Der Journalist
Himmel der armen Seelen
Roman
© 2015 Hansjürgen Wölfinger
Umschlag, Illustration: Hansjürgen Wölfinger
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
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Für meine Familie
Die Erinnerungen
nagen an meiner Seele.
1
Wie jeden Morgen wachte ich in meinem Zimmer, in einem Haus, das in einer langen Reihe von braunroten Backsteinhäusern in Brooklyns Brownstones lag, auf und fragte mich, wie ich den heutigen Tag verbringen sollte.
Wie oft ging ich durch die Straßen von Brooklyn, Manhattan, Queens oder auch durch die Straßen der Bronx, um das dortige Treiben nach Besonderheiten oder Kuriosem zu durchsuchen. Ich kann es nicht mehr zählen.
Am liebsten verbrachte ich meine tägliche Suche in Brooklyn dem früheren Arbeiterstadtteil mit den herrlichen pittoresken Sandsteinfassaden in den Brooklyn Heights.
Durch die Verschmelzung der unzähligen Einwanderer und deren Kulturen hat Brooklyn einen ganz eigenen Charakter entwickelt – für einige sogar einen eigenen Dialekt.
Heute aber hatte ich keine Lust durch die Straßen zu latschen, sondern blieb in meiner Wohnung.
Nach dem Aufstehen, die Uhr zeigte 11.30, war es eigentlich schon Mittag. Egal, ich frühstückte erst einmal ausgiebig um dann zu duschen und mich anzuziehen.
Da der Tag fast schon gelaufen war, setzte ich mich auf mein Sofa um die einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften nach Anzeigen zu durchsuchen.
Feierte jemand Goldene Hochzeit oder vielleicht seinen 100. Geburtstag? Fragen, die ich mir jeden Tag stellte um mir meinen Lebensunterhalt mit ein paar Interviews oder kleinen Berichten von irgendwelchen Ereignissen, die die Leser interessieren könnten, zu finanzieren.
Als freier Journalist der New York Post war ich immer auf meinen Redakteur angewiesen, dass er mir die Stories für ein paar Dollar abkaufen würde.
An diesem Tag stieß ich auf eine Anzeige der Times mit der Überschrift „Unserem ehemaligen Kameraden herzlichen Glückwunsch zum 70. Geburtstag.“
„Deine Kumpels vom NYPD.“
Wieder so ein Geburtstag. Wie so viele, die jeden Tag die Seiten füllten. Ich schenkte dieser etwas überdimensionierten Annonce keine weitere Aufmerksamkeit und studierte alle weiteren Seiten penibel durch.
Irgendwann, nach Stunden, hatte ich keine Lust mehr, knallte die New York Times zu den anderen Zeitungen auf den Wohnzimmertisch, ließ mich rücklings auf das Sofa fallen und schloss für eine kurze Zeit die Augen, als mich das Klingeln des Telefons in die Höhe schnellen ließ.
»Ja, hallo«, räusperte ich in die Muschel.
»Hey Frank, wie schauts aus, treffen wir uns bei Keegan?«
»Was, jetzt schon?«
»Wie jetzt schon? Es ist sieben Uhr abends.«
»Was, schon so spät?«, antwortete ich zurück.
»Okay, ich komme. Kommen Rob und Luther auch?«, schob ich noch hinzu und Jeff verabschiedete sich mit einem knappen
»Ja, bis gleich.«
Eine schlappe halbe Stunde später traf ich in Keegan’s Bar ein.
Als ich die Tür öffnete und in den Raum eintrat, schlug mir ein Schwall aus Schweiß, Bier und Rauch entgegen, der mich eigentlich zur Umkehr zwingen sollte, aber nein, es war für mich ein angenehmer Geruch. Ein Geruch von Wärme, Freundschaft und Geborgensein.
»Hey Jungs«, rief ich und klopfte auf den Tresen.
»Hey Chefredakteur«, begrüßte mich Rob.
Luther und Jeff grinsten über beide Backen und gaben mir einen Klaps auf den Rücken. Ich setzte mich zwischen Luther und Jeff auf einen der unbequemen Barhocker.
