Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Trust Again Playlist
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Kapitel 25
  30. Kapitel 26
  31. Kapitel 27
  32. Kapitel 28
  33. Kapitel 29
  34. Kapitel 30
  35. Kapitel 31
  36. Kapitel 32
  37. Kapitel 33
  38. Kapitel 34
  39. Kapitel 35
  40. Kapitel 36
  41. Kapitel 37
  42. Kapitel 38
  43. Epilog
  44. Danksagung
  45. Leseprobe
  46. Die Autorin
  47. Impressum

MONA KASTEN

Trust Again

Roman

Zu diesem Buch

Als Dawn Edwards für ihr Studium nach Woodshill zieht, möchte sie vor allem eins: vergessen. Vergessen, was zu Hause geschehen ist. Vergessen, dass ihre erste große Liebe sie verraten und ihr das Herz gebrochen hat. Was sie nicht erwartet, ist, dass sie gleich in der ersten Woche in der neuen Stadt Spencer Cosgrove begegnet – der nicht nur ihr Herz gefährlich schnell schlagen lässt, sondern auch augenblicklich beginnt, hemmungslos mit ihr zu flirten. Dabei hat Dawn sich felsenfest geschworen, die Finger von Männern zu lassen. Die Sache mit der Liebe ist für sie gestorben – ein für alle Mal. Stattdessen will Dawn sich auf ihre Kurse am College konzentrieren, auf ihre Freunde und ihre größte Leidenschaft: das Schreiben von Geschichten. Aber Spencer gibt nicht auf. Je öfter Dawn ihn abblitzen lässt, desto hartnäckiger wird er. Bis Dawn zufällig eine ganz andere Seite an ihm kennenlernt, die ihr Spencer in einem völlig neuen Licht zeigt. Denn auch er verbirgt etwas. Etwas Herzzerreißendes, von dem niemand etwas erfahren soll. Und plötzlich ist es Dawn unmöglich, sich von ihm fernzuhalten. Auch wenn sie weiß, dass ihr Herz keine weitere Enttäuschung überstehen wird …

Für meine Eskalationsmädels:
Bianca, Caro, Kim, Laura, Nadine,
Rebecca und Yvo

Trust Again Playlist

Weaker Girl – Banks

War Of Hearts – Ruelle

Lay It All On Me – Rudimental (feat. Ed Sheeran)

Into You – Ariana Grande

Let Me Love You – Ariana Grande (feat. Lil Wayne)

What A Feeling – One Direction

Never Enough – One Direction

Bloodsport – Raleigh Ritchie

No Pressure – Justin Bieber (feat. Big Sean)

Only Love – Ben Howard

Rivers In Your Mouth – Ben Howard

Remnants – Jack Garratt

In The Shadow Of A Dream – James Morrison

To The Wonder – Aqualung (feat. Kina Grannis)

Everything Is Lost – Maggie Eckford

dRuNk – ZAYN

Show Me Love – Robin Schulz & J. U. D. G. E.

Close – Nick Jonas (feat. Tove Lo)

We Don’t Talk Anymore – Charlie Puth (feat. Selena Gomez)

Where’s My Love – SYML

Kapitel 1

Es war eine Schnapsidee gewesen, im Coffeeshop schreiben zu wollen.

Der absolute Reinfall.

Ich starrte den Typen an, der vor mir stand und mich ansah, als würde er auf eine Antwort auf das warten, was er gerade zu mir gesagt hatte. Keine Ahnung, weshalb er davon ausging, dass ich ihn verstanden hatte. Vielleicht glaubte er, ich besäße die wundersame Begabung, Lippen zu lesen? Meine Kopfhörer hatten den ungefähren Durchmesser einer Pizza und wogen in etwa zehn Pfund. Ich hatte extra ein bisschen mehr Geld investiert, damit auch wirklich kein Geräusch zu mir durchdrang, wenn ich mich beim Arbeiten konzentrieren musste.

Genau deswegen hasste ich es eigentlich, an öffentlichen Orten zu schreiben. Zum einen, weil der Lautstärkepegel nur mit schalldichten Kopfhörern zu ertragen war, und zum anderen, weil man ständig von irgendwelchen Leuten angesprochen oder angerempelt wurde. Ersteres war jetzt gerade der Fall gewesen.

Der Typ war hübsch, keine Frage. Er hatte rotbraunes Haar und schöne braune Augen. Mit seiner Jeans, dem eng anliegenden Shirt, das seine Schultern umspannte, war er wirklich nett anzusehen. Trotzdem breitete sich ein ziemlich unangenehmes Gefühl in mir aus.

Langsam hob ich die rechte Muschel meiner übergroßen Kopfhörer vom Ohr.

»Wie bitte?«, fragte ich und neigte den Kopf zur Seite, um den Typen besser verstehen zu können. In meinem linken Ohr tönte noch immer Halsey in voller Lautstärke.

Der Typ sah durch halb gesenkte Lider auf mich herab. »Du bist oft freitags hier«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf mich. »Bist mir schon ein paar Mal aufgefallen.«

Das stimmte, auch wenn es keineswegs eine freiwillige Entscheidung war. Wäre es mir überlassen gewesen, hätte ich den Freitagnachmittag in meinem Zimmer im Wohnheim der Woodshill University verbracht. Aber leider teilte ich mir das Zimmer mit einer Nymphomanin.

»Ja. Hier gibt es guten Kaffee«, murmelte ich. Die Art und Weise, wie der Kerl mich ansah, war mir unangenehm. Als würde er sich etwas von mir erhoffen und die Möglichkeit, dass er es nicht bekommen könnte, gar nicht erst in Betracht ziehen.

Jetzt neigte auch er den Kopf zur Seite. Das Lächeln wurde breiter. »Du trinkst keinen Kaffee. Meistens bestellst du dir eine heiße Schokolade. Aber bald wird es wieder wärmer. Ich bin gespannt, worauf deine Wahl dann fällt.«

Meine Hände wurden feucht, und ich schluckte schwer. Allmählich wurde er mir unheimlich. Immerhin war ich niemand, der sich um einen Platz an der riesigen Fensterfront prügelte, sondern saß meistens in der oberen Etage des Cafés Patriot, ganz weit hinten in einer Ecke mit dem Rücken zum Innenraum. Dieser Platz mit dem kleinen runden Tisch und den abgenutzten Stühlen war wie ein kleines Versteck für mich. Ich hätte nie gedacht, jemand könnte mich dort beobachten.

