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Buch

Stephanie Plum hat ihren Arbeitsplatz vorübergehend in einen Wohnwagen verlegt, weil das Kautionsbüro von einer Rakete getroffen wurde und völlig ausgebrannt ist. Gemeinsam mit ihrem Chef Vinnie und ihrer exzentrischen Kollegin Lula versucht Stephanie Ordnung ins Chaos zu bringen. Doch dann werden bei den Renovierungsarbeiten mehrere Leichen entdeckt. Steph ermittelt in dem seltsamen Fall, und von Anfang an beschleicht sie das Gefühl, dass die Morde etwas mit ihr zu tun haben könnten.

Und als wäre ihr Job nicht schon anstrengend genug, muss sich Steph auch noch vor ihrer Familie zu ihrem − zugegebenermaßen − etwas unübersichtlichen Liebesleben rechtfertigen. Auf der einen Seite datet sie den reizenden Morelli, auf der anderen Seite springt sie mit dem attraktiven Ranger in die Kiste. Gerade als Steph sich endlich selbst über ihre Gefühle klar werden will, erscheint auch noch Dave auf der Bildfläche: ehemaliger Footballstar der Highschool, talentierter Hobbykoch und dazu noch unwiderstehlich attraktiv. Stephanies Mom und Granny Mazur hören schon die Hochzeitsglocken läuten, und tatsächlich: Dave findet Gefallen an Steph und kämpft mit seinen erstklassigen Kochkünsten um ihr Herz. Doch die hat nun wirklich andere Sorgen: Morellis Großmutter hat sie mit einem Fluch belegt, eine Verrückte trachtet ihr nach dem Leben, und parallel tauchen bei weiteren Leichen persönliche Grußbotschaften an die Kopfgeldjägerin auf. Da kann selbst der sonst so genussfreudigen Stephanie Plum mal der Appetit vergehen …

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www.janetevanovich.de

JANET EVANOVICH

Küsse sich,
wer kann

Ein Stephanie-Plum-Roman

Aus dem Amerikanischen
von Thomas Stegers

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
»Smokin’ Seventeen« bei Bantam Books,
an imprint of the Random House Publishing Group,
a division of Random House, Inc., New York

Copyright © der Originalausgabe

2011 by Janet Evanovich, Inc.

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09135-4
V002
www.goldmann-verlag.de

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1

Heute Morgen hat mich meine Oma angerufen, Grandma Mazur.

»Ich habe von einem Pferd geträumt«, sagte sie. »Das konnte fliegen. Es hatte keine Flügel, aber es flog, einfach so. Es flog über dir, und es ließ Pferdeäpfel fallen, und du bist weggerannt. Das Komische war, dass du nichts anhattest, nur Unterwäsche, einen Stringtanga aus roter Spitze. Als Nächstes flog ein Nashorn über dir. Es schwebte in der Luft über deinem Kopf. In dem Moment bin ich aufgewacht. Ich habe das Gefühl, das hat etwas zu bedeuten.«

»Und was?«, wollte ich wissen.

»Keine Ahnung, jedenfalls nichts Gutes.« Aufgelegt.

So begann mein Tag, und ehrlich gesagt: Der Traum bringt mein Leben auf den Punkt.

Ich heiße Stephanie Plum. Ich arbeite als Kautionsdetektivin für meinen Cousin Vincent Plum und wohne günstig zur Miete in einem trostlosen dreigeschossigen Backsteinbau am Stadtrand von Trenton, New Jersey. Meine Wohnung im ersten Stock ist mit den ausrangierten Möbeln meiner Verwandten eingerichtet. Ich bin mittelgroß, habe eine normale Figur und halte mich für einigermaßen intelligent, auch wenn ich einen Scheißjob an Land gezogen habe. Mein schulterlanges Haar habe ich von der italienischen Seite meiner Familie geerbt, die blauen Augen von der ungarischen, und mein hübsches Näschen verdanke ich dem lieben Gott. Zum Glück hatte er mir das schon geschenkt, bevor er gemerkt hat, dass ich keine vorbildliche Katholikin bin.

Es war Anfang September und zu warm für die Jahreszeit. Mein Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, auf Make-up ganz verzichtet und stattdessen nur ein wenig Fettstift benutzt. Ich trug ein rotes Stretch-Tanktop, Jeans und Sneakers. Die ideale Montur für die Gangsterjagd, oder um Donuts zu kaufen. Ich parkte meine Schrottkarre, einen alten Ford Escort, vor der Tasty Pastry Bakery in der Hamilton Avenue und zählte im Kopf das Kleingeld in meinem Portemonnaie zusammen. Für zwei Donuts würde es reichen, für drei nicht.

Hinter der Theke stand Loretta Kucharski, die letztes Jahr noch eine Bankfiliale geleitet hatte. Als die Bank Pleite machte, fand sie diesen Job hier bei Tasty Pastry, meiner Meinung nach ein absoluter Karrieresprung. Mal ehrlich: Wer will nicht in einer Bäckerei arbeiten?

»Was darf’s sein?«, fragte Loretta. »Cannoli? Italienische Kekse? Donuts?«

»Donuts.«

»Möchtest du Boston Cream, Schoko, rote Marmelade, Zitronenglasur, Schokoglasur, Zimtzucker, Heidelbeere, Cremefüllung oder Ahornsirup?«

Ich kaute auf der Unterlippe. Am liebsten hätte ich alle genommen. »Auf jeden Fall Boston Cream.«

Behutsam legte sie einen Boston Cream Donut in eine kleine weiße Pappschachtel. »Was noch?«

»Einen mit roter Marmelade«, sagte ich. »Das heißt, nein. Moment! Mit Ahornsirup. Nein! Entweder Ahornsirup oder Zimtzucker. Oder vielleicht doch lieber den mit der Schokoglasur.«

Die Tür flog auf, und eine alte Frau stolzierte herein.

Klein, drahtig, schlichtes schwarzes Kleid, schwarzes Kopftuch, praktische schwarze Schuhe, dunkle Strümpfe – eine Statistin aus einem Low-Budget-Mafiafilm. Stahlgraues Haar, dunkle, blitzende Augen, buschige graue Brauen, mediterrane Hautfarbe.

Loretta und ich rangen nach Luft, als wir sie erkannten. Es war Bella, die furchtbarste Frau von ganz Trenton. Vor über fünfzig Jahren nach Amerika ausgewandert war sie im Herzen Sizilianerin geblieben: hinterhältig, durchtrieben und höchstwahrscheinlich völlig verrückt. Sie war außerdem die Großmutter meines Freundes.

Loretta bekreuzigte sich und bat die Heilige Jungfrau Maria um Beistand. Mir wäre angesichts meiner wenigen Kirchenbesuche nicht ganz wohl dabei gewesen, jetzt die Muttergottes um Hilfe zu bitten, deswegen lächelte ich Bella einfach an und winkte ihr scheu zu.

