Starker Rosenduft durchströmte das Atelier, und als ein leichter Sommerwind die Bäume im Garten hin und her wiegte, kam durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders oder der feinere Duft des Rotdorns.
Von dem Perserdiwan, auf dem er lag und nach seiner Gewohnheit unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton gerade die süßduftenden und honigfarbenen Blüten eines Goldregenstrauchs gewahren, dessen zitternde Zweige die Last einer so flammenden Schönheit kaum tragen zu können schienen; und hie und da flitzten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge des großen Fensters und brachten eine Art japanische Augenblickswirkung hervor, so daß ihm die blassen, nephritfarbenen Maler Tokios einfielen, die vermittelst einer Kunst, die nicht anders als unbeweglich sein kann, den Eindruck der Raschheit und Bewegung hervorzurufen suchen. Das summende Murren der Bienen, die in dem langen ungemähten Gras hin und her taumelten oder mit eintöniger Hartnäckigkeit die staubiggoldenen Blütentrichter des wuchernden Geißblatts umkreisten, schienen die Stille noch drückender zu machen. Das dumpfe Getöse Londons klang wie das Schnarrwerk einer entfernten Orgel.
In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgerichteten Staffelei das lebensgroße Porträt eines ungewöhnlich schönen jungen Mannes, und ihm gegenüber, etwas entfernt davon, saß der Künstler, der es gemalt hatte, Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren das Publikum erregt und so viele seltsame Vermutungen erweckt hat.
Als der Maler auf die anmutige Gestalt blickte, die er so schön in seiner Kunst gespiegelt hatte, überflog ein Lächeln der Freude seine Züge und schien auf ihnen verweilen zu wollen. Aber er fuhr plötzlich auf, schloß die Augen und drückte die Lider mit den Fingern zu, wie wenn er einen absonderlichen Traum, dessen Erwachen er fürchtete, im Hirne gefangen halten wollte.
»Es ist deine beste Arbeit, Basil, das Beste, was du je gemacht hast,« sagte Lord Henry mit müder Stimme. »Du mußt es bestimmt nächstes Jahr ins Grosvenor schicken. Die Akademie-Ausstellung ist zu groß und zu gewöhnlich. Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Menschen da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das war schrecklich, oder so viele Bilder, daß ich die Menschen nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor ist wirklich der einzige Ort, der in Frage kommt.«
»Ich denke nicht daran, es überhaupt auszustellen,« antwortete der Maler und warf den Kopf in der besonderen Art zurück, über die seine Freunde in Oxford so oft gelacht hatten. »Nein, ich stelle es nirgends aus.«
Lord Henry zog die Brauen hoch und blickte ihn durch die dünnen blauen Rauchgirlanden, die sich in phantastischen Windungen aus seiner schweren, opiumgetränkten Zigarette emporkräuselten, erstaunt an. »Nirgends ausstellen? Mein Lieber, warum? Hast du einen Grund? Was ihr Maler für kuriose Kerle seid! Ihr tut alles in der Welt, um berühmt zu werden. Sowie ihr es seid, scheint ihr des Ruhms überdrüssig. Das ist dumm von dir, denn es gibt nur ein Ding in der Welt, das schlimmer ist, als daß über einen geredet wird, nämlich, daß nicht über einen geredet wird. Ein Porträt wie dieses muß dich weit über alle jungen Leute in England heben und die Alten ganz neidisch machen – wenn alte Leute überhaupt einer Gemütsbewegung fähig sind.«
»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« erwiderte jener, »aber ich kann es wirklich nicht ausstellen. Ich habe zu viel von mir selbst hineingebracht.«
Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte. »Ja, ja, das wußte ich, aber es ist völlig wahr, trotzdem.«
»Zu viel von dir soll darin sein! Auf mein Wort, Basil, ich wußte nicht, daß du so eitel bist; ich kann wahrhaftig nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen dir mit deinem eckigen strengen Gesicht und deinen kohlschwarzen Haaren und diesem jungen Adonis finden, der aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern gemacht. Nein, lieber Basil, er ist ein Narcissus, und du – nun, natürlich hast du geistigen Ausdruck und so weiter. Aber Schönheit, wahre Schönheit hört auf, wo geistiger Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übertriebenheit und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Sowie man sich ans Denken macht, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder derart Gräßliches. Betrachte die Männer, die in irgendeinem gelehrten Beruf Erfolg hatten. Wie vollendet häßlich sind sie! Ausgenommen natürlich die Männer der Kirche. Aber in der Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof bleibt dabei, mit achtzig Jahren dasselbe zu sagen, was man ihm als achtzehnjährigem Jungen beigebracht hat, und die natürliche Folge ist, daß er immer ganz wonnig aussieht. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie gesagt hast, dessen Bild mich jedoch wahrhaft bezaubert, denkt niemals. Das ist mir ganz sicher. Er ist so ein hirnloses, schönes Geschöpf, das wir im Winter immer haben sollten, wenn es keine Blumen gibt, auf die wir blicken können, und immer im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres Geistes brauchen. Schmeichle dir nicht, Basil: du hast nicht die mindeste Ähnlichkeit mit ihm.«
»Du verstehst mich nicht, Harry,« antwortete der Künstler. »Natürlich habe ich keine Ähnlichkeit mit ihm – das weiß ich sehr wohl. Ich wäre sogar traurig, wenn ich so aussähe wie er. Du zuckst die Achseln? Ich sage dir die Wahrheit. Es schwebt ein Verhängnis um alle körperliche und geistige Auszeichnung; die Art Verhängnis, die in der ganzen Geschichte den schwankenden Schritten der Könige auf dem Fuße zu folgen scheint. Es ist besser, sich nicht von seinen Genossen zu unterscheiden. Die Häßlichen und die Dummen sind in dieser Welt am besten daran. Sie können behaglich dasitzen und sorglos dem Spiel zuschauen. Wenn sie nichts von Siegen wissen, so ist ihnen dafür auch erspart, Niederlagen kennen zu lernen. Sie leben, wie wir alle leben sollten: sorglos, gleichgültig und ohne Unruhe. Sie bringen über andere kein Verderben und empfangen es auch nicht aus fremden Händen. Dein Rang und dein Reichtum, Harry; mein Hirn, wie es nun schon ist – meine Kunst, sie mag wert sein, was sie will – Dorian Grays schönes Äußere: wir werden alle drei unter dem leiden, was uns die Götter gegeben haben, schrecklich leiden.«
»Dorian Gray? So heißt er?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.
