Er hat immer davon geträumt, eines Tages ein eigenes Hotel zu besitzen. Er hat den größten Teil seines Lebens damit verbracht, für andere Leute zu arbeiten, hat nie genug verdient, um sich selbst einen Urlaub zu gönnen. Ich habe ihm versprochen, dass ich irgendwann die Ziele erreichen würde, die er immer erreichen wollte. Das war der Hauptgrund, warum ich damals nach Australien gekommen bin, um das Hotelgeschäft von der Pike auf zu lernen.“
Es war Gemma sehr wohl bewusst gewesen, wie geschickt er sich seinen Mentor ausgewählt hatte. Es war schon fast peinlich gewesen, wie überschwänglich ihr Vater den jungen italienischen Pagen gelobt hatte, dessen Enthusiasmus und Einsatz den der einheimischen Jungen weit übertroffen hatte. Zuerst hatte es Gemma amüsiert, aber dann war sie immer eifersüchtiger auf Andreas geworden, auf die Aufmerksamkeit, die er geschenkt bekam und die sie doch ganz allein für sich haben wollte. Und mit einer Gehässigkeit, für die sie sich jetzt noch schämte, hatte sie begonnen, die Aufmerksamkeit ihres Vaters wieder auf sich zu lenken.
Als ihr plötzlich das lange Schweigen zwischen ihnen zu Bewusstsein kam, fragte Gemma: „Aber du kennst doch garantiert zu Hause zahllose italienische Frauen, die viel eher infrage kämen, deine Ehefrau zu werden?“
„Ich hätte viele Möglichkeiten, ja, aber es hat auch gewisse Vorteile, eine australische Ehefrau zu haben.“
„Eine reiche australische Ehefrau“, warf sie ein.
Er zog die Augenbrauen hoch. „Richtig. Eine sehr reiche australische Ehefrau mit den richtigen Beziehungen.“
Sie atmete hörbar ein, während sie sein Angebot überdachte. „Dann sieht es ganz so aus, als wenn wir beide aus dieser … eh … Fusion … Gewinn ziehen können.“
„Natürlich“, erwiderte er. „Wenn du mich heiratest, wirst du das Landerstalle Hotel erben, das trotz seines Renovierungsbedarfs immer noch eins der ersten Hotels von Sydney ist.“
„Ich will es so bald wie möglich verkaufen.“
Wenn ihre unverblümte Äußerung ihn erstaunte, so ließ er es sich nicht anmerken. „Es wird eine Generalüberholung brauchen, bevor du es verkaufst, sonst wird es nicht seinen tatsächlichen Marktwert einbringen.“
„Das ist mir egal. Ich möchte es einfach nur loswerden.“
Er sah sie lange an und ließ ihren Blick nicht los. „Aber das Hotel kann nicht verkauft werden, bevor die sechs Monate um sind“, erinnerte er sie.
Mit zunehmender Beunruhigung betrachtete sie ihn. „Das Testament meines Vaters scheint dir ja bestens bekannt zu sein.“
Das rätselhafte Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht, seine dunklen Augen glitzerten geheimnisvoll. „Ich lasse mich nie auf ein Geschäft ein, bevor ich mich nicht gründlich damit vertraut gemacht habe, Gemma. Es empfiehlt sich nicht, eine Abmachung zu treffen, ohne sich vorher gründlich abgesichert zu haben. Sonst besteht die Gefahr, wesentliche Einzelheiten zu übersehen.“
Sie musste die Augen senken, um seinen forschenden Blicken zu entkommen. „Ich habe kein Interesse an dem Hotel, ich benötige nur das Vermögen meines Vaters, um einige aufgelaufene Rechnungen zu begleichen.“
„Ich werde dir das Hotel nach Ablauf der sechs Monate zu einem von dir festgesetzten Preis abkaufen. Ich werde auch das für die sofortige Renovierung nötige Geld zur Verfügung stellen, ohne eine Rückzahlung von dir zu erwarten.“
Das ist ein sehr großzügiges Angebot, dachte Gemma. Aber es gab da ein unüberwindliches Problem, das sie ihm nicht mitteilen konnte.