»Ein Bud bitte.«
»Na, wie geht es dir?«
»Danke Luther, ganz gut. Leider habe ich heute wieder nichts für meine Zeitung gefunden.«
»Habt ihr was für mich?«
»Jeff, du alter Schnüffler wie schauts bei dir aus, hast du keine gute Story?«
»Frank du weißt doch, als Privatdetektiv darf und kann ich dir nichts sagen. Die Schweigepflicht gegenüber meinen Kunden ist mir heilig.«
»War ja nur Spaß.«
Wir vier Freunde unterhielten uns über Gott und die Welt und vergaßen dabei was um uns herum geschah.
»Hey Nigger, hast du Feuer?«, hörte ich eine lallende Stimme von meiner linken Seite aus sagen.
Luther zuckte und wollte sich aufrichten, konnte aber nicht, da ich ihn am rechten Arm festhielt und in beruhigendem Ton sagte: »Luther, lass ihn.«
Der Typ glotzte mich blöde an und riss sein Maul weit auf, aber kein Laut kam heraus. In seinen Mundwinkeln hatte sich weißer, ekliger Schaum gesammelt. Zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand hielt er seine kalte Zigarette und wankte leicht vor und zurück.
Er glotzte wie ein Breitmaulfrosch und seine Augen drohten aus den Höhlen zu fallen. Langsam drehte er sich zum Barkeeper und ließ seine linke Hand ganz langsam auf den Tresen gleiten.
Um uns herum war Totenstille. Alle schauten abwechselnd auf uns und auf den besoffenen Typ, der sich nicht bewegen wollte oder vielleicht auch nicht konnte. Wir hielten den Atem an und warteten auf Luthers Reaktion. Wenn er ihm eine gescheuert hätte, wäre es vielleicht normal gewesen, aber mit so etwas Abnormalem hatte keiner von uns gerechnet. Luther stand da, schaute den Typen mit seinen schwarzen Augen an und grinste. Er grinste nur, das war alles. Sonst nichts.
Als Farbiger war er fast täglich solche verbale herabwürdigende Attacken gewohnt und er scheute sich auch nicht jemandem mal so richtig eine aufs Maul zu hauen.
Aber heute, heute stand er nur da und grinste. Wir alle waren sprachlos über seine Reaktion.
Ich hatte Luthers Arm immer noch fest im Griff mit dem Ziel, ihn nie mehr loszulassen.
»Du kannst meinen Arm jetzt ruhig loslassen.«
Endlich kam der ersehnte befreiende Satz und langsam glitt meine Anspannung in Entspannung über.
»Er hat Glück gehabt«, sagte Jeff.
Ich wiederholte seine Aussage wie in Trance und Rob sagte abschließend:
»Wie wahr, er hat sehr viel Glück gehabt.«
Luther zeigte wieder nur sein breites Grinsen und schlürfte kräftig aus seinem Glas.
Der Typ widerstand Luthers Blick nur einen Wimpernschlag.
Er legte einen Schein auf den Tresen und ging wortlos aus der Bar.
Als die Schrecksekunden vergangen waren, kam das Leben schlagartig wieder zurück und die Kneipe füllte sich wieder mit Geplapper und Musik.
Wir blieben noch eine lange Zeit, unterhielten uns über alles, nur nicht über diesen Besoffenen Typen, ja wir vergaßen ihn sogar vollkommen.
Ich kam noch mal auf mein Problem zurück und fragte in die Runde:
»Hat nun jemand eine Story für mich?«
»Welche Story?«, fragte Rob.
»Ich brauche Stoff für meinen Chefredakteur.«
»Ich denke du bist freier Journalist«, sagte Luther lachend und schlug mir mit der flachen Hand auf den Rücken, dass es nur so klatschte und höllisch schmerzte.
»Was hat das denn damit zu tun. Jeder Journalist benötigt einen Chefredakteur der deine Reportagen auch genehmigt. Wenn er genehmigt, gibt es Bares.«
»Luther stand da und lachte.«
»Ich glaube, du willst mich nur verarschen?«, sagte ich ärgerlich
»Nein, bestimmt nicht«, sagte er grinsend.
Luther wusste, dass er mich mit seinem blöden Grinsen auf die Palme bringen würde.
»Da stand doch heute in der Times eine große Annonce über einen ehemaligen Cop des NYPD der seinen 70. feiert. Das wäre doch was für dich«, bemerkte Jeff zur Beruhigung..
»Das habe ich heute gelesen aber ehrlich, was soll ich denn mit einem ehemaligen Polizisten«, entgegnete ich abwinkend.
