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Was erleben wir momentan in den Unternehmen und Organisationen? Ein Übermaß an Zudringlichkeit, sagt Deutschlands erfolgreichster Wirtschaftsvordenker: Wir werden befragt, vermessen, gesteuert und fürsorglich belagert. Frei- und Spielräume gehen dadurch verloren, Grenzen werden überschritten, Unterschiede nivelliert – kurzum der Anstand, verstanden als Zurückhaltung und Distanz, bleibt auf der Strecke. Zudem geraten die eigentlichen Unternehmensziele aus dem Blick, erfolgreiches Arbeiten wird erstickt.

Was also muss ein Unternehmen tun, um anständig zu sein? Und was muss Führung in einem anständigen Unternehmen leisten? Reinhard K. Sprenger verdeutlicht, dass wir vieles im Management wieder bleiben lassen müssen, um zu neuen Prinzipien von Anstand in unserer Arbeitswelt und damit in unserer Gesellschaft zu kommen.

»Wenn ein Managementberater in den letzten Jahren wirklich etwas bewegt hat, dann ist das Reinhard Sprenger.«

Neue Zürcher Zeitung

REINHARD K. SPRENGER, geboren 1953 in Essen, hat in Bochum Geschichte, Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Als Deutschlands profiliertester Managementberater und einer der wichtigsten Vordenker der Wirtschaft berät Reinhard K. Sprenger alle wichtigen Dax-100-Unternehmen. Seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern, sind in viele Sprachen übersetzt und haben die Wirklichkeit in den Unternehmen in fast 25 Jahren von Grund auf verändert.

»Deutschlands meistgelesener Management-Autor«

Der Spiegel

REINHARD K. SPRENGER

DAS ANSTÄNDIGE
UNTERNEHMEN

Was richtige Führung ausmacht –
und was sie weglässt

Deutsche Verlags-Anstalt

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Das Zitat von Dietrich Bonhoeffer drucken wir
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Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung
© 1998, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
Copyright © 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Typografie und Satz: DVA / Brigitte Müller
ISBN 978-3-641-17204-6
V003
www.dva.de

Wenn wir nicht den Mut haben, wieder ein echtes Gefühl für menschliche Distanzen aufzurichten und darum persönlich zu kämpfen, dann kommen wir in einer Anarchie menschlicher Werte um.

Dietrich Bonhoeffer

INHALT

EINLEITUNG

TEIL I

RICHTIG UND FALSCH. WAS IST ETHIK?

WAS IST ANSTAND?

PRINZIPIEN ANSTÄNDIGER UNTERNEHMENSFÜHRUNG

TEIL II

PRINZIP 1 IN DER PRAXIS
Betrachte Mitarbeiter nicht als bloße Mittel

SINN
Vom Zweck des Unternehmens

ZIELE
Die systematische Zerstörung von Sinn

IDENTIFIKATION
Zwischen Aufgabe und Selbstaufgabe

MOTIVIERUNG
Der Mitarbeiter als Mängelwesen

MANAGEMENTVERGÜTUNG
Ethische Aspekte des Verdiensts

PRINZIP 2 IN DER PRAXIS
Behandle Mitarbeiter nicht wie Kinder

VORBILDLICHKEIT
Infantilisierung als Strukturprinzip

FÜRSORGEPFLICHT
Das Ende der Selbstverantwortung

ANONYME MITARBEITERBEFRAGUNGEN
Die Obszönität des Fragens

GESUNDHEITSFÖRDERUNG
Permanente Grenzüberschreitungen

PRINZIP 3 IN DER PRAXIS
Versuche nicht, Menschen zu verbessern

FÜHRUNGSSTIL
Die Pädagogisierung der Unternehmensführung

ETHIK-SEMINARE
Individualisierung struktureller Schieflagen

FEEDBACK
Der Blick in einen blinden Spiegel

RANKING
»Rennlisten« und andere Vergleiche

WEIBLICHWERDEN
Die Pathologisierung des Mannes

PRINZIP 4 IN DER PRAXIS
Verletze nicht die Autonomie der Mitarbeiter

PSYCHOLOGIE
Exorzismus und Therapie am Arbeitsplatz

MITARBEITERAUSWAHL UND -ABWAHL
Arbeit vom Ende her denken

MITARBEITERBINDUNG
Starke Fesseln sind die schwachen

BÜROKRATIE
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

AUTHENTIZITÄT
Die kollektive Suche nach dem Selbst

PRINZIP 5 IN DER PRAXIS
Bezeichne nichts als alternativlos

WERTSCHÄTZUNG
Die Forderung nach Anerkennung ohne Gegenleistung

FORMLOSIGKEIT
Die Missachtung des Spiels

ENGLISCH ALS UNTERNEHMENSSPRACHE
Die universelle Imperialsprache

FRAUENFÖRDERUNG
Welches Problem lösen wir damit?

TRANSPARENZ
Der Verlust von Würde, Anstand und Vertrauen

TEIL III

ARBEIT UND LEBEN

NACHWORT: NEGATIVE ETHIK

LITERATUR

EINLEITUNG

Die Lage

Wir leben in wirtschaftsethisch abschüssigen Zeiten. Der Bürger steht fassungslos vor riesigen Staatsschulden, EU-Ländern, die diese Schulden nicht begleichen wollen, »Too big to fail«-Zynismen, mit denen sich Politik und Finanzindustrie wechselseitig schützen, und den Gehaltsexzessen einer kleinen Managerclique, die sich aus der Wertegemeinschaft der Zivilisierten längst verabschiedet hat. Permanent werden geheime Kartelle und Preisabsprachen von Unternehmen aufgedeckt, die sich ihrerseits als Opfer preisknebelnder Einkäufer schildern. Wir lesen von Manipulationen der Wechselkurse, Verrechnung falscher Preise, Strafverfahren für Topmanager, bonusgetriebener Beratung und von Städten, in denen Familien keine Wohnung mehr finden, während Spekulanten ganze Häuserblocks verrotten lassen. Das alles überzuckert von »There is no alternative«-Advokaten, die die Selbstabschaffung der Vernunft empfehlen. Ein bizarres Kaleidoskop zerstörter Ideale.

Man mag daran erinnern, dass die weitaus meisten Unternehmer und Manager verantwortungsvoll und gesetzlich korrekt arbeiten. Jedoch sind die Anstößigkeiten in den Medien derart omnipräsent, dass der Bürger den Eindruck hat, die ganze Wirtschaft sei korrupt. Wirtschaftlicher Erfolg, so des Bürgers Schlussfolgerung, verdankt sich nicht mehr bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Ausdauer, Talent und unternehmerischer Risikobereitschaft, sondern der Zugehörigkeit zu einer neofeudalen Kaste und ihrer Nähe zum Kapitalstock der Gesellschaft.