»Ja, so heißt er. Ich wollte dir den Namen nicht nennen.«
»Aber warum nicht?«
»Oh! Ich kann das nicht erklären. Wenn ich einen Menschen unmäßig lieb habe, sage ich nie jemandem seinen Namen. Es ist, als übergäbe man damit einen Teil von ihm. Ich bin dazu gekommen, das Geheimnis zu lieben. Das scheint allein imstande zu sein, das Leben unserer Zeit für uns zum Mysterium oder zum Wunder zu machen. Das gemeinste Ding ist voller Schönheit, wenn man es nur versteckt. Wenn ich die Stadt verlasse, sage ich den Menschen nie mehr, wohin ich gehe. Täte ich es, so büßte ich all meinen Genuß ein. Es ist eine törichte Gewohnheit, ich gebe es zu, aber irgendwie scheint dadurch viel Romantik ins Leben zu kommen. Vermutlich hältst du mich darum für schrecklich verrückt?«
»Nicht im geringsten,« erwiderte Lord Henry, »nicht im geringsten, lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und die Ehe hat den einen Reiz, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung völlig zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich treibe. Wenn wir zusammen sind – wir sind manchmal zusammen, wenn wir miteinander eingeladen sind oder zum Herzog aufs Land fahren –, erzählen wir uns die verrücktesten Geschichten mit der ernsthaftesten Miene. Meine Frau versteht sich trefflich darauf – eigentlich besser als ich. Sie bringt ihre Daten nie durcheinander; und ich immer. Aber wenn sie mich ertappt, macht sie keinen Lärm darüber. Ich wünschte manchmal, sie täte es; aber sie lacht mich bloß aus.«
»Die Art, wie du über dein Eheleben sprichst, ist mir verhaßt, Harry,« sagte Basil Hallward und ging langsam zu der Tür, die in den Garten führte. »Ich glaube, du bist in Wahrheit ein sehr guter Ehemann, schämst dich jedoch heftig über deine eigene Tugendhaftigkeit. Du bist ein absonderlicher Bursche. Du sagst nie etwas Moralisches, und du tust nie etwas Schlechtes. Dein Zynismus ist lediglich Pose.«
»Natürlichsein ist lediglich eine Pose, und die ärgerlichste, die ich kenne,« rief Lord Henry und lachte; und die beiden jungen Leute gingen miteinander in den Garten und setzten sich in dem Schatten eines großen Lorbeerbusches auf ein langes Bambussofa. Das Sonnenlicht glitt über die glänzenden Blätter. Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen. Nach einer Pause zog Lord Henry seine Uhr. »Ich fürchte, ich muß gleich gehen, Basil,« brummte er, »und ehe ich gehe, bestehe ich darauf, daß du mir die Frage beantwortest, die ich vorhin an dich richtete.«
»Was denn?« fragte der Maler, ohne aufzublicken.
»Du weißt schon.«
»Nein, Harry.«
»Nun, dann will ich dirs sagen. Du sollst mir erklären, warum du Dorian Grays Bildnis nicht ausstellen willst. Ich verlange den wirklichen Grund zu wissen.«
»Ich sagte dir den wirklichen Grund.«
»Nein, das tatest du nicht. Du sagtest, der Grund sei, weil zu viel von dir in dem Bilde sei. Nun, das ist kindisch.«
»Harry,« sagte Basil Hallward und schaute ihm gerade ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Empfindung gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht dessen, der ihm sitzt. Der ist bloß der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht er wird vom Maler offenbart; es ist eher der Maler, der auf der farbigen Leinwand sich selber offenbart. Der Grund, warum ich dieses Bild nicht ausstellen will, ist, daß ich fürchte, ich habe in ihm das Geheimnis meiner eigenen Seele aufgedeckt.«
Lord Henry lachte. »Und das wäre?« fragte er.
»Ich will es dir erklären,« sagte Hallward; aber ein Ausdruck der Ratlosigkeit legte sich über seine Züge.
»Ich bin ganz Erwartung, Basil,« fing sein Gefährte wieder an und sah zu ihm hin.
»Oh! Es ist wirklich nicht viel zu erzählen, Harry,« antwortete der Maler, »und ich fürchte, du wirst es kaum verstehen. Vielleicht wirst du es kaum glauben.«
Lord Henry lächelte; dann bückte er sich, pflückte ein rot gefärbtes Gänseblümchen aus dem Gras und betrachtete es. »Ich bezweifle gar nicht, daß ich es verstehen werde,« gab er zurück und blickte anhaltend auf das kleine goldene, weißgefiederte Rund in seiner Hand; »und was das Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es unwahrscheinlich genug ist.«
Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren Sternenbüschel des Flieders schwankten in der schwülen Luft hin und her. Eine Grille fing an der Mauer zu zirpen an, und wie ein blauer Faden schwebte eine lange, dünne Libelle auf ihren braunen Gazeflügeln durch die Luft. Lord Henry war es, als könnte er Basil Hallwards Herz klopfen hören, und war gespannt, was er hören sollte.