„Und als Gegenleistung dafür soll ich dir das geben, was du dir am meisten wünschst – ein Kind.“
„Das ist die Vereinbarung.“
Gemma drehte sich vor Furcht der Magen um. Wenn er erst einmal herausfand, wie sie ihn betrogen hatte, welchen Preis würde er ihr dann abverlangen? Aber hatte sie nicht sowieso schon den höchstmöglichen Preis gezahlt? Wie viel mehr konnte das Leben noch von ihr fordern?
Doch das war jetzt unwichtig. Sie musste ihre Gewissensbisse unterdrücken und sein Angebot annehmen. Sie machte ihm etwas vor, das war verabscheuungswürdig, jedoch aus der Verzweiflung geboren. Sie hasste sich für das, was sie tun musste, aber sie wusste auch, dass sie sich noch mehr hassen würde, wenn sie es zuließe, dass Marcia das hart verdiente Geld ihres Vaters bekam. Damit wäre dann auch Gemmas letzte Chance vertan, etwas Gutes aus ihrem Leben zu machen.
Sich selbst an einen Mann zu binden, den sie in der Vergangenheit so entsetzlich behandelt hatte, einen Mann, den sie vor zehn Jahren kaum gekannt hatte, war ein vergleichsweise kleines Opfer.
Andreas Trigliani schien ein vernünftiger Mann zu sein, ein anständiger Mann, der ihr offensichtlich ihre kindische und grausame Ablehnung seiner Person vergeben hatte.
Hatte er das wirklich?
Irgendetwas an dieser ganzen Sache beunruhigte sie.
„Ich sehe, dass ich dich mit meinem Vorschlag schockiert habe. Unter anderen, weniger drängenden Umständen würde ich dir raten, dir etwas Zeit zu nehmen, um darüber nachzudenken. Aber das ist jetzt natürlich unmöglich. Ich brauche deine Antwort sofort, damit ich noch rechtzeitig bis zum nächsten Freitag die erforderlichen Schritte zur Vergabe der Heiratslizenz unternehmen kann.“
Gemma schluckte ihre Schuldgefühle hinunter. Sie musste den Nachlass ihres Vaters bekommen.
Das musste sie einfach!
Auch wenn es bedeutete, einen Mann zu täuschen, der sie möglicherweise vernichten würde, wenn er die Wahrheit herausfand. Aber bis dahin würde sie ihr Ziel schon erreicht haben. Sie brauchte das Geld aus Gründen, die sie nicht preisgeben konnte, Gründe, für die es sich zu leiden lohnte.
„Ich … ich nehme dein Angebot an“, sagte sie und versuchte, seinem standhaften Blick auszuweichen. „Aber auch ich habe einige Bedingungen zu stellen.“
Andreas antwortete nicht, weshalb Gemma ihm wieder in die Augen schaute. Es war schwierig, seinen Gesichtsausdruck zu deuten; er schien eine sichere Distanz aufrechtzuerhalten. Was sie ihm nicht übel nehmen konnte. Denn damals hatte sie sich als nicht vertrauenswürdig erwiesen, und warum sollte er sich wieder angreifbar machen?
Sie holte Luft und betete, dass ihre Stimme sie nicht im Stich lassen würde. „Wenn wir auch in weniger als einer Woche verheiratet sein werden, so brauche ich doch etwas Zeit, um dich … besser kennenzulernen, bevor wir … miteinander schlafen.“
„Aber natürlich“, erwiderte er. „Ich bin nicht so ungehobelt, dass ich erwarten würde, dass wir eine körperliche Beziehung haben, bevor wir eine gewisse Vertrautheit zwischen uns hergestellt haben.“
Gemma war ziemlich sicher, dass die ungeheure Erleichterung, die sie verspürte, sich deutlich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Sie zwang sich jedoch dazu, mit ruhiger und gesetzter Stimme zu sprechen, obwohl sie bei dem Gedanken erschauerte, dass dieser starke, geschmeidige Körper sie bald besitzen würde. „Danke. Ich weiß deine … Geduld zu schätzen.“
„Mit der Zeit wirst du herausfinden, Gemma, dass ich wirklich ein sehr geduldiger Mann bin.“ Und wieder schienen in seinem Ton verborgene Elemente mitzuschwingen.