Grandma Bella zeigte mit dem knochigen Finger auf mich. »Du?! Was machst du hier?«

Es wäre der Witz des Jahres, wenn einer behaupten würde, meine Beziehung zu Grandma Bella wäre entspannt. In ihren Augen bin ich nicht nur eine Hure, die ihren Lieblingsenkel, Joseph Anthony Morelli, verführt und verdorben hat, ich bin auch noch Edna Mazurs Enkelin. Und Grandma Bella und Grandma Mazur sind sich spinnefeind.

»Do… Do… Donut kaufen.«

»Verschwinde!« Bella schob mich zur Seite und trat an die Theke. »Ich war zuerst hier.«

Loretta fiel die Kinnlade herunter, aufgescheucht lief sie zwischen Bella und mir hin und her. »Äh«, machte sie, den Pappkarton mit meinem Boston-Cream-Donut in der Hand.

»Eigentlich war ich zuerst hier«, sagte ich zu Bella, »aber ich lasse dir gerne den Vortritt.«

»Wie bitte? Du willst zuerst hier gewesen sein? Du wagst es, mir so etwas ins Gesicht zu sagen?« Sie schlug mir mit der Handtasche auf den Arm. »Ich verlange ein bisschen mehr Respekt!«

»Um Himmels willen«, sagte ich. »Reiß dich zusammen.«

»Himmel? Du willst in den Himmel?« Bella bekreuzigte sich und fischte einen Rosenkranz aus der Tasche. »In der Hölle sollst du schmoren! Die Pest wünsche ich dir an den Hals. Geh mir aus den Augen. Ich will nicht mit ansehen, wenn es so weit ist.«

»Ich will nicht in den Himmel. Ich habe bloß gesagt: um Himmels willen!«

»Du gottlose Göre«, sagte Bella. »Du bist genau wie deine Grandma Edna. In der Hölle soll sie verrotten!«

Okay, Bella war eine durchgeknallte alte Schachtel, aber das hier ging eindeutig zu weit. »Hey, pass auf, was du über meine Großmutter sagst«, warnte ich sie.

Bella drohte mir mit erhobenem Finger. »Mein böser Blick soll dich treffen. Ich mache dich fertig.«

Loretta hielt die Luft an und duckte sich hinter die Theke.

»Das erzähle ich Joe«, sagte ich zu Bella. »Du sollst die Leute nicht mehr mit deinem bösen Blick belegen.«

Bella warf den Kopf in den Nacken und sah mich von oben herab an. »Denkst du etwa, er würde dir mehr Glauben schenken als seiner Oma? Denkst du etwa, er würde so einer hässlichen Pestbeule wie dir glauben? So einem Fettschneckchen? Einem stinkenden Kohlkopf?«

Loretta wimmerte hinter ihrer Theke.

»Bleib liegen«, kommandierte Bella. »Braves Mädchen. Du sollst meinem bösen Blick nicht in die Quere kommen.«

Das mit dem bösen Blick ist so: Ich glaube, das Ganze ist absoluter Humbug. Trotzdem, es ist nicht völlig auszuschließen, dass Junior Genovesis Glatze nicht auf genetisch bedingten Haarausfall zurückzuführen ist. In seiner Familie ist niemand sonst kahlköpfig, und er verlor seine Haare, unmittelbar nachdem Bella ihren Fluch gegen ihn ausgestoßen hatte. Außerdem wäre da noch Rose DeMarco. Sie mähte Bella versehentlich mit ihrem Elektrorollstuhl um, und tags drauf schmückte sie eine Gürtelrose.

Loretta tauchte hinter der Theke auf, stopfte einen Haufen Donuts in die Schachtel und warf sie mir zu. »Lauf weg!«

Ich schnappte die Schachtel und sah Loretta an. »Wie viele Donuts sind hier drin? Was schulde ich dir?«

»Nichts. Und jetzt raus hier, aber schnell!«

»Ha, zu spät«, sagte Bella zu Loretta. »Mein Blick hat sie schon getroffen. Ich nehme einen Mandelkuchen. Ich will das Stück ganz vorn in der Vitrine, das mit dem dicksten Zuckerguss.«

Unter normalen Umständen wäre ich zu dieser Tageszeit längst unterwegs zum Kautionsbüro in der Hamilton Avenue. Leider ist das Büro vor nicht allzu langer Zeit bis auf die Grundmauern abgebrannt, deswegen betreiben wir unsere Firma vorübergehend von einem Wohnmobil aus, einem umgebauten Bus, der Mooner gehört. Mooner kenne ich seit vielen Jahren, er wäre nicht meine erste Wahl als Vermieter, aber Not kennt kein Gebot. Mein Cousin Vinnie brauchte eine billige Zwischenlösung, und Mooner brauchte Geld für Benzin und Burritos. Voilà! Das mobile Kautionsbüro war geboren. Einziges Problem: Ich weiß nie, wo das Büromobil gerade parkt.

Ich fuhr die Hamilton entlang, vorbei an dem Grundstück, wo früher das Büro gewesen war. Mooners Kleinbus stand dort. Dahinter, am Straßenrand, war ein Bauwagen abgestellt, der verkohlte Schutt war weggeräumt worden, und Holzpflöcke steckten in der Erde. Vincent Plums Kautionsagentur befand sich im Wiederaufbau.

Es war ein ganz gewöhnlicher Montagmorgen, außer dass heute zwei Polizeiautos links und rechts von Mooners Wohnmobil schräg auf dem Bürgersteig parkten. Joe Morellis grüner SUV und der Leichenwagen der Gerichtsmedizin. Vier Streifenpolizisten, Morelli, der Gerichtsmediziner, mein Cousin Vinnie, unsere Büroleiterin Connie Rosolli und Mooner standen neben einem kleinen Bagger und starrten in eine flache Grube.

Morelli kenne ich schon mein Leben lang. Er gehört zu der Sorte Männer, die mit zunehmendem Alter besser werden. Auf der Highschool war er nur der hübsche, draufgängerische Herzensbrecher. Heute ist er noch hübscher, und sein Gesicht zeigt außerdem Charakter und Reife. Er ist schlank und sportlich, das schwarze Haar wellt sich bis zu den Ohren und zum Nackenansatz. Seine Augen sind braun, und bei der Arbeit erfassen sie alles mit scharfem Blick. Beim Sex können sie jedoch auch ganz sanft sein. Er ist Zivilfahnder bei der Polizei von Trenton, und heute trug er Jeans, ein hellblaues Button-Down-Hemd und Boots, im Gürtelhalfter seine Pistole. Im krassen Gegensatz dazu mein Cousin Vinnie, der zehn Zentimeter kleiner ist als Morelli und wie ein Wiesel aussieht mit seinem schwarzen, nach hinten gegelten Haar und den spitzen Schuhen.