Das alles wirft Fragen auf, welche Formen des Wirtschaftens gesellschaftlich akzeptabel sind.

Diese Fragen stellen sich auch innerhalb der Unternehmen. Dort mehren sich ebenfalls die Zeichen der Überforderung. Ein Auszug aus der Anklageschrift: »Change« als Veränderung des Status quo gehört längst zum Status quo; der Wunsch nach Work-Life-Balance, die Klage über Arbeitsverdichtung, Kontroll-Exzesse, Burnout, die anhaltende Konjunktur der Chefbeschimpfungs-Bücher, ganze Regale mit Empörungsliteratur, Milliardenkosten durch Innere Kündigung und Dienst nach Vorschrift, irritierend hohe Umfragezahlen über Angestellte, die in der Illusion, woanders sei es besser, nach einem neuen Arbeitgeber suchen. Kein Zweifel, auch Unternehmen und Mitarbeiter haben sich entfremdet.

Reaktion der Politik und der Unternehmen

Die Politik reagiert auf diese Gemengelage mit Moralisierung der Wirtschaft: Mindestlohn und Mietpreisbremse, die Löhne und Mieten nicht mehr dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterwerfen, sondern dem Gesetzgeber; Frauenquoten, die Leistung und Erfahrung durch Geschlecht ersetzen; Überlegungen, die maximale Einkommensspreizung innerhalb eines Unternehmens gesetzlich festzulegen; gedeckelte Managerboni, Unternehmen als Agenten der Steuerbehörden, eine Compliance-Bürokratie, die mittlerweile monströse Formen angenommen hat; Corporate Social Responsibility, Corporate Governance, Value Based Leadership – Anglismen, die für eine glänzende Oberfläche sorgen und Legimitätsfassaden bauen.

Geradezu täglich dichter wird das Netz staatlicher Regulierungen, Auflagen und Transparenzforderungen, allerorten explodieren Verbots- und Bevormundungsinstanzen, das Strafrecht verdrängt das Zivilrecht in einer gesellschaftlichen Gestimmtheit, in der man es »denen da oben« mal zeigen will. Hinzu kommt eine Gründungswelle für Wirtschaftsethik-Lehrstühle, die mit verbeamteten Professoren den gesinnungsbetrieblichen Überbau staatlich finanzieren. Immer stärker wird die Tendenz, die Wirtschaft vom moralischen Hochsitz aus zu gestalten, überall droht der erhobene Zeigefinger, soll über der unsichtbaren Hand des Marktes die sichtbare Faust des Staates schweben.

Unternehmer und Manager beklagen zwar das wirtschaftsfeindliche Klima, wollen aber auch zu den Guten gehören: Die Wertegesänge der »Codes of Conduct« schwellen ebenso an wie die Geschäftsberichte, deren Umfang sich in den letzten Jahren verdreifacht hat und in denen es nur so wimmelt von »Gemeinwohl« und »Verantwortung«. Das alles in geschlechtsblinden Formulierungen.

Reaktion der Menschen

Man muss diesen Besänftigungsaktivismus nicht allzu ernst nehmen: Das Marketingelement ist hoch zu veranschlagen, die Grenze zur Fiktion unscharf. Aber auch bei den Bürgern verbreitet sich in dem Maße, in dem Ökonomie und Gesellschaft in der Wahrnehmung vieler auseinanderklaffen, die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der Einheit. Zumindest nach einem Ausgleich der Beziehung. Entsprechend beobachten sie die Unternehmen kritisch unter den Stichworten »soziale Verantwortung« und »Nachhaltigkeit« und beeinflussen die Märkte durch ihr Konsumverhalten. Keineswegs kommt es also, wie oft befürchtet, zu einer Verdrängung der Moral durch den Markt. Im Gegenteil: Überall mit Händen zu greifen ist die Sehnsucht nach »Balancen«, nach Rechtschaffenheit, Dauer, Ordnung und ruhiger Arbeit, nach Führungspersönlichkeiten mit »Maß und Mitte« (Wilhelm Röpke), nach einer Wirtschaft für das »ganze Haus« – und nicht nur für einige Privilegierte.

Falls nun auf den Begriff gebracht werden soll, was diese Sehnsucht bündelt, so wüsste ich nur ein Wort: Anstand. Ein älterer Jargon, ich weiß. Aber vielleicht eben deshalb passend. Die Menschen wollen Anstand – vor allem auch in der Unternehmensführung.

Anstand am Arbeitsplatz

Wer den Buchtitel Das anständige Unternehmen liest, denkt wahrscheinlich genau an diese Zusammenhänge – an Skandale, die ihren eigenen Erregungsroutinen folgen, an ökologische Fragen und Großprobleme im politisch-wirtschaftlichen Spannungsfeld. Zweifellos: Es gibt auf dieser Makro-Ebene Gestaltungsbedarf. Aber für kriminelle Handlungen, für Korruption, Kartellabsprachen oder Insiderhandel ist die Justiz zuständig, für die Entspannung des Publikums gibt es Ethik-Kommissionen, für die sich blähende Öko- und Werteorientierung die Öffentlichkeitsarbeiter in den Unternehmen.

Ich aber will zeigen: Das anständige Unternehmen geht anders. Aus zwei Gründen.

Erstens: Wirtschaftlicher Anstand realisiert sich gerade nicht in der Unterscheidung legal/illegal; dafür ist, wie gesagt, der Staatsanwalt zuständig. Und so notwendig gesetzliche Regelungen sein mögen, sie zerstören auch Verantwortung. Sie ersetzen Freiheit durch Zwang und Staatshörigkeit. Hingegen realisiert sich wirtschaftlicher Anstand auf der breiten (aber immer enger werdenden) Straße des Legalen. Da, wo wir nicht gezwungen werden, sondern verantwortlich sind; wo wir wählen können. Bei Seneca lesen wir: »Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand.« Anstand definiert mithin einen Handlungsraum innerhalb des gesetzlichen Rahmens.

Zweitens: Die Skandale sind abstrakte Medienereignisse. Konkret wird Wirtschaft vor allem am eigenen Arbeitsplatz. Da, wo Menschen Wirtschaft am unmittelbarsten erleben und wo sie einen Großteil ihres Lebens verbringen: sechs, acht, zehn, manchmal zwölf und mehr Stunden täglich, vielfach auch am Wochenende – für manche Menschen ist Arbeit ihr Leben. Da kann es nicht egal sein, unter welchen Umständen sie arbeiten.