Sie konnte nur hoffen, dass ihre Zustimmung zu dieser Ehe im Endeffekt nicht zu viel Schaden anrichten würde. Schließlich musste sie ja nur sechs Monate halten. Sie war sich nicht sicher, warum ihr Vater diese Klausel eingebaut hatte. Denn er kannte den wirklichen Grund nicht, aus dem sie bis jetzt vor der Ehe davongelaufen war.
Sie hatte zwar als Jugendliche häufig mit ihm über die Einschränkungen gestritten, die den Frauen von der Institution der Ehe und der Erwartung, Kinder zu bekommen, auferlegt wurden, aber das hatte sie hauptsächlich getan, um ihren Vater zu provozieren, nicht aus einer tief sitzenden Überzeugung heraus. Erst als ihr die Möglichkeit, Kinder zu haben, durch einen grausamen Schicksalsschlag genommen worden war, erkannte sie, dass es ein Fehler gewesen war, das Schicksal so leichtsinnig herauszufordern.
Das Einzige, was sie sich mehr als alles in der Welt zu haben wünschte, war genau das, was sie niemals würde haben können.
Und Andreas Trigliani heiratet sie, weil er ein Kind von ihr wollte, ein Kind, das sie ihm niemals schenken konnte.
Was würde er tun, wenn er die Wahrheit herausfand?
„Was müssen wir tun, um die Heiratserlaubnis rechtzeitig zu bekommen?“, fragte sie, um sich durch die Konzentration auf praktische Probleme von ihren Schuldgefühlen abzulenken.
„Überlass das nur mir. Ich kenne ein paar gute Juristen, die das für mich beschleunigen können. Alles andere übernehmen wir so, wie du es mit deinem Verlobten geplant hast. Sollte es eigentlich eine kirchliche Hochzeit im großen Stil werden?“
Gemma schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Nein, nur eine standesamtliche Trauung. Es hat mich nicht sonderlich gereizt, in der Kathedrale den langen Weg zum Altar zu hinken.“
Sie spürte seinen dunklen Blick auf sich ruhen und wünschte, sie hätte diese Bemerkung unterdrückt, die ihm die Verletzlichkeit ihrer Gefühle offenbarte.
„Ich bin sicher, dass du eine schöne Braut sein wirst, ganz egal, auf welche Weise die Trauung stattfindet“, sagte er mit einem kleinen Lächeln, das sie anrührte.
„Danke.“ Sie senkte den Blick und fügte hinzu: „Ich hoffe aber, dass du kein weißes Brautkleid und einen Schleier erwartest. Ich bin keine jungfräuliche Braut.“
Er lachte. „Es wäre wohl ziemlich ungerecht von mir, wenn ich erwarten würde, dass du mit achtundzwanzig Jahren noch nie die Freuden der Liebe in den Armen eines anderen Mannes – oder anderer Männer – erlebt hättest.“
Es war Gemma bewusst, wie sie sich früher aufgeführt hatte und sich dadurch das Image eines Flittchens zugezogen hatte. Sie hatte mit einigen wenigen ihrer Freunde geschlafen, aber ein Vorfall, der sich während der Party zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag abgespielt hatte, hatte ihr eine Erinnerung hinterlassen, die sie um alles auf der Welt gern dauerhaft aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte, wenn sie könnte.