»Der war nicht einfach nur ein Cop, er war ein, wie soll ich sagen, er war ein Supercop. So wie Terence Hill in dem Film „Dave Speed“.«
»Ok Jeff, verstehe«, sagte ich und wischte mit meiner Hand eine wegwerfende Bewegung in der Luft.
»Kennst du den Film überhaupt?«
»Nein.«
»Und wieso machst du dann so eine abfällige Bewegung mit der Hand?«
Ich ignorierte Jeffs Bemerkung und wandte mich wieder Luther zu.
»Luther, was weißt du über diesen, wie hat unser lieber Jeff gesagt, Supercop?«
»Könnt ihr euch noch an den Soundtrack Supersnooper von den Oceans erinnern?«, fragte Jeff und sang den Refrain mit inbrünstiger Stimme.
Den Oberkörper wiegte er dabei im Rhythmus seiner Stimme.
„He’s a super snooper
really super trooper
a wonder cop a one like you never saw
he’s a super snooper
really super trooper
a wonder cop a roller the side of the law“
»Mensch Jeff, ist ja gut, wir kennen den Song!«, sagte Luther und versuchte mir zu Liebe nicht mitzutanzen.
Aber sage mal einem Farbigen, der den Blues im Körper hat, er soll bei solch einer Melodie ruhig stehen bleiben.
»Entschuldige mein lieber Freund. Jetzt zu deiner Frage. Ich weiß nur, dass er sehr viele Mordfälle gelöst hat und erst spät, ich finde viel zu spät, zum Captain befördert wurde. Man kannte ihn bis nach Washington. Das FBI hatte ihn umworben aber er wollte, wie er immer wieder betonte, „in seiner Stadt“ bleiben. Geh doch mal hin, vielleicht gibt er dir ein Interview.« sagte Luther und wippte auf den jetzt imaginären Song leicht mit dem Fuß und setzte wieder sein blödes grinsendes Gesicht auf.
Ich sah Luther für einige Sekunden grimmig mit heruntergezogenen Augenbrauen an, um dann lauthals loszulachen und mit ihm den Song, den er summte, mitzutanzen.
»Also gut, ich kann es ja mal versuchen«, sagte ich nachdem unsere Schwingungen zum Stillstand gekommen waren.
Dabei blieb es und wir tranken noch das eine oder andere Bier.
»Wer muss heute fahren?«, fragte ich neugierig in die Runde.
»Ich bin dran«, sagte Jeff.
»Oder was denkst du, was ich hier den ganzen Abend trinke, he?«
»Ist ja gut, ist ja gut«, blieb mir nur noch zu antworten.
Wir räkelten und lösten uns langsam von den sehr unbequemen Hockern.
Mein Rücken schmerzte und um diesen Schmerz etwas zu lindern, drückte ich mit beiden Händen meine Hüfte ganz langsam nach vorne. Ein kurzes „Autsch“ und es ging mir etwas besser.
Als wir die Bar verließen, kam uns ein Schwall frischer Luft entgegen. Ich dachte, ich müsste ersticken, denn so viel Sauerstoff einzuatmen waren meine Lungen seit vielen Stunden nicht mehr gewohnt.
»Jungs ist das eine Luft«, sagte ich und sog die angenehm warme Augustluft tief ein.
»Da liegt jemand«, sagte Jeff.
Mitten auf dem Weg lag ein Mann regungslos auf dem Boden.
Ich bückte mich zu ihm nach unten und roch das Gekotzte und die Pisse, in der er lag. Ruckartig drehte ich mich nach oben, um nach der besagten frischen Luft zu schnappen.
»Ich glaube, er ist tot«, sagte ich und hielt mir die Hand vor die Nase.
Jeff ging auf den am Boden Liegenden zu, drehte ihn zur Seite und sagte: »He Luther, sieh mal wer das ist. Es ist das Weißbrot.«
»Tatsächlich«, sagte ich erstaunt.
Jeff legte ihm seinen Finger auf die Halsschlagader und stellte fest, dass er nicht tot, sondern stinkbesoffen war. Also hatte sich der Zustand des Typen nicht verbessert, sondern eher noch verschlechtert. Jeff rief über sein Mobiltelefon die Polizei, die die Schnapsleiche ohne Federlesens ins Auto packte und mit aufs Revier nahm.
Nachdem Jeff uns nach Hause gefahren hatte und ich mich endlich in mein Bett fallen lassen konnte, schlief ich ohne einen weiteren Gedanken an den Vorfall zu vergeuden sofort ein.
