Handlung und Personen sowie Schauplätze des vorliegenden
Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder
toten Personen oder tatsächlich existenten Schauplätzen
sind vom Autor nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
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Überarbeitete Auflage.
Erstauflage: 1980 im Omnibus Verlag, Wien
© 2021 Hans K. Stöckl
Cover: Hans K. Stöckl
Layout: Xantha Mediendesign & Fotografie| Sandra Fossalovara
Herstellung und Verlag:
BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-753-41181-1
www.bod.de
I came by myself to a very crowded place
I was looking for someone
Who had lines in her face ...
(Leonard Cohen)
Dagmar überlegte, ob wohl alle Friedhöfe in den Großstädten so aussähen wie der Wiener Zentralfriedhof.
Als sie in den Weg einbog, der zur Aufbahrungshalle führt, erblickte sie vor dem Eingang des Gebäudes eine Gruppe Wartender.
Sie kannte sie alle.
Sie pflegten fast jeden Abend in demselben rauchigen Kaffeehaus zusammenzusitzen.
Morgen würden sie um eine weniger sein.
Dagmar versuchte, sich das Gesicht Lenas in Erinnerung zu rufen.
Während sie auf die Gruppe schwarz gekleideter Menschen zuging, sah sie in Gedanken noch eine andere Gestalt.
Mollig. Nicht sehr groß. Und blond. Das Haar gefärbt.
Aber so sehr sie es auch versuchte und sich darauf konzentrierte, den Rahmen aus blondem Haar wollte kein Gesicht ausfüllen.
»Oval«, schoss es ihr durch den Kopf, und die dritte Seite ihres Reisepasses blitzte kurz in ihrem Gedächtnis auf.
»Besondere Kennzeichen: Keine.«
Ein kleiner Ministrant rannte um die Ecke und versuchte, ein Eichhörnchen zu erhaschen. Es hatte sich aber an der anderen Seite des Baumes festgekrallt, und der Knabe konnte es nicht sehen. Er blieb noch eine Weile gespannt vor dem Baum stehen und trollte sich schließlich wieder.
Dagmar war inzwischen bis auf wenige Schritte herangekommen, und die Aufmerksamkeit der Leute konzentrierte sich auf sie.
Sie versuchte, sie alle zu grüßen, indem sie eine Bewegung mit der Hand ausführte, musste aber feststellen, dass diese Geste nicht verstanden wurde.
Sie sagte: »Grüß euch...«
Sie nickten und nahmen sie in ihren Kreis auf.
Dagmar wollte eine Zigarette rauchen, ließ es aber sein und verschränkte die Arme, und die Handtasche baumelte vor ihrem Bauch herunter.
Der Zeremonienmeister ging gebeugt und zerknittert vorbei und vermied es, die Trauergäste anzusehen.
»Wie eine Maus«, dachte Dagmar. Dabei fiel ihr die kleine weiße Maus ein, die ihr Bruder einmal nach Hause gebracht hatte und über die ihre Mutter so entsetzt gewesen war. Und dass es schließlich die Mutter gewesen war, die das Tier, als es verendete, in eine Holzschatulle bettete und im Garten begrub.
Ihr Bruder hatte sehr geweint. Sie nicht, sie besaß zu dieser Zeit bereits einen Goldhamster.
Lena hatte zu Tieren keine besondere Beziehung gehabt.
Dagmar erinnerte sich noch an Lenas Bemerkung, als sie einmal ihren Kater Wenzel mitgebracht hatte: »Kannst ihn nicht draußen lassen, der zerkratzt mir den ganzen Teppich.«
Dann hatten sie Pizza gegessen.
Lena hatte eine Vorliebe für italienische Speisen. Und eigentlich für alles, was mit Italien zusammenhing.
Sie schwärmte auch andauernd von Venedig und von den Italienern im allgemeinen. Natürlich fuhr sie einen Fiat 128.
Dagmar wunderte sich, dass in dem Rahmen aus blondem Haar noch immer kein Gesicht erscheinen wollte.
Gedämpfte Stimmen umgaben ihre Gedanken.
»Heiß is’s...« sagte eine der Stimmen.
In der Tat fühlte Dagmar Feuchtigkeit in ihren Achselhöhlen.
Die Stimme gehörte einem schlanken, jungen Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug mit feinem Nadelstreif.
Sein Haar war nach hinten gebürstet und ringelte sich ölig über dem blütenweißen Hemdkragen im Nacken.
Ein kleines, schmales Bärtchen klebte wie gemalt auf seiner Oberlippe. Auf dem Zeigefinger der rechten Hand prunkte ein riesiger Siegelring mit einem quadratischen, schwarzen Stein.
Wenn der Mann die Arme hob, konnte man an seinen Manschetten große, goldene Manschettenknöpfe sehen.
Er hieß Peter Vachalovsky.
Die versammelten Trauergäste nannten ihn jedoch »Burli«.
Auch die alte Dame, die soeben aus einem Taxi stieg, nannte ihn so. Allerdings tat sie es stets mit einer gewissen Ironie.
Nein, eigentlich war es mehr eine Art von Geringschätzung, mit der sie ihm begegnete.
Das kam daher, dass sie Peter Vachalovsky im stillen immer mit ihrem verstorbenen Mann verglich, und da schnitt Burli denkbar schlecht ab. Die alte Dame hatte keine Ahnung davon, dass der junge Mann, der immer wieder davon gesprochen hatte, ihr Schwiegersohn werden zu wollen, nichts weiter war als ein schmieriger, kleiner Möchtegern-Ganove. Sie hielt ihn für einen Reisenden in Sachen Elektrogeräte, wie er ihr erzählt hatte.
Von ihrer Tochter wusste sie, dass sie in einem Nachtcafé als Serviererin gearbeitet hatte.
Niemand hatte ihr jemals diesbezüglich die Wahrheit gesagt. Eine solche Wahrheit wäre ein schwerer Schock für die alte Dame gewesen.
Sie war in einer Welt geboren, aufgewachsen und erzogen worden, in der das Prinzip »arm, aber sauber« ein heiliges Gebot bedeutete. Wer es brach, war unweigerlich »schmutzig«.
In ihrer Gegenwart hätte niemand gewagt, einen vulgären Witz zu erzählen oder Zigarettenasche auf den Teppich zu streuen.
Die Sauberkeit, die in der kleinen Welt der alten Dame herrschte, wurde von jedermann, der in diese Welt eintrat, stillschweigend akzeptiert, und niemand verlor darüber auch nur ein Wort, weil die alte Dame ein Musterbeispiel für eine Verhaltensnorm war, von der die meisten Menschen in diesem Land noch immer beeinflusst sind.
So war es auch zu verstehen, dass sie mit dem Umgang ihrer Tochter des öfteren nicht einverstanden war und heftige Kritik an dem einen oder anderen Besucher geübt hatte.
Selbstverständlich niemals in dessen Gegenwart.
Mutter und Tochter hatten sich von dem Zeitpunkt an, da der Vater nicht mehr sein Regiment ausübte, stillschweigend beobachtet und umkreist wie zwei Katzen, die einander noch nicht kennen. Beide ahnten, dass es eine immer höher werdende Mauer zwischen ihnen gab, an der sie selbst, ohne es zu wissen, am fleißigsten bauten. Es war natürlich nicht zuletzt ein Generationsproblem, aber das war es nicht allein.