Es war gruselig.

Beobachtete er mich schon länger? Oh Gott, hatte er womöglich gesehen, woran ich arbeitete?

»Ich würde es gerne herausfinden«, fuhr der Typ fort, seine Stimme eine Oktave tiefer.

Im Ernst. Er versuchte, die Nummer mit der tiefen Stimme und dem Schlafzimmerblick bei mir abzuziehen. Wäre ich ein anderes Mädchen gewesen, hätte es vielleicht funktioniert. Aber ich mied die Gesellschaft des männlichen Geschlechts seit mehr als einem Jahr wie die Pest.

»Ich weiß das Angebot zu schätzen«, fing ich an und strich meinen Pony zur Seite. Er befand sich gerade in dieser nervigen Zwischenphase, während der mir die roten Strähnen wie kleine spitze Geschütze in die Augen piekten. »Aber ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

»Ach, komm«, erwiderte er sofort und zog sich den freien Stuhl vom Nachbartisch in meine Ecke. Er setzte sich verkehrt herum darauf und stützte die Arme auf die Lehne. »Ich bin ein guter Zuhörer.«

Wie kam er denn darauf, dass ich mit ihm reden wollte? Mein Blick huschte für einen kurzen Moment zu meinem Laptop. Ich hatte extra darauf geachtet, die Schriftgröße kleiner einzustellen, und auch das Display war auf eine niedrige Helligkeit eingestellt. Trotzdem juckte es mich in den Fingern, ihn einfach zuzuklappen. Das, was dort stand, war nicht für fremde Augen bestimmt – zumindest jetzt noch nicht.

Mit einer ruckartigen Bewegung drang Grover in mich ein, und ich stöhnte laut. Der animalische Laut, den er dabei ausstieß, ließ mich jetzt schon beinahe kommen.

Nein, am allerwenigsten war das für die Augen dieses gruseligen Fremden bestimmt.

»Welches Fach?«, fragte der Typ und deutete auf meinen Laptop.

Mit einer scheinbar beiläufigen Bewegung klappte ich den Bildschirm zu, gleich danach schob ich die kabellosen Kopfhörer in den Nacken und nahm beide Hände, um meine Haare vorsichtig unter ihnen hervorzuziehen. Dann griff ich meine Tasche vom Boden, um Watson – so hatte ich den gigantischen Laptop getauft, als ich ihn vor knapp drei Jahren gekauft hatte – wieder zu verstauen. Er war riesig mit seinen schätzungsweise einhundert Zoll und wog dementsprechend viel.

Der Typ fasste mich sanft am Arm. »Hey, alles klar. Ich wollte dich nicht verscheuchen, bin schon weg«, sagte er nun in einem beinahe schüchternen Tonfall. »Du sahst nur so ausgeschlossen aus, und da dachte ich …« Unbeholfen zuckte er mit den Schultern.

Okay, jetzt war er nicht mehr ganz so unheimlich.

»Ich finde dich echt nett …« Ich überlegte fieberhaft, ob er mir seinen Namen bereits verraten hatte.

»Cooper«, half er mir aus.

»Cooper«, wiederholte ich mit einem Lächeln. »Wirklich, du wirkst wie ein netter Kerl, aber ich muss jetzt los. Ich habe noch einiges zu tun und kann mich hier irgendwie nicht konzentrieren.« Ich befreite meinen Arm aus seinem Griff und verstaute das Akkukabel im vorderen Fach meiner Laptoptasche.

»Wir könnten es irgendwann wiederholen. Wenn du nicht mehr so viel zu tun hast«, schlug Cooper vor.

Ich unterdrückte ein Seufzen und erhob mich. »Ich bin nicht … interessiert. Tut mir leid.«

Cooper war ebenfalls aufgestanden. Er ließ seine Augen langsam an meinem Körper rauf- und runterwandern. »So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.«

Ich blinzelte perplex. »Wie bitte?«

»Ich meine nur, du siehst aus wie jemand, der gegen ein bisschen Spaß nichts einzuwenden hat.« Sein Blick war plötzlich nicht mehr freundlich, sondern ziemlich abschätzig. »Aber du bist anscheinend total prüde. Schade.«

Innerhalb weniger Sekunden rutschten Coopers zuvor gesammelten Pluspunkte in ein gewaltiges Minus.

»Ich nehme alles zurück, Cooper. Du bist überhaupt kein netter Kerl«, stieß ich hervor und sammelte kopfschüttelnd meine restlichen Habseligkeiten ein. Zum Schluss schulterte ich die schwere Tasche.

»Oder bist du vielleicht lesbisch? Dann hättest du das ja auch gleich sagen können!«

Dieser Typ war unfassbar. »Nicht, dass meine sexuelle Orientierung hierbei irgendeine Rolle spielt, aber nur weil ich nicht mit dir ausgehen will, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht auf Männer stehe«, zischte ich und drängte mich an ihm vorbei. »Oder dass ich prüde bin, nur weil ich nicht auf deine Masche mit der tiefen Stimme und dem Ich-beobachte-dich-schon-eine-Weile reinfalle.«

Schneller, als es mit der Tasche hätte möglich sein sollen, hastete ich die Treppe hinunter und stürmte nach draußen.

Tief sog ich die frische Februarluft ein. Es war noch immer ziemlich kalt, und beim Ausatmen traten kleine Wölkchen aus meinem Mund. Ich kramte die gestrickte, khakifarbene Wollmütze aus der Jackentasche und schob sie über den Kopf, bis sie meine Ohren vor dem schneidenden Wind in Woodshill schützte. Nachdem ich auch den Schal über das halbe Gesicht gezogen hatte, ging ich im Kopf meine Möglichkeiten durch.

Ins Wohnheim konnte ich wohl noch nicht zurückkehren. Meine Mitbewohnerin Sawyer hatte wieder einmal Männerbesuch, und ich war schon viel zu oft Zeugin ihrer sexuellen Aktivitäten geworden. Sie war einer der Gründe dafür gewesen, dass ich in teure Kopfhörer investiert hatte. Da mir das Risiko zu groß war, wieder auf einen halbnackten Kerl zu treffen, der gerade den Kopf zwischen ihren Beinen vergraben hatte, traute ich mich nicht nach Hause.

Das Patriot fiel ab sofort als Schreiblocation flach. Solange dieser Widerling noch da war, brachten mich keine zehn Lamas dorthin zurück.