2
»Hallo, mein Name ist Frank Neumann, kann ich Mr. Boron sprechen?«
Eine zarte Stimme am anderen Ende der Leitung bejahte dies und bat mich um etwas Geduld.
In der Warteschleife dudelte Musik in mein Ohr und ich überlegte, wem die nette Stimme gehören könnte, als mich ein kurzes „Boron“ aufschreckte.
»Wer ist denn da«, rief die Stimme ungeduldig.
»Hallo Mr. Boron, mein Name ist Neumann. Frank Neumann.
Ich bin Journalist und würde gerne mit Ihnen über Ihren siebzigsten Geburtstag ein Interview…«
Weiter kam ich nicht, denn durch die Muschel drang mit gewaltiger tiefer Stimme: »Was wollen Sie?«
»Ich würde gerne mit Ihnen …«, versuchte ich zu antworten aber wurde wieder unterbrochen.
»Ja das habe ich schon verstanden, meinen Sie ich bin senil?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete ich entsetzt.
»Für wen arbeiten Sie?«, fragte er mürrisch.
»Ich arbeite für die New York Post«, antwortete ich brav.
»Und was versprechen Sie sich davon?«
»Nun, Sie waren ein großartiger und sehr bekannter Polizist und ich denke, dass unsere Leser gerne mehr über Sie erfahren würden«, schleimte ich in den Hörer.
Das schien nun doch gewirkt zu haben, denn am anderen Ende der Leitung war es für einige Momente still und ich fragte leise:
»Mr. Boron, sind Sie noch da?«
»Also gut, morgen um elf Uhr bei mir. Sie wissen ja wo ich wohne.«
»Ja, gerne, ich freue mich Mr. Boron.«
Nach meinem letzten Satz hörte ich, wie der Hörer aufgelegt wurde.
Nicht die feinste Art dachte ich kopfschüttelnd, aber es war mir egal. Ich hatte das Interview.
Nach diesem Gespräch rief ich in der Redaktion der New York Post an und berichtete dem Chefredakteur von meinem soeben geführten Gespräch.
»Was? Sie haben ein Interview mit Eugen Boron? Unglaublich. Er hat bisher alle unsere Anfragen, wenn es um seine Person ging, abgelehnt. Gut, dann bringen Sie mir eine prima Story.«
»Das werde ich machen. Ich melde mich wieder.«
Nach dem Gespräch machte ich mich daran die Fragen für das Interview zu formulieren. Ich kritzelte Frage für Frage in meinen Notizblock und konnte den morgigen Tag kaum erwarten.
Zufrieden legte ich das Notizheft zur Seite und grinste dabei an die Decke meines Zimmers.
Selbstzufrieden lächelte ich vor mich hin, als mich das hässliche Klingeln meines Telefons brutal aus meinen Träumen riss.
»Hallo.«
»Hallo Frank, bin wieder da.«
Die schönste Stimme in diesem Universum hauchte Worte in die Hörmuschel, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte.
»Hallo Chris, wie wars in Boston, hast du alles zu deiner Zufriedenheit erledigen können?«
»Ja, war viel Stress, habe einige Verhandlungen führen müssen. Es lief dann doch sehr gut. Wie geht es dir?«
»Prima, mir geht es sehr gut. Morgen habe ich ein Interview mit einem ehemaligen Cop. Er war einer der bekanntesten und besten des NYPD.«
»Schön für dich, wann sehen wir uns? Wie sieht es morgen Abend aus?«
»Morgen Abend ist prima. Kommst du zu mir?«
»Ja, so machen wir es. Bis morgen. Bye.«
Wir verabschiedeten uns mit einem „Ich liebe dich“ und einem schmatzenden Kuss in die Muschel.
Eigentlich wollte ich mir noch ein paar Gedanken zum morgigen Interview aufschreiben, aber mein Magen rebellierte und schrie fürchterlich nach einem schönen saftigen Steak. Seinen Wünschen entsprechend zog ich mich um und fuhr mit meiner alten Kiste, einem 83er BMW, zu Keegan’s Bar. Dort gibt es neben den üblichen Getränken auch die allerbesten Steaks und den noch allerbesseren Apfelkuchen.
Vielleicht treffe ich meine Jungs, dachte ich und trommelte mit den beiden Zeigefingern im Takt der Musik auf das Lenkrad. Zügig kam ich voran und fand, man kann es kaum glauben, einen Parkplatz direkt vor Keegan’s. Dort einen Parkplatz zu finden ist reines Glück und das hatte ich heute anscheinend gepachtet.