Arbeit hat ja nicht nur die instrumentelle Funktion des Geldverdienens oder des Zeitvertreibs, sondern auch eine selbstprägende Funktion: Man prägt sein Selbst durch Arbeit. Am Arbeitsplatz macht der Einzelne Erfahrungen, die dann wieder über die Familie und Freunde, über das Wahlverhalten und über soziale Beteiligungsformen in die Gesellschaft hinein strahlen. Was Menschen hier unmittelbar erleben, prägt sie direkt für ihr Leben als Bürger in der Zivilgesellschaft. Insofern beeinflusst der Arbeitsplatz sowohl quantitativ wie qualitativ und mit zum Teil hoher psycho-sozialer Dichte, ob Menschen ihr Leben würdevoll führen können. Wie werden sie am Arbeitsplatz behandelt? Welche Freiheitsgrade haben sie dort? Wie mündig können und wollen sie da sein? Wie viel Respekt wird ihnen entgegengebracht? Wieweit wird ihnen vertraut und was wird ihnen zugetraut? Deshalb kann man durchaus argumentieren, dass eine ethische Reflexion der Erfahrungen am Arbeitsplatz eine überragende Rolle spielt für eine freie Gesellschaft.

Das wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass Arbeit ja nicht einfach ein Wert unter anderen ist (wie Bildung, Religion oder Kunst), sondern einen Sonderstatus hat: Die meisten Menschen müssen arbeiten. Man mag das aus unterschiedlichen Gründen bestreiten. Aber die Mehrheit der Menschen zerbricht sich morgens nicht den Kopf, ob sie nun arbeiten geht oder zum Golfplatz.

Wenn also die ethische Diskussion zumeist um »Externalisierungen« kreist, um die Kosten privaten Verhaltens zu Lasten der Allgemeinheit, dann wird in der Regel der wichtigste Faktor übersehen: Menschen. Menschen, die in Unternehmen geformt und (manchmal) verformt werden. Zum Gemeinwohlbeitrag eines Unternehmens gehören eben nicht nur die ökonomische Wertschöpfung, Sponsoring, Ausbildungsplätze oder plakative Gesetzestreue, sondern eben auch die Formung menschlichen Zusammenlebens, das Erleben von Selbstwirksamkeit und die Lebensfreude, mit der Menschen arbeiten und abends das Unternehmen verlassen. Die Erfahrung von Freiheit und Verantwortung in den Unternehmen prägt die Gesellschaft jedenfalls mehr als das Beobachten von Wirtschaftsskandalen. Wenn also ein Unternehmen über gute Produkte und Dienstleistungen hinaus »soziale Verantwortung« übernehmen will, dann sollte es seine Wirkung auf die Menschen am Arbeitsplatz kennen. Genau aus dieser Perspektive bezieht dieses Buch seine gesellschaftliche Relevanz.

Überschuss an Zudringlichkeit

Den meisten Menschen ist kaum bewusst, wie sehr die Arbeit sie prägt. Nicht nur die berüchtigte déformation professionnelle – der Lehrer spricht irgendwann auch mit Erwachsenen wie mit Schülern, Stewardessen lächeln ihr eingefrorenes Lächeln auch in ihrer Freizeit, Top-Manager finden nichts dabei, mit dem Firmenhubschrauber zur Arbeit zu fliegen. Es gibt einige wirklich dunkle Seiten der Anpassung: Auszehrung durch Konformitätsdruck, Effizienzexzesse, Führung, die mit Scham und Angst arbeitet, Sanktionen, die auf den Kern der Persönlichkeit zielen. Man denke an Willy Loman in Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden. Auch durch die Subjektivierung und Entgrenzung der Arbeitswelt intensiviert sich die emotionale Vereinnahmung. Vieles, was in den Unternehmen passiert, trägt aus der hier vorgetragenen Sicht nicht zum gesellschaftlichen Wohlstand bei.

Vor allem aber – und das ist meine These – erzeugen die Unternehmen einen Überschuss an Zudringlichkeit. Ja, man versteht das moderne Unternehmen in moralphilosophischer Hinsicht nur, wenn man seine institutionelle Zudringlichkeit begreift. »Mehr Nähe!« – das ist der Imperativ, der das ganze Unternehmen durchdringt. Das klingt zunächst harmlos, fast sympathisch. Erst beim zweiten Hinschauen bemerkt man die destruktive Kraft, die diese Forderung entfaltet: Im Prozess des modernen Organisierens sind mehr Distanzen – Räume, Freiräume, Spielräume – verschüttet worden, als sich mit der hier vertretenen Idee von Anstand vereinbaren lässt. Diese Distanzlosigkeit wird als solche gar nicht wahrgenommen, und falls doch, wird sie positiv gewendet als Wohlmeinen, Fürsorge und Hilfe. Hat jemand danach gerufen? Egal, die Institutionen schaffen ihre eigene Fundierung; es ist das Angebot, das die Nachfrage erzeugt.

Arbeitsverdichtung ist daher nicht nur quantitativ zu begreifen als »mehr Arbeit für weniger Leute«. Es ist vor allem ein psychischer Dichtestress, der den Menschen zu schaffen macht. Ein Dichtestress, der als binnenorientierte, bürokratische und psychosoziale Zudringlichkeit erlebt wird. Man macht dennoch mit, weil es bequem ist, Vorteile verspricht, chic ist oder schlicht zu mühsam, sich zu wehren. Man unterwirft sich. Wer die Stimme dagegen erhebt, macht sich womöglich gar verdächtig. Irgendwann ist man umschlossen von einem Panzer bürokratischer Eingreiflogik, die kein Tabu mehr kennt.

Wir haben es hier mit einem neuen Typus von Macht zu tun. Seine Wirkung besteht darin, dass Unterscheidungen und Distanzen aufgehoben werden, dass Schonräume der Intransparenz verschwinden, Territorien der Schuldlosigkeit, Sphären der Unschärfe. Dieser Machttypus, das ist das Perfide, hat selten böse Absichten, sondern vordergründig die Vernunft auf seiner Seite, manchmal gar das Menschenfreundliche. Ich bezweifele aber, dass es sich um sittlichen Fortschritt handelt, wenn das schöpferische Anderssein den Strategien der verähnlichenden Distanzlosigkeit geopfert wird. Ich schaue skeptisch auf die Eigendynamik des Gleichmachens, die ein fauler Humanisierungszauber popularisiert. Ein Gleichmachen, das, von der Allgemeinheit gar nicht gefordert, dennoch überall neue Anwendungen findet.