Eine Möglichkeit wäre die Unibibliothek. Heute würde sie erst um zehn schließen, aber für das, woran ich gerade arbeitete, war sie nicht besonders gut geeignet. Zu viele Menschen, die einem im Vorbeigehen auf den Bildschirm schauten.

Ich vergrub die Hände in den Taschen und traf mit den Fingern auf kühles Metall. Meine düsteren Gedanken lichteten sich augenblicklich. Natürlich!

Vor knapp zwei Monaten war meine beste Freundin Allie in ihre neue Wohnung gezogen, die eine knappe Viertelstunde vom Campus entfernt lag. Gleich bei ihrem Einzug hatte sie mir ihren Zweitschlüssel gegeben. Zum einen, weil ich offizielle Tante ihres Katers Spidey war und ihn während ihrer Abwesenheit manchmal füttern musste, und zum anderen, weil Allie über Sawyers rege Aktivitäten im Bilde war. Sie hatte mir angeboten, zu ihr zu kommen, sollte ich mal wieder ausgesperrt werden. Ich hatte mich noch nicht oft getraut, auf dieses Angebot zurückzukommen, aber heute blieb mir keine andere Wahl.

Sofort holte ich mein Handy aus der Tasche und klingelte bei ihr durch. Nachdem ich sie nicht erreichte, schrieb ich ihr eine kurze Nachricht, in der ich meinen Besuch ankündigte.

Bei jedem anderen Menschen wäre es mir unangenehm gewesen, auf Hilfe angewiesen zu sein, aber bei Allie sah das anders aus. Ich hatte sie im vorigen Semester kennengelernt, am allerersten Tag der Einführungsveranstaltungen. Ich war nur auf sie aufmerksam geworden, weil sie genauso ausgesehen hatte, wie ich mich gefühlt hatte – schlichtweg verzweifelt. Kurzerhand hatte ich sie zu mir in die Reihe gewinkt, und von da an waren wir unzertrennlich.

Allie wohnte mit ihrem Freund Kaden in einer sehr schönen Gegend. Die Grünanlagen waren an diesem Tag noch von Frost bedeckt, aber ich war mir sicher, dass sie in den kommenden Monaten vor Farbe geradezu strahlen würden. Das Wohnhaus lag in der Nähe eines kleinen Parks, und schon von hier aus hatte man gute Sicht auf den Mount Wilson und die umliegenden Täler.

Noch vor einem Jahr hätte ich meinen Laptop darauf verwettet, dass ich niemals einen schöneren Ort als Portland finden würde. Doch jetzt war dort alles mit Erinnerungen verbunden, die ich für immer aus meinem Gedächtnis verbannen wollte, während mir das Verdrängen hier hingegen bisher ganz gut gelungen war – und nicht nur das. Ich hatte außerdem schon jetzt ganz viele neue Erinnerungen sammeln können.

Ich schloss die Haustür zu Allies Wohnhaus auf und stieg die Stufen bis in den zweiten Stock hinauf. Inzwischen hatte ich so viel Zeit bei Allie verbracht, dass ich den Weg beinahe besser kannte als den zu meinem Wohnheimzimmer. Man musste die Wohnungstür immer ein bisschen anziehen und sich dann schwer dagegenstemmen, damit sie sich öffnen ließ. Gleich als ich in den Flur trat, hörte ich Spideys vertrautes Miauen.

»Hallo?«, rief ich vom Flur aus. Ich stellte die Tasche ab und öffnete die Jacke. Noch immer unschlüssig, ob überhaupt jemand da war, trat ich vorsichtigen Schrittes in Richtung Wohnzimmer.

Stille.

Einzig Spideys leises Brummen war zu hören, als er sich an meinen Beinen rieb. Vorsichtig ließ ich die Hand über seinen rot getigerten Rücken gleiten. Augenblicklich breitete sich ein seliges Lächeln auf meinen Lippen aus, und ich schulterte Watson wieder, um es mir auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich zu machen.

Doch was dann geschah, war schlimmer als jedes Worst-Case-Szenario, das ich mir für diesen Tag noch hätte ausdenken können.

Penis.

Das war das, was mir als Erstes ins Auge sprang.

Ein ziemlich großer, und nebenbei bemerkt auch eindeutig einsatzbereiter Penis befand sich in meinem Blickfeld. Ich riss die Augen auf und starrte an Kaden hoch, der meinen Blick mit offenem Mund erwiderte. Die Sekunden verstrichen, und ich wollte wirklich nicht hingucken –, aber er war nun mal nackt. Und meine Augen taten irgendwie, was sie wollten. Sofort kniff ich sie fest zusammen.

Gott, ich wünschte, ich könnte mich spontan in Luft auflösen.

»Kaden?«, erklang die Stimme meiner besten Freundin aus dem Schlafzimmer.

Das war dann wohl mein Stichwort.

Ich machte auf dem Absatz kehrt, wobei ich natürlich über Spidey stolperte, weil meine Augen immer noch zusammengekniffen waren, und rannte so schnell aus der Wohnung, wie ich nur konnte. Kaden rief mir noch etwas hinterher, aber ich sah zu, dass ich Land gewann. Meine Schritte hallten im Treppenhaus wider, die Absätze meiner Ankleboots knallten auf den Granit, und plötzlich rannte ich mit voller Wucht in jemanden hinein.

Der Stoß haute mich um, und ein heftiger Schmerz durchlief mein Gesicht. Ich taumelte rückwärts und griff ziellos in der Luft umher, um Halt zu finden. Da! Ich bekam den Typen zu fassen. Doch statt mir Halt zu geben, stieß dieser ein Ächzen aus und taumelte genauso heftig. Er entschied sich dafür, mich niederzureißen, statt auf mich zu fallen. Sehr nett, wie ich fand.

Während ich versuchte, mich aufzurichten, verpasste ich diesem Tag in meinem imaginären Kalender ein dickes, rotes Kreuz.

Autsch. Vermutlich war meine Nase gebrochen. Meine Nase, meine Knie und vielleicht auch ein paar Rippen.

»Ich wünsche mir zwar schon ziemlich lange, dass du dich auf mich stürzt, aber so wörtlich habe ich das eigentlich nie gemeint«, erklang es unter mir, und ich hielt die Luft an.

Der Tag bekam gleich zwei rote Kreuze. Dazu einen fetten schwarzen Kreis und ein Emoji. Am besten das kleine Äffchen, das sich die Augen zuhält.

Mit einem Arm strich ich mir die roten, wirren Strähnen aus der Stirn, um wieder sehen zu können.