„Ich habe nicht vor, unnötige Aufmerksamkeit auf diese Hochzeit zu lenken“, sagte sie und schob die schmerzlichen Erinnerungen beiseite. „Wenn die Presse Wind von der Angelegenheit bekommt, werden die Reporter in Scharen über uns herfallen.“
„Verständlich. Auch mir liegt im Moment nichts daran, in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Ich bin noch nicht lange Bürger dieses Landes und möchte mir hier einen Namen machen, ohne dass allzu viele Spekulationen über meine Absichten kursieren.“
Bei diesen Worten runzelte Gemma die Stirn. „Du hast die australische Staatsangehörigkeit?“
„So ist es.“
„Du planst also, dich dauerhaft hier niederzulassen?“
Er warf ihr einen seiner unergründlichen Blicke zu. „Das ist es doch, was australische Staatsbürger in der Regel tun, oder?“
„Ja, schon … aber du bist doch Italiener und hast zahlreiche Verwandte in deiner Heimat. Das scheint mir ein sehr großer Schritt … eine drastische Veränderung.“
„Ich habe jede Menge entfernte Verwandte in Australien und freue mich schon darauf, sie endlich einmal kennenzulernen. Ich habe auch noch Unternehmen in Italien, in Rom und Mailand, aber ich dachte, es ist an der Zeit, mein Imperium auszuweiten. Sydney ist eine der kosmopolitischsten Städte der Welt. Es hat einen traumhaften Hafen, ein attraktives Klima und einen hohen Lebensstandard. Alles Vorteile, die ich als Hotelier nutzen will.“
Gemma kam kaum noch mit. Sie versuchte zu begreifen, was er ihr gesagt hatte. Das machte ihre Hoffnung zunichte, dass er nur so lange bleiben würde, wie es nötig war, bis sie Zugang zu ihrem Erbe bekam.
Am Tag ihrer Heirat würde sie einen Teil des Treuhandvermögens ihres Vaters erhalten, der groß genug war, um damit das Ziel zu erreichen, das sie sich gesetzt hatte. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass Andreas auf unbegrenzte Zeit in Australien bleiben wollte.
„Wie genau hast du denn von meiner … Notlage gehört? Bist du zufällig darauf gestoßen?“
Ohne Scheu hielt er ihrem wachsamen Blick stand. „Ich habe in den letzten Jahren einen lockeren Kontakt zu deinem Vater aufrechterhalten. Mehr als ein Mal hat er mir wertvolle Ratschläge erteilt. Ich habe ihn sehr bewundert und war ihm dankbar für das, was er für mich getan hat, als ich noch sehr jung und nicht ganz trocken hinter den Ohren war.“
Schockiert blickte Gemma ihn an. Seit wann hatte ihr Vater diese Beziehung wieder aufleben lassen, die sie selbst ganz bewusst zerstört hatte? Dann fiel ihr wieder ein, dass sie seit fast fünf Jahren nicht mehr mit ihrem Vater gesprochen hatte.
„Verdankst du ihm deinen Erfolg?“, fragte sie vorsichtig.
Wieder dieses rätselhafte Lächeln. „In gewisser Weise schon. Ich habe viel von ihm gelernt. Er behandelte mich mit dem Respekt, den er allen seinen Angestellten entgegenbrachte, egal, auf welcher Stufe sie standen. Das war seine Philosophie. Ich habe ihn stehen bleiben und mit dem Reinigungspersonal sprechen sehen – mit dem gleichen Respekt, mit dem er auch einem Controller oder einer Führungskraft gegenübertrat. Das habe ich am meisten an ihm bewundert.“
Und das hast du an seiner achtzehnjährigen Tochter am meisten verabscheut, hätte Gemma am liebsten hinzugefügt; doch sie schwieg. Voller Scham erinnerte sie sich wieder an ihr spöttisches, widerliches Verhalten. Sie hatte die Philosophie ihres Vaters gekannt, hatte sie sich aber aus dem perversen Wunsch heraus, ihn zu verletzen, bewusst nicht zu eigen gemacht. Sie hatte hochmütig auf die Putzkolonne und die Handwerker herabgesehen, hatte es für unter ihrer Würde erachtet, auch nur ein Wort des Grußes zu äußern, und hatte daher in dem Ruf einer herzlosen und eingebildeten kleinen Primadonna gestanden. Auch ihr Umgang mit dem übrigen Personal war nicht weniger verletzend gewesen.
Obwohl ihr Vater ein Vorbild für Andreas Trigliani zu sein schien, war es doch seltsam, dass er gerade jetzt in der letzten Minute auftauchte und ihr in dem Moment seine Hilfe anbot, in dem sie diese dringend brauchte.