Ich argumentiere dabei sowohl ethisch wie ökonomisch. Es geht mir zugleich um Wachstum und Effizienz. Anstand zu wahren heißt eben nicht end of business; der Handel mit anständigen Einsichten gibt nicht automatisch eine »Gewinnwarnung« aus. Im Gegenteil: Anstand muss wirtschaftlich erfolgreich sein. Die ethische Forderung nach Anstand ist richtungsgleich mit der ökonomischen nach Innovation und Reduktion der Komplexität. Denn das anständige Unternehmen produziert 1.) keine Konformisten und 2.) keine unnötigen Transaktionskosten. Weder Konformität noch Korrektheit noch Konsens noch Konvention. Was jeweils auf Befreiung hinausläuft. Auf Neubeginn. Das bewegte Wirtschaftsleben verlangt allemal, dass man sein Denken in jede Richtung neu erprobt.

Hier wird also eine Alternative zur herrschenden Weltsicht formuliert. Es ist riskantes Denken, weil es das Konventionelle herausfordert, manchmal auch das Bewährte, meistens nur das angeblich Bewährte. Und nicht Veränderung fordert, sondern Abschaffung. Nicht mehr das Optimieren von Prozessen, nicht mehr Standard Operation Procedures, Null-Fehler, Kaizen oder Six Sigma – die Logik des Verbesserns und Reparierens reicht in Zeiten disruptiver Veränderung nicht weit genug. Deshalb kann man das Buch auch lesen als Anti-Verkrustungs-Fibel. Oder als Manifest für das heraufziehende Innovationszeitalter.

Institution, nicht Individuum

Was Menschen am Arbeitsplatz erleben, wie sie handeln und behandelt werden, das hat Konsequenzen für die Gesamtgesellschaft. Die dominierende personenzentrische Perspektive schaut dabei vorrangig auf das (Fehl-)Verhalten Einzelner: auf charakterliche Missbildungen, auf schäumende Chefs, unbeherrschte Kollegen, Eitelkeiten, Intrigen, sexuelle Übergriffe oder Mobbing. Man kennt das: der Geschäftsführer, der seinen Abteilungsleiter tritt, der seinen Mitarbeiter tritt, der seinen Kollegen tritt, der sein Kind tritt, das den Hund tritt ...

Auf der individuellen Seite wird mithin von Führungskräften gefordert, mit Mitarbeitern anständig umzugehen. Und auch wenn sie aus der Zeit gefallen scheinen, es gibt sie noch, jene, die Leistung daran messen, wie ausführungsergeben Mitarbeiter sind und wie lange sie Bürostühle wärmen. Man darf aber weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer mit moralischen Ansprüchen überfordern. Als Führungskraft eines Unternehmens sieht man sich ohnehin mit Funktionsimperativen konfrontiert, die anonym und moralneutral sind. Moralisierung stößt daher ins Leere – weil sie sich nicht an Individuen richtet, die in einem starken Sinne »frei« sind, sondern an zweckgeleitete Organisationen, deren Leitungspersonen schlicht und einfach das Wohl der Eigentümer mehren sollen.

Ich diskutiere also nicht, ob ein spezieller Banker zu gierig, ein Chef zu aufbrausend, ein Manager zu kontrollwütig ist. Zugespitzt kann man formulieren: Auf der personenzentrischen Ebene gibt es keine Anständigen – nur Unanständige mit schlechtem Gewissen. Ich kritisiere auch nicht das Verhalten von Psychopathen im Management – verantwortungslosen, jähzornigen Menschen ohne Impulskontrolle, die nicht selten als charismatisch, durchsetzungs- und überzeugungsstark gelten. Wer mit Handys nach Mitarbeitern wirft, sollte schlicht das Weite suchen – und auch finden. Natürlich gehören pathologische Extreme ins Gesamtbild. Und aus der individuellen Verantwortung kommt niemand heraus. Aber die Strombergs dieser Welt interessieren mich ebenso wenig wie kränkendes Verhalten, das dem Charakter oder der Laune eines Einzelnen entspringt.

Viel wichtiger ist der institutionelle Rahmen, innerhalb dessen sich Chef und Mitarbeiter bewegen, die Strukturen, die Führungsinstrumente, die Kommunikationen. Die institutionelle Demütigung ist gesellschaftlich folgenreicher als unzivilisiertes Verhalten einzelner Personen. Ich betrachte daher hier die Institutionen und die in sie »eingelagerten« Werte, die ich auf Anstand prüfe. Welches Menschenbild setzt dieser Rahmen voraus? Welche Form des Miteinander-Umgehens macht er wahrscheinlich? Welche unwahrscheinlich? Was ermutigt er? Was entmutigt er? Welche Grenze setzt und überschreitet er? Diese Institutionen konkretisieren Ethik zur Moral – jenseits des individuellen Einzelfalls, sei er besonders vorbildlich oder besonders abschreckend. Wo nämlich die Institutionen in Ordnung sind, braucht man sich um Moral kaum zu kümmern. Dann kann man das Böse auf das Kriminelle beschränken.

Unter diesem Blickwinkel beleuchte ich verschiedene Praktiken, wie ich sie in vielen Unternehmen vorfinde, von denen zahlreiche zu Ritualen degeneriert sind, oft zu Widersinn. Praktiken nenne ich Institutionen, kollektive Umgangsformen, Lebensweisen und Begriffe, in denen Menschenbilder eingelagert sind, anthropologische Grundannahmen, wünschbare Kooperationsformen. Und umgekehrt prägen sie ihrerseits die Sichtweisen der Menschen, die mit und durch diese Praktiken bestimmte Regeln und Vorgehensweisen als »normal« empfinden – auch solche, für die sich das Problem des Anstands meist gar nicht bewusst stellt. Die aber, so meine These, den Menschen zu nahe treten, den Anstand verletzen. Ich schaue dabei nicht nur »von oben«, indem ich das Prinzip des Anstands top down in einzelnen Institutionen anwende. Sondern auch umgekehrt »von unten«: Was ist anständiges Verhalten der Mitarbeiter? Was sind anständige Erwartungen an das Unternehmen? Und welche Effekte ergeben sich aus der »unbewussten« Nichtanständigkeit?

Ich glaube, dass diese Analyse die Mittel für eine grundlegende Neubewertung derzeitiger Arbeitsverhältnisse bereitstellen kann, ja, das Potenzial für eine veritable Gesellschaftsdiagnose hat. Die leidenschaftliche Kühle, die damit verbunden ist, mag manchen vor den Kopf stoßen. Vor allem, weil sie herkömmliche Erwartungen an Unternehmensethik unterläuft. Sie kann aber mehr bewegen als sentimentale Appelle.