Man konnte auch nicht sagen, dass die elterliche Umwelt mit ihren Vorurteilen und mitunter unnatürlichen Benimmgesetzen die größte Schuld an der Abkehr der Tochter von der Mutter gehabt hätte. Diese Faktoren bildeten lediglich den oberflächlichen Hintergrund für den ideologischen Exodus der Tochter, der einige Jahre nach Vaters Tod auch zum leiblichen Exodus geworden war.
An dem Lebenswandel der Tochter, der schließlich all die folgenschweren Ereignisse ausgelöst hatte, trug aber weder die alte Frau noch deren Weltanschauung irgendwelche Schuld.
Sie geleiteten die alte Dame soeben in das Innere des Gebäudes, wo vor einem schwarzen Samtvorhang, der die ganze hintere Wand von der Decke bis zum Fußboden und von der linken Seitenwand bis zur rechten Seitenwand bedeckte, in einer Glasvitrine der Sarg stand.
Ein nahezu unübersehbarer Haufen von Kränzen und Blumenbuketts umgab die Vitrine, und in kurzen Zeitabständen wurden immer neue »Letzte Grüße« hereingebracht. Der schwarz gekleidete Mann mit dem federgeschmückten Zweispitz auf dem Kopf hatte es längst aufgegeben, die Kränze in eine gewisse Ordnung zu bringen.
Unter dem Schleier der alten Dame konnte man, immer wenn einer der großen und sicher sündteuren Kränze niedergelegt wurde, ein krampfartiges Zucken der Gesichtsmuskeln beobachten.
Jemand hatte ihr ein Taschentuch mit schwarzem Rand in die Hand gedrückt, aber sie benutzte es nicht.
Irgend etwas hinderte sie daran, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie hatte inzwischen auf einem der bereitstehenden Stühle Platz genommen. Rechts neben dem Sarg.
Langsam begann sich der Raum mit Trauergästen zu füllen.
Auch Dagmar war eingetreten und hatte einen flüchtigen Blick auf den hellbraunen Eichensarg geworfen.
Sie vermied es, länger hinzusehen.
Der Gedanke, dass dort in der unpersönlichen, maßlos fremden Kiste ein Mensch, oder was von ihm übrig war, liegen sollte, war ihr einigermaßen unangenehm.
Der Raum strahlte eine pflichtgemäße Kühle aus, und Dagmar wunderte sich, dass sie dennoch schwitzte.
Ein Mann trat auf die alte Dame zu, streckte ihr die Hand hin und murmelte: »Beileid...«
Sie ergriff mechanisch die Hand, und es war ziemlich sicher, dass sie den Mann gar nicht kannte.
Er war groß und massig und wirkte so, als hatte er keinen Hals. Dagmar dachte, dass ihr dieses Detail zum ersten Mal an ihm auffiel. Der Mann hieß Franz und noch etwas, was aber keiner wusste, und besaß ein Kaffeehaus nahe dem Westbahnhof.
In gewissen Kreisen war er bekannt dafür, dass er oft Waren einkaufte, deren Besitzer gar nicht wussten, dass die Waren verkauft werden sollten. Die Polizei interessierte sich seit langem für ihn, konnte ihm aber niemals auch nur das Geringste nachweisen, was zu einer Art Hassliebe zwischen der Polizei und dem Herrn Franz geführt hatte. Er pflegte in seinem Lokal die »Herren vom Kommissariat« freundlich zu bewirten, rechnete jedoch peinlich genau mit ihnen ab und gab ihnen, wie gesagt, auch sonst niemals einen Anhaltspunkt.
Verschiedentlich wurde sogar geflüstert, er hätte im Kommissariat einen wohlmeinenden Gönner sitzen, was aber sicher nicht den Tatsachen entsprach.
Natürlich gab es ein Hinterzimmer in dem Lokal.
Dort wurde gelegentlich auch um Einsätze gespielt, die dem gesetzlichen Limit ob ihrer Höhe Hohn sprachen. Aber der Herr Franz beherrschte die Kunst der Verschleierung wie kaum ein zweiter, und so blieben auch seine Gäste zumeist ungeschoren, was sie ihm wiederum durch ihre Treue honorierten.
Auch Dagmar war gewissermaßen in der Schuld des Herrn Franz.
Als sie seinerzeit als junges Küken in dem Lokal aufgetaucht war und von allen anderen, alteingesessenen »Damen« zuerst neugierig beschnuppert, dann hinterlistig und zuweilen brutal behandelt wurde, war es der Herr Franz gewesen, der ihr »die Mauer« gemacht hatte.
Sie wusste, dass er es nicht aus Nächstenliebe getan hatte, verdankte ihm aber trotzdem eine Anerkennung durch die Kolleginnen, die sich andere oft erst nach Jahren erwerben können.
Mit dem sicheren »Riecher« des alten Hasen hatte er erkannt, dass ihm hier ein gutes Zugpferd in den Stall getrabt kam.
Dagmar hatte sich bemüht, ihn nicht zu enttäuschen.
Besonders in der ersten Zeit ihrer »Karriere« war es ihr gelungen, dem Herrn Franz fette Zechen zukommen zu lassen.
Dabei kam ihr zugute, dass sie gerne einen Campari trank und sich nicht, wie viele andere, überwinden musste, oder vielleicht einen Schwips bekam. Sie bekam einfach keinen.
Keine auf dem ganzen Strich konnte so viel vertragen wie Dagmar. Aber es war ihr nicht bewusst, und es fiel ihr nicht ein, damit etwa zu protzen.
Es genügte ihr, dass sie auch in kalten Winternächten oft länger als zwei Stunden bei einem Tee mit Rum im Lokal sitzen konnte, ohne dass der Herr Franz »etwas sagte«. Er wusste genau, dass er seine Spesen vielfach wieder hereinbekam.
Sie erinnerte sich der Silvesterfeier vor zwei Jahren, als allein an dem Tisch, an dem sie saß, vierundzwanzig Flaschen Sekt bestellt, getrunken und auch bezahlt worden waren.
Der Herr Franz hatte sich in seiner schlauen Art natürlich revanchiert. Er hatte ihr zwei Flaschen Campari, fein säuberlich eingepackt, mit nach Hause gegeben.
»Das is’ deine Wegzehrung, Dagmar«, hatte er gesagt, und sein rundes Mondgesicht, das irgendwie an Bill Haley erinnerte, hatte gestrahlt.
*
Rechts neben der alten Dame standen noch vier weitere Stühle, auf denen aber niemand saß.
Der Zeremonienmeister ging mit leiser, in Trauer geübter Stimme daran, die Trauergäste rangmäßig zu ordnen.
Er verfuhr dabei ähnlich wie ein Blumenbinder. Wer ihm groß und wichtig erschien – und sicher mit dem Trinkgeld nicht sparen würde –, durfte in der Nähe der alten Dame Aufstellung nehmen. Wer ihm unbedeutend vorkam oder gar nach Kapitalschwäche aussah, der musste ganz nach hinten.
Vier honorig wirken wollende Herren in schwarzen Anzügen, die aber an manchen Stellen schon Glanzstellen aufwiesen, hatten sich neben dem im linken Hintergrund stehenden Harmonium aufgebaut und warteten auf ihren Auftritt. Sie schienen ihre Aufgabe sehr ernst zu nehmen, denn sie tuschelten unentwegt, wobei die Zischlaute des mittleren Herrn jedes Mal mit einem im Gegenlicht aufglänzenden Sprühregen entwichen.