»Die Geschichte ist einfach die,« sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich einmal zu einem Gesellschaftsrummel bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft sehen lassen, bloß um dem Publikum ins Gedächtnis zu rufen, daß wir keine Wilden sind. Mit einem Gesellschaftsanzug und einer weißen Binde, wie du mir einmal sagtest, kann jeder, selbst ein Börsenmakler, in den Ruf eines Gebildeten kommen. Nun, ich war etwa zehn Minuten da und plauderte mit umfangreichen, überladenen, vornehmen Witwen und langweiligen Akademikern, als mir plötzlich ins Bewußtsein kam, daß mich jemand ansah. Ich drehte mich halb um und erblickte zum erstenmal Dorian Gray. Als unsre Augen sich trafen, fühlte ich, daß ich blaß wurde. Ein seltsames Gefühl des Bangens überkam mich. Ich spürte, ich stand einem von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dessen bloße Erscheinung so bezaubernd war, daß sie, wenn ich es ihr gestattete, meine ganze Natur, meine ganze Seele und sogar meine Kunst an sich reißen mußte. Ich brauchte in meinem Leben keinerlei Einwirkung von außen. Du weißt selbst, Harry, wie unabhängig ich von Natur aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es zum mindesten gewesen, bis ich Dorian Gray getroffen habe. Dann – aber ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ich hatte ein Vorgefühl, daß ich unmittelbar vor einer furchtbaren Krise in meinem Leben stehe. Ich hatte die seltsame Empfindung, das Schicksal halte erlesene Freuden und erlesene Schmerzen für mich in Bereitschaft. Mich schauderte, und ich wandte mich zum Gehen. Es war nicht das Gewissen, was mich dazu trieb; es war eine Art Feigheit. Ich rechne es mir nicht zur Ehre an, daß ich zu fliehen versuchte.«
»Gewissen und Feigheit sind in Wahrheit ein und dasselbe. Gewissen ist der eingetragene Name der Firma, weiter nichts.«
»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, auch du nicht. Indessen, das oder jenes mag mein Motiv gewesen sein – vielleicht war es Stolz, ich bin immer sehr stolz gewesen –, gewiß ist, daß ich die Tür erreichen wollte. Dort natürlich prallte ich mit Lady Brandon zusammen. ›Sie werden doch nicht so früh weglaufen wollen, Herr Hallward?‹ schrie sie. Du kennst ihre seltsam gellende Stimme?«
»O ja, die Dame ist, von der Schönheit abgesehen, ein Pfau,« sagte Lord Henry und zerzupfte mit seinen langen, nervösen Fingern das Gänseblümchen.
»Ich konnte mich nicht von ihr losmachen. Sie produzierte mich königlichen Hoheiten und Leuten mit Sternen und Hosenbandorden und ältlichen Damen mit riesenhaften Diademen und Papageinasen. Sie sprach von mir als von ihrem besten Freund. Wir hatten uns ein einziges Mal vorher gesehen, aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich als berühmten Mann zu behandeln. Ich glaube, irgendein Bild von mir hatte gerade großen Erfolg gehabt, oder es war wenigstens in den Abendblättern davon geschwatzt worden, und das ist der Unsterblichkeitsmaßstab unsres Jahrhunderts. Plötzlich befand ich mich dem jungen Manne gegenüber, dessen Erscheinung mich so sonderbar erschüttert hatte. Wir waren einander ganz nahe und berührten uns fast. Unsre Augen trafen sich wieder. Es war unbedacht von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es, alles erwogen, nicht so unbedacht. Es war einfach unvermeidlich. Wir hätten angefangen, miteinander zu sprechen, auch ohne jede Vorstellung – dessen bin ich sicher. Dorian sagte es mir später. Auch er hatte das Gefühl, daß wir dazu bestimmt waren, einander kennen zu lernen.«
»Und was für eine Beschreibung gab Lady Brandon von diesem wunderbaren Jüngling?« fragte sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Art, von allen ihren Gästen einen kurzen Abriß zu geben. Ich erinnere mich, sie stellte mich einmal einem schauderhaften rotbackigen alten Herrn vor, der über und über mit Orden und Bändern bedeckt war, und zischte mir dabei mit einem tragischen Geflüster, das jeder im Zimmer vollkommen deutlich hören mußte, die erstaunlichsten Details ins Ohr. Es blieb mir nichts übrig, als wegzulaufen. Ich komme den Menschen gern von mir selbst auf den Grund. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau wie ein Auktionator seine Waren. Sie erklärt sie entweder vollständig fort, oder erzählt einem alles von ihnen, mit Ausnahme dessen, was man wissen möchte.«
»Arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie, Harry,« sagte Hallward in zerstreutem Ton.
»Lieber Junge, sie wollte einen Salon gründen, aber es gelang ihr nur, ein Restaurant zu eröffnen. Wie könnte ich sie bewundern! Aber, sage mir, wie sprach sie über Herrn Dorian Gray?«
»Oh, etwa: ›Ein reizender junger Mensch – die arme Mutter und ich ganz unzertrennlich. Vergaß ganz, was er tut – fürchte, er – tut gar nichts – ach ja, er spielt Klavier – oder war es Geige, Herr Gray?‹ Wir mußten beide lachen, und wir wurden sofort Freunde.«
»Lachen ist für eine Freundschaft noch lange nicht der schlechteste Anfang, und ist weitaus das beste Ende für sie,« sagte der junge Lord und pflückte ein neues Gänseblümchen.
Hallward schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, was Freundschaft ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du magst alle Welt; das heißt, dir sind alle gleichgültig.«
»Wie schrecklich ungerecht von dir!« rief Lord Henry, schob seinen Hut zurück und blickte zu den Wölkchen empor, die wie verwirrte Strähnen glänzender weißer Seide über das Türkisgewölbe des Sommerhimmels dahintrieben.
»Ja, schrecklich ungerecht von dir. Ich unterscheide sehr zwischen den Menschen. Ich wähle meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem guten Verstand. Man kann nicht vorsichtig genug in der Auswahl seiner Feinde sein. Ich habe keinen einzigen erlangt, der dumm ist. Es sind alles Leute von einer gewissen geistigen Stärke, und daher schätzen sie mich alle. Ist das sehr eitel von mir? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.«
»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung kann ich bloß ein Bekannter von dir sein.«
»Mein lieber alter Basil, du bist viel mehr als ein Bekannter.«
»Und viel weniger als ein Freund. Eine Art Bruder vermutlich?«
»Oh, Bruder! Ich mache mir nichts aus Brüdern. Mein ältester Bruder denkt nicht ans Sterben, und meine jüngeren scheinen nichts anderes zu tun.«
»Harry!« rief Hallward und runzelte die Stirn.