Nach dem Öffnen der Tür zog mir ein starker Geruch von Gebratenem in die Nase und signalisierte meinem Magen, schau her, was es für herrliche Speisen gibt, die du gleich bekommen wirst. Mein Magen gab ein knurrendes Geräusch von sich und verlangte sofort etwas Festes.
Heute war es im Vergleich zu sonstigen Tagen ziemlich voll.
Ich sah mich um und setzte mich an einen freien Nischentisch.
Eine neue Bedienung, die ich nicht kannte, kam langsam auf mich zu geschlappt und fragte mit gleichgültiger Stimme nach meinen Wünschen.
»Bitte einen Kaffee, ein saftiges Steak mit Bratkartoffeln. Falls Sie Apfelkuchen haben, dann bitte diesen als Nachtisch.«
»Kommt sofort«, sagte sie dann sehr freundlich nickend.
Ich war über ihren schnellen Stimmungswandel sehr überrascht. Vielleicht hatte ich sie mit meiner Freundlichkeit angesteckt.
Wie kann das gehen, dass man von einem Moment auf den anderen seine Stimmung ändern kann fragte ich mich. Ich kann das nicht.
Ich dachte noch einige Minuten über dieses Phänomen nach und ließ dann langsam meinen Blick durch den Raum gleiten.
Ich betrachtete die Menschen um mich herum ziemlich intensiv. Das hat wohl einige genervt, die böse zurückschauten. Da ich von Berufs wegen gerne meine Mitmenschen beobachte, fiel mir ein junges Mädchen auf. Sie saß ebenfalls alleine an einem Tisch und nuckelte an einer Coke. Eigentlich sähe sie hübsch aus, wenn nicht ihre Aufmachung dies gleich wieder zunichtemachte.
Sie hatte glattes mittellanges schwarzes Haar, schwarze Kleidung, schwarze Manschetten um ihre Handgelenke und viele Ringe nicht nur an den Fingern sondern auch an der Nase, an den Ohren und an der Lippe.
Beim Hinschauen empfand ich Schmerzen in sämtlichen Gesichtsteilen. „Wie kann sich ein solch schönes Mädchen so verunstalten? Wie fühlt sich das wohl beim Küssen an? Vielleicht hat sie auch noch Piercings an ganz anderen Stellen?“ Daran wollte ich aber nun doch nicht denken.
Ich musste sie ziemlich aufdringlich gemustert haben, denn sie sah mich grimmig an. Ich sah, wie sie langsam den Mittelfinger ihrer rechten Hand in die Höhe streckte, wie sich ihr Mund langsam öffnete und ein wortloses „Fuck You“, über ihre Lippen schob. Ich lächelte ihr verlegen zu, sie aber, verzog keine Miene.
Meine Blick glitt weiter in die Runde und blieb bei einem älteren Herrn hängen. Der sah noch schlimmer aus als das junge Mädchen. In seinem Gesicht fand sich fast keine freie Stelle. Überall Piercings. Die Ohren waren voll damit, sogar im Ohrläppchen einen riesengroßen Stecker. Seine Lippen hingen von der schweren Last des Metalls herunter. Ich fragte mich, wie er damit essen konnte oder sogar küssen und da musste ich doch lachen.
Die Gäste um mich herum schauten mich verwundert an als ob ich mir einen Witz erzählt hätte. Nur der Piercing Opa, las eine Zeitung und ließ sich nicht stören.
Zum Glück gab es in diesem Raum noch Menschen mit keinen Verunstaltungen im Gesicht die ich ungestraft anschauen konnte.
Schmunzelnd sah ich mich im Raum weiter um und sah ein junges Pärchen in der Ecke sitzen. Sie weinte und er redete ihr mit gestikulierenden Händen zu. Als sie aufstehen wollte, hielt er sie energisch mit beiden Händen fest. Ihr Partner oder was er wohl sein mag, wurde lauter und sie weinte noch hilfloser.
Dies sah nicht nur ich sondern auch andere die sich im Raum befanden. Besonders ein großer kräftiger Koloss stand auf, ging auf die beiden zu, beugte sich zu dem Typen und sagte im etwa ins Ohr. Ihr Partner nickte nur und der Bär von Mann ging wieder zu seinem Tisch und aß weiter.