Ein mittelgroßer, schlanker Mann von etwa fünfunddreißig Jahren kam herein. An der Hand führte er ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid und weißen Strümpfen.
Aller Augen ruckten in die Richtung der beiden.
Dagmar starrte gebannt auf den Mann mit dem Kind.
Dass er es wagte...!
Dann brach ein Raunen los.
Füße scharrten auf dem Marmorboden. Der Zeremonienmeister lief aufgeregt hin und her, versuchte, etwas zu unternehmen, musste aber vor der Mauer von plötzlich böse und gefährlich wirkenden Gesichtern kapitulieren.
Dagmar vernahm deutlich die Worte: »Das darf nicht wahr sein... Is’ der deppert?... Geh, fang doch wegen dem Kerl keinen Wickel an!«
Dagmar schloss sich im stillen dem Redner an, musste jedoch feststellen, dass die Situation ernster war, als sie zuerst geglaubt hatte.
Der junge Mann hatte den Arm um das kleine Mädchen gelegt, das nun still vor sich hin weinte.
Die Menge reckte zuerst die Hälse und drängte dann nach.
Die zwei standen jetzt dicht vor dem Mann und dem kleinen Mädchen. Peter Vachalovsky, genannt Burli, war einer von ihnen.
Das Mädchen starrte die Männer mit weit aufgerissenen Augen aus denen jetzt keine Tränen mehr flossen, an.
Die Menschen standen so dicht gedrängt, dass die alte Dame, die immer noch stumm auf ihrem Stuhl saß, nicht sehen konnte, was sich hinter dieser Mauer abspielte.
Der kleinere der beiden Rädelsführer, er schien eine Art Respektsperson zu sein, trat noch einen Schritt vor. Sein Gesicht und das des jungen Mannes waren nur noch eine Handbreit voneinander entfernt.
»Hör zu«, begann er leise, »du weißt genau, was ich vor einem halben Jahr gesagt hab’! ›Komm mir nie wieder unter die Augen‹, hab’ ich gesagt, damals. ›Sonst bist hin‹, hab’ ich gesagt.«
»Mir ist vollkommen egal, was du vor einem halben Jahr gesagt hast!« sagte der junge Mann, und seine Stimme zitterte vor Erregung. Er wollte den Kontrahenten beiseite schieben, die Menge rückte einen Schritt vor.
»Lass mich durch!«
»Mama!« Das kleine Mädchen begann wieder zu weinen.
»Nein, wir gehen jetzt hinaus miteinander.«
Diese Aufforderung war unmissverständlich, wiewohl auf einem Friedhof äußerst ungewöhnlich.
»Sei doch um Gottes willen nicht so blöd und lass mich durch!«
»Wir gehen hinaus, hab’ ich gesagt!«
»Du kannst mich gern haben!«
Er versuchte es mit einer Kraftanstrengung.
Vier harte Männerfäuste griffen nach ihm, und eben wollten sie ihn gewaltsam ins Freie befördern, als zwei Herren aus einer Nische hervortraten, wo sie bis jetzt niemand gesehen hatte.
»Brandejsky, lassen S’ den Herrn aus, sonst muss i’ einschreiten!« sagte der eine der beiden Kriminalbeamten. »Auslassen, hab’ ich gesagt! Also, lassen S’ schon aus, kruzifix!«
»Das hätt’ ich mir ja denken können, dass ihr auch da seid«, murrte der mit Brandejsky angesprochene. »Hat man von euch net einmal auf’m Friedhof Ruhe?«
Es klang abfällig und respektlos.
»Dann benehmen S’ Ihnen anständig, und kein Mensch wird Ihnen was tun!« sagte der Beamte kalt.
Der junge Mann mit dem Kind zupfte sein Sakko zurecht.
Er schob das kleine Mädchen vor sich her und blieb schließlich an der linken Seite der Glasvitrine neben den vier inzwischen nicht mehr tuschelnden Herren stehen.
Dagmar atmete auf.
Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie das Einschreiten der Polizei begrüßte.
Brandejsky war kein Mann, der nur drohte. Sie nannten ihn deshalb auch »Komantsche«.
In der Tat hieß es in seinen Urteilsbegründungen immer wieder, er hätte mit besonderer Grausamkeit gehandelt. Es war auch ein Richter, der ihn zum ersten Mal einen Komantschen genannt hatte, als die Anklageschrift im »Fall Jutta Rabl« verlesen worden war.
Die Jutta war eines von Brandejskys Pferden gewesen.
Eines Tages hatte sie nicht mehr gewollt und war im Café gesessen, um sich zu besaufen, anstatt brav vor dem Lokal auf Kundenfang zu gehen.
Brandejsky war auf seiner Kontrollrunde vorbeigekommen, hatte Jutta einfach wortlos unter den Achseln ergriffen, sie hochgestemmt, und dann hatte er vor den Augen der entsetzten Gäste begonnen, sie zu schlagen.
Systematisch und scheinbar vollkommen kalt hatte er so lange auf ihr Gesicht eingeschlagen, bis die Wangen aufgeplatzt waren. Blutüberströmt war Jutta zusammengebrochen. Brandejsky hatte dann einen Zuckerstreuer vom Tisch genommen und Zucker in die Wunden gestreut, bis eine dicke weiße Schicht die blutenden Stellen bedeckt hatte.
An dieser Stelle der Anklageschrift hatte der Richter ausgerufen: »Sie sind ja kein Mensch, sie sind ja ein Komantsche!«
Seither nannten sie ihn nur noch »Komantsche«.
Auch Jutta hatte nun einen Spitznamen: »Frankenstein«.
Nicht sehr pietätvoll, aber treffend, denn die Narben in ihrem Gesicht waren durch den Zucker natürlich nie richtig verheilt.
Dagmar hatte damals lange nichts von ihr gehört, sie blieb verschwunden.
Dann machte Dagmar auf einem Gschnasfest die Bekanntschaft eines Polizisten.
Er erzählte ihr in Unkenntnis ihres Berufes einige »Schwänke«, wie er es nannte, aus seinem Polizistendasein.
Eigentlich war er Angehöriger der Donau-Strom-Polizei.
Als solcher hatte er natürlich auch für Ordnung in den Augebieten zu sorgen.
Dabei kamen ihm so manche Kuriositäten zu Gesicht.
Eines Tages, so berichtete er, sei er auf einer routinemäßigen Streife durch die Au auf eine Gruppe Jugoslawen aufmerksam geworden, die dicht gedrängt beisammenstanden und lachten und grölten.
Sie bemerkten ihn erst, als er schon mitten unter ihnen stand. Was er aber hier bemerkte, war mehr als kurios.
Eine Frau stand über einen Baumstumpf gebeugt, die Röcke hochgeschlagen, und es war unschwer zu erraten, was da gerade vor sich ging.
Er forderte sie zur Ausweisleistung auf.
Zuerst die Dame.
Als diese sich umdrehte, sagte der Polizist, sei er entsetzt zurückgeprallt.
»Die hat ausg’schaut wie der Frankenstein...«
Er musste nicht mehr weitersprechen. Dagmar wusste nun, was aus Jutta geworden war.
*
Der Zeremonienmeister fragte: »Wollen Sie die Tote noch einmal sehen?«
Dabei öffnete er die rechte Seitentür der Glasvitrine.
Auf der Oberseite des Sarges war dort, wo der Kopf der Leiche lag, ein kleines Sichtfenster angebracht.
Die alte Dame erhob sich. Zuerst leicht schwankend, dann aber mit festen, sicheren Schritten, jede Stütze abwehrend, ging sie auf den Sarg zu.