»Lieber Junge, ich rede nicht ganz ernsthaft. Aber ich kann mir nicht helfen. Ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das ist der Tatsache zuzuschreiben, daß kein Mensch andre Menschen ausstehen kann, die dieselben Fehler wie er selbst haben. Ich verstehe den Zorn der englischen Demokratie gegen das, was sie die Laster der obern Stände nennen, vollkommen. Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unmoral ihre eigene Domäne sein sollten, und daß jemand von uns, der sich bloßstellt, auf ihren Jagdgründen wildert. Beim Ehescheidungsprozeß des armen Southwark war ihre Entrüstung ganz prachtvoll. Und doch möchte ich behaupten, daß nicht zehn Prozent im Proletariat vorschriftsgemäß leben.«
»Ich stimme keinem einzigen Wort zu, das du da gesagt hast, und was mehr ist, Harry, ich bin sicher, du auch nicht.«
Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und klopfte mit seinem zierlichen Ebenholzstock gegen die Spitze seines eleganten Stiefels. »Wie englisch du bist, Basil! Zum zweitenmal hast du jetzt diese Bemerkung gemacht. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee vorträgt – schon an sich eine Tollkühnheit –, denkt er nie daran, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Bedeutung scheint, ist, ob man selbst daran glaubt. Aber der Wert einer Idee hat nicht das mindeste mit der Aufrichtigkeit des Menschen zu tun, der sie vorbringt. In Wahrheit ist es wahrscheinlich, daß, je unaufrichtiger der Mensch ist, um so mehr rein geistig die Idee sein wird, da sie in diesem Fall weder von seinen Bedürfnissen und Wünschen noch von seinen Vorurteilen gefärbt sein wird. Indessen habe ich nicht die Absicht, Politik, Soziologie oder Metaphysik mit dir zu treiben. Ich mache mir mehr aus Personen als aus Prinzipien, und nichts liebe ich mehr als Personen ohne Prinzipien. Erzähle mir mehr von Herrn Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?«
»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn nicht täglich sähe. Er ist mir ganz und gar ein Bedürfnis.«
»Wie ungewöhnlich! Ich hätte gedacht, du kümmertest dich um nichts als deine Kunst.«
»Er ist mir jetzt meine ganze Kunst,« sagte der Maler ernst.
»Ich denke manchmal, Harry, es gibt in der Weltgeschichte nur zwei Perioden von Bedeutung. Die erste ist das Auftreten eines neuen Kunstmittels, und die zweite ist, ebenfalls für die Kunst, das Auftreten eines neuen Menschentypus. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das ist das Antlitz des Antinous für die spätgriechische Skulptur gewesen, und das wird eines Tages das Antlitz des Dorian Gray für mich sein. Es ist nicht bloß, daß ich nach ihm male, zeichne, skizziere. Natürlich habe ich all das getan. Aber er ist für mich viel mehr als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich möchte nicht sagen, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich aus ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß die Kunst sie nicht ausdrücken kann. Es gibt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken kann; und ich weiß: was ich gemacht habe, seit ich Dorian Gray kennen gelernt, ist gute Arbeit, ist die beste Arbeit meines Lebens. Aber auf seltsame Weise – ich glaube kaum, daß du mich verstehst – hat seine Erscheinung in mir eine neue Art meiner Kunst wachgerufen, eine völlig neue Stilform. Ich sehe die Dinge anders, ich denke anders über sie. Ich kann jetzt das Leben in einer Weise gestalten, die mir vorher verborgen war. ›Ein Traum von Form in den Tagen des Denkens‹ – wer hat das gesagt? Ich habe es vergessen; aber das ist Dorian Gray für mich geworden. Das bloße sichtbare Dasein dieses Jünglings, der fast noch ein Knabe ist – so erscheint er, obwohl er in Wirklichkeit über zwanzig ist – sein bloßes sichtbares Dasein – ah! ich glaube nicht, daß du dir vorstellen kannst, was alles darin liegt! Ohne es zu wissen, bildet er für mich das Lineament einer neuen Schule, einer Schule, die bestimmt ist, alle Leidenschaft des romantischen Geistes, alle Vollkommenheit des griechischen in sich zu fassen. Die Harmonie der Seele und des Körpers – wie viel das ist! Wir in unserm Wahnsinn haben die zwei getrennt und haben einen Realismus erfunden, der gemein ist, und einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du nur wüßtest, was Dorian Gray für mich ist! Erinnerst du dich an die Landschaft, für die Agnew mir einen so ungeheuren Preis bot, von der ich mich aber nicht trennen wollte? Sie ist eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil, während ich sie malte, Dorian Gray neben mir saß. Irgendein feiner Einfluß ging von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben sah ich in der einfachen Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich immer ausgeblickt und das ich nie gefunden hatte.«
»Basil, das ist etwas Außerordentliches! Ich muß Dorian Gray sehen.«
Hallward stand auf und ging im Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück. »Harry,« sagte er, »Dorian Gray ist für mich lediglich ein künstlerisches Motiv. Vielleicht sähst du nichts in ihm. Ich sehe alles in ihm. Er ist in meiner Arbeit nie mehr gegenwärtig, als wenn kein Abbild von ihm darin ist. Er ist, wie ich sagte, eine Anregung zu einer neuen Art in der Kunst. Ich finde ihn in den Schwingungen gewisser Linien, in dem Zauber und der zarten Tönung gewisser Farben. Das ist es, und das ist alles.«
»Warum willst du dann aber sein Porträt nicht ausstellen?« fragte Lord Henry.