Strahlende, dunkelblaue Augen erwiderten meinen Blick.

Dieses amüsierte Funkeln war mir mehr als vertraut. Ebenso die samtige Stimme, die zuckenden Mundwinkel und auch die schwarzen Haare, die meistens taten, was sie wollten.

Spencer.

Ich war mitten in meinen besten-schlimmsten Albtraum hineingerannt. Der einzige Kerl, der es seit meiner Trennung geschafft hatte, mein eigens auferlegtes Zölibat manchmal infrage zu stellen.

»Ich glaube, meine Nase ist gebrochen«, stöhnte ich und blies mir eine Ponyfranse aus dem Auge. Selbst dieser kleine Lufthauch lies meinen Nasenrücken pochen.

Eine Hand hob sich von meiner Hüfte hoch zu meinem Gesicht und betastete vorsichtig besagtes Körperteil. Meine Haut fing an zu kribbeln, selbst durch das schmerzende Pochen hindurch.

»Nichts gebrochen.«

Die Gewissheit seiner Worte machte mich stutzig. »Woher weißt du das?«, fragte ich interessiert.

Seine zweite Hand legte sich wieder auf meine Hüfte, als gehörte sie genau dort hin. Vertraut. Selbstsicher. Und ich schaffte es einfach nicht, wieder aufzustehen.

»Ich habe mir die Nase schon mal gebrochen«, erklärte Spencer und drehte den Kopf zur Seite, sodass ich sein Gesicht im Profil sehen konnte. »Siehst du?«

Tatsächlich. Ein ganz, ganz leichter Hubbel war auf dem oberen Nasenrücken zu erkennen. Mein Blick machte sich wieder selbstständig und fuhr die starke Linie seines Kinns entlang, bis zu seinem Mund und wieder zurück nach oben. In meinem Brustkorb regte sich etwas, und endlich erwachte ich aus meiner Starre.

Vorsichtig stieß ich mich vom Boden ab und erhob mich. »Sorry. Ich wollte dich nicht umrennen.«

Auch er stand auf, noch immer dieses Beinahelächeln in den Mundwinkeln. Als er endlich hochgekommen war, hielt er den Unterarm vor den Bauch und verneigte sich leicht vor mir.

»Es war mir eine Ehre, Dawn.« Er richtete sich wieder auf und sah von oben auf mich herab.

Spencer war groß – viel größer als ich, was mit meinen mickrigen eins achtundfünfzig kein großes Kunststück war.

»Wenn du jemals wieder jemanden als persönliche Wand gebrauchen kannst, melde dich bei mir. Meine Nummer hast du.« Jetzt grinste er und zeigte eine Reihe gerader, ebenmäßiger Zähne.

Wieder regte sich etwas in meinem Oberkörper, diesmal ein verräterisches Flattern im Bauch.

Verflucht sei Spencer Cosgrove.

Als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war mir ein Wort durch den Kopf gejagt: Scheiße.

Da ich ihn für Kaden gehalten hatte, der Allie damals nicht besonders freundlich behandelte, hatte ich ihm einen ordentlichen Einlauf verpasst. Ein schiefes Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet, und dann waren es plötzlich zwei Worte gewesen, die mir durch den Kopf geschossen waren: verfluchte Superscheiße.

Allie hatte das Missverständnis hastig aufgeklärt. Dabei wäre ich gern noch etwas länger wütend auf ihn gewesen. Es hätte mir einen wunderbaren Vorwand geliefert, das Offensichtliche zu ignorieren. Nämlich dass Spencer heiß war.

Er war heißer, als es gesund für sein Umfeld war. Ich wollte ihn nicht scharf finden, aber es war eine Tatsache, die ich nicht abstreiten konnte. So sehr ich mich auch darum bemühte.

»Dawn?«, hakte Spencer nach und runzelte leicht die Stirn. »Alles in Ordnung? Du hast dir den Kopf doch nicht allzu schlimm an meiner stählernen Brust angeschlagen, oder?«

Es war klar, dass er Witze machte, so wie über alles, was ihm in die Quere kam. Spencer war nicht besonders breit gebaut. Das tat seiner Attraktivität allerdings keinen Abbruch – eher im Gegenteil. Er besaß den schlanken, sehnigen Körper eines Läufers und war perfekt gebaut. Nicht zu breit, nicht zu schlank. Genau dazwischen. Einfach … argh.

»Ich bin froh, dass es dein starker Körper gewesen ist, in den ich gerannt bin, und nicht die Wand«, antwortete ich ein bisschen zu atemlos und sah mich nach Watson um. Er musste bei unserem Sturz hart aufgekommen sein. Hoffentlich war durch die Polsterung der Tasche das Schlimmste verhindert worden. Ich besaß nicht genügend Geld für einen neuen Laptop.

»Warst du gerade bei Allie?«, fragte Spencer weiter, und sein Arm schob sich in mein Blickfeld. Er hatte Watson aufgehoben und strich mit der anderen Hand ein paar Schmutzflecken von der schwarzen Laptoptasche.

Seine Frage rüttelte eine Erinnerung in meinem Kopf wach. Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Du kannst da nicht hoch!« Ich schüttelte heftig den Kopf. Meine Haare wirbelten umher, eine Strähne blieb zwischen meinen Lippen kleben. Ich pustete sie wieder aus.

Spencer runzelte erneut die Stirn. »Kaden und ich waren für ein Projekt verabredet.«

Ich wollte ihm sagen, dass die beiden beschäftigt waren, oder es anders irgendwie nett umschreiben, aber stattdessen platzte nur ein einziges Wort aus mir heraus. »Penis.«

Er blinzelte perplex. »Was?«

Und als wäre ich eine gesprungene CD, brachte ich wieder nur dasselbe Wort hervor, diesmal sogar etwas lauter. »Penis!«

Die Situation erinnerte mich an das Penis-Spiel, bei dem derjenige gewann, der das Wort in der Öffentlichkeit am lautesten ausrief.

»Ich kann dir Cosgrove Junior gerne zeigen, aber da wäre ein privater Rahmen irgendwie angebrachter, findest du nicht?« Er erwiderte meinen Blick und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern. »Aber gut, wenn du willst, dann eben hier. Früher oder später wäre es ohnehin dazu gekommen.« Spencer griff nach unten und nestelte an seinem Gürtel herum.

