Titel

Pierre Emme

Pizza Letale

Palinskis elfter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

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1. Auflage 2010

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Doreen Fröhlich /

Sven Lang, Katja Ernst, Doreen Fröhlich

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von kallejipp / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3480-8

1.

Montag, 21. Oktober

 

Palinski liebte es, im Kaffeehaus zu frühstücken. Für ihn war die erste Mahlzeit des Tages gleichzeitig die wichtigste. Den ganzen Tag noch vor sich zu haben und damit zwangsläufig auch mehr körperliche Betätigung als mittags oder gar abends, gab ihm und seinem Übergewicht das angenehm trügerische Gefühl, beim Frühstück schlemmen zu dürfen. In Maßen natürlich.

Die alte Regel ›Am Morgen iss wie ein Fürst, zu Mittag wie ein Bürger und am Abend wie ein Bettler‹ hatte schon was für sich. Auch aus finanzieller Sicht, denn fürstlich zu schmausen war am Morgen deutlich kostengünstiger zu bewerkstelligen als zu jeder anderen Tageszeit.

Nach der erzwungenen Abstinenz durch den Schlaf sprach das Frühstück mit seinen einfachen, aber überwältigenden Reizen alle Sinne an: Allein das frische, knusprige Gebäck mit seinem einzigartigen Geruch, das einen als Semmerl, Kümmelweckerl, Mohnstriezerl oder Kornspitz aus dem Körberl anlachte, verhieß Palinski in der Früh immer wieder das Paradies.

Dazu zwei Eier im Glas, wachsweich versteht sich natürlich, und zwei, drei Scheiben Schinken, etwas Käse vielleicht. Und Butter, natürlich frische Butter.

Die Butter im Kaiser war übrigens eine Sensation. Nicht die Butter schlechthin, sondern die Butter, die es zum Frühstück gab. Das war nämlich keine normale Teebutter in einer dieser 12,5-Gramm-Packungen mit Ablaufdatum.

Nein, was einem da auf einem eigenen kleinen Teller kredenzt wurde, war echte Bauernbutter aus 1.200 Metern Seehöhe irgendwo im Salzburgischen. Aus der Milch von Kühen, die sich ausschließlich mit dem hervorragenden Gras der Almwiesen diverser herrlicher Gaue ernährten. Also einfach köstlich.

Dieser Traum von einem tierischen Speisefett, eine veritable Cholesterinbombe, wurde einmal in der Woche frisch angeliefert, hatte ihm Sonja einmal verraten, und war zum Verkochen natürlich viel zu schade. Und vermutlich auch zu teuer.

Wirklich, für jemanden, der ein gutes Frühstück zu schätzen wusste, war das Kaiser schon einen Umweg wert. Und mit 8,10 Euro, Kaffee oder Tee nach Wahl und einem kleinen Glas frisch gepressten Orangensaft inklusive, durchaus auch wohlfeil.

Am Tisch neben Palinski hatte ein Paar Platz genommen, dem trotz der frühen Stunde der Sinn nicht nach Frühstück zu stehen schien. Ungeachtet Kellnerin Sonjas
sirenenhaften Bemühungen, den beiden das ›Kaiser Spezial‹, das ›Große‹ oder zumindest das ›Kleine Wiener Frühstück‹ schmackhaft zu machen, blieben die Ignoranten standhaft bei ihren lächerlichen zwei kleinen Braunen. Was dachten sich diese Menschen bloß?

Kurz darauf sollte Palinski diese sich selbst gestellte rhetorische Frage bitter bereuen, denn so genau hatte er das gar nicht wissen wollen. Aber eins nach dem anderen.

Während Palinski sich jetzt in die aktuellen Tageszeitungen vertiefte, hatte das Paar am Nebentisch doch noch Hunger bekommen. Die junge Frau bestellte eine Torte, der Mann eine Semmel und eine Portion Butter.

Dann setzten sie ihr Gespräch bisher belanglosen Inhalts in der gewohnten, ganz normalen Lautstärke fort. Einer Lautstärke, die es Palinski unmöglich machte, auch nur ein einziges Wort nicht zu verstehen. Sosehr er sich auch hinter seiner Zeitung verkriechen wollte, er war zum Zuhören verdammt.

Das war zunächst eher lästiger als sonst etwas.

»Soll ich dir das Semmerl schmieren?«, bot die Frau, die sich Lou rufen ließ, dem Mann an, der auf Simmi hörte. Was immer das auch bedeuten mochte.

Das Besondere war aber, wie Lou das gesagt hatte. So eindeutig vielsagend, dass man durchaus auf falsche Gedanken kommen konnte.

Simmi nickte nur, und Lou schmierte. Und wie. Palinski riskierte einen verstohlenen Blick und wurde Zeuge einer der sinnlichsten Buttersemmelproduktionen, die je in einem Wiener Kaffeehaus stattgefunden hatten.