»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser absonderlichen künstlerischen Abgötterei hineingelegt habe, von der ich natürlich zu ihm nie sprechen wollte. Er weiß nicht darum. Er soll nie darum wissen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich will meine Seele ihren oberflächlichen, spähenden Augen nicht entblößen. Mein Herz soll nie unter ihr Mikroskop kommen. Es ist zu viel von mir in dem Ding, Harry – zu viel von mir!«
»Die Dichter sind nicht so peinlich wie du. Sie wissen, wie nützlich es ist, Leidenschaft zu publizieren. Heutzutage bringt es ein gebrochenes Herz zu vielen Auflagen.«
»Ich hasse sie darum,« rief Hallward. »Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, sollte aber nichts von seinem eigenen Leben hineintun. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen die Kunst behandeln, als ob sie bestimmt wäre, eine Art Selbstbiographie zu sein. Wir haben den Sinn für absolute Schönheit verloren. Eines Tages werde ich der Welt zeigen, was Schönheit ist, und aus diesem Grunde soll sie nie mein Porträt Dorian Grays sehn.«
»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will nicht mit dir streiten. Nur die geistig Enterbten finden Gefallen am Streiten. Sag mir, hat Dorian Gray dich sehr lieb?«
Der Maler überlegte ein paar Augenblicke. »Er hat mich gern,« antwortete er nach einer Weile, »ich weiß, daß er mich gern hat. Natürlich schmeichle ich ihm schrecklich. Ich finde ein schreckliches Vergnügen daran, Dinge zu ihm zu sagen, von denen ich weiß, daß sie mir später leid tun werden. In der Regel ist er reizend zu mir, und wir sitzen im Atelier und plaudern von tausenderlei Dingen. Hie und da jedoch ist er schrecklich gedankenlos und scheint eine richtige Freude daran zu finden, mir weh zu tun. Dann fühle ich, Harry, daß ich meine ganze Seele an einen hingegeben habe, der sie behandelt, als ob sie eine Blume fürs Knopfloch wäre, eine kleine Dekoration, seiner Eitelkeit damit zu schmeicheln, ein Schmuck für einen Sommertag.«
»Im Sommer, Basil, ziehen sich die Tage manchmal lange hin,« erwiderte Lord Henry. »Vielleicht wirst du früher müde werden als er. Es ist eine traurige Sache, wenn man es bedenkt, aber es ist kein Zweifel, daß das Genie länger dauert als die Schönheit. Das erklärt die Tatsache, daß wir alle uns so damit quälen, uns mit Bildung vollzustopfen. In dem wilden Kampf ums Dasein wollen wir alle etwas haben, das dauert, und so füllen wir unsern Geist mit Schund und Tatsachen in der törichten Hoffnung, unsern Platz zu behaupten. Der durchaus wohlunterrichtete Mann – das ist das Ideal unserer Zeit. Und um den Geist des durchaus wohlunterrichteten Mannes ist es etwas Schreckliches. Er ist wie ein Antiquitätenladen, in dem es Ausgeburten aller Art und Staub gibt und jedes Ding über seinen wirklichen Wert ausgezeichnet ist. Ich glaube, du wirst trotzdem zuerst müde werden. Eines Tages wirst du deinen jungen Freund ansehn, und er wird dir ein bißchen verzeichnet vorkommen, oder du magst seinen Farbenton nicht oder so was. Du wirst ihm in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ernsthaft der Meinung sein, er benehme sich sehr schlecht gegen dich. Wenn er dich das nächste Mal besucht, wirst du völlig kalt und gleichgültig sein. Es wird sehr schade sein, denn es wird dich ändern. Was du mir erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, ein Gedicht von der Kunst möchte man es nennen, und das Schlimmste daran, ein Gedicht irgendeiner Art erlebt zu haben, ist, daß es einen so unpoetisch zurückläßt.«
»Harry, sprich nicht so. Solange ich lebe, wird die Erscheinung Dorian Grays Herr in mir sein. Du kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.«
»Ah, lieber Basil, genau darum kann ich sie nachfühlen. Menschen, die treu sind, kennen nur die gemeine Seite der Liebe: die Treulosen sind es, die die Tragödien der Liebe erfahren.« Und Lord Henry zündete an einer wertvollen silbernen Büchse ein Streichholz an und begann mit selbstbewußter und zufriedener Miene, als ob er die Welt auf einen Satz gebracht hätte, eine Zigarette zu rauchen. Es war ein Lärmen von zwitschernden Sperlingen in den Blättern des Efeus, die von grünem Lack überzogen glänzten, und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie lieblich war es in dem Garten, und wie reizend die Empfindungen anderer Leute! – viel reizender als ihre Ideen, schien es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaften seiner Freunde, – das waren im Leben die fesselnden Dinge. Er malte sich in stiller Vergnüglichkeit das langweilige Frühstück aus, um das er gekommen war, weil er sich so lange mit Basil Hallward verweilt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, so würde er sicher dort Lord Goodbody getroffen haben, und die ganze Unterhaltung hätte sich um die Ernährung der Armen und um die Notwendigkeit gedreht, Musterarbeiterhäuser zu errichten. Menschen von allerlei Art hätten über die Wichtigkeit gerade der Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben keine Verwendung hatten. Der Reiche hätte vom Wert der Sparsamkeit gesprochen, und der Faule wäre über die Würde der Arbeit zum Redner geworden. Es war prächtig, alledem entgangen zu sein. Als er an seine Tante dachte, schien ihm ein Einfall zu kommen. Er wandte sich zu Hallward und sagte: »Mein Lieber, ich erinnere mich jetzt.«
»Woran erinnerst du dich, Harry?«
»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.«
»Wo war es?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.
»Blick nicht so ärgerlich drein, Basil. Es war bei meiner Tante Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie habe einen prächtigen jungen Menschen entdeckt, der ihr im East-End helfen wollte, und er heiße Dorian Gray. Ich muß allerdings sagen, daß sie mir nie mitteilte, er sei schön. Frauen haben keinen Sinn für Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, er sei sehr ernst und habe eine edle Seele. Ich malte mir für mich ein Geschöpf mit einer Brille und herabhängendem Haar aus, dessen Gesicht furchtbar mit Sommersprossen übersät war und der auf riesigen Füßen einhertrat. Ich wollte, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.«
»Ich bin sehr froh, daß du es nicht wußtest, Harry.«
»Warum?«
»Ich will nicht, daß du ihn kennen lernst.«
»Du willst nicht, daß ich ihn kennen lerne?«
»Nein.«
»Herr Dorian Gray ist im Atelier,« sagte der Diener, der in den Garten heraustrat.
»Jetzt mußt du mich vorstellen,« rief Lord Henry lachend.