Sofort packte ich seine Hände und zerrte sie fort. »Nicht dein Penis, du Idiot«, zischte ich. »Kaden war nackt, als ich in die Wohnung geplatzt bin. Ich glaube … die beiden haben gerade keine Zeit für uns.«

Spencer presste die Lippen fest aufeinander. Seine Schultern begannen zu beben.

»Lach ruhig«, sagte ich verbissen und ließ seine Hände abrupt los.

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Es klang heiser und volltönend. Sein Lachen erfüllte das ganze Treppenhaus und trieb mir einen angenehmen Schauer über den Rücken.

Ich hasste ihn ein bisschen dafür.

Frustriert seufzte ich und stellte den schweren Laptop auf dem Boden ab. »Heute ist nicht mein Tag.«

»Was musst du denn machen?«, fragte Spencer, nachdem sein Lachen zu einem schiefen Grinsen abgeflaut war.

»Ich muss noch ein bisschen arbeiten und habe keine Ahnung, wo ich jetzt hin soll«, antwortete ich.

»Wieso gehst du nicht zurück ins Wohnheim?«, fragte er und spielte mit dem Reißverschluss seiner schwarzen Jacke. Er drehte ihn in der Hand, zog ihn ein Stück auf und wieder zu.

So war es immer mit Spencer. Er konnte nicht stillstehen, vermutlich nicht einmal, wenn es um Leben oder Tod gehen würde. Dafür hatte er zu viel angestaute Energie in sich. Mit allem, was er in die Finger bekam, spielte er herum. Immer wenn ich mich mit Allie zum Lernen verabredete, und er gerade bei Kaden war, trieb er uns in den Wahnsinn, weil er unaufhörlich mit Stiften auf Bücher trommelte oder die Finger nicht vom Druckknopf seines Kugelschreibers lassen konnte.

Am Anfang hatte ich das noch merkwürdig gefunden. Einerseits hatte mich irritiert, wie wahnsinnig attraktiv ich ihn fand, andererseits hatte es mich stets nervös gemacht, dass er ständig in Bewegung war. Doch je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr gewöhnte ich mich an seine Ticks. Mittlerweile war Spencer einer meiner besten Freunde.

Nur ein Freund. Nicht mehr.

»Sawyer ist … beschäftigt. Also bin ich in einen Coffeeshop, aber da konnte ich mich irgendwie nicht konzentrieren, vor allem weil da so ein komischer Typ war, der mich zu einem Kaffee einladen wollte, und dann bin ich hergekommen, weil ich dachte, dass Allie und Kaden nicht da wären«, wich ich aus.

Spencer gluckste. »Sag nicht, du hast Sawyer auch beim …«

Ruckartig hob ich den Kopf. »Nein, habe ich nicht.«

Seine Augen blitzten auf, und ich sah ihm deutlich an, dass er mir kein Wort glaubte. »Du kannst mit zu mir kommen.«

Ich wollte protestieren, aber dann fiel mir ein, dass ich noch nie bei Spencer gewesen war. Wir bewegten uns im selben Freundeskreis und verbrachten viel Zeit miteinander, aber unsere Treffen fanden nie bei ihm statt. Wenn ich ehrlich war, war ich ein bisschen neugierig, weshalb er uns nie zu sich nach Hause einlud.

Trotzdem konnte ich nicht mit ihm gehen. Tief in mir sträubte sich etwas dagegen, Zeit mit ihm alleine zu verbringen. Das taten wir nicht häufig, aber wenn es doch mal dazu kam, musste ich mich zusammenreißen, um ihn nicht zu lange anzustarren. In Gegenwart unserer Freunde fiel mir das leichter.

»Ich weiß nicht.«

Er beugte sich dicht zu mir. »Warum nicht?«, fragte er, und sein Blick fuhr nachdenklich über mein Gesicht. Er war nah, viel zu nah.

Mein Herz machte einen Sprung, obwohl es das nicht tun sollte. Bei niemandem. Ich hatte es ihm inständig verboten. Scheiß Verräterherz. Da hegte und pflegte ich es gesund, und dann tat es so etwas.

»Weil …« Ich musste mich räuspern, wenn er mir so nahe kam. Natürlich sprang mein Instinkt auf seinen herben Geruch und diese charismatische Ausstrahlung an. Das hatte aber rein gar nichts mit mir und meinen Wünschen zu tun. Ich brauchte Abstand, wenn ich verhindern wollte, dass sich die Hitze in meiner Magengegend weiter hochkämpfte und sich letztlich tomatenrot auf meinen Wangen breitmachte. Manchen Mädchen stand diese Röte. Sie sahen aus, als kämen sie gerade von einem schönen Winterspaziergang. Ich dagegen bekam Flecken, die erst meinen Hals in Beschlag nahmen und sich anschließend ungleichmäßig auf meinem Gesicht verteilten. Also das Gegenteil von attraktiv. Außerdem wollte ich von Spencer nicht zum Erröten gebracht werden.

Als hätte er diesen Gedanken gelesen, richtete er sich wieder auf und hob mit einer schnellen Bewegung meine Tasche vom Boden auf.

»Hey!«, rief ich und sprang auf. Ich griff nach meiner Jacke und schlüpfte in die Ärmel. Als ich mich umdrehte, war Spencer bereits die Treppe hinuntergelaufen. »Gib mir Watson zurück!«

Auf dem nächsten Absatz hielt er inne und sah zu mir hoch. »Watson? Wie John Watson?«

Ich nickte und wickelte mir im Gehen den Schal um den Hals, während Spencer ein Brummen tief aus der Brust zum Besten gab.

»Wenn du wüsstest, wie gerne ich dich genau in dieser Sekunde um ein Date bitten würde.«

Ich seufzte. So ging es mittlerweile seit über einem halben Jahr. Beinahe täglich bat er mich um ein Date – und jedes Mal verneinte ich.

Ich hatte keine Dates. Ich wollte keine Dates. Und ganz gleich, wonach mein Körper verlangte – ich würde mich nie wieder auf einen Kerl einlassen.

»Du weißt, wie meine Antwort lautet«, sagte ich und hielt eine Stufe über ihm inne. Nun befanden wir uns auf Augenhöhe.

Alles, was ich sah, war Blau. Blau und dieses Grinsen.

»Du kommst aber trotzdem mit, oder?«

»Lässt du mir denn eine Wahl?«, entgegnete ich.

Im nächsten Moment hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und sprang die restlichen Stufen hinab, Watson unter einen Arm geklemmt wie eine Geisel.

Das war dann wohl meine Antwort.