Das Programm: Anstand durch Abstand

Thematisiert man Moral am Arbeitsplatz, dann stellt sich sofort die Frage nach einer Norm, die die Zusammenarbeit prägt und die »moralisch« von »nicht-moralisch« unterscheiden hilft. Den Begriff des »Anstands«, den ich dafür wähle, betrachte ich nicht als Relikt vergangener Zeiten. Ich will ihn vielmehr für die wirtschaftsethische Diskussion rehabilitieren. Und vor allem: praktisch machen. Entsprechend Kurt Lewins »Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie« will ich zunächst umreißen, was ich unter Anstand verstehe – ohne mich allzu tief in philosophischen Spezialfragen zu verstricken.

Daraus werde ich dann fünf Prinzipien entwickeln, die Anstand konkretisieren, gleichsam »übersetzen«, und die wir zur Abwehr anmaßender Nicht-Anständigkeit brauchen. Orientiert am Menschen als Freiheitswesen, von dem dieser Entwurf seinen Ausgang nimmt und auf den hin er ausgerichtet ist, werde ich so eine Moral vorstellen, deren Hauptbotschaft lautet: »Sei menschlich, nimm Abstand!«

Der Mensch als Freiheitswesen – wenn ich diese Vorlage mit der institutionalisierten Verfasstheit der Unternehmen abgleiche, springt sofort der Kontrast ins Auge. Es wurde im Prozess des neueren Organisierens immer mehr Nähe und Dichte geschaffen – mehr, als sich durch Verweis auf frühere Distanzen wieder entfernen ließ. Man bemerke den Doppelsinn von »entfernen«. Deshalb brauchen wir ein neues Anstands-Denken, das die Abstände wieder herstellt. Das ist die Denkrichtung: Anstand durch Abstand.

Für diese »Entfernung« will ich die Umrisse einer negativen Unternehmensethik entwerfen. Negativ ist sie in dem Sinne, dass sie nicht zeigt, was zu tun ist, sondern zu lassen. Sie ist insofern Teil einer Ökonomie der Zurückhaltung, als sie sich bewusst entscheidet, auf bestimmte Praktiken, Maßnahmen und Institutionen zu verzichten. Zu verzichten nicht in einem asketischen oder wachstumskritischen Sinne, sondern – ganz im Gegenteil – mit Blick auf eine ethisch und betriebswirtschaftlich definierte Wohlfahrt.

Wir erleben ja gerade großformatig eine schöpferische Zerstörung im Schumpeter’schen Sinn. Die Veränderungen durch die Digitalisierung – Stichworte: Industrie 4.0, Internet der Dinge, Online-Handel, Big Data – fordern Unternehmen in historisch vorbildloser Weise heraus. Die innere Verfasstheit der Organisationen spiegelt diese Situation allerdings nicht wider. Vielmehr herrschen dort etliche Paralysen und Pathologien – vor allem das »Mehr vom Selben«: mehr, schneller und härter arbeiten, Silodenken und Reparaturintelligenz. Es fehlen vor allem die geistigen Voraussetzungen, um den zukünftigen Herausforderungen auch nur angemessen begegnen zu können.

Alles, was da an Lösungsvorschlägen entwickelt wird, ist von eben jener Logik infiziert, die die Probleme gerade hervorgerufen hat: Im Management kommt immer etwas hinzu. Selten sagt jemand: »Das machen wir nicht mehr.« Oder: »Das nehmen wir weg.« Genau das aber muss man tun, wenn man unternehmerische Potenziale freisetzen will. Man muss etwas nicht mehr machen: Vieles, was die Unternehmen im Lauf der letzten Jahrzehnte hat verholzen lassen, lässt uns wieder durchatmen, wenn wir es abschaffen. Oder es besser gleich lassen. Letzteres gilt vor allem für klein- und mittelständische Betriebe (KMUs). Dort halten sich ja oft noch renitente Reste des gesunden Menschenverstandes. Die KMUs verspielen jedoch den Vorteil des Spätkommers, wenn sie die Methoden der Konzerne kopieren. Ich will daher vor allem diese Motoren der deutschen Wirtschaft ermutigen, nicht einer vermeintlichen Modernisierungslogik zu folgen und die zudringlich-bürokratischen Institutionen der Konzerne zu übernehmen. Auch hier gilt: Abstand halten!

Basso continuo ist daher die »Produktion durch Negation«. Ich überprüfe den Anteil des Passiven am Unternehmenserfolg. Eines würdevollen Mangels an Aufhebens. Welche unternehmerischen Kräfte werden durch Beschränkung, Distanz und Diskretion aufgerufen? Es steht nicht weniger an als ein Paradigmenwechsel. Noch nicht annähernd wurde begriffen, dass »immer mehr« nicht funktioniert. Dass wir große Ideen brauchen, Ideen des Nicht-Tuns (nicht des Nichts-Tuns) und des Nicht-mehr-Tuns. Dass wir den Denkrahmen sprengen müssen – um Raum zu schaffen, aus der Enge des Gewordenen emporzusteigen. Von postmoderner Überladung wird so das Unternehmen befreit für eine neue (oder auch: erneut alte) Hinwendung zum Wesentlichen. Um vielleicht eine neue Epoche der organisatorischen Praxis einzuläuten. All das fasse ich unter der Überschrift »das anständige Unternehmen« zusammen.

In dem folgenden Teil II gehe ich näher auf die Prinzipien einer anständigen Unternehmensführung ein und führe sie an vierundzwanzig Gegenständen des Unternehmensalltags exemplarisch vor. Dabei lege ich jeweils die Wurzeln einer tiefgreifenden Eingriffslogik frei, die wir erst einmal verstehen müssen. Ich beschreibe ein Geflecht von Erfahrungen und Institutionen, das Anstand vermissen lässt. Ich will Erfahrungen vergegenwärtigen, die allen vertraut sind, die in Unternehmen und Organisationen arbeiten. Und ich will den Anstand gedanklich ausprobieren. Dabei beschränke ich mich auf Menschen-Führung und treffe die Auswahl entschieden subjektiv. Das »Objektiv« gehört ohnehin nur in den Fotoladen.