„Es kommt mir wie ein reichlich unwahrscheinlicher Zufall vor, dass du wenige Minuten nach dem Abgang meines Verlobten Michael Carter zur Stelle bist, um in die Bresche zu springen.“ Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
„Das war kein Zufall. Dein Vater hat kurz vor seinem Tod mit mir gesprochen und seine Besorgnis über deine Zukunft geäußert. Er war der Meinung, dass Michael Carter nicht der richtige Ehemann für dich sei.“
„Soweit ich weiß, habe ich meinem Vater nie mitgeteilt, dass ich irgendjemanden zu heiraten gedenke.“
„Vielleicht nicht, aber er nahm an, dass von allen infrage kommenden Kandidaten Mr. Carter derjenige war, der am ehesten einwilligen würde.“
„Warum?“ Wütend sah sie ihn an. „Weil er durch mein Verschulden an den Rollstuhl gefesselt ist?“
Andreas hielt eine lange Weile ihrem anklagenden Blick stand, bevor er weitersprach. „Ich glaube, sein Hauptanliegen war es, zu verhindern, dass du dich selbst zerstörst. Dein Vater hatte kein Vertrauen in Michael Carter. Er war besorgt, dass dieser letztendlich nicht an deinem Wohlergehen interessiert sei.“
„Und er dachte, du seist es?“, fragte Gemma zynisch.
„Ich werde mich dafür einsetzen, sowohl die Ziele deines Vaters als auch meine eigenen durchzusetzen. Ich werde mich auch dafür einsetzen, dir das zu geben, was du immer vergeblich gesucht hast, seit ich dich vor zehn Jahren auf der Türschwelle des Landerstalle Hotels getroffen habe.“
Sie verzog das Gesicht, und ihr Herz schlug heftig bei seinen Worten. „Willst du damit sagen, dass du mich nie vergessen hast?“
Er lächelte spöttisch. „Du bist nicht gerade der Typ, den man vergisst, Gemma.“
Ihre Stirn legte sich in noch tiefere Falten, als die peinlichen Erinnerungen zurückkamen, und ihre Wangen glühten tiefrot.
Kein Wunder, dass er sie nicht vergessen hatte. Sie hatte sich entsetzlich und skrupellos benommen, hatte sehr viele Menschen verletzt und war schließlich dafür bestraft worden.
Gemma bemerkte, dass er sie unverwandt ansah.
„Kommen die Erinnerungen ein wenig zurück, Gemma?“
Sie hoffte, dass er die Schuldgefühle in ihren Augen nicht entdeckte. „Wie ich schon sagte … ich habe nach dem Unfall teilweise mein Gedächtnis verloren. Ich kann mich kaum an etwas von damals erinnern …“
Wieder lächelte er und berührte ihren bloßen Arm in einer federleichten Liebkosung, die ihren ganzen Körper elektrisierte. Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten.
„Mach dir keine Sorgen, cara“, sagte er mit einer tiefen, samtigen Stimme, deren Klang sie erschauern ließ. „Wir werden es langsam angehen. Es ist nicht wichtig, dass du dich nicht an das erinnerst, was zwischen uns vorgefallen ist. Wichtig ist nur das Hier und Jetzt. Wir müssen eine Hochzeit organisieren und haben nur wenig Zeit dafür. Wenn wir das hinter uns haben, können wir uns den Einzelheiten unseres Ehelebens zuwenden.“
Die Einzelheiten.
Gemmas Herz zog sich unwillkürlich zusammen bei dem Gedanken daran, was diese Einzelheiten zur Folge haben könnten.
Sie hatte gerade zugestimmt, einen Mann zu heiraten, von dem sie behauptet hatte, sich nicht an ihn zu erinnern, obwohl doch jeder Augenblick ihrer Bekanntschaft unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt war.
Sie erinnerte sich an jedes Wort, das sie jemals gewechselt hatten.
Sie erinnerte sich noch an jede Beleidigung und jedes spöttische Lachen, das sie mit ihren oberflächlichen Freunden geteilt hatte.