Als ob überhaupt nichts gewesen wäre, nahm er wieder die Hände seiner Partnerin und streichelte sie. Sie wischte mit der freien Hand ihre restlichen Tränen von ihrer Wange und lächelte ihm zu.
Was der große kräftige Mensch ihm gesagt hatte, werden wir nie erfahren. Die Tatsache war doch, es hat gewirkt.
Bevor ich mir noch den restlichen Raum anschauen konnte, dampfte mein Essen herbei.
Die Bedienung wünschte mir lächelnd „Guten Appetit“ und ich genoss jeden Happen des saftigen Steaks und mein Magen dankte es mit einem freundlichen Knurren.
3
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem höllischen Kopfschmerz auf. Ich hatte ein Gefühl, als ob mir Tausende von kleinen Männchen mit Hammer und Meißel mein armes Gehirn malträtierten.
Das Nächstschlimmste war, es regnete so in Strömen, als wollte Gott sein gesamtes Reservoire ausgerechnet heute über unserer Stadt ausleeren. Wieder so ein Tag, den man am besten im Bett verbringen sollte.
»Warum heute«, rief ich enttäuscht und streckte beide Arme drohend in die Höhe.
»Das kann kein gutes Omen für das Interview sein«, dachte ich und nahm vorsichtshalber eine Aspirin ein.
Als ich meine Wohnung verließ, war ich recht unschlüssig, ob ich nicht doch alles absagen sollte.
Ich stand vor der Haustür und sah, dass einige Unerschrockene mit oder ohne Hund bei diesem Sauwetter unterwegs waren. Wer geht denn bei diesem Scheißwetter ohne Hund auf die Straße. Ich nicht!
Eine innere Stimme sagte zu mir:
„He, du Weichei, das ist nur Wasser und deine Kopfschmerzen kommen doch nur von deinem Gejammer. Hast du vielleicht Schiss vor dem Interview?“
„Naja, nu halt mal die Luft an, ich gehe ja schon.“
So endete mein Zwiegespräch und ich machte mich auf den Weg zu meinem Gesprächspartner nach Long Beach.
Nach über einer Stunde Fahrt im Regen kam ich in der Fulton Street in Long Beach an und stand vor einer exklusiven Villa mit herrlichem Grundstück. Ich sah mich um, ob es auch wirklich die richtige Adresse war. Es waren nur Villen zu sehen also bin ich richtig, resultierte ich daraus.
Die Frage, wie sich ein Cop solch ein Anwesen leisten konnte, ging mir nicht aus dem Kopf. Nach einigen neidischen Blicken klingelte ich an der Haustür.
Langsam, ja fast geräuschlos, wurde die Tür geöffnet und ein wunderschönes dunkelhaariges, weibliches Wesen stand mitten im Eingang.
»Ja bitte.«
»Hallo, mein Name ist Frank Neumann. Ich bin mit Mr. Boron verabredet«, stotterte ich.
»Kommen Sie bitte herein, mein Vater erwartet Sie bereits. Ich bin Sina«, sagte sie und gab mir ihre Hand.
»Treten sie ein«, forderte sie mich erneut auf.
Ich bedankte mich und trat in das Haus. Sie schloss die Eingangstür hinter uns und ich folgte ihr in ein Zimmer am Ende des Ganges.
»Treten Sie bitte ein«, sagte sie und unterstrich mit einer kleinen Bewegung ihrer rechten Hand ihre Aufforderung.
»Dad, dein Besuch ist da«, sagte sie.
»Ja, danke«, antwortete er knapp.
»Bitte.«
»Vielen Dank«, sagte ich etwas unsicher und schaute in ihre wunderschönen dunkelbraunen Augen.
Sie lächelte freundlich und schloss die Tür hinter sich.
Ich trat ein, die Tür fiel dumpf ins Schloss und die merkwürdige Stille wurde durch eine tiefe Stimme unterbrochen.
»Bitte. Treten Sie doch näher.«
Ich drehte mich in die Richtung der Stimme und sah, dass Boron in einem Sessel vor einem großen Fenster saß und hinaus in den Garten blickte. Ich ging zu ihm und streckte ihm die Hand entgegen. Er ignorierte sie und sagte nur, dass ich mich hinsetzen sollte. Langsam zog ich meine Hand zurück, drehte mich suchend nach dem Sessel und setzte mich.
»So ein Mistwetter«, raunzte Boron. Er war mir deswegen gleich sympathisch und deshalb schob ich ein »Sie sagen es« hinterher.