Anstatt Instrumente und Prozesse zu verbessern, sollten wir darüber nachdenken, ob wir sie überhaupt noch brauchen. Ob sie einen Mehrwert bieten. Oder ob sie nicht sogar schaden. Alle Kapitel enden daher mit der Wendung »Das anständige Unternehmen verzichtet auf …«

Provozierend

Kommt man zu den praktischen Konsequenzen der hier vorgelegten Konzeption von unternehmerischem Anstand, dann werden sich vielleicht einige Leser getäuscht fühlen. Denn das gegenwartskritische Potenzial ist gleichsam die dunkle Seite des hell leuchtenden Begriffs »Anstand«. Manche werden den Ansatz dann nicht mehr so toll finden oder das alte sokratische Spiel spielen, einzelne Komponenten der Konzeption als nicht notwendig auszuweisen. Das kennen wir ja aus den Unternehmen: Wenn es ums Handeln geht, war es oft »nicht so gemeint«. Ich will deshalb auch die geistige Trägheit bekämpfen, das gleichgerichtete und gleichrichtende »Alle-machen-das!«. Nur der Unreflektierte sieht, was alle sehen, und er sieht es so, wie alle es sehen. Das wäre zwar ein flüssiges Buch, aber auch ein überflüssiges.

Bei den Handlungsempfehlungen werde ich ebenfalls nicht überall auf Zustimmung stoßen. »Provokativ!« wird der Vorwurf lauten. Ein solcher Protest zeigt vor allem, welch korrumpierte Vorstellungen Unternehmen von sich selbst entwickelt haben und welchen Grad die kollektive Verblendung mittlerweile angenommen hat. Es gibt kaum mehr ein Feld der Unternehmensführung, auf dem nicht von vorneherein feststeht, was gesagt werden darf und getan werden muss. Es gibt kaum noch ein Außen, kaum noch Kritik. Die Unternehmen sind für die Beschränktheit ihrer Prämissen genauso blind wie für die vermeintliche Alternativlosigkeit ihres Handelns. Ich möchte hier deutlich werden: Wer das Folgende für abseitig oder vielleicht sogar für rückwärtsgewandt hält, der unterliegt einer optischen Täuschung, die sich nur durch die allgemeine Hypnose erklärt. Diese Hypnose bezieht sich vorrangig auf das Menschenbild und beruht auf bestimmten anthropologischen Grundannahmen – dann wollen Sie den Menschen als Freiheitswesen nicht anerkennen. Das ist Ihr gutes Recht. Manchmal ist es aber auch Gedankenlosigkeit oder Unklarheit. Unklares Denken erzeugt unklares Sprechen erzeugt unklares Handeln. In Zeiten politisch korrekter Gehirnvernebelung braucht es, um klar zu denken, oft mehr Mut als Verstand.

Anknüpfung

Bei der theoretischen Grundlegung dieses Buches stellte ich fest, dass ich über viele Jahre Einzelstudien zum Thema veröffentlicht habe, ohne dass mir das bewusst war. Ich schrieb gleichsam Nebentexte, wobei mir der Haupttext ein Geheimnis blieb.

In Radikal führen habe ich gezeigt, was zu tun ist, wenn sich Führung auf das Wesentliche konzentriert. Hier nun, unter ethischer Perspektive, will ich zeigen, was zu lassen ist. Ich habe bemerkt, dass in der Management-Praxis eine Lücke klafft. Dass das Nein-Sagen genauso zum Handeln gehört wie das Ja-Sagen. Dass das »Tun« als positive Tätigkeit zweifellos wichtig ist, aber durch ein »Lassen« als negative Tätigkeit dringend ergänzt werden muss. Dieses Lassen fällt in weiten Teilen zusammen mit der Führungsaufgabe »Transaktionskosten senken« – so wie ich sie in Radikal führen mit Blick auf eine wuchernde Bürokratie entwickelt habe. Dass sich dabei betriebswirtschaftliche Logik und ethisches Sollen nicht die übliche Zerreißprobe liefern, nehme ich gerne in Kauf.

In dem vorliegenden Buch ist er also »entdeckt«, der Haupttext. Aus dem Gefundenen habe ich mein Suchen erschlossen. Das, was mir zuvor verborgen war: Anstand und Distanz. Gerade in Situationen des Umbruchs, in denen Traditionelles rasend schnell veraltet und Moral nicht mehr verbindlich sein kann, brauchen wir Konzepte, die Innen und Außen, Privat und Öffentlich, Ich und Wir unterscheiden. Die das Gleichgewicht finden zwischen Vertrauens- und Misstrauenssphären. Die sich wehren gegen Grenzüberschreitungen und Gesinnungskitsch, gegen die Ideologie des Echten und Aufrichtigen. Und die wieder für Grenzen und Respekt streiten, für Individualität und Differenz, Zurückhaltung und Höflichkeit. Die nicht den Sirenengesängen der erhitzten Moralisierer, Weltverbesserer und Endzeitgestimmten folgen. Kraft durch Zurückhaltung – darum soll es gehen.

Die Welt der Wirtschaft wird sich in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach extrem schnell verändern. Insbesondere die digitale Wertschöpfung wird explodieren und die Unternehmen, die Geschäftsmodelle, ja die gesamte Konzeption von Arbeit herausfordern. Wer dabeisein will, muss anfangen. Schnell damit anfangen. Man kann aber nicht anfangen, wenn man nicht mit etwas aufhört. Man muss entrümpeln, wegschaffen, abschaffen. Aber um aufzuhören, muss man hören. Dafür habe ich dieses Buch geschrieben. Für jene, die Würde nicht nur im Konjunktiv kennen.

TEIL I

RICHTIG UND FALSCH. WAS IST ETHIK?

Ethik reflektiert die Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Sie diskutiert, wie wir leben sollen, was wir tun sollen und was wir besser sein lassen. Sie erhebt dabei den Anspruch, gute Gründe anzugeben, die vernünftige Menschen überzeugen – unabhängig davon, in welcher Kultur sie aufgewachsen sind, wo sie leben und welchen Werten sie sich verpflichtet fühlen. Die Gruppe von Menschen, die in dem berühmten Modell des Amerikaners John Rawls zusammensitzt und hinter dem »Schleier des Nichtwissens« ganz allgemein über Regeln des Zusammenlebens diskutiert, die führt eine ethische Diskussion. Wenn aber der Schleier gefallen ist und entschieden wurde, welche Regeln denn nun für diese Gruppe gelten sollen, dann haben wir eine neue Qualität.

Das ist die Bruchstelle zur Moral. Moral fasst die konkreten Institutionen, Werthaltungen und Sittlichkeitsvorstellungen eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Gemeinschaft zusammen. Sie ist das, was »gilt«. Tradition, Kultur und Religion sind hier prägend. Moral definiert also einen Ausschnitt der Ethik, auf den sich Menschen geeinigt haben. Ethik diskutiert Wertkonflikte und Dilemmata und wird – wenn entschieden wurde – zur Moral.

Moral ist mithin immer Gruppenmoral – ein Mensch alleine braucht keine Moral. Moral schließt aus und ein – sie diskriminiert, würden wir heute sagen. Jede moralische Position, und sei sie Ihnen noch so sympathisch, erhebt sich über den anderen. Moral sagt: Ich habe mehr Recht dazuzugehören als du!