Der Maler wandte sich zu dem Bedienten, der blinzelnd in der Sonne stand. »Bitten Sie Herrn Gray, er möchte warten, Parker; ich werde in ein paar Augenblicken kommen.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.
Dann schaute der Künstler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein liebster Freund,« sagte er. »Er hat eine einfache und edle Seele. Deine Tante hatte mit dem, was sie von ihm sagte, ganz recht. Verdirb ihn nicht! Versuche nicht, Einfluß auf ihn zu üben! Dein Einfluß wäre schlimm. Die Welt ist weit und birgt viele wundervolle Menschen. Entreiß mir nicht den einzigen Menschen, der meiner Kunst allen Zauber gibt, den sie besitzt: mein Leben als Künstler hängt von ihm ab! Denk daran, Harry, ich verlasse mich auf dich.« Er sprach sehr langsam, und die Worte schienen ihm gegen seinen Willen entpreßt zu werden.
»Was für einen Unsinn du redest,« sagte Lord Henry lächelnd, nahm ihn unterm Arm und führte ihn ins Haus.
Als sein Bedienter eintrat, blickte er ihm fest ins Auge und überlegte sich, ob es ihm wohl eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der Mann stand da, ohne sich zu rühren, und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich eine Zigarette an, schlenderte durchs Zimmer zum Spiegel und blickte hinein. Er konnte Viktors Gesicht völlig deutlich darin sehn. Es war wie eine ruhige Maske der Unterwürfigkeit. Da war nichts zu befürchten, da nicht. Aber er hielt es für das Beste, auf der Hut zu sein.
In sehr leisem Ton sagte er ihm, er solle die Wirtschafterin hereinrufen und dann zu dem Rahmenmacher gehn und ihn bitten, er möchte zwei seiner Leute gleich herüberschicken. Ihm schien, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, nach dem Wandschirm blickten. Oder bildete er sich das nur ein? Nach wenigen Augenblicken kam Frau Leaf in ihrem schwarzen Seidenkleid und mit altmodischen Zwirnhandschuhen an ihren verrunzelten Händen in das Bücherzimmer. Er verlangte den Schlüssel zum Schulzimmer von ihr.
»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian?« rief sie aus. »Aber nein, das ist voller Staub. Ich muß es auskehren und in Ordnung bringen lassen, ehe Sie hinein können. Es ist nicht in dem Zustand, daß Sie es jetzt sehen können, gnädiger Herr, wahrhaftig nicht.«
»Es braucht nicht in Ordnung gebracht zu werden, Frau Leaf, ich brauche nur den Schlüssel.«
»Aber gnädiger Herr, Sie werden voller Spinnweben werden, wenn Sie hineingehn, es ist seit beinahe fünf Jahren nicht aufgemacht worden, seit Seine Gnaden gestorben sind.«
Er zuckte, als sein Großvater erwähnt wurde. Haß stieg in ihm auf, wenn er an ihn dachte. »Das macht nichts,« antwortete er. »Ich will das Zimmer nur sehn, weiter nichts. Geben Sie mir den Schlüssel!«
»Hier ist er schon, gnädiger Herr,« sagte die alte Dame die mit zitterig unsichern Händen in ihrem Schlüsselbund gesucht hatte. »Hier ist der Schlüssel, er wird im Augenblick los sein. Aber Sie wollen sich doch nicht da droben aufhalten, gnädiger Herr? Sie haben's hier so behaglich.«
»Nein, nein,« rief er ungeduldig. »Danke, Frau Leaf. Ich brauche weiter nichts.«
Sie verweilte noch einige Augenblicke und wollte über irgendeine Angelegenheit der Haushaltung ins Schwatzen kommen. Er seufzte und sagte, sie solle alles machen, wie sie's fürs Beste hielte. Mit strahlendem Lächeln ging sie hinaus.
Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche und sah sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große Decke aus purpurnem Atlas, die schwer mit Gold gestickt war. Es war ein prachtvolles Stück venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater in einem Kloster in der Nähe Bolognas gefunden hatte. Ja, die konnte er brauchen, um das Schrecknis damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch gedient. Jetzt sollte sie etwas bedecken, das eine Fäulnis eigener Art an sich hatte, eine schlimmere noch als die Fäulnis des Todes – etwas, das Ungeheuerliches gebären sollte und doch nie sterben würde. Was der Wurm für den Leichnam ist, das sollten seine Sünden dem gemalten Bildnis auf der Leinwand werden. Sie würden seine Schönheit Stück für Stück zerstören und seine Anmut zerfressen. Sie würden es besudeln und es so schänden. Und doch würde es weiter leben. Er würde immer lebendig sein.
Ihn schauderte, und einen Moment tat es ihm leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt hatte, warum er das Bild verstecken wollte. Basil hätte ihm geholfen, Lord Henrys Einfluß und den noch giftigeren Einflüssen, die aus seiner eigenen Natur kamen, zu widerstehn. Die Liebe, die Basil zu ihm hegte – denn es war wirkliche Liebe – hatte nichts zu tun mit der bloßen physischen Bewunderung der Schönheit, die aus den Sinnen entspringt und die stirbt, wenn die Sinne erschlaffen. Es war eine Liebe, wie Michelangelo sie gekannt hatte und Montaigne und Winckelmann und der große Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber es war jetzt zu spät. Die Vergangenheit konnte immer zunichte gemacht werden. Reue, Leugnen oder Vergessen konnten das bewerkstelligen. Aber die Zukunft war unabwendbar. Es gab Leidenschaften in ihm, die ihren furchtbaren Weg aus ihm heraus finden würden, Träume, die den Schatten des Bösen, das in ihnen war, zur Wirklichkeit machen würden.
Er nahm die große Decke aus Purpur und Gold, die auf dem Sofa lag, und ging mit ihr hinter den Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand schnöder, als es vorher war? Ihm schien, daß es sich nicht verändert habe; und doch war sein Widerwille dagegen stärker geworden. Goldenes Haar, blaue Augen und rosige Lippen – das war alles da. Nur der Ausdruck hatte sich verändert. Der war grauenhaft in seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu dem Tadel und Vorwurf, den er in ihm erblickte, wie oberflächlich waren da Basils Vorhaltungen wegen Sibyl Vane gewesen! Wie oberflächlich und wie unbedeutend! Seine eigene Seele sah aus der Leinwand auf ihn und rief ihn vors Gericht. Ein qualvoller Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, und er warf das üppige Bahrtuch über das Bild. Während er damit beschäftigt war, klopfte es an die Tür. Er kam hinter dem Schirm vor, als der Diener eintrat.