Er jedoch ignorierte meine Zustimmung und sagte: »Was wollen sie wissen. Von meiner Zeit als Cop oder was sonst?«
»Ich dachte, sie könnten doch auch von Ihrer Zeit davor etwas erzählen.«
»Wie davor. Was meinen Sie mit davor?«
Ich wusste selbst nicht, was ich damit meinte und bemerkte, dass dies etwas blöd formuliert war.
»Fragen Sie was Sie wollen«, forderte er mich auf.
Ich fragte mich, was ich hier eigentlich sollte, was ich mir eigentlich antäte, er wollte doch eigentlich gar nicht mit mir sprechen. Meine vertraute innere Stimme sagte mir: »Mach deinen Job, halt deinen Mund und maul nicht wieder rum.«
»Mr. Boron, Sie hatten vorgestern Geburtstag. Sie sind siebzig geworden. Dazu gratuliere ich Ihnen herzlichst.«
»Vielen Dank.«
»Wo sind Sie geboren?«, fragte ich sehr unbeholfen aber dafür sehr entschlossen und stellte mein Diktiergerät auf den Tisch.
»Warum fragen Sie denn nicht gleich wo ich gezeugt wurde.«
Ich fühlte mich wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte. Genau dieses musste er bemerkt haben und sagte in einem freundlicheren Ton:
»Entspannen Sie sich junger Mann. Fragen Sie was Sie wollen.«
4
Ich bin siebenunddreißig in Omsk geboren. Als ich drei Jahre alt war, zogen meine Eltern und ich nach Nowosibirsk.
Mein Vater bekam Arbeit in einem Blei-Zink-Kombinat. Also mussten wir umziehen. Er wurde relativ gut bezahlt und uns ging es damals sehr gut. Er musste zum Glück auch nicht in den Krieg da er in einem wichtigen Kombinat arbeitete und unverzichtbar war.
Um noch etwas zum Lohn meines Vaters hinzu zu verdienen, nähte meine Mutter für fremde Leute. In den ganzen Jahren hatten wir, so sagte Mutter, keine Not.
Als ich acht Jahre alt war, starb mein Vater. Offiziell hieß es an einem Herzversagen. Hinter der Hand wurde aber gemunkelt, dass es eine Bleivergiftung war. Merkwürdig ist, sagte meine Mutter damals, dass viele Männer und Frauen offiziell an Herzversagen starben.
Nach dem Tod meines Vaters konnte Mutter ebenfalls im Kombinat Arbeit finden.
Während sie arbeitete, versorgte und betreute mich unsere Nachbarin und Freundin Nadeshda Komarowa, eine sehr nette und liebenswerte Frau. Nadeshda hatte einen Sohn, Wolodja, der etwa ein halbes Jahr jünger war als ich.
Nach der Schule spielten wir Jungs jeden Tag draußen auf der Straße oder strichen durch den nahegelegenen Wald, ob es schneite oder auch regnete. Es war uns einfach egal.
Nie vergaß ich beim Spielen die Rufe meiner Mutter. Ich freute mich immer so sehr, wenn sie von der Arbeit kam. Sie brachte uns, und das vergaß sie nie, Süßigkeiten mit. Heute weiß ich, dass es ihr finanziell nicht leicht fiel, uns aber die Freude nicht nehmen wollte.
Mutter arbeitete jetzt schon zwei Jahre im Kombinat. Eines Tages, wir spielten wie immer draußen auf der Straße, rief mich Nadeshda und nicht Mutter zu sich.
»Wo ist Mutter?«, fragte ich sie, aber sie forderte mich auf endlich zu kommen. Ich fühlte, dass mit Mutter etwas passiert sein musste und rannte so schnell wie meine kleinen Beine mich trugen, in unsere Wohnung. Ich schrie nach ihr und hörte sie leise meinen Namen rufen.
»Mama, was ist mit dir?«, rief ich aufgeregt.
Sie versuchte mich zu beruhigen.
»Es wird schon wieder mein Kleiner.«
Mutter war nach Hause gekommen und ist auf der Treppe zusammengebrochen.
Die Nachbarn trugen sie in unsere Wohnung. Kreidebleich saß sie auf einem Stuhl. Ich umarmte sie, sie hielt mich fest in ihren Armen und weinte leise. Langsam ließ sie mich los, küsste mich auf die Wange und sagte, dass es ihr nicht gute gehe.