Kapitel 2

Spencer fuhr einen rostroten Volvo Hatchback, dessen Farbe sich mit meinen Haaren biss. Beim Fahren trommelte er auf dem Lenkrad herum, obwohl das Radio ausgestellt war, und wir unterhielten uns über unverfängliche Sachen. Das College, welche Filme wir zuletzt gesehen hatten, die anstehende Party in einem der Verbindungshäuser, zu der wir eigentlich nicht gehen wollten.

Spencer hatte immer irgendetwas zu berichten. Er studierte Creative Industries im Hauptfach und hatte sein Nebenfach bereits zweimal gewechselt, weil er sich nicht festlegen konnte und ihn alles interessierte.

In diesem Semester lag sein Fokus auf Sexuality, Gender and Queer Studies, und ich fragte ihn über das Fach aus, weil es damals auf meiner Liste auch ziemlich weit oben gestanden hatte. Dann war ich allerdings für Englisch mit dem Schwerpunkt Creative Writing genommen worden – meinen Wunschstudiengang.

Während wir miteinander sprachen, verflog auch meine Befangenheit, mit zu ihm nach Hause zu fahren. Solange er keine zu anzüglichen Kommentare machte, war er nämlich ein guter Freund, in dessen Gesellschaft ich mich inzwischen sehr wohlfühlte.

Es dauerte nicht lange, bis wir in eine hübsche Wohngegend kamen, die – so wie eigentlich alles in Woodshill – nah bei der Innenstadt lag.

Spencer lenkte den Wagen auf einen der freien Parkplätze am Straßenrand. Ich stieg aus und nahm die Gegend näher in Augenschein. Hier war es sogar noch ein bisschen hübscher als bei Allie und Kaden. Die Straße bestand aus vielen ordentlich nebeneinander gebauten Reihenhäusern, die von grünen Rasenflächen und gepflegten Vorgärten umgeben waren.

»Heiliger Strohsack«, murmelte ich.

Die Reihenhäuser wirkten mit ihren verwinkelten Erkern und Giebelfenstern wie einem Filmset entsprungen. Es musste sich um ein Neubaugebiet handeln, so unverbraucht und frisch wie alles aussah und auch roch. Dennoch war die Gegend dem Stil der anderen Wohnhäuser in Woodshill angepasst. Bloß eine Spur neuer, einen Tick hübscher. Überrascht sah ich Spencer an, doch er wich meinem Blick aus und machte sich auf den Weg in Richtung Eingang. Ich folgte ihm, während ich die Bäume und ebenmäßig gepflanzten Blumen betrachtete, die trotz der Kälte schon zu blühen begannen.

Spencer lief geradewegs auf den schmalen, von Sträuchern gesäumten Weg zu, der zu einer dunkelgrünen Haustür mit Milchglasfenstern führte. Seine Schultern wirkten verspannt, während er den Schlüssel ins Schloss manövrierte und sich gegen die Tür stemmte. Er trat beiseite, damit ich reinkommen konnte.

»Hier wird uns aber niemand nackt begegnen, oder?«, fragte ich, als ich unsicheren Schrittes das Haus betrat. Seit wir in die Straße eingebogen waren, schien Spencer still. Zu still, zu ruhig. Er zappelte überhaupt nicht mehr herum. Das Einzige, das noch an den normalen Spencer erinnerte, war, dass er Watson noch immer im Schwitzkasten hielt.

»Nein, ich wohne allein«, sagte er mit einem Lächeln, das nicht ganz echt wirkte. »Und ich laufe nur nackt rum, wenn ich in Stimmung bin.« Er hob anzüglich die Brauen, und ich atmete innerlich auf. Das klang schon eher nach Spencer.

Er nahm mir die Jacke ab und hängte sie an der Garderobe auf, bevor er mich durch den Flur in Richtung Wohnzimmer führte.

Oh, wow.

Graue Wände, dunkle Dielen und Möbel mit cremefarbenen Akzenten füllten den Raum. Eine riesige Eckcouch mit gemusterten Kissen teilte das Wohnzimmer vom offenen Essbereich ab, in dem ein großer, grob gefertigter Holztisch mit sechs Stühlen stand. Ich bog nach links um die Ecke und nahm die Küche in Augenschein. Ein peinlicher Laut befreite sich aus meiner Kehle. Er war eine Mischung aus Erstaunen und Aufgeregtheit und …

»Wie konntest du nur?« Aufgebracht fuhr ich zu ihm herum.

Er verharrte mit in den Taschen vergrabenen Händen im Essbereich.

Mit dem Daumen deutete ich über meine Schulter. »Du weißt, wie gerne ich koche, und hast mir das verheimlicht?«

Die neue Einbauküche war der Traum eines jeden Hobbykochs und das genaue Gegenteil der mickrigen Wohnheimküche, mit der ich mich zufriedengeben musste. Ein Gasherd stand auf der rechten Seite, auf der polierten Arbeitsfläche befand sich ein Messerblock, der völlig unbenutzt aussah. Darüber hing eine Metallschiene, an der Pfannenwender aus Metall und reichlich anderes Zubehör klebten.

Ich lief zum Herd, drehte mich schwungvoll herum und stützte die Arme zu beiden Seiten meiner neugefundenen Liebe ab.

»Hallo«, säuselte ich und deutete einen Knicks an. »Ich wohne hier.«

Ein kleines Schmunzeln lag in Spencers Mundwinkeln. »Sex and the City?«

Ich presste mir stolz die Hand auf den Brustkorb. »Du bist ein fähiger Schüler, Cosgrove.«

»Nur weil wir den Film dreimal mit euch ansehen mussten, Edwards«, gab er zurück und schlenderte zu mir in die Küche. Neben mir fummelte er am Messerblock herum. Ein Messer nach dem anderen zog er heraus, betrachtete es eine Weile, fuhr mit dem Daumen über den Griff und schob es letztlich wieder zurück an seinen Platz.

Es juckte mich in den Fingern, ihn davon abzuhalten, aber Spencer zu berühren, war überhaupt keine gute Idee. Mir gefiel nicht, wie mein Körper auf seinen reagierte.

»Darf ich dich was fragen, Spence?«, sagte ich nach einer Weile.

Er gab bloß einen grunzenden Laut von sich.

»Wieso waren wir noch nie hier? Ich meine, manchmal quetschen wir uns am Wochenende sogar in Scotts Wohnung, dabei ist hier doch«, ich machte eine Geste mit der Hand, die das gesamte Untergeschoss einschloss, »ausreichend Platz.« Das war eine Untertreibung. Allein das Wohnzimmer hatte die dreifache Größe unseres Wohnheimzimmers.