Ich parkte hinter Morellis SUV und ging zu den anderen.

»Was guckt ihr euch denn da an?«, fragte ich Morelli.

»Frag lieber, wen. Ich nehme an Lou Dugan«, sagte er.

Aus dem Erdreich ragte eine halb verweste Hand, ein Stück daneben war ein Knochen zu erkennen, möglicherweise von einem Schädel. Ich bekomme in meinem Job jede Menge Ekliges zu sehen, aber das hier stand ganz oben auf meiner Ekelrangliste.

2

»Wie kommen Sie auf Lou Dugan?«, fragte der Gerichtsmediziner.

Morelli wies auf die Hand. »Der Ring am kleinen Finger. Diamanten und Rubine. Dugan war beim Pancake-Essen von St. Joaquin und hat Manny Kruger noch Bescheid gesagt, er würde jetzt nach Hause fahren. Danach wurde er nicht mehr gesehen.«

Lou Dugan hatte nicht wenige Feinde. Er betrieb eine Oben-ohne-Bar im Zentrum von Trenton, und es war ein offenes Geheimnis, dass es da nicht bei Oben-ohne blieb. Dugan spendete großzügig für wohltätige Zwecke, war in geschäftlichen Dingen aber rücksichtslos, wie ich gehört hatte.

Wir guckten wieder auf die grässliche Hand mit dem Ring am kleinen Finger.

»Spannt schon mal das Absperrband«, sagte der Gerichtsmediziner zu einem der Streifenpolizisten. »Die Leute vom Labor sollen kommen, die Leiche exhumieren. Bis dahin muss jemand am Tatort bleiben. Ich will nicht, dass mir hier alles zusammengetrampelt wird.«

»Geil«, sagte Mooner. »Wie in CSI-Trenton: den Tätern auf der Spur.«

Mooner hat schulterlanges braunes, in der Mitte gescheiteltes Haar. Er ist dünn, schlaksig, mein Alter, ein netter Typ. Im Kopf hat er hauptsächlich Stroh, weil er sich auf der Highschool um den Verstand gekifft und nie davon erholt hat.

»Glauben Sie ja nicht, ich würde für das ganze Polizeitheater aufkommen«, sagte Vinnie. »Das hier ist nicht meine Schuld. Dugans Leiche ist dahinten abgelegt worden, wo früher die Mülltonnen gestanden haben. Soweit ich weiß, ist das öffentliches Gelände. Die Sache hier wird den Neubau hoffentlich nicht verzögern. Eigentlich sollte in dieser Woche das Fundament gelegt werden. Ich musste extra provisorische Büroräume von unserem Scooby Doo hier anmieten. Jeder zusätzliche Tag wäre ein Ärgernis.«

Vinnie war wirklich nicht zu beneiden. Die Beziehung zu seiner Frau Lucille war extrem labil und auch die zu seinem Schwiegervater, Harry dem Hammer. Vinnie und Lucille hatten sich nach einem wüsten Trennungsstreit gerade wieder zusammengerauft, doch stand Vinnie weiter unter Lucilles Fuchtel. Schlimmer noch, Harry hatte sich auf Lucilles Bitte bereit erklärt, wieder ins Kautionsgeschäft einzusteigen und Vinnies Laden zu finanzieren. Vinnie bekam also auch Harrys Knute zu spüren. Kein Wunder, dass er wie ein geprügelter Hund durch die Gegend lief.

Ein roter Firebird rollte heran, stellte sich in zweiter Reihe neben mich, und Lula stieg aus. Lula macht eigentlich die Ablage im Büro, in Wirklichkeit macht sie, was sie will. Heute gab sie die Blondine. Ihre hellen Locken hoben sich hübsch von ihrer braunen Haut und dem Spandex-Wickelrock im Leopardenfelllook ab. Mit ihrer auf eins fünfundsechzig Körperlänge verteilten Fülle braucht sie eigentlich Übergröße, doch sie reizt gerne die Grenzen der Belastbarkeit von Nähten aus und zwängt sich mit Vorliebe in kleine Konfektionsgrößen.

»Was geht hier ab?« Sie versank zehn Zentimeter im Boden mit ihren Via-Spiga-Stilettos. »Das Busbüro nervt. Nie weiß man, wo ihr gerade alle steckt. Und ans Handy geht auch keiner von euch. Wie soll ich unter diesen Umständen arbeiten?«

»Du arbeitest doch sowieso nie«, sagte Vinnie.

Lula beugte sich vor, stemmte die Fäuste in die Hüften. »Eine respektlose Einstellung ist das, und Respektlosigkeit dulde ich nicht. Allein die tägliche Suche nach deinem blöden Büro auf Rädern grenzt an Arbeit.« Ihr Blick fiel Richtung Grube: »Was ist das? Haben wir etwa schon Halloween? Geht hier der Spuk ab?«

»Ist wahrscheinlich Lou Dugan«, sagte ich. »Der Bagger hat ihn zufällig ausgegraben.«

Lula bekam Stielaugen. »Wollt ihr mich verarschen? Lou Dugan? Mister Titty?«

»Ja.«

»Ist ja widerlich. Hat die Hand noch einen Anhang? Obwohl, ich will es gar nicht wissen. Beim Anblick von Toten kriege ich Gänsehaut. Dann brauche ich ein paar Chicken-Nuggets, um auf andere Gedanken zu kommen. Was hat Mister Titty überhaupt unter dem Kautionsbüro zu suchen?«

»Eigentlich lag er unter den Mülltonnen«, sagte Vinnie.

»Irgendein Idiot verbuddelt eine Leiche, statt sie in den Fluss oder auf die Deponie zu kippen, und lässt auch noch den Ring am Finger stecken? Wie blöd ist das denn?«, wunderte sich Lula. »Der Ring ist sicher einiges wert. Das kann nur ein Amateur gewesen sein.«

Die Männer schwiegen. Lula hatte recht. So was erledigte man in Trenton auf andere Weise.

Ich wandte mich an Morelli. »Hast du den Fall abgekriegt?«

»Ja«, sagte er. »Ich bin der Glückliche.« Sein Blick fiel dabei auf meine Brust. Er trat dicht an mich heran, seine Lippen streiften mein Ohr. »Du siehst sexy aus heute. Dein rotes Shirt gefällt mir.«

Ich war dankbar für das Kompliment, aber Morelli findet alles sexy, was ich trage. Das Testosteron quillt ihm förmlich aus jeder Pore.