Sie blieb davor stehen, schaute in die Runde und blickte ihnen allen trotzig in die Gesichter, bis sie die Köpfe senkten.
Sogar Brandejsky, der Komantsche.
Dagmar wusste nun, dass die Alte es doch schon lange gewusst haben musste.
Aber wie war das möglich?
Dagmar nahm sich vor, es herauszufinden.
Sie würde sie besuchen.
Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass die alte Dame sie mochte.
Die alte Dame beugte sich über das Sichtfenster.
Sie schaute lange und mit weit geöffneten Augen in das Innere des Sarges.
Schließlich hob sie eine Hand, legte sie auf das Fenster und sagte in die atemlose Stille hinein: »Schlaf gut, mein Kind!«
Dann trat sie zurück, machte ein paar Schritte in die Mitte des Raumes, taumelte, drehte sich plötzlich grotesk um die eigene Achse und fiel der Länge nach hin.
Die beiden Kriminalbeamten sprangen herzu, und sie trugen die alte Dame in einen Nebenraum.
»Rufen S’ einen Arzt, Herr...!« sagte der eine der beiden zum Zeremonienmeister, der verdattert dastand und offenbar nicht wusste, was er tun sollte.
Der junge Mann mit dem Kind war den Kriminalbeamten gefolgt und half nun etwas ungeschickt mit, die alte Dame auf einige zusammengeschobene Stühle zu betten.
Er zog sein Sakko aus, rollte es zusammen und schob es unter ihren Kopf.
»Sie hat’s mit dem Herz...« sagte er.
»Sicher hat s’ ihre Tabletten in der Handtasche.«
Er nahm die Handtasche und öffnete sie.
Der eine der beiden Kriminalbeamten griff nach der Tasche. »Geben S’ her!«
Sie blickten einander kurz in die Augen, dann ließ der Polizist von der Tasche ab.
»OK.!« sagte er leise.
Der Zeremonienmeister kam mit einem Glas Wasser.
»Was is’, Grabner, haben S’ die Tabletten?«
»Was die alles in ihrer Taschen hat... Da sind sie, glaub’ ich...«
»Geben S’ her!«
Er reichte dem Beamten die Schachtel.
Der begann den Beipackzettel zu lesen.
Langsam und gewissenhaft.
»Des sind eh die richtigen, ich kenn s’ schon...« sagte Grabner.
»Wer weiß...«
»So geben S’ ihr schon was, das sind die richtigen, sag’ ich.«
Der Beamte las weiter den Beipackzettel.
Die alte Dame röchelte.
An der Tür drängten sich die Trauergäste. Jeder wollte »etwas sehen«.
»Ja, ich glaub’, das sind die richtigen!«
»Sag’ ich ja schon die ganze Zeit, fix noch einmal!«
Der Polizist öffnete das Glasröhrchen und schüttelte zwei flache, weiße Tabletten auf seine Hand.
Er suchte noch einmal auf dem Beipackzettel die Stelle, wo es hieß: »Im Anfall zwei Tabletten unter der Zunge zergehen lassen und mit etwas Wasser schlucken...«
»Blödsinn«, murmelte er. »Wie soll ich denn das machen?«
»Geh’n S’, gar nix, schmeißen S’ die Tabletten doch einfach ins Wasser. Die lösen sich ja im Wasser auch auf. Schlucken wird sie s’ schon.«
»Ja, is’ wahr.«
Es dauerte eine halbe Minute, dann hatten sich die Tabletten vollkommen aufgelöst.
Der junge Mann namens Grabner schob der alten Dame seinen Arm unter den Kopf und richtete sie ein wenig auf.
Dann griff er nach dem Glas in der Hand des Polizisten.
Wieder trafen sich die Blicke der beiden Männer.
Diesmal etwas länger.
Schließlich schien es sogar, als husche ein winziges Lächeln über das Gesicht des Kriminalbeamten.
Dann gab er Grabner das Glas.
Die Lippen der alten Dame zitterten.
»Trink, Mutti...« Es klang unbeholfen.
Sie war keineswegs seine Mutter.
Er pflegte auch auf der Straße wildfremde Frauen ab einem gewissen Alter »Mutti« zu nennen.
Wenn sie zum Beispiel nicht schnell genug vor seinem Auto die Straße überquerten, rief er ihnen durch das offene Fenster etwa zu: »Geh, Mutti, hupf ein bisserl!«
Sie öffnete den Mund, um Luft zu holen.
»Nicht jetzt!« rief der andere Kriminalpolizist. »Sie verschluckt sich sonst!«
Grabner wartete noch einen Augenblick, dann setzte er das Glas an die zitternden Lippen.
Wohl aus Instinkt begann die Alte zu trinken.
Sie machte zwei Schlucke, setzte aus und würgte.
Ihr Gesicht zog sich wieder zusammen wie vorhin, als die vielen Kränze gekommen waren.
»Komm, trink schön!«
»Sie wird schon trinken«, sagte der eine Polizist.
Für einen Moment schlug sie die Augen auf.
Sie schien vollkommen bei sich zu sein.
»Andi... du bist es?«
»Bleib schön ruhig liegen, Mutti, tu dich net aufregen. Komm, trink das aus.«
Sie trank folgsam das gallenbittere Gemisch.
Ihr magerer Brustkorb hob und senkte sich bebend.
Sie rang krampfhaft nach Luft.
Andi Grabner überlegte, ob er ihr die Bluse öffnen sollte, um ihr das Atmen zu erleichtern.
Er blickte zurück und sah eine feindselig gaffende Meute in der Tür stehen.
Da ließ er es sein.
Dagmar drängte sich durch.
Sie kniete neben dem improvisierten Bett nieder und begann behutsam, die Knöpfe der Bluse zu öffnen.
»Da schau, die Samariterin«, hörte sie jemand flüstern.
Die Alte richtete sich etwas auf und versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen.
Es gelang ihr nicht gleich, und sie rutschte wieder zurück.
Sie lächelte schwach und ging erneut daran, sich aufzusetzen.
Diesmal schaffte sie es.
»Es geht schon...«, flüsterte sie matt. »Es geht schon.«
Sie wollte die Beine auf den Boden schwingen.
Andi hielt sie an der Schulter zurück.
»Bleib nur liegen!« sagte er. Seine Stimme klang rau.
»Das geht doch nicht! Die wollen doch anfangen... da drin.« Sie keuchte.
»Die werden eben warten!«
»No’ freilich werd’n s’ warten, Frau Pammer«, sagte der Zeremonienmeister und schaute auf die Uhr.
Dagmar verlangte noch ein Glas Wasser, und als der Zeremonienmeister es ihr reichte, tauchte sie ihr Taschentuch hinein, drückte es einfach über dem Marmorboden aus und legte es der alten Dame auf die Brust.
Der eine der beiden Kriminalbeamten hatte begonnen, mit einer Zeitung, die er in der Innentasche seines Sakkos entnommen hatte, der Alten Luft zuzufächeln.
Das kleine Mädchen zupfte Andi Grabner am Ärmel.
»Du, Papa...!«
»Was is’n?«
»Muss die Oma jetzt auch sterben?«
Alle hatten diese Frage gehört.
»Nein, Leni, die Omi muss noch nicht sterben, ihr is’ nur schlecht!«
Dagmar hätte gelächelt, wenn sie es nicht unpassend gefunden hätte. Die Worte des Kindes amüsierten sie. Sagte doch eine Schulweisheit, dass ein »lieber Gott« eben »lieb« war und nicht böse sein konnte.