»Die Männer sind da, Monsieur.«
Er hatte das Gefühl, er müsse den Mann jetzt los werden. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild käme. Er hatte etwas Schlaues an sich und hatte nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch und warf ein paar Zeilen an Lord Henry aufs Papier, worin er bat, ihm etwas zu lesen zu schicken, und ihn erinnerte, daß sie sich um viertel neun heute abend treffen wollten.
»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief gab, »und lassen Sie die Männer herein.«
Nach zwei oder drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard in Person, der berühmte Rahmenmacher aus South Audley Street, trat mit einem etwas struppig aussehenden Gesellen ein. Herr Hubbard war ein blühender, rotbärtiger kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst durch den eingewurzelten Geldmangel der meisten Künstler, die mit ihm zu tun hatten, gemildert wurde. In der Regel verließ er nie seine Werkstatt: er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. Aber zugunsten Grays machte er immer eine Ausnahme. Es war an Dorian etwas, was jeden entzückte. Es war ein Genuß, ihn nur zu sehn.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Gray?« fragte er und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir die Ehre geben, persönlich herüberzukommen. Auf einer Versteigerung erwischt. Altflorentiner Arbeit. Stammt, glaube ich, aus Fonthill. Wundervoll für eine religiöse Sache geeignet, Herr Gray.«
»Ich bedaure, daß Sie sich selbst die Mühe gemacht haben, Herr Hubbard. Ich werde natürlich gelegentlich vorsprechen und den Rahmen ansehn – obwohl ich zur Zeit an religiöser Kunst nicht viel Interesse nehme –, aber heute möchte ich nur ein Bild ins Dachgeschoß bringen lassen. Es ist recht schwer, darum kam ich auf den Gedanken, Sie zu bitten, mir ein paar Arbeiter zu leihen.«
»Nicht die geringste Mühe, Herr Gray. Freut mich, Ihnen dienen zu können. Wo ist das Kunstwerk, Herr Gray?«
»Hier,« erwiderte Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es mit der Decke und allem hinaufbringen, so wie es ist? Ich möchte nicht, daß es die Treppen hinauf zerkratzt wird.«
»Das wird keine Schwierigkeiten machen,« sagte der muntere Rahmenmacher und fing mit Hilfe seines Gesellen an, das Bild aus den langen Messingketten, an denen es aufgehängt war, loszumachen. »Und nun, wo soll's hinkommen, Herr Gray?«
»Ich werde Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so freundlich sein wollen, mir nachzugehn. Oder vielleicht ist es besser, wenn Sie vorausgehn. Ich fürchte, es wird ganz unterm Dach sein. Wir wollen die Vordertreppe hinaufgehn, weil sie breiter ist.«
Er hielt die Tür für sie offen, und sie gingen mit dem Bild in den Vorraum und fingen an, hinaufzusteigen. Die reichen Zieraten des Rahmens hatten das Gemälde überaus umfangreich gemacht, und hie und da, trotz der unterwürfigen Proteste Herrn Hubbards, der die lebhafte Abneigung des echten Handwerkers gegen jede nützliche Arbeit eines feinen Herrn hatte, legte Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen.
»Eine ordentliche Last, Herr Gray,« schnaufte der kleine Mann, als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er wischte sich die glänzende Stirn.
»Es wird wohl ziemlich schwer sein,« murmelte Dorian, während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das ihm das seltsame Geheimnis seines Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Augen der Menschen verbergen sollte.
Er hatte den Raum seit mehr als vier Jahren nicht betreten – in der Tat nicht, seit er ihn zuerst in seiner Kindheit als Spielzimmer und dann, als er etwas älter geworden war, als Schulzimmer benutzt hatte. Es war ein großes, schönes Zimmer, das der letzte Lord Kelso ausdrücklich zur Benutzung für den kleinen Enkel, den er wegen seiner außerordentlichen Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch aus andern Gründen immer gehaßt und möglichst in Entfernung gehalten, hatte bauen lassen. Das Zimmer schien Dorian wenig verändert. Da war der mächtige italienische cassone mit seinen phantastisch bemalten Füllungen und den matt und schmutzig gewordenen vergoldeten Ornamenten, in dem er sich so oft als Knabe versteckt hatte. Da war der Bücherschrank aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voller Eselsohren. An der Wand hing noch derselbe zerfetzte flämische Wandteppich, auf dem fast verblichen ein König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, während Falkeniere im Zug vorbeiritten und Vögel, denen die Kappe über den Augen saß, in den eisenbehandschuhten Händen trugen. Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kinderzeit kam ihm zurück, als er um sich sah. Er gedachte der unbefleckten Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm entsetzlich, daß hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie wenig hatte er in jenen Tagen, die dahin waren, von alledem geahnt, was auf ihn warten sollte!
Aber es gab im ganzen Hause keinen andern Ort, der vor Späheraugen so sicher war. Er hatte den Schlüssel, und niemand sonst konnte hineinkommen. Hinter seinem purpurnen Bahrtuch konnte das Gesicht, das auf die Leinwand gemalt war, bestialisch, aufgedunsen und lasterhaft werden. Was tat es? Niemand konnte es sehn. Er selber wollte es nicht sehn. Warum sollte er die häßliche Verderbnis seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend – das war genug. Und überdies, konnte nicht schließlich sein Wesen geläutert werden? Es war kein Grund, warum die Zukunft so schändlich werden sollte. Die Liebe konnte kommen und ihn rein machen und ihn vor den Sünden beschirmen, die sich im Geist und im Fleisch schon zu regen schienen – vor den seltsamen, unbekannten Sünden, deren Geheimnis ihnen eben den Reiz und die Verführung gaben. Vielleicht verschwand eines Tages der grausame Ausdruck von den sensitiven Scharlachlippen, und dann konnte er der Welt das Meisterwerk Basil Hallwards zeigen.