»Ich gehe wieder in unser Busbüro«, sagte Connie. »Die neuen Akten bearbeiten.«

»Wo stellt ihr den Bus heute ab?«, fragte Lula. »Ich muss erst noch ein paar Chicken-Nuggets verdrücken, um mich zu beruhigen, aber danach komme ich vielleicht noch vorbei, um die Ablage oder was anderes zu machen.«

»Der Bus bleibt vorerst hier stehen«, sagte Vinnie. »Heute Vormittag treffe ich den Vertreter der Baufirma, um die Pläne zu besprechen.«

»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte Lula. »Aus dem Kadaver sickern bestimmt böse Zaubersäfte. Wer weiß, was man sich da einfängt, wenn man sich hier aufhält.«

Mooner wurde leichenblass. »Mann, eye!«

Morelli schlang einen Arm um mich und schob mich sanft zu meinem Auto. »Ich lade dich zum Abendessen ein, wenn du versprichst, dieses rote Top zu tragen.«

»Und wenn nicht?«

»Lade ich dich trotzdem ein.« Er öffnete die Beifahrertür, nahm den Donut-Karton vom Sitz und sah hinein. »Nicht dein übliches Sortiment. Du nimmst sonst nie Heidelbeere.«

»Loretta hatte es eilig. Es war sozusagen gratis.«

Morelli probierte den Heidelbeer-Donut, ich machte mich über den Boston Cream her.

»Glaubst du, dass Lou böse Zaubersäfte absondert?«, fragte ich ihn.

»Jedenfalls nicht mehr als zu Lebzeiten.« Morelli aß seinen Donut auf und gab mir einen Kuss. »Mmm«, sagte er. »Du schmeckst nach Schokolade. Ich muss zurück aufs Revier, Papierkram. Ich hole dich um halb sechs ab.«

3

Mooner hatte sein Wohnmobil erst kürzlich renoviert, seitdem waren Wände und Decke mit schwarzem Kunstsamt, die Möbel mit schwarzem Velours bespannt. Auf dem Boden schwarzer Zottelteppich, alle Oberflächen schwarzes Resopal. Für Mooner war es wie eine Rückkehr in den Mutterleib, für mich eher ein Arbeitsplatz im Innern des Todessterns. Die hintere Schlafkoje hatte Vinnie zu seinem Privatbüro erkoren, Connie musste sich mit einem Computer auf dem Tischchen der Essnische zufriedengeben. Als Energiequelle diente ein Starkstromkabel, das wie eine Nabelschnur vom Wohnmobil zum modernen Antiquariat nebenan verlief. Vinnie hatte mit der Besitzerin der Buchhandlung, Maggie Mason, eine Kostenbeteiligung ausgehandelt.

Licht war spärlich bis gar nicht vorhanden, deswegen tastete ich mich bis zum Sofa vor, inspizierte es aber genau, bevor ich mich niederließ. Mooner war ein netter Kerl, nur Putzen war nicht seine Stärke. Das letzte Mal in seinem Wohnmobil hatte ich mich auf einen Brownie gesetzt, der gut getarnt auf dem schwarzen Velours klebte.

»Was gibt es Neues?«, fragte ich Connie. »Ist ein interessanter Fall hereingekommen?«

Connie schob mir zwei Aktenmappen hin. »Ziggy Glitch und Merlin Brown. Beide sind nicht zu ihrem Gerichtstermin erschienen. Brown ist Wiederholungstäter, bewaffneter Raubüberfall, Glitch nur wegen Körperverletzung dran. Der Mann ist zweiundsiebzig. Im Polizeibericht steht, er sei bissig.«

Connie ist zwei Jährchen älter und um einiges üppiger als ich. Sie hat volleres Haar, einen größeren Busen, kann besser schießen, ist abgebrühter und außerdem mit der halben Mafia von Trenton verwandt.

»Glaubst du, dass Lou Dugan von der Mafia weggeputzt wurde?«, fragte ich Connie.

»Wenn jemand beseitigt wurde, ist das normalerweise beim Abendessen schon ein Thema, aber von dieser Geschichte habe ich noch nichts gehört«, sagte sie. »Ich glaube, die meisten Leute haben gedacht, Dugan hätte was ausgefressen und sei abgetaucht.«

Ich stopfte die Mappen in meinen Umhängebeutel und rief Lula an.

»Was gibt’s?«, sagte sie.

»Kommst du noch mal vorbei?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Ich ziehe los, zwei neue NVGler jagen.« NVG war unser Kürzel für »nicht vor Gericht erschienen«.

»Dann muss ich wohl mitziehen«, sagte Lula. »Wie ich dich kenne, hast du nicht mal deine Pistole dabei. Wenn du nun jemanden erschießen musst? Was dann?«

»Wir erschießen keine Menschen«, sagte ich.

»Das wüsste ich aber.«

Zehn Minuten später holte ich Lula auf dem Parkplatz vorm Cluck-in-a-Bucket ab. Ihre Tasche hatte sie um die Schulter geworfen, unterm Arm klemmte eine Tüte Chicken-Nuggets, die Hand schlang sich um eine Literflasche Limo.

»Frau braucht ein anständiges Frühstück«, sagte sie und schnallte sich an. »Außerdem habe ich gerade eine Diät beendet, ich muss erst wieder zu Kräften kommen.« Sie legte sich eine Papierserviette auf den Schoß und pickte eine Hähnchenkeule aus der Tüte. »Und wen suchen wir?«

»Merlin Brown.«

»Kenne ich doch«, sagte Lula. »Haben wir den nicht erst letztes Jahr wegen Kaufhausdiebstahls zurück in den Knast befördert? Er wollte einfach nicht mitkommen. Eine echte Nervensäge. Weswegen ist er diesmal dran?«

»Bewaffneter Raubüberfall.«

»Schön für ihn. Wenigstens strebt er nach Höherem. Und wen haben wir noch?«

»Ziggy Glitch.« Ich gab ihr seine Akte. »Zweiundsiebzig. Köperverletzung. Nach dem suchen wir zuerst.«

Lula blätterte in den wenigen Seiten. »Er wohnt in Burg, Kreiner Street. Hier steht, er sei bissig. Solche Leute habe ich ja gefressen.«

Burg war ein Stadtviertel mit kleinen Häusern, schmalen Straßen und fußballfeldgroßen Fernsehbildschirmen. Ich bin in Burg geboren und aufgewachsen, meine Eltern wohnen heute noch da.

Ich bog von der Hamilton ab, fuhr am St. Frances Hospital vorbei und stieß auf die Kreiner Street.

»Erfährt man etwas über Ziggys Vorgeschichte?«, fragte ich Lula.