»Weißt du, was ich jetzt am liebsten möchte?«, wollte der Mann dann auch nicht zurückstehen, während er lustvoll an der liebevoll gebutterten Gebäckhälfte kaute. Er wartete gar nicht erst Lous Reaktion ab, sondern fuhr ungefragt fort: »Ich möchte dich am liebsten auf den Tisch legen, gleich hier, und dir das Gewand vom Körper reißen, n’est-ce pas? Und dann möchte ich dich küssen, überall küssen, aus deiner Quelle schlürfen und dann in dir versinken, n’est-ce pas?«

Um ehrlich zu sein, Simmi hatte das realistischer, krass derber formuliert. Eher in der Art, wie man mit einer Portion Eiscreme auf einem Stanitzel spräche, falls man überhaupt auf so eine verrückte Idee käme.

Erstaunlicherweise hatte er seinen Liebesbeweis auch nicht etwa geflüstert, nein. Vielmehr hatte er ihn einfach festgestellt, und das in einem absolut honorigen, unaufgeregten Plauderton, in bestem Hochdeutsch und normaler Lautstärke. Und gelegentlich mit einem Touch français, n’est-ce pas?

Bei dem Paar handelte es sich also offenbar nicht, wie man zunächst anzunehmen versucht war, um Halbseidene vom Strich. Nein, der Schein sprach vielmehr für ein völlig ungezwungenes, natürliches Verhalten, das leicht als völlige Amoral in Verbindung mit einem gewissen Hang zum Voyeurismus angesehen werden konnte.

Lou fand Simmis Vision offenbar angenehm und schmeichelhaft. »Du meinst, so wie gestern Nachmittag«, gurrte sie und lächelte.

Palinski war nicht prüde, aber auch kein Freund audio-exhibitionistischer Schaustellung. Daher versuchte
er krampfhaft, sich hinter der aktuellen Ausgabe der Wiener Zeiten zu verbarrikadieren. Aber vergebens.

Gegen die liebevollen, ziemlich ins Detail gehenden Beschreibungen strategisch wichtiger Punkte auf Lous Landkarte, dem, was Simmi gerade damit anstellen wollte, und Lous daraufhin einsetzendes Gekicher, hätte nur ein veritabler Hörsturz geholfen. Auf einen solchen zu hoffen, das war Palinski die Geschichte aber auch wieder nicht wert.

So versuchte er halt, sich irgendwo zwischen der Kulturseite und den Kommentaren zu verkriechen, und hoffte, dass die akustische Peepshow bald zu Ende ging.

»… bitte so freundlich sein, mir das Salz zu borgen?«

Halt, was war das gewesen? Vorsichtig kam Palinski hinter den aktuellen Börsennotierungen hervor und lugte zum Nachbartisch. Hatten diese Menschen gar mit ihm gesprochen?

Tatsächlich, Lou mit der nach Aussagen ihres Gegenübers herrlichsten Muschi aller westlichen, das heißt, aller Frauen überhaupt – woher konnte der Kerl das eigentlich wissen? –, hatte zu ihm gesprochen. Er wollte gerade automatisch zum Salzstreuer greifen, um der sehr höflich vorgetragenen Bitte zu entsprechen, als ihm der rettende Gedanke kam.

»Hm? Haben Sie etwas zu mir gesagt?«, meinte er zu der jungen Frau. »Sie müssen etwas lauter reden, ich höre schon ein wenig schlecht.« Ob sie ihm, dem 47-Jährigen, das glauben würde? Der noch dazu kein Jahr älter aussah als vielleicht …, aber höchstens …, na, lassen wir das besser.

Wie auch immer, er fühlte sich gleich wohler.

»Könnten Sie so nett sein und mir Ihren Salzstreuer borgen?«, wiederholte Lou freundlich und in einer Lautstärke, die auch die Gäste am anderen Ende des Cafés aufschauen ließ.

Natürlich hatte sie den Salzstreuer auf Palinskis Tisch und nicht seinen gemeint, fuhr es ihm durch den Kopf, als er nach dem guten Stück griff und ihn der jungen Frau reichte.

»Hier«, sprach er mit leicht brüchiger Stimme, »und behalten Sie ihn ruhig, ich brauche ihn nicht mehr.«

Lou bedankte sich freundlich, und auch Simmi lächelte, die beiden waren wirklich sympathisch, dachte Palinski, während er wieder verschwand, diesmal hinter der Innenpolitik.

Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen, sich das Paar kurz etwas näher anzusehen. Der Mann Durchschnitt, auf den ersten Blick nichts Besonderes. Aber Lou schien es besser zu wissen.

Und dann die junge Frau. Keine Schönheit, bei Weitem nicht. Aber sinnlich, sehr sinnlich sogar. Dieser etwas mollige südländische Typ, breite Hüften, schwere Brüste, schwarze Sch…, äh, Haare, der relativ früh alt und fett wurde und dann gluckenhaft über der Familie brütete. Eine Matronella eben.

Beide wirkten irgendwie ein wenig gewöhnlich, wobei die relativ kultivierte Sprache und der angenehme Plauderton im krassen Widerspruch zum äußeren Erscheinungsbild standen.

Palinski war verwirrt und schloss kurz die Augen. Um sie sofort wieder groß aufzureißen. Denn er hatte Lou und ihre Quelle eben splitternackt vor seinem geistigen Auge gesehen und kurz so etwas wie Verlangen danach verspürt.

Er fühlte sich ertappt. Und das einige Tage vor seiner standesamtlichen Trauung.