Nadeshda Komarowa, unsere Nachbarin, sagte zu ihr: »Olga Boronajewna, was habe ich zu dir gesagt, arbeite nicht so viel, das schadet nur deiner Gesundheit.«
Das alles half jetzt nicht mehr. Sie hatte Recht. Mutter arbeitete im Kombinat und wenn sie nach Hause kam, nähte sie für ihre Kundschaft.
»Was hatte sie denn?«, fragte ich Boron, aber er reagierte nicht auf meine Frage, sondern fuhr in seiner Erzählung fort.
Nadeshda half Mutter sich auszuziehen und ins Bett zu legen. Danach brachte sie uns heiße Kartoffelsuppe. Mutter hatte keinen Hunger, also aß ich alles alleine auf. Sie lächelte und freute sich über meinen gesunden Appetit. Ich schleckte den Rest von meinem Löffel und lächelte verschämt zurück.
Am nächsten Tag ging es Mutter viel schlechter, sie hustete unentwegt. Noch am selben Tag musste sie in das nahe gelegene Krankenhaus gebracht werden. Nadeshda erklärte sich bereit, sich um mich zu kümmern, bis Mutter wieder nach Hause käme.
Ich hörte Boron fasziniert und traurig zugleich zu ohne ihn nochmals zu unterbrechen.
Er fuhr fort:
Meine Mutter war nun schon drei Wochen im Krankenhaus und ihre Entlassung war in weite Ferne gerückt.
Eines Tages, als ich Mutter wieder besuchte, sagte sie mir, dass ich nicht länger bei Nadeshda bleiben könne und deshalb in ein Waisenhaus müsste.
»Aber warum kann ich denn nicht hier bei dir bleiben?«, fragte ich Mutter. Sie konnte nicht antworten, denn vor Tränen versagte ihre Stimme. Die Nachbarin nahm mich an der Hand und führte mich zur Tür. Ich weinte und schrie nach meiner Mutter, die ich über alles liebte und die ich jetzt verlassen musste.
»Können Sie sich vorstellen, wie meine kleine heile Welt zusammenbrach?
Sehr oft denke ich an die liebe kleine dickliche Nachbarin Nadeshda, die gute Seele, die mich genauso mochte wie ihren eigenen Sohn.«
Ich nickte Boron bejahend zu ohne auch nur zu ahnen, wie es in seiner Kinderseele ausgesehen haben musste.
»Wurden Sie tatsächlich in das Waisenhaus gebracht?«, fragte ich Boron nach einer Pause.
Boron sah, während er sprach, nie mich an, sondern unentwegt hinaus in seinen Garten.
Der Regen hatte aufgehört, ohne dass ich es bemerkt hatte. Die Vögel hüpften von Ast zu Ast und die Sonne schien, als ob sie die Traurigkeit der Erlebnisse des Erzählers vernichten wollte.
Mit leiser Stimme fuhr Boron fort.
Im Juli 47 holten sie mich mit einem Auto ab. Eine Frau stieg aus und sprach mit Nadeshda. Zu mir sagte sie kein einziges Wort.
Nadeshda Komarowa hatte zwei Stofftaschen mit meinen Sachen bereitgestellt.
Sie verabschiedete sich von mir mit Tränen in den Augen, küsste mich und versprach, dass Mutter mich bald wieder holen würde.
Ich sah Nadeshda niemals wieder.
»Jetzt habe ich Ihnen so viel von meiner Kindheit erzählt. Das hat Sie doch bestimmt nicht interessiert oder?«, fragte Boron und zum ersten Mal schaute er mich mit wässrigen Augen an und ich sah in ihm eine tiefe innere Traurigkeit.
»Nein, nein, das waren Erlebnisse, die ich so nie erwartet hätte«, sagte ich aufgeregt und innerlich aufgewühlt.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie von Ihrem Aufenthalt im Waisenhaus erzählen?«, fragte ich fast schüchtern und erwartete eine negative Antwort.
Zu meinem Erstaunen entgegnete er wieder sehr knapp:
»Nein, aber bitte heute nicht mehr. Kommen Sie am Samstag zur gleichen Zeit wieder.«
»Natürlich, gerne«, antwortete ich und stand auf.
Ich verabschiedete mich und wünschte ihm einen guten Tag.
Seine Tochter stand wie gerufen an der Tür und begleitete mich wortlos nach draußen. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie die ganze Zeit hinter uns saß und ihrem Vater gespannt zuhörte.