»Hier steht, er ist pensioniert, hat früher in der Knopffabrik gearbeitet. Nicht verheiratet, soweit ich das überblicken kann. Eine Schwester, die auch die Kautionsvereinbarung unterschrieben hat. Sie wohnt in New Brunswick. Sieht so aus, als sei das seine erste Festnahme. Wahrscheinlich hat er nur seine Pillen nicht genommen, ist durchgedreht und hat irgendeinem anderen alten Sack mit seiner Krücke eins übergezogen.« Lula beugte sich aus dem Fenster und zählte die Häuser ab. »Da drüben das Backsteinhaus mit der roten Tür, das ist es. Schwarze Gardinen vor den Fenstern. Was soll das denn?«

Ziggy wohnte in einem schmalen zweigeschossigen Haus mit Miniveranda und Kunstrasenabtreter als Vorgärtchen, wodurch es sich in nichts von den anderen Häusern im Block unterschied, abgesehen von den schwarzen Gardinen. Wir stiegen aus, klingelten an der Tür und warteten. Keine Reaktion.

»Der ist bestimmt da«, sagte Lula. »Wo soll er sonst sein? Zur Arbeit geht er nicht mehr, und die Bingo-Kasinos haben so früh noch nicht geöffnet.«

Ich drückte noch mal die Klingel, schlurfende Geräusche waren zu hören, dann öffnete sich die Tür einen Spalt.

»Ja?«, kam es uns aus einem blassen Gesicht entgegen.

Schütteres graues Haar, knappe 1,80 m große dürre Gestalt; nach der Beschreibung musste das Ziggy Glitch sein.

»Ich vertrete Ihre Kautionsagentur«, stellte ich mich vor. »Sie haben Ihren Gerichtstermin versäumt. Sie müssen einen neuen vereinbaren.«

»Kommen Sie wieder, wenn es dunkel ist.« Er knallte die Tür zu und schloss ab.

»Fängt ja verheißungsvoll an«, sagte Lula. »Warum musst du auch immer mit diesem lahmen Spruch kommen. Der funktioniert nie. Jeder weiß doch, dass du sie nur in den Knast bringen willst. Und wenn sie ins Gefängnis wollten, hätten sie den Gerichtstermin gleich eingehalten.«

»He!«, brüllte ich Ziggy an. »Machen Sie die Tür auf, oder wir treten sie ein.«

»Ich trete mit meinen Via Spigas keine Tür ein«, sagte Lula.

»Toll. Dann trete ich sie eben allein ein.«

Wir wussten beide, dass das nur dahergeredet war. Türeintreten gehörte nicht zu meinen Spezialitäten.

»Ich setze mich wieder ins Auto«, sagte Lula. »Die Chicken-Nuggets sind jetzt genau das Richtige, die essen sich schließlich nicht von allein«

Ich trabte hinter Lula her zum Auto und fuhr uns die kurze Strecke zum Haus meiner Eltern. Burg ist eine verschworene Gemeinschaft, die auf Klatsch und Schmorbraten basiert. Seit Grandpa Mazur zum ultimativen Feierabend in den Himmel aufgestiegen ist, wohnt Grandma Mazur bei meinen Eltern. Sie kennt so gut wie jeden in Burg und weiß über alle Bescheid. Ganz sicher kannte sie auch Ziggy Glitch.

4

Ich parkte in der Einfahrt. »Hoffentlich kann sie Ziggy überreden, mit uns zu kooperieren.«

Lula stellte ihre Chicken-Nuggets-Tüte auf den Boden. »Ich liebe deine Oma. Wenn ich mal alt bin, möchte ich so sein wie sie.«

Getrieben von einem mütterlichen Instinkt, der das Herannahen der Nachkommen wittert, erwartete Grandma Mazur uns bereits an der Haustür. Meine Oma, das sind scharfe Augen, schlaffe Haut und kurze, in Löckchen gelegte stahlgraue Haare. Heute trug sie einen Trainingsanzug aus weißer und lavendelfarbener Ballonseide, dazu weiße Tennisschuhe.

»Was für eine schöne Überraschung«, sagte sie. »Der Kuchen steht schon auf dem Tisch.«

»Gegen Kuchen hätte ich nichts einzuwenden«, sagte Lula. »Eben dachte ich noch, ach, ein Stück Kuchen wäre jetzt richtig lecker.«

Meine Mutter stand in der Küche am Bügelbrett. Körperlich gesehen ist sie eine jüngere Version meiner Oma, und ich bin körperlich gesehen eine jüngere Version meiner Mutter. Geistig und emotional ist meine Mutter auf sich allein gestellt. Der Wahnsinn in unserer Familie scheint eine Generation übersprungen zu haben, und die Aufgabe, wenigstens ein Mindestmaß an Anstand zu wahren, liegt allein auf den Schultern meiner Mutter. Meine Oma und ich sind die unsicheren Kandidaten.

»Und warum wird heute gebügelt?«, fragte Lula.

Wir alle wussten, dass meine Mutter immer bügelt, wenn sie sich über etwas aufregt. Als ich in Scheidung lebte, kam sie tagelang nicht mehr weg vom Bügelbrett.

Grandma machte einen großen Bogen um meine Mutter und stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. »Margaret Gooleys Tochter hat sich verlobt, und die Familie hat für die Hochzeit im November schon jetzt den Festsaal vom polnischen Heimatverein gemietet.«

»Und?«, fragte Lula.

»Ich war mit ihr zusammen auf der Highschool«, erklärte ich ihr.

Lula setzte sich an den Tisch und schnitt ein Stück Kuchen ab. »Und?«, wiederholte sie.

Meine Mutter drückte das Bügeleisen mit aller Kraft auf ein Hosenbein, so dass die Falte bis ans Ende ihrer Tage halten würde. »Ich verstehe einfach nicht, warum in allen anderen Familien die Töchter heiraten, nur meine Tochter heiratet nicht!«, klagte sie. »Ist das zu viel verlangt, sich eine glücklich verheiratete Tochter zu wünschen?«

»Ich war schon mal verheiratet«, sagte ich. »Und es hat mir keinen Spaß gemacht.«

Grandma schmierte dick Butter auf ihr Stück Kuchen. »Der Kerl war ein Saftarsch.«

»Du bist seit Jahren mit Joseph Morelli zusammen«, sagte meine Mutter. »Warum verlobt ihr euch nicht wenigstens? Die Nachbarn reden schon.«

Eine völlig berechtigte Frage, auf die auch ich keine Antwort hatte. Jedenfalls keine, die ich laut hätte aussprechen können. Morelli ist nämlich nicht der einzige Mann in meinem Leben. Ich liebe zwei Männer! Wie abgedreht ist das denn?!

»Genau«, wandte sich Lula an mich. »Entscheide dich endlich für Morelli, sonst schnappt ihn dir noch eine andere weg. Er ist ein heißer Typ, außerdem besitzt er ein Haus, er hat einen Hund und alles …«

Ich mochte Morelli wirklich gern. Und was Lula sagte, stimmte, Morelli war ein heißer Typ. Ich glaube, dass er ein guter Ehemann wäre, oder sagen wir, höchstwahrscheinlich wäre er das. Manchmal hatte ich sogar den Verdacht, dass er auch überlegte, ob er mich heiraten sollte. Das Problem war nur: Immer wenn der Gedanke, Morellis Frau zu werden, an Reiz gewann, schlich sich Ranger in mein Gedächtnis wie Rauch, der unter einer geschlossenen Tür hervorquoll.