Ja, tatsächlich, Wilma und Mario würden endlich heiraten. Nach 27 Jahren und zwei inzwischen erwachsenen Kindern wusste eigentlich kein Mensch, warum, aber es sollte so sein. Dass er bereits vor der Heirat begann, in Gedanken fremde nackte Frauen zu sehen, gab ihm allerdings zu denken.

Obwohl, Lou war ja eigentlich keine fremde Frau mehr. Im landläufigen Sinne natürlich schon, aber nach all dem, was er bereits von ihr wusste? Lou war ein Sonderfall, ja, so war es. So musste es einfach sein. Obwohl das eigentlich auch kein Grund war.

Irritiert klammerte sich Palinski am Wirtschaftsteil fest.

 

*

 

Genau vis-à-vis des schönen alten Bürgerhauses, in dem sich sowohl Palinskis Institut für Krimiliteranalogie als auch Wilma Bachlers Wohnung befanden, lag das inzwischen schon weit über einen Geheimtipp hinaus bekannt gewordene Restaurant Mamma Maria. Für unseren Helden war dieses Lokal nicht nur der Lieblingsitaliener, sondern zweites Zuhause, Zufluchtstätte in guten wie in schlechteren Zeiten, einfach etwas ganz Besonderes.

Maria Bertollini und ihre beiden älteren Söhne Giorgio und Alfredo hatten dem Ristorante in den letzten Jahren immerhin eine Haube erkocht. Mehr wollten sie nicht, um ihre bisherigen Gäste nicht zu verschrecken und sich selbst nicht das Leben unnötig schwer zu machen. Aber auch nicht weniger.

Lorenzo Bertollini, der jüngste der drei Ragazzi und der einzige, der sich zu einem Studium entschlossen hatte, hatte vor einem Jahr seinen Magister in Betriebswirtschaft erworben. Mit ausgezeichnetem Erfolg. Dann hatte der 23-Jährige, der sich auf Logistik spezialisiert und einen sehr guten Posten bei einer großen, internationalen Transportgesellschaft eigentlich so gut wie in der Tasche hatte, etwas völlig Unvorhergesehenes getan. Er hatte seiner internationalen Karriere Adieu gesagt, bevor sie überhaupt begonnen hatte, und Kellerräume sowie einen großen gemauerten Schuppen im Hinterhof des Hauses, in dem sich Mamma Maria befand, gepachtet.

Nach etwa drei Monaten waren die Renovierungs- und Adaptionsarbeiten vorüber, und Mamma Marias Pasta- und Pizza-Premium-Service nahm seinen Betrieb auf. Lieferung frei Haus täglich zwischen 11 und 23 Uhr.

Ein etwas langer Name für eine hoffentlich gute Sache.

Bei der riesigen Konkurrenz gerade im Pizzazustellmarkt, aber auch im Wettbewerb mit chinesischen, indischen und anderen Angebotsrichtungen, gaben viele Lorenzos ›2M-3P-Service‹ nur geringe Chancen, das erste Jahr zu überstehen. Der Herr Magister hatte es aber geschickt verstanden, den exzellenten, weit über Döbling hinausgehenden Ruf Mamma Marias mit einem sehr effizienten Logistiksystem zu verbinden, und war höchst erfolgreich damit. Bereits nach einem halben Jahr hatte er nicht nur einige Mitwerber deutlich überholt, sondern auch den sehr optimistisch budgetierten Umsatz des ersten Jahres überschritten.

Heute, also Montag, den 21. Oktober am frühen Morgen, war der Höhenflug des Jungunternehmens allerdings vorerst einmal unterbrochen worden. Und das kam so: Am Samstag war vor Mitternacht über den Notruf der Polizei ein Anruf eingegangen. Ein Mann hatte sich mit leiser, wie sich später herausstellen sollte, im wahrsten Sinne des Wortes ersterbender Stimme gemeldet: ›Hilfe, ich wurde … vergiftet, der … Pizzamann …‹

Damit war das Gespräch auch schon wieder beendet gewesen. Das war dem Beamten doch etwas sonderbar vorgekommen, und er hatte vorsorglich Alarm geschlagen.

Da die Polizei den Ausgangspunkt des Anrufes wegen einer Computerpanne bei der Telefongesellschaft erst mit einiger Verspätung hatte orten können, war die Leiche des 54-jährigen Wilhelm Sanders sonntags auch erst gegen 4.45 Uhr in seiner Wohnung in Neustift am Walde entdeckt worden.

Wie es aussah, war der an einen Rollstuhl gefesselte Mann einem Herzversagen zum Opfer gefallen. Beim Verzehr einer Pizza ›Frutta di Mare‹ gestorben, für italophile Gourmands mit Vorlieben für Shrimps und Muscheln fürwahr nicht die schlechteste Art abzutreten.

Die tatsächliche Todesursache würde man allerdings erst nach der in solchen Fällen zwingend vorgesehenen Autopsie der Leiche genau kennen.

Wilhelm Sanders hatte gerade noch eine knappe Hälfte der knusprigen Pizza geschafft, ehe ihm der Appetit ein für alle Mal vergangen war. Was laut Schätzung des Mediziners zwischen 1 und 3 Uhr morgens der Fall gewesen sein musste.