Er hielt mitten in der Bewegung inne, bevor er ruckartig das letzte Messer zurückschob. Dann holte er tief Luft. »Das Haus gehört meinen Eltern.«

Das erklärte … nicht besonders viel.

»Und?«, hakte ich nach.

Er kaute auf der Unterlippe herum. »Sie haben ziemlich viel Geld. Als Student in so einem Haus zu wohnen, lässt mich irgendwie wie ein Arsch wirken.«

»Du glaubst, wir würden dich für einen Arsch halten, weil deine Eltern Geld haben?«, fragte ich mit hochgezogener Braue.

Er wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Egal. Ich wollte noch laufen gehen. Wenn du magst, im Kühlschrank ist Saft, und ich hole dir noch ein Wasser von unten«, sagte er hastig und stieß sich von der Arbeitsfläche ab. »Ich glaube, ich habe irgendwo sogar noch Reese’s. Die mochtest du doch so gerne, oder?« Er öffnete einen Hängeschrank auf der gegenüberliegenden Seite und suchte die Regale mit konzentriertem Blick ab.

»Spence, es ist völlig okay, dass du …«

»Beim nächsten Mal sorge ich vor.« Er schloss die Schranktüren wieder und rieb sich über den Hinterkopf. »Watson liegt auf dem Wohnzimmertisch. Ich dachte, die Couch wäre vielleicht bequemer als die Stühle beim Esstisch. Fühl dich wie zu Hause.«

Sein Blick war gehetzt, er sah überall hin, nur nicht in meine Augen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rauschte aus der Küche. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, die nach oben führte, dann knallte eine Tür zu. Völlig perplex starrte ich auf den Fleck, an dem er eben noch gestanden hatte.

Ich erwachte erst aus meiner Starre, als Spencer in seinen Laufsachen zurück ins Wohnzimmer kam. Er tat so, als wäre ich nicht da, stellte eine Wasserflasche auf dem Wohnzimmertisch ab und schob sich beim Rausgehen Ohrstöpsel in die Ohren.

Erst als die Haustür ins Schloss fiel, traute ich mich, wieder zu atmen.

Anscheinend hatte ich eine Grenze überschritten. Ich, die immer darauf beharrte, klare Linien zu wahren, und es hasste, wenn Leute in meiner Vergangenheit gruben, hatte eine Grenze bei einem meiner besten Freunde überschritten.

Scheißtag.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich an die weichen Kissen und das neue Umfeld gewöhnt hatte. Außerdem kreisten meine Gedanken noch immer um Spencer, aber ich versuchte, mich wieder auf mein Dokument zu konzentrieren. Ich brauchte dringend noch ein paar Wörter in meinem aktuellen Manuskript, wenn ich mein Monatsziel einhalten wollte. Nachdem ich Watson aus seinem Ruhezustand erweckt hatte und die Kopfhörer wieder auf den Ohren saßen, konnte ich zu meiner Geschichte zurückkehren.

Grover packte mich fest im Nacken und ließ den Blick unverwandt auf meinem Gesicht verweilen, während er sich langsam aus mir herauszog und wieder in mich drängte. Sein heißer Atem traf meinen Nacken, und ich schnappte nach Luft, als ich seine Zunge an meinem Hals spürte. Ich drängte mich ihm entgegen, was ihm ein animalisches Knurren entlockte.

Mein Rücken prallte gegen die Wand, und ich keuchte, bog den Rücken durch. Grover machte mich wahnsinnig. Das lag nicht nur an der Tatsache, dass er mein Boss und ich nur seine Sekretärin war, sondern vor allem daran, wie er einen Schlüssel zu meinem Inneren gefunden hatte. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass sich jemand in den Abgrund wagen würde, den mein Inneres darstellte. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass jemand dafür sorgen konnte, dass ich mich derart begehrt fühlte.

Grovers Blick brannte sich heiß in meinen, er hinterließ einen Abdruck auf und in mir. Ich konnte nicht wegsehen. Mit jedem Stoß eroberte er mich von Neuem, trieb mich auf eine hohe Welle, von der aus ich den Abgrund nicht mehr sehen konnte. Er stieß heftiger in mich, und wenig später schrie ich seinen Namen im leeren Büro.

Ich lehnte mich auf der Couch zurück und betrachtete mein Werk. Fast geschafft. Eine neue Novelle, die ich bald veröffentlichen konnte.

Dass ich mit meinem größten Hobby meinen Lebensunterhalt verdienen konnte, machte mich unglaublich glücklich. Manche Studenten mussten sich für einen Hungerlohn in Firmen abrackern, andere wiederum gingen kellnern oder gaben Nachhilfe wie meine beste Freundin Allie.

Ich dagegen schrieb, und zwar erotische Geschichten.

Das war wahrscheinlich nicht das Erste, worauf man tippte, wenn man mich sah. Ich war klein, und meine Augen riesig und kugelrund, was die meisten Leute dazu verleitete, mich für ein unschuldiges Reh zu halten. Nicht für jemanden, dem es Spaß machte, tagelang detaillierte Sexszenen zu formulieren.

Ich hatte schon immer gern geschrieben. Bereits während der Highschool hatte ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen und fleißig in meine Notizbücher gekritzelt. Es war bloß ein Hobby gewesen, mein liebstes neben Lesen und Kochen. Nachdem dann der große Aufschwung der erotischen Literatur gekommen war, hatte ich anonym an einem Schreibwettbewerb für erotische Kurzgeschichten teilgenommen. Ich hatte zwar nicht gewonnen, war aber auf der Shortlist gelandet, die von der Community bewertet wurde. Das Feedback war überwältigend gewesen. Noch nie hatte ich jemandem meine Arbeit gezeigt. Aber anonym im Netz fiel es mir leichter, da der Druck, verurteilt zu werden, nicht so groß war. Nachdem ich eine Menge Mails erhalten hatte, in denen ich darum gebeten wurde, weiterzuschreiben, arbeitete ich sofort an meiner nächsten Kurzgeschichte, die doppelt so lang wurde. Die Leser des Forums fuhren total auf die Story ab und fingen an, mir Bilder und Castvorschläge für eine potenzielle Verfilmung zu schicken.