Ranger taugte definitiv nicht als Ehemann. Ranger war ein rasend gut aussehender Latino, dunkle Haut, dunkle Augen, stark, äußerlich und innerlich. Aber er war mir auch ein Rätsel, jemand, der die Narben, die das Leben ihm eingebracht hatte, gut verbarg.

»Wir sollen Ziggy Glitch für eine neue Terminvereinbarung vor Gericht vorführen«, sagte ich zu Grandma. »Ich habe mir gedacht, du könntest ihn vielleicht dazu animieren, mit mir hinzugehen.«

»Ja, das könnte ich machen, aber du musst warten, bis es dunkel ist. Tagsüber geht er nicht aus dem Haus.« Grandma legte eine Kunstpause ein. »Er hat da ein kleines Problem.«

Ich knabberte an meinem Kuchen. »Was meinst du damit? Was Krankhaftes?«

»So könnte man es nennen. Er ist ein Vampir. Wenn er nach draußen an die Sonne geht, könnte ihn das umbringen. Er würde bei lebendigem Leib verbrennen. Du erinnerst dich, wie Dorothy aus dem Zauberer von Oz Wasser auf die böse Hexe kippt und die Hexe in Stücke zerfällt? So ähnlich musst du dir das bei ihm auch vorstellen.«

Lula hätte vor Lachen beinahe ihren Kaffee ausgespuckt. »So ein Blödsinn! Willst du mich verarschen?«

»Deswegen hat er nie geheiratet«, sagte Grandma. »Sobald die Frauen seine Reißzähne sahen, wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.«

»In der Polizeiakte steht, er sei bissig. Das ist also ernst gemeint«, sagte Lula.

Grandma goss ihr Kaffee nach. »Ja. Er zapft dich an und saugt dir dein Blut aus. Bis auf den letzten Tropfen.«

»Unsinn«, sagte meine Mutter. »Der Mann ist kein Vampir. Er hat krumme Zähne und eine Persönlichkeitsstörung.«

»Das dürfte wohl der politisch korrekte Ausdruck sein«, sagte Lula. »Ich habe nichts dagegen, es so zu sehen, solange ich keine Verrenkungen machen muss, nur damit ein blutsaugender Scheißvampir nicht beleidigt ist. Ich weiß, meine Ausdrucksweise ist nicht korrekt. Übrigens, der Rührkuchen schmeckt ausgezeichnet. Ist der aus dem Supermarkt?«

»Als er mir die Tür aufmachte, habe ich keine hervorstehenden Eckzähne an ihm gesehen«, widersprach ich Grandma.

»Das war tagsüber. Vielleicht hatte er sich gerade bettfertig gemacht und seine Zähne ins Reinigungsbad gelegt«, sagte Grandma. »Ich trage mein Gebiss ja auch nicht nachts.«

Lula lehnte sich zurück. »Hat der Kerl etwa falsche Zähne?«

»Früher waren sie echt«, sage Grandma. »Aber vor ein paar Jahren hat Joes Oma Bella mal ihren bösen Blick auf Ziggy abgeschossen, worauf ihm alle Zähne ausgefallen sind. Danach hat er sich an Horace Worly gewandt, den Zahnarzt in der Hamilton Avenue, und Horace hat ihm ein paar Beißerchen gezaubert, die genauso aussahen wie die alten.«

Ich schaute über die Schulter zu meiner Mutter. »Stimmt das?«

Meine Mutter seufzte und bügelte weiter.

»Ich habe gehört, sie haben Lou Dugan gefunden«, sagte Grandma. »Wer hätte gedacht, dass die ihn direkt in der Hamilton Avenue verbuddeln.«

»Wir haben die Leiche gesehen«, sagte Lula. »Eine Hand ragte aus dem Boden, als hätte er noch versucht, aus dem Grab zu klettern.«

Grandma schnappte nach Luft. »Wart ihr etwa da? Wie sah er denn aus?«

»Eklig, wurmzerfressen.«

»Da muss der Bestatter aber ganz schön ran, um ihn für die Aufbahrung herzurichten«, sagte Grandma.

»Ja.« Lula tat noch etwas Sahne in ihren Kaffee. »Ohne den Ring hätten wir vielleicht nie gewusst, wer er ist.«

Grandma beugte sich vor. »Er trug einen Ring? Der ist eine Menge Geld wert. Welcher Hohlkopf vergräbt denn Lou Dugan mit seinem Ring am Finger?«

Lula schaufelte sich das nächste Stück Kuchen auf den Teller. »Sag ich doch, es kann nur ein Amateur gewesen sein. Der muss in Panik gehandelt haben.«

Oder es ist jemand, der ein Exempel statuieren will, dachte ich. Vielleicht war es Absicht, dass Lou Dugan entdeckt werden sollte.

»Gemütlich habt ihr es hier in eurer Küche«, sagte Lula. »Hier drin könnte ich Lou Dugan und seine wurmstichige Hand glatt vergessen.«

Das Haus meiner Eltern ist klein und vollgestopft mit bequemen, leicht angeranzten Möbeln. Vor den Fenstern hängen weiße Gardinen, auf den Mahagoni-Beistelltischen stehen Lampen und diverse Teller mit Süßigkeiten, über die champagnerfarbene Sofalehne, exakt mittig gefaltet, ist eine orange-braun-cremefarbene Häkeldecke drapiert. Der Lieblingssessel meines Vaters ist bordeauxrot-gold gestreift, das Sitzpolster ziert ein dauerhafter Abdruck seines Hinterns. Sofa und Sessel sind auf einen neuen Flachbildschirm ausgerichtet, der wiederum in einem neuen Mahagoni-Entertainment-Center eingebaut ist. Auf dem Sofatisch ordentlich angeordnet Untersetzer und Zeitschriften. An die Wand gerückt ein Wäschekorb mit Spielsachen. Die Spielsachen gehören den Kindern meiner Schwester.

Das Wohnzimmer geht ins Esszimmer über. Der Esszimmertisch ist für sechs, kann aber ausgezogen werden, um mehr Personen Platz zu bieten. Meine Mutter sorgt dafür, dass immer ein Tischtuch aufliegt, meistens was Rotgelbes, und über dem bunten Tischtuch breitet sie noch eine Spitzendecke aus. So hält sie es, seit ich denken kann.