Dazu hatte sich der Mann wohl ein paar Schlucke Rotwein mit einem Besucher genehmigt, wie zwei halb leere Gläser vermuten ließen. Damit das Zeug besser hinunterrutschte.

Die Aufschrift ›Mamma Marias Pasta & Pizza‹ samt Adresse und Telefonnummer auf dem Karton beantwortete dann auch die Frage der Polizei, woher der Tote seine allerletzte Mahlzeit bezogen hatte.

Da die inzwischen eingetroffenen ersten Ergebnisse der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin einige dringende Fragen aufgeworfen hatten, war es nur logisch, dass die Polizei kurz vor 10 Uhr in Mamma Marias Pasta- und Pizza-Premium-Service erschienen war, um diese auch zu stellen.

 

*

 

Hinter dem Chronikteil der Wiener Zeiten versteckt, verfolgte Palinski gebannt den primitiv-erotischen Small Talk am Nebentisch. Was ihn besonders faszinierte, war der beiläufige, völlig gleichbleibende Plauderton, in dem die beiden über ihren letzten Orgasmus diskutierten. Wie andere über das Fernsehprogramm oder die neue Wohnzimmereinrichtung von der Mama.

Gemeint damit war offenbar Lous Mutter, die, wie sich gleich darauf herausstellte, und jetzt wurde es wirklich interessant, gleichzeitig mit Simmi verheiratet war. Und das seit mehr als drei Jahren.

Und dazu immer wieder dieses frankophile ›n’est-ce pas‹, das der Mann automatisch und meistens völlig sinnlos fast jedem zweiten Satz folgen ließ.

Palinski fühlte, wie seine Ohren vor Aufregung ganz heiß wurden, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich knallrot gefärbt haben mussten.

Aber es kam viel dicker, wie sich gleich zeigen sollte.

»Oje, oje«, meinte Lou plötzlich, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr riskiert hatte. »Den Termin habe ich jetzt verpasst. Bis 10 Uhr schaffe ich es nicht mehr ins Allgemeine Krankenhaus.«

Richtig, fand auch Palinski, der hinter der Zeitung ebenfalls einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. Fünf Minuten vor 10, das ging sich nie im Leben aus.

»Ach, hast du den Termin für die Abtreibung heute?«, wollte Simmi jetzt wissen. »Und den hast du verpasst? Das ist aber schlecht, n’est-ce pas? Na ja, eigentlich wäre der Eingriff nach der Torte ohnehin unmöglich gewesen, glaub ich. Man muss ja nüchtern sein, n’est-ce pas?«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Na ja, ist ja erst die elfte Woche«, entgegnete Lou. »Da habe ich noch ein bisserl Zeit.«

»Aber nicht verschlampen, n’est-ce pas?«, mahnte Simmi. »Stell dir vor, deine Mutter erfährt davon, was glaubst du, was die mit dir macht?« Er blickte sie neugierig an. »Woher hast du eigentlich das Geld dafür?«

»Das hat mir die Omi gegeben«, Lou lächelte zärtlich. »Sie ist so lieb, glaubt, ich brauche das Geld für eine Exkursion mit der Hochschule nach Budapest.«

Palinski wollte schon laut losbrüllen, langsam war das alles ja wirklich … unwirklich, das war der einzige Ausdruck, der passte.

»Und was meinst du, was die Mama mit dir macht, wenn sie erfährt, dass du der Vater bist? Die bringt dich glatt um«, gab Lou jetzt zurück, und Palinski biss sich vor Aufregung fast auf die Zunge. So was von prallem, so richtig schön versautem Leben war ihm noch nie begegnet. Und das direkt am Nebentisch, zum Preis eines Frühstücks. Das war toll.

»Ich denke«, setzte Simmi langsam zur mit Spannung erwarteten Antwort an, »in diesem Fall müssten wir …«

›Didelidö, didelidei, didelidö, didelidei‹, Palinski wollte sich gerade lautstark über die eklatante Störung aufregen, Gott, wie er diesen Telefonterror im öffentlichen Bereich hasste, als er feststellen musste, dass es sein Handy gewesen war, das ihn Simmis Antwort verpassen hatte lassen. Die hätte ihn schon sehr interessiert. Wütend biss er in den Sportteil, um nicht laut loszuweinen.

Bei dem Anrufer handelte es sich um seinen Mitarbeiter Florian Nowotny, einen karenzierten Polizisten, der jetzt Jus studierte. »Bei mir ist eine total verunsicherte Maria Bertollini, die dringend deiner Hilfe bedarf«, teilte er Palinski betroffen mit. »Eben ist ihr Sohn Lorenzo von der Polizei aufs Kommissariat mitgenommen worden. Er wird verdächtigt, einen Mann getötet oder zumindest mit seinem Tod zu tun zu haben.«

»Alles klar«, stellte Palinski, dessen Ohren schlagartig wieder abgekühlt waren, fest. »Sag Mamma Maria, ich bin in zehn Minuten da.«

Schnell trank er seinen längst kalt gewordenen Kaffee aus, legte das Geld für Sonja auf den Tisch und stand auf. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag«, meinte er dann möglichst beiläufig mit noch immer leicht belegter Stimme zu dem Pärchen am Nebentisch und ging.