»Ich will meine Mama wiederhaben! Ich will meine Mama wiederhaben... ich will... Mama... haben...!«
Das Kind hatte sich schon in hysterisches Schreien hineingesteigert. »Ich will meine Mama wiederhaben!«
Andi Grabner beugte sich hinunter und fasste seine Tochter an den Schultern.
»Komm, Leni, sei schön brav. Die Leute schauen schon. Siehst?«
»Ich will meine Mama...«
»Geh, sei doch ruhig.«
»...wieder haben...«
»Der Onkel wird dich gleich mitnehmen«, er wies mit dem Kinn auf den Zeremonienmeister, »wenn du nicht ruhig bist!«
Ein Arzt erschien plötzlich.
Sie alle hatten das Ankommen des Autos überhört.
Der Arzt grüßte knapp, stellte neben der Patientin seine Tasche auf den Boden, öffnete sie und entnahm ihr einen Blutdruckmesser.
»Haben Sie Krankenkasse?« fragte er.
Die alte Dame nickte kaum merklich.
Der Doktor wickelte den Leinensack des Blutdruckmessers um den Oberarm der Frau. Dagmar hatte den Ärmel hinaufgeschoben.
»Hat s’ das öfter?«
»Naja...«
»Weiß net...«
»Haben S’ das öfter?«
Er pumpte das Gerät auf und setzte das Stethoskop an die Vene.
Dann ließ er die Luft langsam wieder aus.
»Na, ich mein’, so alle vierzehn Tag’, oder wie?«
»Das kann i’ net so sagen... manchmal hab’ i’ ein halbes Jahr auch Ruhe... wenn i’ mich dann aber wieder einmal stark aufregen tu...« Die Stimme versagte ihr, und sie begann endlich zu weinen.
Langsam begannen die Tränen zu fließen.
Sie rannen über das magere Gesicht, und ganz plötzlich hatte Dagmar ein anderes Gesicht vor sich.
Lena.
Der Rahmen aus blondem Haar war ausgefüllt.
Mein Gott, dachte Dagmar, Lenerl...
Für einen Moment kam es ihr grausam absurd vor, dass die Freundin nun tatsächlich tot sein sollte.
Eingeschlossen von sechs Eichenbrettern, starr und wächsern.
In einer Stunde würde sie in einem Erdloch zwei Meter unter dem Boden liegen, und jemand, dem das alles vollkommen egal war, würde trockene Erdklumpen auf sie schaufeln.
Gottverflucht.
Der Arzt zog eine Spritze auf, drückte die überschüssige Luft aus dem Glasröhrchen, und ein dünner Strahl schoß aus der Nadel.
Er wischte ein Stück Haut in der Armbeuge der alten Dame über der Vene mit einem alkoholgetränkten Gazefleckchen sauber und stach die Nadel ein.
Die Alte seufzte.
Dagmar hatte die Augen geschlossen.
Sie konnte bei so etwas nicht zuschauen.
Fast augenblicklich kehrte Farbe in das Gesicht der alten Dame zurück.
»So, bleiben S’ noch ein bisserl liegen, dann geht’s schon. Tun S’ tief durchatmen und lassen S’ die Augen offen!«
Der Arzt erkundigte sich noch nach den Personalien.
Andi Grabner gab sie ihm, und der Arzt verabschiedete sich.
Sie standen noch eine Weile herum, dann meinte die alte Dame, dass sie sich nun wieder besser fühle.
Dagmar und Andi stützten sie, und man kehrte in die Halle zurück.
Dort war inzwischen der Pfarrer mit seinen beiden Ministranten eingetroffen.
Weihrauchgeruch lag in der Luft und der Duft von Tannenreisig.
Die Astern und Rosen auf den Kränzen und Blumenarrangements leuchteten etwas ungebührlich grell in der düsteren Stimmung.
Nachdem sie die alte Daine wieder auf ihren Stuhl gesetzt hatten, bedeutete der Zeremonienmeister mit einem dezenten Blick nach seiner Armbanduhr den vier Herren anzufangen.
Der zweite von links gab den Ton, sie nickten alle vier der Reihe nach, und dann begannen sie zu singen.
Sie hatten die Hände auf dem Rücken verschränkt und betrachteten während des Singens eingehend die Zimmerdecke.
Dort zogen einige Fliegen groteske, abgehackte Bahnen.
Der Text war deutsch, aber Dagmar verstand nur hie und da ein Wort.
Die alte Dame weinte nun ununterbrochen, und dieses Weinen steigerte sich so sehr, dass sie schließlich von Krämpfen geschüttelt wurde und Dagmar schon befürchtete, der Arzt müsse erneut gerufen werden. Doch dann verfiel die Alte in ein stilles Wimmern, und ihr Körper schwang in einem seltsamen Rhythmus hin und her.
Endlich hörten sie zu singen auf.
Der Pfarrer trat an den Sarg heran, stand mit dem Rücken zum Publikum, und murmelte ein Gebet.
Er machte ein Kreuzzeichen und drehte sich dann um.
»Lasset uns beten...«
Es war ein Gebet, das von den Versammelten verschiedene Antworten verlangte.
Niemand kannte aber diese Antworten, und so waren die beiden kleinen Ministranten die Einzigen, die etwas zu dem Pfarrer sagten.
Dagmar hatte den Kopf gesenkt.
Sie schämte sich ein wenig, dass sie kein einziges Gebet mitsprechen konnte.
Dann war das Gebet zu Ende, und der Pfarrer begann mit seiner Rede. Er war sehr dick und wohl auch schon sehr alt, denn seine Hände, die das Buch hielten, zitterten in einem fort.
Er nannte Lena »unsere liebe Dahingegangene« oder »unsere Tochter in Christo«. Ein ander Mal wieder »die teure Verblichene«.
Dagmar ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie oft mit Lena darüber debattiert hatte, dass sie zu billig sei...
Der Pfarrer bat »Den Herrn«, er möge »seiner Tochter« ihre Schuld vergeben und sie zu sich nehmen.
»... und wer frei ist von jeglicher Schuld, sprach Jesus, der werfe den ersten Stein...«
Dagmar blickte unter gesenkten Lidern zu Brandejsky.
Er hatte die Hände über dem Bauch ineinander verflochten und starrte geistesabwesend ins Leere.
Burli, der neben ihm stand, hatte eine Hand in der Hosentasche und fixierte finster Andi Grabner.
Der war blass und vermied es, einen aus der Menge anzusehen.
Er hatte wieder seinen Arm um die Schultern seiner Tochter gelegt. Seine Augen waren leicht gerötet, und Dagmar schien es fast, als schimmere es feucht auf seinen Wangen.
Das konnte aber auch Schweiß sein.
Es war sehr heiß.
Oder war nur ihr so heiß?
Der Pfarrer besprengte die Vitrine und die Blumen mit Weihwasser. Es knisterte leise, wenn ein Tropfen eine der schwarzen Kranzschleifen traf.
Dann sagte der Pfarrer wieder: »Lasset uns beten!«
Und diesmal konnte Dagmar sogar den Text mitsprechen.
»Vater unser, der Du bist in dem Himmel...«
Sie bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, die das Gebet mitmurmelte.
Nur Burli stand wie zuvor, mit den Händen in der Hosentasche da.