Und vor allem erinnerte sich Gemma an jedes einzelne Wort der kleinen Lüge, die sie ihrem Vater über Andreas aufgetischt hatte. Die kleine Lüge, deren Bedeutung ins Unermessliche gewachsen war und dazu geführt hatte, dass Andreas in Ungnade gefallen und nach Italien zurückgeschickt worden war.
Ihr Magen überschlug sich voller Panik.
Gott weiß, was Andreas tun würde, wenn er jemals herausfand, wie sie ihn getäuscht hatte.
Es überraschte Gemma überhaupt nicht, dass Andreas Trigliani eine schier unmögliche Aufgabe mühelos bewältigte, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte. Sie hatte sich auf einen bürokratischen Albtraum eingestellt, denn normalerweise dauerte es etwa einen Monat, eine Heiratserlaubnis zu bekommen. Doch er überreichte ihr das Dokument schon drei Tage später mit einem Siegerlächeln.
Sie fragte sich, welche Art von Beziehungen er wohl hatte spielen lassen, aber des Zeitdrucks wegen hatte sie gar keine andere Wahl, als ihm dankbar zu sein. Wieder wurde sie daran erinnert, welchen Einfluss er ausüben konnte, wenn er dazu genötigt war. Er hatte Geld, sehr viel Geld und gute Beziehungen, mit denen sie nicht mithalten konnte.
Sie gingen an diesem Abend zusammen essen. „Ich finde, heute Abend ist der passende Zeitpunkt, um über unser künftiges Zusammenleben zu sprechen“, sagte er, als sie in dem schicken, direkt am Wasser gelegenen Restaurant Platz genommen hatten.
Gemma war zwar klar, dass dieses Thema irgendwann zur Sprache kommen musste, aber der Gedanke daran, mit einem Mann, den sie kaum kannte, zusammenzuziehen, war gelinde gesagt erschreckend. Sie war so daran gewöhnt, Raum für sich zu haben, und konnte es sich nicht mehr anders vorstellen. Sie hasste es außerdem, Badezimmer und Küche mit anderen zu teilen, hasste es, wenn jemand sie ohne schützendes Make-up sah. Sie hasste es, wenn jemand sah, wie steif und unbeweglich ihr Bein am Morgen nach dem Aufstehen war, was sich erst besserte, wenn sie eine Weile auf den Beinen gewesen und der Blutkreislauf in Gang gekommen war.
„Aber ich lebe gern dort, wo ich jetzt wohne“, erwiderte sie in einer letzten Anwandlung von Trotz. „Mir gefällt die Gegend, und die Miete ist bezahlbar.“
„Dann gehört dieses Grundstück dir also gar nicht?“
Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Glaubst du, ich würde einen Mann heiraten, an den ich mich kaum erinnern kann, wenn ich meine finanziellen Probleme einfach dadurch lösen könnte, dass ich mein Haus verkaufe?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: „Aber der Erlös eines kleinen Hauses könnte deine finanziellen Probleme vermutlich sowieso nicht beseitigen, oder?“
Gemma senkte den Blick. „Wohl eher nicht.“
„Woraus bestehen denn deine Schulden?“
„Das Übliche … Kreditkartenabrechnungen, so etwas in der Richtung. Aber vor allem will ich nicht, dass meine Stiefmutter etwas bekommt, das ihr nicht zusteht.“
„Nun, sie war immerhin einige Jahre mit deinem Vater verheiratet. Damit hat sie doch sicher ein gewisses Anrecht erworben“, meinte er besonnen.
Ihr Blick war hart und kalt. „Nicht, wenn ich es verhindern kann.“
Andreas missbilligte innerlich ihre heftige Reaktion. Gemma war nun wirklich nicht die ideale Stieftochter gewesen, und es erschien ihm ungerecht, Marcia die Schuld an allem zu geben. Soweit er sich erinnerte, hatte sie sich sehr um eine freundschaftliche Beziehung zu der einzigen Tochter ihres Ehemanns bemüht.
Er war Marcia Landerstalle insgesamt nur zwei Mal begegnet, und sie war ihm als eine ziemlich typische zweite Ehefrau erschienen. Sie hatte den Platz einer verstorbenen Vorgängerin eingenommen, die durch ihren Tod eine unangreifbare Posi