Unfassbar, was er da unfreiwillig hatte mithören müssen. Total gegen seinen Willen, eine echte Zumutung. Mit was für Menschen man so von Zeit zu Zeit zu tun bekam, war schon unerhört. Wie kam man eigentlich dazu?

Ob er Simmi nicht doch hätte fragen können …?

 

*

 

Alle die, die das Paar kannten und von der bevorstehenden Heirat wussten – das waren gar nicht so viele –, schwankten zwischen leichtem Erstaunen und großer Verwunderung. Keiner konnte sich so recht erklären, warum Wilma und Mario plötzlich ihre scheinbare Aversion gegen bürgerliche Gewohnheiten aufgegeben hatten und ihre bisherige, nunmehr fast über 27 Jahre funktionierende Partnerschaft legalisieren wollten. Und ehrlich, selbst die beiden ›Verlobten‹ hatten keine überzeugende Erklärung dafür. Ein gutes Zeichen, immerhin schied eine reine Vernunftehe definitiv aus.

Wilma, seit einem Jahr Bezirksrätin der Grünen in Döbling und seit sechs Wochen Direktorin der AHS in der Währinger Klostergasse, hatte sehr viel um die Ohren. Immerhin hatte die engagierte Lehrerin zusätzlich zu ihrer neuen Aufgabe auch sechs Wochenstunden Französischunterricht übernommen. Bis auf Weiteres zumindest, denn der Kontakt mit den jungen Menschen war ihr ein vordringliches Anliegen.

Dazu kamen ihre Pflichten als Politikerin, die da waren: Sprechstunden, Teilnahme an Aktionen und Veranstaltungen und derlei mehr. Und jetzt der Wahlkampf.

Für die Familie blieb da natürlich nicht mehr allzu viel Platz, aber die Kinder waren erwachsen, und Mario hatte ohnehin nie Zeit für sie. Auch früher nie gehabt.

Und jetzt hatte endlich einmal auch sie kaum Zeit für ihn. Diese Vorstellung ließ sie sich gleich viel besser fühlen. Das war zwar saublöd, aber doch auch eine Form der Emanzipation und Chancengleichheit.

Komisch, Wilma war während der vielen Jahre mit Mario gelegentlich gefragt worden, warum sie trotz allem oder noch immer bei diesem ›unmöglichen Menschen‹ blieb, wo sie doch nicht einmal mit ihm verheiratet war?

Sie hatte sich manchmal selbst gewundert, ihrem Leben nicht einfach eine andere Richtung gegeben zu haben. Aber eigentlich war sie nie ernsthaft in Versuchung geraten, sich von Palinski abzuwenden. Warum nicht?

Da waren zum einen die beiden Kinder, aber da war wesentlich mehr. Irgendwie gefiel ihr dieses komplizierte, etwas chaotische, unorthodoxe, sehr aufregende und nie langweilige Leben mit dem Verrückten. Ihrem ›Fou‹, wie sie ihn insgeheim apostrophierte. Häufig liebevoll, ab und zu auch zornig, nie aber abfällig.

Bei ihren gelegentlichen Analysen war Wilma zu dem Schluss gekommen, dass sie sich als Ehefrau in den 27 Jahren wahrscheinlich schon mehr als einmal verabschiedet hätte. Aus Gründen der Selbstachtung, die sich aus dieser rechtlichen Position ergab.

Als ›Geliebte‹, oder was immer sie auch tatsächlich gewesen war, hatte sie einen viel größeren Spielraum gehabt und sich flexibler verhalten können. Für sie stand fest, dass das Geheimnis ihrer glücklichen Ehe in dem Umstand lag, dass es ganz einfach gar keine Ehe gab.

Ob es aus dieser Erkenntnis heraus sinnvoll war zu heiraten, war zumindest fraglich. Andererseits aber auch eine echte Herausforderung und eine neue Erfahrung. Und ihre Eltern mussten sich endlich nicht mehr wegen ihrer in wilder Ehe lebenden Tochter und zweier unehelicher Enkel genieren.

Apropos Eltern: Die sollten natürlich auch bei diesem Ereignis dabei sein, aber erst so spät wie möglich davon erfahren. Denn die Frau Primaria in Ruhestand und der emeritierte Professor für Strafrecht und ehemalige Dekan der juridischen Fakultät an der Universität Wien kannten Gott und die Welt und würden keine Ruhe geben, ehe nicht zumindest die Hälfte dieser Bekannten, Freunde und Verwandten zur, wenn auch späten, Hochzeit ihrer kleinen Wilma geladen würden.

Und das kam weder für Wilma noch für Palinski infrage. Eher würden sie auf das ganze Ritual pfeifen und einfach so einige Tage nach Südtirol fahren.

Um dieser Gehirnwäsche zu entgehen, hatte Wilma beschlossen, ihre Eltern mit einer List zur standesamtlichen Trauung zu locken. Sie hatte ihnen erzählt, dass Mario am Samstag, den 26. Oktober, dem Staatsfeiertag, um 16 Uhr die Adoption Tinas und Harrys unterschreiben würde. Und dabei dürften doch die geliebten Großeltern auch nicht fehlen.

Alles in allem war das irgendwie nicht einmal gelogen.