Nein; das war unmöglich. Stunde um Stunde und Woche um Woche sollte das Antlitz auf der Leinwand älter werden. Es konnte der Häßlichkeit der Sünde entrinnen, aber die Häßlichkeit des Alters wartete darauf. Die Wangen werden hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße werden sich um die glanzlosen Augen sammeln und sie gräßlich machen. Das Haar wird seinen Glanz verlieren, der Mund wird klaffen oder einsinken, wird dumm oder gemein aussehn, wie alter Leute Mund aussieht. Der Hals wird faltig sein, die Hand kalt und voll blauer Adern, der Rücken gekrümmt, alles, wie es bei seinem Großvater war, der in seiner Knabenzeit so hart gegen ihn gewesen war. Das Bild mußte verborgen werden, es war nichts da gegen zu machen.
»Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein,« sagte er müde und wandte sich nach den Leuten. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte über etwas nach.«
»Immer angenehm, sich ausruhen zu können, Herr Gray,« antwortete der Rahmenmacher, der noch immer tief Atem holte. »Wo sollen wir es anbringen?«
»Oh, irgendwo. Hierher: da wird es gut stehn. Ich will es nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand! Danke!«
»Darf man das Kunstwerk ansehn, Herr Gray?«
Dorian erschrak. »Es hat kein Interesse für Sie, Herr Hubbard,« sagte er und behielt den Mann im Auge. Er war imstande, sich auf ihn zu stürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagte, den schimmernden Vorhang zu heben, der das Geheimnis seines Lebens bedeckte. »Ich will Sie nicht länger bemühen. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, daß Sie herübergekommen sind.«
»Nicht im geringsten, Herr Gray, nicht im geringsten. Stets zu allen Diensten für Sie bereit.« Und Herr Hubbard stampfte die Treppe hinunter, gefolgt von seinem Gesellen, der sich noch einmal nach Dorian umsah. Ein Ausdruck scheuer Bewunderung lag auf seinem gewöhnlichen, unschönen Gesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehn, der so wunderschön war.
Als der Schall ihrer Fußtritte verhallt war, verschloß Dorian die Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Er fühlte sich gerettet. Niemand sollte je das Grauenhafte erblicken, kein Auge als seines sollte je seine Schande sehen.
Als er in das Bücherzimmer trat, bemerkte er, daß es eben fünf Uhr vorbei und der Tee bereits gebracht worden war. Auf einem Tischchen von dunklem, wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war – die Frau seines Vormunds hatte es ihm geschenkt, die es sich zum Beruf gemacht hatte, leidend zu sein, und den vorigen Winter in Kairo verbracht hatte –, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch mit gelbem, etwas eingerissenem Umschlag und ziemlich verschmutzten Kanten. Ein Exemplar der dritten Ausgabe der St. James Gazette war auf das Teebrett gelegt worden. Es war klar, Viktor war zurückgekehrt. Ob er wohl die Männer im Vestibül getroffen hatte, als sie im Begriff waren, das Haus zu verlassen, und ob er aus ihnen herausgeholt hatte, was sie gemacht hatten? Er würde sicher das Bild vermissen, hatte es ohne Zweifel bereits vermißt, während er den Teetisch zurechtgemacht hatte. Der Schirm war noch nicht wieder an seine Stelle gesetzt worden, und der leere Platz an der Wand war auffallend. Vielleicht ertappte er ihn eines Nachts, wie er sich hinaufschlich und den Versuch machte, die Tür aufzusprengen. Es war furchtbar, einen Spion bei sich im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, an denen ihr ganzes Leben lang von einem Bedienten Erpressung verübt wurde, der einen Brief gelesen oder ein Gespräch mit angehört oder eine Karte mit einer Adresse aufgelesen oder unter einem Kissen eine verwelkte Blume oder ein kleines Stückchen zerdrückter Spitze gefunden hatte.
Er seufzte; dann goß er sich den Tee ein und öffnete Lord Henrys Briefchen. Es enthielt nur die paar Worte: beifolgend erhalte er das Abendblatt und ein Buch, das ihn vielleicht interessiere, und er erwartete ihn um viertel neun im Klub. Er öffnete langsam die St. James und überflog sie. Ein roter Bleistiftstrich auf der fünften Seite fiel ihm auf. Der Strich wies auf die folgende Notiz hin:
»Leichenschau an einer Schauspielerin. – Eine gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen in der Bell Tavern, Hoxton Road, von Herrn Dauby, dem Bezirksleichenbeschauer, über den Leichnam Sibyl Vanes, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Der Spruch lautete auf Tod durch Unglücksfall. Viel Teilnahme fand die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und der des Dr. Birrell, der die Obduktion der Toten vorgenommen hatte, ihrem Schmerz ergreifenden Ausdruck gab.«
Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt und stand auf, um die Papierstücke wegzuwerfen. Wie häßlich das alles war! Und wie furchtbar wirklich die Häßlichkeit alles machte. Er war etwas ärgerlich über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und ohne Frage war es dumm von ihm, daß er ihn rot angestrichen hatte. Viktor hätte ihn lesen können. Der Mann konnte mehr als genug Englisch dazu.
Vielleicht hatte er ihn gelesen und angefangen, etwas zu vermuten. Aber doch, was lag denn daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? Es war nichts zu befürchten. Dorian Gray hatte sie nicht getötet.
Sein Blick fiel auf das gelbe Buch, das Lord Henry ihm geschickt hatte. Er war neugierig darauf. Er ging zu dem perlfarbenen achteckigen Tischchen, das ihm immer wie die Arbeit seltsamer ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben aus Silber bauen könnten, nahm das Buch, warf sich in einen Lehnstuhl und fing an zu lesen. Nach ein paar Minuten ließ es ihn nicht mehr los. Es war das seltsamste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, in köstlichem Gewande und unter sanfter Flötenmusik zögen in stummem Zuge die Sünden der Welt an ihm vorbei. Dinge, von denen er unklar geträumt hatte, wurden ihm eins nach dem andern enthüllt.