Danach konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Ich war süchtig, verbrachte meine Nachmittage am Computer meines Dads und schrieb bis tief in die Nacht. Dad unterstützte mein Hobby, brachte mir Essen und Trinken, wenn ich mich wieder einmal stundenlang nicht vom Bildschirm losreißen konnte. Ich hatte ihm nie verraten, in welchem Genre ich schrieb –, was wahrscheinlich auch gut war. Welcher Vater wollte schon von seiner Tochter hören, dass sie Geschichten mit dem Titel Hot for You produzierte, die zu großen Teilen aus Sex bestanden?

Zwar hatte ich mir online als D. Lily – mein zweiter Vorname – einen Namen gemacht, im wahren Leben kannte allerdings niemand mein Geheimnis. Nicht einmal Allie. Und das durfte auch ruhig noch eine Weile so bleiben. Ich mochte meine Freunde. Ich hatte mich gut in Woodshill eingelebt und mich überall integriert –, das sollte sich auf keinen Fall ändern. Was, wenn sie mich danach mit anderen Augen sahen? Was, wenn sie über mich lachten? Mich verspotteten, so wie Nate es getan hatte? Was, wenn es die Runde machte, und mir alle von da an nur noch mit dummen Sprüchen begegnen würden? Ich wollte nicht das Mädchen sein, das Sexgeschichten schrieb, wollte nicht für pervers gehalten werden. Ich hatte Angst vor den Konsequenzen.

Sobald alle davon wussten, würde ich meine Geschichten nicht mehr genießen können –, da war ich mir sicher. Jetzt war es noch magisch. Ich konnte mich voll und ganz auf meine Protagonisten konzentrieren.

So wie jetzt gerade. Meine Finger flogen geradezu über die Tastatur.

Bis Spencer sich neben mir aufs Sofa fallen ließ.

Ich schrie auf und zuckte so heftig zusammen, dass mir die Kopfhörer von den Ohren rutschten.

»Bist du irre?«, fuhr ich ihn an.

»Sorry, ich dachte, du hörst mich«, sagte Spencer und rieb sich übers Gesicht.

Heiliges Kanonenrohr.

Das Shirt klebte ihm am Brustkorb und ließ mich Muskeln erkennen, die er bei seiner Statur eigentlich gar nicht haben sollte. Hastig sah ich wieder hoch, doch auch das stellte sich als Fehler heraus. Sein Haar war feucht, er strich es sich in einer fließenden Bewegung aus der Stirn. Seine Wangen waren gerötet, das Gesicht war von einem dünnen Schweißfilm überzogen, und seine Brust hob und senkte sich schneller als sonst. Ich wollte den Anblick und auch den Geruch des schweißüberströmten Spencers eklig finden, aber irgendwelche Synapsen in meinem Hirn schlugen nicht an. Nicht, nachdem ich die letzten Stunden damit verbracht hatte, über nackte Körper zu schreiben.

»Bist du … schön gelaufen?«, fragte ich und hätte mich am liebsten sofort geohrfeigt. Wie lahm.

»Es war wunderbar. Scheißkalt, aber sehr schön.« Er beugte sich grinsend vor, um nach dem Wasser zu greifen, das er mir hingestellt hatte. Er schraubte den Deckel ab und setzte die Flasche an die Lippen. »Hast du gar nichts getrunken?«

Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen. Schwarze Pünktchen erschienen in meinem Sichtfeld. Ich hatte zu lange auf den Bildschirm gestarrt. Jetzt ließ ich den Blick nach draußen schweifen. Spencers Haus verfügte sogar über einen kleinen Garten, wenn ich das richtig erkennen konnte. Die Sonne ging gerade unter und tauchte alles in ein angenehm warmes Licht.

Ich drehte mich wieder zu ihm. »Irgendwie habe ich die Zeit vergessen.«

»Ich gehe duschen. Komm gerne mit, dann kann ich dir zeigen, wie viel hübscher das Badezimmer im Gegensatz zur Küche ist.«

Ich boxte gegen seinen Oberarm. »Nein, danke.«

Spencer erhob sich. Seine Lippen waren immer noch ein bisschen feucht vom Wasser und sein Grinsen so unverschämt, dass es hätte verboten werden sollen. »Irgendwann wirst du mich freiwillig in dieses Badezimmer begleiten, Süße. Du weißt es, ich weiß es, und die Welt ist sich darüber auch schon seit Anbeginn der Zeit im Klaren.« Er streckte die Arme über den Körper, und mein Blick fiel automatisch auf seine Muskeln, die sich anspannten.

Meine Kehle wurde trocken.

Es kostete mich alle Kraft, die ich besaß, wieder auf meinen Bildschirm zu schauen. »Wenn du das sagst.«

Das war Spencers und mein Ding. Jede Freundschaft brachte so etwas mit sich, eine Methode, die dafür sorgte, dass sich alles wieder einpendelte. Seine Sprüche gehörten dazu. Meine abweisenden Antworten waren auch Teil davon. Von daher war ich froh, dass der Spencer von vorhin weg und mein Freund zurückgekehrt war.

»Dawn Edwards, irgendwann werde ich dir mein Badezimmer zeigen.« Er betonte seine Worte so, dass eindeutig war, wofür sein Badezimmer ein Synonym war. Sein Grinsen wurde breiter. »Du kannst sonst auch hier warten, und wir essen noch zusammen. Dann kann ich dir zeigen, wie gut ich den Backofen bedienen und mit Pizza befüllen kann.«

Sofort fragte ich mich, ob das ebenfalls ein Code für etwas Unanständiges war, aber inzwischen kannte ich Spencer ganz gut. Wenn es um Pizza ging, war er selten zu Scherzen aufgelegt.

Ich betrachtete die an seinem Körper klebende Kleidung mit zusammengekniffenen Augen. »Geh vorher duschen. Ich will keine Schweißpizza.«

Er beugte sich über mich und schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund.

Ich quiekte und riss die Hände schützend über mich. »Du bist widerlich, Spencer!«

Er lachte laut und zog sich von mir zurück. »Ich lasse die Tür offen, falls du doch noch das Bedürfnis verspürst, meiner Einladung zu folgen.«

Als er ins Obergeschoss verschwand, starrte ich ihm nach. Der flirtende Spencer brachte mich zwar häufig aus dem Konzept und wurde mir oft gefährlich, weil er zu scharf war, um gesund zu sein –, aber er war mir viel lieber als der verschlossene Spencer, der ein falsches Lächeln aufsetzte, Fragen auswich und einfach verschwand.