Am 27., einen Tag nach dem Staatsfeiertag, wollten sie dann nach Südtirol fahren. Die kurze Hochzeitsreise nutzen, um Silvana zu besuchen, die im dritten Monat schwanger war und auf ärztliches Anraten hin nicht nach Wien kommen konnte. Silvana Godaj-Sterzinger war Palinskis große Tochter, von der er erst vor knapp zwei Jahren erfahren hatte.

Silvana war im Sommer nach der Matura gezeugt worden, drei Monate, ehe er Wilma kennengelernt hatte. Inzwischen war die junge Frau selbst Mutter. Bald sogar schon zweifache.

Seine erste Enkelin hieß Ronda und war 15 Monate alt. Die Kleine hatte ganz genau die gleichen Ohrläppchen wie ihr Großvater.

Gott sei Dank war das die einzige erkennbare Ähnlichkeit, überlegte Wilma schmunzelnd, ehe sie sich jetzt auf den Weg zur 6 B machte, um die jungen Menschen wieder einmal bei ihrer Auseinandersetzung mit der französischen Sprache zu begleiten.

 

*

 

Als Palinski in seinem Büro eintraf, hatte sich Maria Bertollini unter dem freundlichen Bemühen Margit Waismeiers und Florian Nowotnys wieder einigermaßen beruhigt.

»Mario, meine liebe Mario«, rasch stellte sie ihr Kaffeehäferl zur Seite, sprang auf und eilte ihrem Lieblingsgast entgegen. »Es isse so schreckligge, wasse die Policia mit Lorenzo maggen.«

»Na, was machen sie denn mit ihm?«, fragte er sanft und fuhr Mamma Maria beruhigend über die Haare. Dann blickte er zu Florian. »Wer war denn überhaupt hier?«, wollte er wissen.

»Inspektor Heidenreich mit einem Kollegen«, berichtete Nowotny.

Palinski kannte den Stellvertreter von Oberinspektorin Franka Wallner inzwischen recht gut und hatte ihn als intelligenten und korrekten Beamten schätzen gelernt.

»Ich werde mich gleich mit dem Inspektor in Verbindung setzen«, versicherte er Mamma Maria. »Und ich bin sicher, dass Lorenzo nichts Schreckliches zugestoßen ist und auch nicht zustoßen wird.«

Palinskis ruhige, aber bestimmte Art schien Lorenzos Mutter wirklich zu beruhigen. »Wenn du sagen, dann isse gut, Mario«, rief sie dankbar aus. »Dann ich jetzt gehe, in eine Stunde isse Mittagesse in die Ristorante. Und du bringen mir mein Lorenzo wieder, o no?«

 

*

 

Es war nicht zu übersehen, dass sich das Land derzeit in der heißen Phase des Nationalratwahlkampfes befand. Kein Wunder, denn am 10. November, also in knapp drei Wochen, würde sich das politische Schicksal des Landes für die kommenden vier Jahre entscheiden.

Würde es die bisherige Koalition nochmals schaffen, oder stand das Land vor der viel beschworenen Wende von der Wende?

Allein auf der relativ kurzen Fahrt mit der Tramway von Mamma Maria zum Kommissariat Hohe Warte erstickte die Straße in einem in dieser Massivität gar nicht mehr fröhlichen Rausch bunter Bilder, öliger Konterfeis und aufgeblähter, sinnentleerter Botschaften. Werbung, so weit das Auge reichte, an den Wänden, an Dreiecksständern, teilweise auch an Fahrzeugen und im Luftraum. Und das mit einer subtilen Raffinesse, die einem den Atem raubte. Es war fast schon ein Albtraum.

Wesentlich schlimmer als die rein optischen waren die mit Akustik kombinierten Belästigungen, denen man als schlichter Staatsbürger ausgesetzt war, fand Palinski. Das hatte einfache und durchaus logische Gründe: In der Zeit vor der flächendeckenden Einführung des Fernsehens, ja, eine solche hatte es tatsächlich einmal gegeben, wie sich Angehörige der Großelterngeneration wahrscheinlich noch erinnerten, waren die äußerlichen Vorzüge eines Politikers nicht so wichtig gewesen.

Im Gegensatz zu heute hatten auch landläufig als ›hässlich‹ zu bezeichnende Menschen gute Chancen, in der Politik etwas zu erreichen, falls sie intelligent, eloquent und nach Möglichkeit ein wenig charismatisch waren.

Warum war das so gewesen?

Es hatte noch keine technischen Möglichkeiten gegeben, die Bilder der führenden Köpfe in penetranter Permanenz in die Haushalte zu liefern und daher auch keine entsprechenden Schönheitsideale zu Vergleichszwecken bereitzustellen.

Es traf also tatsächlich zu, was Friedrich Torbergs ›Tante Jolesch‹ zu sagen pflegte: ›Alles, was ein Mann schöner ist als ein Aff’, ist ein Luxus.‹

Früher brauchten Politiker daher vor allem Herz und Verstand. Und waren beide Voraussetzungen gegeben, so hatten sogar eher skeptisch betrachtete ›Schönlinge‹ durchaus auch Chancen.