Das Esszimmer ist von der Küche durch eine Tür getrennt, die jedoch immer offen steht. So wie mein Vater mehr oder weniger in seinem Fernsehsessel wohnt, wohnen meine Mutter und meine Oma in der Küche. Wenn das Abendessen gekocht wird und die Kartoffeln auf dem Herd stehen, ist es in der Küche feucht und warm, und es riecht nach Soße und Apfelkuchen. Heute Morgen roch es nach frisch gebügelter Wäsche und Kaffee, und Lula hatte noch einen Hauch Brathähnchenduft hereingebracht.

»Ich habe gehört, dass Dave Brewer wieder nach Trenton gezogen ist«, sagte meine Mutter. »Kannst du dich noch an Dave erinnern? Du bist mit ihm zur Schule gegangen.«

Dave Brewer war früher Footballspieler, dick im Geschäft und schon zu meiner Schulzeit ein paar Nummern zu groß für mich gewesen. Nach der Highschool ging er aufs College, heiratete und zog nach Atlanta. Zuletzt hieß es, dass die Behörden in Georgia gegen ihn ermittelten. Er soll bei unrechtmäßigen Zwangsvollstreckungen seine Finger im Spiel gehabt haben.

»Sollte der nicht ins Gefängnis, weil er Hauseigentümer geprellt hat?«, sagte ich zu meiner Mutter.

»Er ist der Strafe entgangen«, klärte uns Grandma auf. »Aber Marion Kolakowski sagt, sein Arbeitgeber hat ihm gekündigt, und seine Villa in Atlanta hat er auch verloren. Dann hat ihn seine Frau verlassen, und die hat auch noch den Hund und den Mercedes mitgenommen.«

Meine Mutter bügelte energisch eine imaginäre Knitterfalte aus einem Hemd meines Vaters. »Daves Mutter war gestern in der Kirche. Sie sagt, alles falsch, Dave hätte nichts Schlimmes getan.«

Lula nahm sich das dritte Kuchenstück. »Irgendwas Schlimmes muss er angestellt haben, sonst hätte seine Frau nicht den Hund und auch noch den Mercedes genommen. Das ist ganz schön heftig.«

»Er kommt aus gutem Haus. Er war Captain des Footballteams und hatte super Noten«, legte sich meine Mutter für ihn ins Zeug.

Die Richtung, die das Gespräch nahm, machte mich misstrauisch. Es sah ganz so aus, als sollte ich verkuppelt werden.

»Ruf ihn doch mal an«, schlug sie vor. »Vielleicht würde er ja gerne wieder Kontakt zu seinen alten Mitschülern aufnehmen.«

»Wir waren nicht befreundet«, erwiderte ich. »Er würde sich bestimmt nicht an mich erinnern.«

»Selbstverständlich würde er sich an dich erinnern«, sagte meine Mutter. »Seine Mutter hat sich sogar nach dir erkundigt.«

Jetzt war es raus. Ich sollte mal wieder verkuppelt werden.

»Mrs Brewer ist ein netter Mensch«, sagte ich. »Ihr Sohn ist bestimmt unschuldig, und es tut mir leid, dass seine Frau ihm den Hund und den Mercedes weggenommen hat – aber ich werde ihn nicht anrufen. Punkt!«

»Wir könnten ihn zum Essen einladen«, sagte meine Mutter.

»Nein! Kein Interesse!« Ich wickelte mir ein Stück Kuchen in eine Serviette und stand auf. »Ich muss los. Arbeiten.«

»Ihr habt nicht zufällig ein Foto von Lou Dugan gemacht, oder?«, fragte Grandma.

»Keine schlechte Idee«, sagte Lula. »Aber ich habe nicht daran gedacht.«

Ich schob ab nach draußen, Lula hinter mir her. Ich sprang ins Auto und schmiss den Motor an.

»Vielleicht kannst du dich ja doch mal mit diesem Dave treffen«, sagte Lula, als wir an die nächste Kreuzung kamen. »Wenn er nun der Richtige ist?«

»Ich habe schon mal gedacht, ich hätte den Richtigen getroffen, aber der entpuppte sich schnell als Wichser, deswegen habe ich mich von ihm scheiden lassen. Jetzt habe ich zwei, die vielleicht die Richtigen sind, und ich kann mich nicht zwischen ihnen entscheiden. Ein Dritter wäre echt das Letzte, was ich brauche.«

»Vielleicht kannst du dich deswegen nicht entscheiden, weil sie beide nicht die Richtigen sind. Vielleicht ist Dave Soundso der Richtige. Was dann?«

»Ich kann deinen Standpunkt verstehen, aber ich habe eine Vereinbarung mit Morelli.«

»Wie sieht die aus?«

In Wirklichkeit war die Vereinbarung nur vage, so wie meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Ich hatte ziemlich ausgeprägte Schuldgefühle und Angst vor der ewigen Verdammnis, doch an blindem Glauben und völliger Hingabe haperte es bei mir.

»Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir uns mit anderen treffen können, aber wir tun es nicht«, sagte ich.

»So was Blödes«, sagte Lula. »Ihr habt ein Kommunikationsproblem. Und überhaupt, woher weißt du, ob er sich nicht mit anderen Frauen trifft? Schließlich hat er ja deine Erlaubnis. Vielleicht trifft er sich mit dieser Joyce Barnhardt. Was würdest du dann machen?«

»Ihn töten.«

»Dafür bekommst du irgendwas zwischen zehn Jahren und lebenslänglich«, sagte Lula.

Ich bog in die Kreiner Street. »Ich versuche es noch mal bei Ziggy.«

5

Zum zweiten Mal heute parkte ich vor Ziggys Haus, stieg aus dem Auto und stapfte zur Tür. Beim ersten Mal war er so dumm gewesen, mir auf mein Klingeln zu öffnen; vielleicht hatte er nicht dazugelernt und würde mir auch diesmal aufmachen. Ich klingelte und wartete. Keine Reaktion. Ich klingelte noch mal. Wieder keine Reaktion. Ich probierte den Türknauf, abgeschlossen.

»Bleib hier, und klopf laut an«, sagte ich zu Lula. »Ich gehe nach hinten. Wenn er nur einen Spalt öffnet, steck den Fuß rein, und drück die Tür auf.«

»Mach ich nicht«, sagte Lula. »Der Kerl ist ein Vampir.«

»Der Mann ist kein Vampir. Und selbst wenn, kann er keinen Schaden anrichten, weil seine Zähne ja tagsüber im Reinigungsbad liegen.«

»Na gut, aber sobald er lächelt und ich seine Hauer sehe, bin ich weg.«

Ich ging hinters Haus und nahm die Rückseite in Augenschein. Vor den Fenstern hingen lichtundurchlässige Rollos so wie auf der Vorderseite. Eine kleine Stufe führte zum hofseitigen Eingang. Lula pochte vorn an die Haustür. Ich probierte auch hier, den Knauf zu drehen, aber Fehlanzeige, die Tür war abgeschlossen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, fuhr mit der Hand über den Türsturz und ertastete den Schlüssel. Ich schloss auf und trat in die Küche. Dunkle Holzschränke, gelbe Resopaltresen. Kein schmutziges Geschirr, keine Plastikbeutel, die auf einen Blutbankraub deuteten.