»...und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern...«
Sie betonten die letzte Silbe von Schuldigern. Schuldigern. »Und erlöse uns von dem Üblamen...«
»Amen!« sagte der Pfarrer hinterher.
Es hörte sich wie ein Tadel an.
*
Lena Pammer war zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit zweiundzwanzig Jahre alt.
Von Beruf war sie Friseurin.
Sie war schwanger. Noch nicht sehr, aber immerhin.
Das weiße Kleid spannte sich bedrohlich über ihrem seit der letzten Anprobe ziemlich angeschwollenen Bäuchlein.
Lena war ein hübsches, dralles Mädchen aus dem Arbeitermilieu des sechzehnten Bezirks.
Alles an ihr war rund und fest, und ihre Bewegungen wirkten manchmal etwas linkisch.
Sie trug ein Wachsblumendiadem im Haar, von dem ein Tüllschleier, steif von der Stärke, fast waagrecht abstand.
Wie die Mode jener Zeit es gebot, trug sie spitze Schuhe mit hohen »Bleistiftabsätzen«.
Wie so viele Mädchen ihrer Generation konnte auch sie mit diesem Schuhwerk kaum gehen.
Später, als diese Schuhe längst nicht mehr Mode waren, sollte sie es noch lernen, in ihnen zu gehen, lange zu stehen und sogar manchmal mit ihnen im Bett zu liegen.
Aber davon hatte Lena heute, an ihrem großen Tag, keine Ahnung. Sie strahlte, wie alle Bräute strahlen, und hing an ihres Vaters Arm, wie einst, wenn er im Prater versprochen hatte, sie auf der »Hochschaubahn« fahren zu lassen.
Ihr Vater zeigte bereits die ersten Anzeichen seiner Krankheit, gehörte aber jener frühen Generation an, die niemals über etwas klagte, sondern stets die Zähne zusammenbiss, bis ihr Mund zu einem schmalen Strich wurde und die Mundwinkel tiefe Kerben zeigten.
Auf seiner Oberlippe trug er das obligate Bärtchen, welches die Männer in den ersten fünfzig Jahren dieses Jahrhunderts zu tragen pflegten.
Sie nannten es selbst oft »Rotzbremse«.
Seines war schon grau und an den Haarspitzen sogar weiß.
Herr Pammer war gelernter Sattler und hatte bis zu seiner Pensionierung vor drei Jahren in einer Automobilfabrik gearbeitet.
Die Firma hatte ihm zum Abschied eine größere Summe Geldes ausbezahlt, was er für Großzügigkeit hielt.
Es war aber lediglich die ihm zustehende Abfertigung.
Für dieses Geld hatte er die neben seiner Wohnung gelegene Zimmer-Küche-Wohnung dazu gekauft. »Wenn das Mädel einmal heirat’, dass s’ ein Daheim hat...«
Er hatte die beiden Räume selbst ausgemalt und mit frischem Linoleum versehen.
Türen und Fenster hatte er weiß lackiert, weil er wusste, dass es die »jungen Leut’« gern hell und licht haben.
Er selbst war in seinen vier Wänden bei dem althergebrachten Dunkelbraun geblieben.
Er war sehr enttäuscht gewesen, als Lena die Wände in ihrem neuen Heim sofort mit James-Dean- und Elvis-Presley-Fotos bepflastert hatte.
*
Aber nun würde das ja sicher anders werden.
Der junge Mann im dunkelblauen Anzug würde ihr diese Flausen schon austreiben.
Wohl hatte er als Sechzehnjähriger auch jener Bande von mopedbesessenen Lausbuben angehört, die nichts anderes im Sinne hatten als Kino und Rock’n’Roll und am Samstag oft stundenlang rund um den Häuserblock zu rasen mit ihren verdammten Mopeds.
Und Krawall zu schlagen.
Inzwischen war er aber zu einem braven Arbeiter herangewachsen.
Er hatte seine Werkzeugmacherlehre recht gut abgeschlossen und verdiente sein Geld, wie es sich gehörte.
Er war bei der Wiener Straßenbahn angestellt, wodurch seine Zukunft gesichert schien.
Es war Juli, und die Sonne brannte unbarmherzig herab wie sonst nur im August.
Herr Pammer sehnte sich nach einem kühlen Bier und wünschte, die Trauungszeremonie sollte schon vorüber sein.
Er trug selten Krawatten, und so machte ihm der geschlossene Hemdkragen sehr zu schaffen.
Er bewegte sich steif in dem Sonntagsanzug, den er eigentlich nicht ausstehen konnte.
Er war Arbeiter und fühlte sich in seinem blauen Arbeitsanzug wesentlich wohler.
Er hasste nichts mehr als Formalitäten, sagte er.
Und erzählte mit glänzendem Blick oft von vergangenen Tagen als alles so gemütlich und ungezwungen gewesen war.
Lena hatte ihn manchmal gefragt, warum er dann eigentlich trotzdem Anzug und Krawatte anzöge, wenn sie sonntags zum Heurigen fuhren.
Mit der Straßenbahn.
»Na, ich kann doch nicht so gehen...«
Er hatte an sich hinuntergeschaut, auf seine ausgebeulte Schnürlsamthose, die Lena so heimelig fand.
»Wie schaut denn das aus?«
*
Vor dem Haus in der Hasnerstraße warteten die Taxis.
Sie waren mit Papierblumen geschmückt und mit weißen Schleifchen. Die Chauffeure lehnten an den Kühlern und schwatzten miteinander. An einem Samstagmittag war in ihrem Geschäft nicht viel los, und eine Hochzeit war ihnen willkommen.
An den Fenstern der umliegenden Häuser lehnten die schaulustigen, meist älteren Leute und warteten auf die Braut.
Sie wussten alle, dass die Pammer Lenerl heute den Grabner Andi aus der Klausgasse heiraten würde, und wollten wenigstens einen Blick auf dieses junge Glück erhaschen.
Scherzworte flogen von einem Fenster zum anderen, und plötzlich wusste jeder aus dem Publikum nur noch Gutes über die Braut zu sagen.
Da trat sie auch schon aus dem Haus, den Nelkenstrauß fest umklammernd und den Kopf gesenkt.
Die Wangen waren gerötet und glänzten buchstäblich wie Äpfel. Ihr Vater, der sie am Arm führte, blickte ernst und war ganz Würde.
Es konnte auch sein, dass er wieder Schmerzen hatte.
In den letzten Tagen hatte er es seiner Frau gestanden, dass er immer heftiger werdende Schmerzen in der Brust hatte.
Er war in seinen schwarzen Anzug gehüllt, der schon einige Modeperioden überstanden hatte und fast schon wieder modern wirkte.
Für diesen besonderen Anlass hatte sich Herr Pammer sogar eine neue silbergraue Krawatte gekauft, von der er hoffte, dass sie auch jeder sah.
Das Haar hatte er mit viel Wasser und Öl so lange gebürstet, bis es wie eine glatte schwarze Badehaube angepresst war.
Der Scheitel zog sich wie ein weißer Strich durch die glänzende Pracht.
Im Knopfloch des linken Revers trug Herr Pammer ein Myrtensträußchen.
Die Mutter und einige Tanten und Onkel kamen aus dem Haus.
Die Frauen trugen Hüte aus Stroh mit Blumen auf den Krempen. Kleine Hüte, die eng auf den Hinterköpfen saßen.
Ihre Kleider waren aus glänzenden Stoffen mit Blumenmuster.
Einige von ihnen trugen weiße Netzhandschuhe.