Heute waren die Voraussetzungen für den Erfolg diametral andere: Entscheidend war zunächst, wie jemand, er oder sie, rüberkam. Also die rein optische Botschaft, die schon unterwegs war, ehe auch nur die erste Silbe gesprochen worden war. Wortlos und permanent. Da kam es natürlich vor allem auf Charisma an, das aber so selten anzutreffen war wie das weiße Einhorn. Alles andere war zweitrangig.

Was vor allem zählte, waren eine tadellose Frisur, ein harter, aber freundlicher Blick, ein markantes Kinn und die Stirn, so zu tun, als ob Schönheit allein ein Verdienst wäre. Was ja angesichts der umfassenden Bemühungen der meisten auch durchaus zutraf.

Was dann aber von diesen schönen Menschen verströmt wurde, war dagegen eher zweitklassig. In der Regel zumindest, aber das war den Verantwortlichen wurscht.

Hauptsache, es war laut genug, hatte einen gewissen Unterhaltungswert und sicherte dem Worthülsenspender einen Platz in den Schlagzeilen. Bei den miesen Kurzzeitgedächtnissen der meisten Menschen kam es auf echte Inhalte gar nicht mehr an.

Genau da begann für Palinski aber die akustische Umweltverschmutzung.

Obwohl er fairerweise einräumen musste, dass es nach wie vor auch intelligente Politiker gab. Zum Beispiel den …, na, wie hieß er noch schnell? Der Name würde ihm schon noch einfallen.

Verstand und Eloquenz waren also nicht hinderlich, falls alles andere passte. Aber nur dann.

Eher als störend wurde dagegen Herz empfunden, stand es doch viel zu oft dem entgegen, was der externe Verstand, also die Spindoktoren und Coaches, so vorgab.

Obwohl es gerade das Herz war, vorzugsweise das für den kleinen Mann, das immer öfter angesprochen wurde. Apropos, von der ›kleinen Frau‹ hörte man eigentlich so gut wie nie etwas. Das wäre zugegebenermaßen auch etwas, na ja, problematisch. Denn die Phrase von der ›kleinen Frau auf der Straße‹ konnte ja leicht missverstanden werden, die am Herd war wieder politisch unkorrekt, ja, und der Hinweis auf die arbeitslose, im AMS-Kurs (Arbeitsmarktservice) sitzende zwar zutreffend, aber politisch nicht erwünscht.

Wie auch immer, der letzte hässliche Charismatiker und gleichzeitig erste Politiker mit überwältigender Medienpräsenz war wohl der legendäre Bruno Kreisky in den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts gewesen. An den konnte sich Palinski gut erinnern. Das war wirklich ein beeindruckender Mensch gewesen, selbst oder gerade nach Zwentendorf.

Aber man musste so einen Wahlkampf natürlich auch aus anderen Perspektiven sehen. Die berühmte ›Umwegrentabilität‹ im Auge behalten. Immerhin ging es ja um den Standort. Und natürlich auch um Arbeitsplätze.

Übrigens, eine faszinierende Überlegung: Man beschloss einfach Neuwahlen und schuf damit kurzfristig einen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften in bestimmten Branchen. Die Arbeitslosenzahl sank daraufhin ganz von selbst um ein paar Tausend Leute und beschönigte damit die offizielle Statistik.

Und schon hatte die Regierungspartei ein erstes starkes Argument für ihre Wiederwahl. Nach dem Urnengang waren die Jobs zwar schnell wieder weg, aber dann brauchte sie ja auch keiner mehr wirklich. Außer den neuerlich Arbeitslosen vielleicht.

Aber jetzt einmal ganz ohne Zynismus. Grund zum Jubeln hatten in dieser Zeit nur jene Branchen, für die diese Orgie an demokratisch legitimierter Volksverblödung den allvierjährlichen warmen Regen und damit vielfach auch das wirtschaftliche Überleben für die Zeit bis zu den nächsten Wahlen bedeutete.

Inzwischen hatte der 37er wieder angehalten, und Palinski war ausgestiegen. Die knapp 100 Meter Weg zum Kommissariat schienen erfreulicherweise frei von Wahlwerbung zu sein. Nein, doch nicht, zu früh gefreut, da war wieder eines dieser gestylten Gesichter. Und das auf jeder Fläche des Dreieckständers.

Na ja, auch diese drei Ecken, äh, … Wochen würden vergehen. Wohl oder übel und vor allem ganz von selbst.

 

*

 

Die Vernehmung Lorenzo Bertollinis durch Inspektor Heidenreich war längst im Gange, als sich Mario Palinski bei Franka Wallner, der Leiterin der Kriminalabteilung, am Koat Hohe Warte meldete.

Die erst kürzlich zur Oberinspektorin aufgestiegene Franka war die Frau seines alten Freundes Helmut Wallner, der es inzwischen zum Chefinspektor und an einen wichtigen Schreibtisch im Landeskriminalamt gebracht hatte.

Ganz gegen seine Gewohnheiten kam Palinski, der sonst immer gern ein wenig mit Franka schwätzte, sofort zur Sache.

»Was werft ihr dem armen Buben eigentlich vor?«, wollte er mit leicht ärgerlichem Tonfall wissen. »Was kann er euch hier erzählen, was er euch nicht auch schon in seinem Büro hätte erzählen können?«

Es war nicht zu übersehen, dass sich Franka, die über das nahe Verhältnis des guten Freundes zur Familie Bertollini natürlich Bescheid wusste, im Augenblick nicht wohl in ihrer Haut fühlte.