Die oft gestellte Frage »Welche Ethik taugt für die Wirtschaft?« ist also falsch; die Frage gilt der Moral, nicht der Ethik. Wenn ich im weiteren Verlauf das anständige Unternehmen skizziere, dann handelt es sich um eine moralische Position – obwohl Sie sie vielleicht für unmoralisch halten.

Es gibt verschiedene Denktraditionen in der Ethik. Die Naturrechtsethik geht davon aus, dass jedes Handeln (und auch jede Institution) einen durch seine jeweilige Natur festgelegten Zweck erfüllt. Man müsse entsprechend herausfinden, was die »Natur einer Sache« sei. Diese auf Thomas von Aquin zurückgehende Denktradition hat in der katholischen Soziallehre ihre Heimat gefunden. Ihr Problem ist: Oft ist der Zweck einer Sache umstritten. Zum Beispiel: Ist das Unternehmen für die Kunden da? Oder für die Eigentümer? Oder gar für die »Systemrelevanz«?

Die konsensorientierte Ethik glaubt nicht an ein Naturrecht. Sie glaubt vielmehr an die Vernunft und die Einsicht der Menschen. Was in einer fairen Diskussion aller Beteiligten von der überwiegenden Mehrheit akzeptiert wird, das gilt ihr als ethisch legitim. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas und John Rawls vertreten prominent diese Position.

Die Kantische Ethik stellt die Absicht der Handelnden in den Vordergrund. Man könne nicht verantwortlich sein für eine Aktion, die vielleicht schlechte Folgen habe, aber gut gemeint sei. Dafür gebe es zu viele Unwägbarkeiten. Diese Ethik verlangt von Ihnen, etwa einen Mitarbeiter genau so zu behandeln, wie Sie selbst behandelt werden möchten. Unabhängig davon, ob das dem Mitarbeiter gefällt oder nützt – es geht nur um Ihre Absicht. Mehr noch, dass Sie wünschen können, dass grundsätzlich alle Menschen so behandelt werden. Also: Haben Sie die Absicht, den anderen anständig zu behandeln? Wollen Sie Ihrem Mitarbeiter respektvoll begegnen? Ob der Mitarbeiter das dann auch als anständig erlebt, so Kants Argument, haben Sie ja nicht im Griff. Wenn er böswillig ist, wird er niemals Ihre Handlung als anständig anerkennen. Und das kennen Sie ja aus der Praxis: Manchen Menschen kann man das Paradies auf den Bauch binden – wenn sie nicht bereit sind, es zu sehen, hat das Jammern kein Ende.

Als die Kantische Ethik in frühen Studienjahren erstmals an mich herangetragen wurde, war ich bereit, ihr zuzustimmen, sie zumindest für zustimmungsfähig zu halten. Man kann doch die Folgen einer Handlung nicht vollumfänglich voraussehen, wohl aber die beste Absicht haben! Doch bald kamen mir Zweifel. Reicht ein »gutes Gewissen« aus, obwohl man die Situation nicht verbessert hat? Ist die »reine Weste« das entscheidende Maß? Was, wenn jemand die alte Dame über die Straße führt, die Ampel aber Rot zeigt? Was, wenn jemand helfen und Gutes tun will, aber das gerade Gegenteil erzeugt? Was, wenn es jemandem egal ist, wie sein Verhalten wahrgenommen wird – Hauptsache »ehrlich«? Was, wenn jemand sich unklar ausdrückt, weil er sich nicht klar ausdrücken kann? Jeder weiß doch: Es ist unmöglich, mit einem Wirrkopf zu diskutieren, der gute Absichten verfolgt. Was, wenn einer es an Klarheit und Konsequenz vermissen lässt, weil es an Mut und Urteilskraft fehlt? Ist der dann nicht – zumindest teilweise – für die Wirkung verantwortlich?

Oft ist ja im Managementalltag das Ziel allgemein anerkannt, der Weg aber umstritten. Dann ist es ein klassischer Kunstgriff, Weg und Ziel zu identifizieren. So, als gäbe es nur einen einzigen Weg. Wer dann diesen Weg oder diese Methode kritisiert, scheint gleichzeitig das von allen angestrebte Ziel zurückzuweisen. Wer will sich schon vorwerfen lassen, er sei gegen Umsatzsteigerung, Profitabilität, Offenheit, Ehrlichkeit, Transparenz, Empathie, »gute« Führung und faire Beurteilungen? Dann sitzt man mit seiner guten Absicht in Tugendhaft.

Noch einmal gefragt: Bringt uns Herzensgymnastik weiter? Kann es uns egal sein, was unser Handeln bewirkt? Nein, kann es nicht. Nicht, wenn wir dem Kriterium des Anstands genügen wollen. Dann müssen wir wenigstens Wahrscheinlichkeiten kalkulieren. Allerdings dürfen wir – insofern ist Kant zuzustimmen – nicht die Absicht haben, den anderen zu verletzen oder zu entwürdigen.

Der Kantische Mensch der guten Absichten hat eine große Nähe zum Gesinnungsethiker, wie ihn Max Weber beschrieben hat. Der Gesinnungsethiker will seine Grundsätze durchsetzen, koste es, was es wolle (Robert Redford in Brubaker). Ein reines Nützlichkeitsdenken ist ihm fremd. Für ihn ist die Geltung einer Norm das Wichtigste – auch wenn sie sich nicht durchsetzen lässt. Sie hat unbedingte Priorität und darf nicht mit anderen vorteilhaften Handlungsfolgen verrechnet werden. Hier ist man ein guter Mensch, wenn man das Gute will.

Auf der anderen Seite des von Weber eingeführten Gegensatzpaares steht der Verantwortungsethiker, der eher auf die Folgen von Entscheidungen schaut, weniger auf die Absicht. Er wägt ab, lotet mögliche Konsequenzen aus, rechnet sie gegeneinander auf, schaut auf Angemessenheit in bestimmten Situationen (Marco Hofschneider in Hitlerjunge Salomon). Er bevorzugt mit den Philosophen William James und Richard Rorty eine Haltung des »Und«: Etwas gilt – »und« etwas anderes ist ebenfalls zu berücksichtigen. Er akzeptiert mangels besserer Alternativen auch schmutzige, aber lebbare Lösungen, selbst wenn sie seinen Idealen nicht entsprechen. Aber er geht nicht so weit, dass ihm jedes Mittel recht ist, dass der gute Zweck die bösen Mittel heiligt. Da unterscheidet er zum Beispiel zwischen (abzulehnenden) kurzfristigen Erfolgen und (wünschbaren) langfristigen Wirkungen. Nur die Extreme sind unbedingt zu meiden – zum Beispiel Grausamkeit, Folter, Krieg. Man kann bekanntlich jedes Argument zu Fall bringen, wenn man es ins Extreme treibt. Doch schon bei der »Erniedrigung« von Menschen gehen auch die Meinungen der Verantwortungsethiker auseinander: Einige halten seelische Grausamkeit für lässlich, weil mental zu verkraften; nur die körperliche Grausamkeit sei direkt und nicht zu bewältigen.