Die meisten waren dick und hatten große Hintern, die beim Gehen auf und ab schwankten wie ein Schiff im Sturm.
Sie wirkten wie eineiige Achtlinge.
Wer sie kannte, wusste, dass sogar ihre Gedanken und ihre Weltanschauungen uniformiert waren.
Sie waren Schusters-, Schneiders-, Bäckers-, Schaffners- und so weiter Gattinnen.
Zwei von ihnen waren Schwestern, aber man konnte nicht sagen, welche zwei das waren, so sehr glichen sie den anderen und die anderen ihnen.
Bei den Männern war es etwas anders.
Sie unterschieden sich zumindest äußerlich voneinander.
Es gab einen langen hageren Onkel und einen kleinen dicken, was nur für Leute grotesk wirkte, die allein durch die Tatsache erheitert werden, dass einer dick und der andere dünn ist.
Dann war da noch ein Onkel, der nur ein Bein hatte, er war aber ein sehr entfernter Onkel.
Er durfte nur deshalb an Familienfeiern teilnehmen, weil er mit Herrn Pammer »eingerückt« gewesen war.
Vielleicht auch deshalb, weil er einen Schrebergarten besaß. Den hatte er von der Abfindung gekauft, die ihm für sein im Krieg verlorenes Bein zuerkannt worden war.
Lena hatte eine gewisse Scheu vor diesem Onkel.
Wahrscheinlich war seine Prothese daran schuld, die er bei seinen Besuchen immer im Vorzimmer abschnallte und die dann in der Ecke neben dem Schirmständer lehnte.
Sonst gab es keine männlichen Gäste. Der Krieg hatte nur diese drei übrig gelassen.
Die Verwandten Andi Grabners wollten direkt in die Kirche kommen. Von dort sollte es dann gemeinsam zum »Meier-Wirt« gehen.
Andi selbst war aber bereits zur Wohnung der Pammerischen gekommen, weil er im Taxikonvoi als Erster mitfahren sollte.
Er sah gut aus, wie er da jetzt aus dem Haustor kam in seinem dunkelblauen Anzug, mit dem Sträußchen im Knopfloch und mit der weißen Fliege am Hemdkragen.
Seine Schuhe waren ebenso spitz wie die seiner Braut und glänzten wie die frischgewaschenen Taxis.
Andi fühlte Triumph in sich hochsteigen, als er an den Häuserfassaden entlang schaute.
Sie waren alle da.
Sie lagen in den Fenstern und drohten fast herauszufallen, nur um ihn zu sehen.
Und seine Braut natürlich.
Oft genug waren sie als Kinder vor dem einen oder anderen Zuschauer davongelaufen, wenn sie ihm irgendeinen Streich gespielt hatten und er sie dabei erwischt hatte.
So hatten sie zum Beispiel einmal vor einem der Gasthäuser des »Grätz’ls«1 eine Menütafel »ausgebessert«.
Statt »Leberknödelsuppe« hatten sie »Abwaschwasser« eingesetzt und statt »Schweinsbraten« »Stiefelsohle«.
Sie hatten niemals in dem Gasthaus gegessen, sie hatten überhaupt nie in einem Gasthaus gegessen.
Ihre Eltern fällten jedoch über die »Wirtshauskuchl« im allgemeinen Urteile wie »Abwaschwasser« für Suppe und »Stiefelsohle« für Schweinsbraten.
Damals herrschte die Meinung vor, in den Wirtshäusern würde das Essen mit den letzten Abfällen der Fleischhauer zubereitet.
Suppe wäre sowieso nur gefärbtes Wasser.
Wahrscheinlich stimmte das zu jener Zeit auch noch.
Jedenfalls war ihnen der Wirt bis nach Hause nachgelaufen und hatte ihren Eltern alles erzählt.
Es hatte, wie in solchen Fällen üblich, Schläge gegeben.
Andi Grabner grinste.
Er lächelte ihnen nicht zu, nein, er grinste sie an.
Aber sie merkten es nicht.
Sie nahmen es für ein glückliches Lächeln.
Dann fuhren die Taxis ab.
Andi im ersten, dann folgten die Tanten und Onkel, die sich die rangmäßige Reihenfolge mühsam erstritten hatten, und schließlich im letzten Auto, bald lachend, bald weinend, Lena.
Hochzeiten regten sie immer maßlos auf, und sie heulte bei jeder. Dann erst bei der eigenen.
Neben ihr Herr Pammer, dessen Sehnsucht nach Bier immer stärker wurde.
Er fühlte den Schweiß zwischen den Schulterblättern hinunter rinnen, und seine Hosenträger schnitten in die Haut seiner Schlüsselbeine.
*
Andi Grabner war in der Runde seiner Saufkumpane ein gern gesehener Gast.
Er spielte recht gut Karten.
Das Standardspiel war Schnapsen, und Andi gewann mit schöner Regelmäßigkeit. Verlor er einmal, zeigte er sich als guter Verlierer.
Die Einsätze waren üblicherweise Naturalien.
Da hieß es etwa: »Schnaps’ mir uns ein’ Liter aus« Oder: »’s geht um die nächste Runde.«
Freitag war immer sein Herrenabend.
Da pflegte er von der Remise, in der er arbeitete, zu Fuß in das Stammbeisl zu wandern, wo schon die Kumpane warteten.
Ein Fleischergeselle, ein Pensionist, der früher Friseur gewesen war, und ein Hilfsarbeiter einer Buchdruckerei.
Heute war auch noch Erich, der Taxichauffeur, gekommen.
Der war ein verflucht guter Schnapser, und Andi trachtete immer, mit ihm zusammenzuspielen.
»Grüß euch, Burschen«, sagte Andi.
»Servus, Alter...«
Sie sagten sich untereinander »Alter«, was soviel wie »guter, alter Freund« bedeutete und mit dem tatsächlichen Alter überhaupt nichts zu tun hatte.
»Resi, ein Krügerl, aber kalt!« rief Andi zur Schank hinüber. »Und die Karten!«
»Was gibt’s Neues?« Irgend jemand stellte diese Frage immer. Sie gehörte zum Begrüßungszeremoniell.
»Ist das Alte nichts wert, was soll’s da Neues geben?« sagte der Hilfsarbeiter.
Er sagte immer das gleiche. Der Satz gefiel ihm. Er fand ihn originell.
Die Kellnerin stellte das Bier auf einen Bierdeckel vor Andi hin. Der Schaum rann außen am Glas herunter.
»Wer gibt?« fragte einer.
Andi hatte das kleine, schwarze Täfelchen ergriffen und schrieb mit Kreide die Anfangsbuchstaben ihrer Namen oben hin.
Dann zog er senkrechte Striche zwischen den Buchstaben.
Er mischte die Karten, und es machte ihm Spaß, ein wenig von seiner Fingerfertigkeit zu zeigen.
Sein Nachbar war der Hilfsarbeiter. Der musste rufen.
Als er die ersten drei Karten gesehen hatte, sagte er: »Eine«. Andi legte die nächste Karte mit dem Gesicht nach oben vor ihn hin.
»Treff is’ Atout!«
»Gut is’ die Treff!« meinte der Fleischhauer.
»Ich spiel’ ein Gangl«, sagte der Hilfsarbeiter.
»Is’ gespritzt«, rief Andi fröhlich.
»Gemma, meine Herren, Farben will ich sehen.« sagte der Hilfsarbeiter und spielte den Herz-Zehner aus.
Der Stich gehörte ihm.