Die Handschellen klemmten vorn im Hosenbund meiner Jeans, der Elektroschocker steckte in meiner Tasche. Von der Küche aus rückte ich ins Esszimmer vor, von hier hörte ich den Fernseher im Wohnzimmer plärren.

»Ziggy?«, rief ich. »Ich bin’s. Stephanie Plum. Ich muss mit Ihnen reden!«

Japsen, Fluchen, dann hörte ich, wie sich jemand bewegte. Ich trat ins Wohnzimmer, Ziggy stand neben dem Sofa, drauf und dran wegzulaufen, nur wusste er nicht recht, wohin. Lula pochte noch immer an die Haustür.

Ich schob mich langsam rückwärts durch den Flur zum Vordereingang und zielte dabei mit dem Finger auf Ziggy. »Stehen bleiben! Keine Bewegung.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Sie müssen zum Gericht, einen neuen Prozesstermin vereinbaren.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen abends wiederkommen«, blaffte er mich an. »Wenn es unbedingt tagsüber sein muss, können wir es nur riskieren, wenn es draußen bedeckt und wolkenverhangen ist.«

Am Eingang angekommen schob ich den Bolzen beiseite, doch bevor ich überhaupt dazu kam, die Tür zu öffnen, drückte Lula von außen dagegen und stieß mich um, so dass ich auf dem Hintern landete.

»Oh«, sagte Lula und sah zu mir hinunter. »Ich dachte, du wärst der Vampir.«

Jetzt trat Ziggy in Aktion und schoss an uns vorbei zur Treppe nach oben in den ersten Stock.

»Los, schnapp ihn dir!«, rief ich. »Er will seine Zähne holen!«

Mit einem Hechtsprung warf sich Lula auf Ziggy und bekam ihn am Bein zu fassen. Beide stürzten, wälzten sich auf dem Boden, wobei Lula sich an Ziggy klammerte und Ziggy sich wie eine Schlange wand, um sich aus ihrem Griff zu befreien.

»Verpass ihm einen mit dem Elektroschocker!«, sagte Lula. »Leg ihm Handschellen an! Tu irgendwas. Der Kerl zappelt wie wild, ich kann ihn nicht länger halten.«

Ich hatte den Elektroschocker parat, konnte aber nicht genau zielen. Wenn ich Lula traf, hätte ich mit Ziggy allein fertigwerden müssen.

»Was macht er da?«, kreischte Lula. »Saugt er an meinem Hals? Da saugt doch jemand an meinem Hals! Stoß ihn von mir!«

Ich kniff Ziggy mit den Zinken des Schockers in den fuchtelnden Arm und drückte ab. Ziggy quietschte kurz auf und sackte zusammen.

Lula stemmte sich hoch auf die Beine und legte eine Hand in den Nacken. »Siehst du da irgendwo Löcher? Blute ich? Verwandle ich mich gerade in einen Vampir?«

»Nein, nein!«, beruhigte ich sie. »Ziggy hat sein Gebiss nicht drin. Er hat dich nur mit den Gaumen gebissen.«

»Igitt!«, sagte Lula. »Ein Gaumenbiss von einem alten Vampir. Widerlich! Mein Hals ist nass. Was ist das an meinem Hals?«

»Sieht aus wie ein Knutschfleck.«

»Erzähl keinen Scheiß. Hat mir der alte Tattergreis echt einen Knutschfleck verpasst?« Lula zog einen Spiegel aus ihrer Handtasche und untersuchte ihren Hals. »Das macht mich fertig«, sagte Lula. »Erstens weiß ich nicht, ob man davon Vampirläuse kriegt. Und zweitens: Wie soll ich den Fleck meinem Date heute Abend erklären?«

Ich fesselte Ziggy mit Handschellen und trat einen Schritt zurück. Er lag noch immer reglos auf dem Boden.

»Wir müssen ihn ins Auto schaffen«, sagte ich.

»Die Augen sind offen, aber anscheinend sieht er nichts«, sagte Lula. »Tritt ihm mal in die Seite, ob er was fühlt.«

Ich beugte mich über Ziggy. »Hey!«, sagte ich. »Alles okay? Können Sie aufstehen?«

Ziggys Hand zitterte ein bisschen, er machte den Mund auf, aber Worte kamen keine heraus.

»Ich will hier nicht den ganzen Tag vertrödeln«, sagte Lula. »Ich muss unbedingt nach Vampirbiss googeln und mir Make-up für den Hals kaufen.« Sie packte Ziggy am Fuß. »Nimm du den anderen, so kriegen wir ihn nach draußen.«

Wir zogen ihn zur Haustür, doch kaum traf ihn das Tageslicht, fing Ziggy an zu kreischen. Es war ein schriller, greller Ton, ihhhhhh, der Glas zum Zerspringen bringen konnte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Lula ließ Ziggys Fuß los und wich zurück. »Was hat er denn bloß?«

Ich trat die Tür zu, und Ziggy hörte auf zu kreischen.

»Ich hätte mir beinahe in die Hose gemacht«, gestand Lula. »Das war ja grässlich. Noch nie habe ich so ein Geräusch von einem Menschen gehört.«

Ziggy hatte die Augen zugekniffen und stieß fauchend Luft hervor. »Keine Sonne«, sagte er matt.

»Mir langt’s gleich«, sagte Lula. »Was soll ich jetzt machen? Einerseits finde ich, dass wir ihn nach draußen in die Sonne zerren sollten, damit er verbrennt – ein Vampir weniger auf der Welt! Andererseits will ich nicht zusehen müssen, wie die ganze Soße aus ihm herausquillt und er sich auflöst wie in den Horrorfilmen immer. Ich hasse diese Filme, wo die Leute so zerbröseln.«

»Was ist denn nun?«, fragte ich Ziggy. »Sind Sie ein Vampir oder nicht?«

Ziggy zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein.«

»Hätten Sie was dagegen?«, fragte ich Ziggy vorsichtshalber.

»Bloß nicht«, sagte Lula. »Ihre Zähne bleiben hübsch hier. Sie haben mir schon einen Knutschfleck verpasst. Mehr Vampirgrusel halte ich nicht aus.«

»Was ist dahinten los?«, fragte ich.

»Halt an«, sagte Lula. »Ich steige aus.«

»Woher willst du wissen, dass er nicht doch ein Vampir ist?«

»Ich auch nicht, aber man kann nie wissen. Ob Scheißvampir oder nicht, der Kerl macht mich wahnsinnig.«