Wichtig ist: Der Verantwortungsethiker (oft auch als »Utilitarist« bezeichnet) missioniert nicht, er behauptet keine absoluten Ansprüche. Er weiß um die Relativität der Werte. Der Verantwortungsethiker ist ein guter Mensch, wenn er das Gute tut, wenn das Gute tatsächlich eintritt. Er hält es mit Erich Kästner: »Es gibt nicht Gutes. Außer man tut es.« Hingegen handelt er in seinem Sinne falsch, wenn die beabsichtigten Folgen verfehlt werden. Für ihn reicht es nicht, sich gegen Kinderarbeit auszusprechen, wenn letztlich nichts versucht wird, an den Lebensbedingungen der Familien in Drittweltländern etwas zu ändern.

Im sozialen Kontext ist es dann das Erleben des Handlungsempfängers, das wirklich zählt. Dann ist entscheidend, wie eine Handlung auf diejenigen wirkt, die ihre Auswirkungen unmittelbar erleben: »Perception is reality«. Und als Konsequenzialist interessiert er sich nicht für »gut gemeint«. Ihm ist es auch egal, wenn etwas »Teil von jener Kraft (ist), die stets das Böse will«, wenn es denn »das Gute schafft«. Adam Smiths »unsichtbare Hand« des Marktes gehört hierher, die aus dem Eigennutz der Einzelnen die Wohlfahrt aller entstehen lässt. Und auch das unternehmenskulturelle »ROWE«-Konzept ist hier zu verorten: das Results only work environment. Es geht um Resultate; wie und wo sie erzielt werden, ist unerheblich.

Für das anständige Unternehmen vertrete ich diese pragmatisch-konsequenzialistische Ethik. Institutionen will ich nicht von ihren (meist guten) Absichten aus beurteilen, sondern von den Folgen. Und die Folgen sollten die Situation verbessern – zumindest nicht verschlechtern. Deshalb frage ich nach dem Nutzen, nach den Konsequenzen. Eine Institution ist dann ethisch vertretbar, wenn sie tatsächlich erfolgreich ist, und nicht immer nur behauptet wird, dass sie erfolgreich ist.

Viele Institutionen im Unternehmen klingen gut, haben sympathische Ziele, schmücken sich mit den besten Absichten. Wenn man dann fragt, ob sie ihren Nutzen auch nachweisen können, sind die Antworten oft dünn. Es gilt Gottfried Benns berühmter Satz: »Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint.« Um die Berechtigung der Führungsinstrumente zu beurteilen, müssen wir ihre Wirksamkeit anschauen, nicht ihre Absicht. Dabei meine ich nicht einmal, dass sich ihr Nutzen messen lassen muss. Er muss allerdings spürbar, plausibel sein – und er muss sich rechtfertigen lassen gegen andere Argumente (zum Beispiel hohe Bürokratiekosten). Zudem ist oft völlig unklar, welcher und wessen Nutzen eigentlich gesteigert werden soll. Die Befürworter von Institutionen haben meist selbst den größten Nutzen davon, dass diese bestehen bleiben. Moralisiert wird nur, wo es etwas zu erbeuten gibt.

Diese konsequenzialistische Sicht fordert daher auch, diese Spät- und Nebenwirkungen einer Institution – so sie erkennbar sind – zu erwägen und zu beurteilen. Die können bekanntlich den beabsichtigten Hauptwirkungen zuwiderlaufen oder sie gar vollständig aufheben. Ja, Absichten bewirken oft das Gegenteil, sobald sie ausgeführt sind. So gehört zum Beispiel »Gleichheit« zu jenen rekrutierstarken Ideologien, die, wenn sie direkt angestrebt wird, zu paradoxen Effekten führt: Es wird alles nur noch ungleicher. Das gilt vor allem, wie wir noch sehen werden, für die drei Hauptfeinde des Anstands: die Vorsorge, die Transparenz, das Echte.

Ich will zumindest die Kollateralschäden kennen. Wenn eine Neuerung eingeführt wird: Was wird geschwächt? Wer ist der Verlierer? Wir sind ja umstellt von einer Epinatur von Handlungsfolgen, die die angestrebten Effekte zum Teil völlig konterkarieren. Was ist der maximale Erfolg des Autos? Der Stau. Zugegeben, nicht alle Spätwirkungen sind vorhersehbar. Aber die, die wissbar sind, sollte man mitberücksichtigen. In Kenntnis der Spät- und Nebenwirkungen kann man dann eine Entscheidung treffen, die vielleicht nicht ideal ist, aber doch pragmatisch. Jedenfalls darf die Therapie nicht schlimmer sein als die Krankheit.

In meinem Urteil über die Gegenstände, an denen ich Prinzipien des Anstands illustriere, bin ich zunächst streng subjektiv, von meinen Wertmaßstäben und praxisgestützten Überzeugungen aus gesehen. Ich halte das für einen Vorzug. Dies umso mehr, als die meisten Wirtschaftsethiker niemals ein Unternehmen von innen gesehen haben. Aber dann ziehe ich Freunde hinzu, Bekannte, bis hin zum zufällig Anwesenden oder irgendeinem beliebigen Beobachter. Kommt er zu dem gleichen Urteil, so kann dieses Urteil den Anspruch eines »unparteilichen« Beobachters erheben. Dann sind alle Handlungen geboten, die aus dieser unparteilichen Urteilsperspektive gebilligt werden können. Das heißt aber auch, dass ich das Urteil parteilicher Beobachter ignoriere: zum Beispiel von Personalern, die an ihren Spielzeugen festhalten wollen, oder von Beratern, die diese Spielzeuge verkaufen, oder von schwachen Führungskräften, die bürokratische Führungsprothesen brauchen, oder von anderen gewohnheitsmäßig Verformten, die dem »naturalistischen Fehlschluss« obliegen: Etwas ist richtig, weil man es macht, weil es alle so machen und weil es alle schon immer so gemacht haben. Denn haben wir uns einmal daran gewöhnt, das zu erhalten, was diese Institutionen liefern, glauben wir auch bald, nicht ohne auskommen zu können.