»Ich weiß, ich weiß«, grummelte Palinski. »Was aber bei dieser unheiligen Dreifaltigkeit noch fehlt, ist ein Motiv. Und damit werdet ihr euch schwertun, sehr schwer«, betonte er fast triumphierend. »Was hat Lorenzo mit diesem Herrn Sanders zu schaffen gehabt? Gar nichts. Und ohne Motiv …«, er machte eine Handbewegung, die so viel wie ›Alles nur heiße Luft‹ oder etwas Ähnliches bedeuten mochte.

Im Moment, in dem ihr der verunglückte Scherz über die Lippen gekommen war, hatte ihn die Oberinspektorin auch schon wieder bereut. Palinski konnte manchmal so verdammt dünnhäutig sein, und das Letzte, wonach ihr war, war ein Streit mit dem Freund.

»Gut«, schloss sie und stand auf. »Bleib du ruhig hier sitzen, ich gehe einmal nachschauen, wie die Dinge stehen.«

Er, der vor vielen Jahren selbst Jus studiert hatte, mit viel materiellem, aber wegen seiner damals überbordenden Prüfungsangst ohne jeglichen formalen Erfolg, hatte sich in der Folge finanziell einige Jahre mit Paukerkursen über Wasser gehalten. Dabei hatte er einigen sehr talentierten Studenten zu guten Abschlüssen und damit indirekt auch zu ihren heute durchaus wohlgefüllten Töpfen verholfen. Da musste sich doch etwas machen lassen.

Aber auch Frau Dr. Valentini wäre eine gute Wahl als Rechtsvertreterin für Lorenzo. Die Evi Lichner, er konnte sich noch gut an die kleine zierliche Studentin erinnern, die zuerst dem halben Paukerkurs den Kopf verdreht hatte, um dann einem gewissen Sergio Valentini, einem Obstgroßhändler aus der Emilia Romagna, auf den Leim zu gehen.

Jetzt betrat Franka wieder den Raum, und ihr ernstes Gesicht hätte Palinski eigentlich warnen müssen. Aus irgendeinem Grund ignorierte er das Zeichen aber und platzte mit seinem »Na, alles klar? Kann ich Lorenzo jetzt mitnehmen?« einfach heraus.

»Was willst du damit andeuten?« Palinski war es, als ob man ihm einen Kübel Eiswasser hinten in das Hemd gegossen hätte. Ganz genau entlang der Wirbelsäule. Natürlich wusste er, was diese international gebräuchliche Kopfbewegung bedeutete, es wäre ihm in diesem Moment aber lieber gewesen, dem wäre nicht so.

Wieder schüttelte die Oberinspektorin den Kopf. »So schlimm ist es nicht«, äußerte sie dann. »Aber Lorenzo hat uns eine Geschichte aufgetischt, die sowohl eindeutig der Aussage einer Zeugin widerspricht als auch den objektiven Beweisen. Immerhin weist das eine der beiden Weingläser einen wunderschönen Fingerabdruck auf. Obwohl Lorenzo bestreitet, auch nur im selben Raum mit Wilhelm Sanders gewesen zu sein.«

»Marika Sanders, die 21-jährige Tochter des Toten«, gab Franka bekannt. »Sie gibt an, dass Lorenzo und ihr Vater seit einiger Zeit Streit miteinander hätten, weil er sich an Marika herangemacht habe. Wilhelm Sanders soll ihn als ›Scheiß-Itaker‹ oder auch als ›Katzelmacher‹ bezeichnet haben. Du weißt aber schon, dass ich dir das gar nicht sagen dürfte. Also verwende es bitte nur inoffiziell.«

Palinski musste allerdings zugeben, dass es auch nie zuvor die Gefahr eines Interessenkonflikts gegeben hatte. Und der lag in der aktuellen Geschichte zweifellos vor.

»Etwas, was dir gar nicht gefallen wird.« Man merkte Franka Wallner an, dass ihr das Folgende nicht leichtfiel. »Im Futter von Lorenzos Überjacke haben wir ein kleines Fläschchen entdeckt, mit einer noch unbekannten Substanz. Es könnte sich um das Gift handeln, nach dem wir suchen. Diese Frage wird aber das Labor rasch klären.« Sie atmete tief durch. »Auf jeden Fall müssen wir bei dieser Lage der Dinge Lorenzo vorläufig festnehmen. So leid es mir persönlich auch tut.«

»Und das Gericht verurteilt dich dann zu 15 Jahren Haft, falls der junge Mann abhaut?«, Franka blickte ihn traurig an. »Entschuldige, Mario, aber du weißt selbst, dass dein Vorschlag Blödsinn ist.«

»Kann ich dann wenigstens mit Lorenzo sprechen?« Dieses Zugeständnis zumindest musste er der beinharten Kripochefin entlocken können. »Ich muss seiner Mutter schließlich irgendetwas sagen«, fügte er leicht verzweifelt hinzu.

»Das ist mir schon bewusst«, fiel ihr Palinski ins Wort, »und ich bin dir auch sehr dankbar.«