Er knallte das Herz-As auf den Tisch, und wieder konnte er die Karten einstreifen.
Beim vierten Stich scheiterte er schließlich am Karo-As Andis. »Das is’ ein Achtzehner bei uns, meine Herren!« Andi notierte schwungvoll das Ergebnis.
Grimmig mischte der Hilfsarbeiter die Karten.
Er hatte große, grobe Hände, auf deren Rücken die Adern wie Schnüre hervortraten.
Seine Fingernägel waren stumpf, eingerissen und schmutzig. »Wo denk ich, dass der die Gabel hat?« räsonierte er.
Der Pensionist, mit dem er zusammenspielte, meinte gleichmütig. »Wann einer ein Gangl spielt, nimmt man an, dass er ein paar Assen hat.«
»Herz!« rief Erich, der Taxichauffeur.
»Geht, die Herz«, nickte Andi.
»Da geh’ ich betteln!« sagte der Hilfsarbeiter.
»Bettler spielen wir keine, das weißt ja«, sagte Andi.
»Dann nicht.«
»Spielt wer was?« fragte Erich.
»Weiter die Herz!« sagte der Pensionist.
Andi bestellte noch ein Bier und zündete sich eine Zigarette an. Der Hilfsarbeiter spielte Herz-As aus.
Er war kein besonders guter Kartenspieler. Das wusste er aber nicht. Er schaffte drei Stiche, dann hatte ihn Erich mit dem Herz-König.
Erich machte von da an das Spiel.
»Geht ein Dreier bei uns!« rief er schließlich.
»Eines spiel’ ich noch mit, dann muss ich ablösen.«
»Was, jetzt schon?« fragte Andi überrascht.
»Was heißt: jetzt schon? Is’ ja schon acht!«
»Tatsächlich! Geh, Resi, noch ein Krügerl.«
»Wie lang fährst denn heute?« fragte der Fleischhauer.
»Bis um vier. Dann dreh’ ich noch ein paar Baam und stell’ den Kübel dem Alten vor’s Haus.«
»Was is’ ein Baam?« wollte Andi wissen.
Der Pensionist lächelte vor sich hin.
»Was ein Baam is’?« sagte Erich. »Naja, des is’ für deine eigene Tasche, net? Da schaltest du das Licht aus, net? Da bist also außer Dienst...«
»Na und...?«
»Na ja, du musst den Fahrgast natürlich richtig einschätzen. Und dann kannst das auch nur auf kurzen Strecken machen.
Kommt er herein und sagt dir jetzt, was weiß ich, von der Alserstraße in die Martinstraße oder ins Café Palffy, das kannst leicht machen um einen Fünfundzwanziger, net? Das geht leicht. Da sagst: ›Also, pass auf. Das kostet fünfundzwanzig Schilling und passt schon.‹
Das kannst schon machen. Aber sagen wir, weite Strecken — das macht dir keiner. Der stellt die Haare auf bei einem Fuffziger, Sechziger, Siebziger, net?«
»Ja, aber, sag, wenn dich ein Polizist aufhält? Der sieht doch, dass ein Fahrgast drinsitzt und kein Licht auf’m Dach brennt?«
»Mein Gott, dann sagst halt, das is’ der Tagchauffeur oder die Ablöse, da kannst dich immer rausreden. Die sin’ doch eh alle primitive Hunde.«
»Was is’ gerufen?«
»Wieder die Herz!«
»Heut’ simma wieder herzig!« sagte der Fleischhauer.
»Das goldene Wienerherz...« sagte der Pensionist.
»Geh, Andi, spiel aus!«
»OK.«, in Andis Stimme klang eine gespielte Drohung mit.
»Vierzig!« Er knallte die Herz-Dame auf den Tisch und zeigte kurz den König vor.
»Na servus!« rief der Fleischhauer verblüfft, »der rinnt heute wieder!«
Andi grinste. »Kartenspielen is’ eine Berufung!«
Mit einer ausladenden Handbewegung holte er die Karten zu sich heran.
Noch ein Stich und Andi zählte laut: »... vierzig, fuffzig, dreiundfuffzig, siebenundfuffzig...»
»Andiii... Telefon!« schrie die Kellnerin vom Gang her, der zu den Toiletten führte.
Andi erhob sich etwas überrascht und strebte der Tür zu, über der eine Tafel angebracht war mit der Aufschrift: »Hier«.
Die Kellnerin sagte: »Es ist deine Schwiegermutter. Ich glaub’, mit der Lena ist es soweit.«
Andi fühlte schlagartig kalten Schweiß sein Rückgrat hinunter rinnen. Er riss der Kellnerin den Hörer aus der Hand.
»Ja... Andi hier...!« Er glaubte zu schreien, es war aber nur ein heiseres Krächzen.
»Ja, Andi, da is’ Mama. Die Leni haben s’ grad geholt. Mit der Rettung.«
Andi stammelte etwas.
»Brauchst dich net aufregen, Bub. Es is’ alles ganz normal. Um halb fünf hat s’ es angefangen zu spüren. Und jetzt, vor einer halben Stund’, haben die ersten Wehen eingesetzt. Ich hab’ gleich unseren Doktor ang’rufen, net. Der war aber net da. Na, hab’ ich die Rettung gerufen. Die waren gleich da und haben s’ mitgenommen.«
»Wo...« stieß Andi mühsam hervor, »wo haben sie s’ hinge bracht?«
»Na, da in unser Spital...« sagte Frau Pammer, und aus ihrer Stimme klang ein kleines Lächeln.
»Bleib schön ruhig, Andi. Das Kind kriegt eh die Leni und net du!«
Andi suchte nach einer Zigarette. Er hatte aber das Paket auf dem Tisch liegen gelassen.
»Ich fahr’ gleich weg... Ja ich muss noch zahlen, dann fahr’ ich gleich weg.«
Er vergaß in der Eile, den Hörer wieder in die Gabel zu hängen, stürmte hinaus und schrie. »Zahlen, Resi! Wir kriegen ein Kind.«
*
Am Anfang war es bei weitem nicht so schlimm, wie Lena sich das vorgestellt hatte.
Die Wehen empfand sie als kurze, kleine Krämpfe, und sie wartete nach dem Abklingen der einen immer gespannt auf das Eintreten der nächsten.
Die Abstände hatten sich bereits auf einige Minuten verringert
Lena schwitzte.
In dem recht hübsch eingerichteten Krankenzimmer war es unverhältnismäßig heiß.
Wenigstens kam es ihr so vor.
Es roch nach frischen Blumen und frischer Wäsche. Gar nicht wie in einem Krankenzimmer.
Aber das war natürlich, sagte sie sich, hier war ja auch niemand krank.
Rosen waren es, die diesen Duft verursachten.
Klar. Die Frau neben ihr hatte gestern einen Buben bekommen.
Wie ihrer, Lenas, wohl aussehen würde?
Dabei hatte ihre Mutter schon einen Haufen rosa Babywäsche gestrickt.
Rosa Patscherln mit runden Quasten vorne dran.
Blödsinnig, dachte sie, was man so alles geschenkt kriegt von Verwandten.
Zum Beispiel die Kaminuhr, die sie zur Hochzeit bekommen hatten vom Ferdl-Onkel und der Tante Gusti.
Aus glasierter Keramik.
Ein Pferd und ein Mädchen sollte das sein.
Dabei hatten sie gar keinen Kamin.
Die Uhr stand seitdem auf dem dreiteiligen Kasten.