Richard Voß

Rolla

 
 
 
 
 
 

Books
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musaicumbooks@okpublishing.info
 
2017 OK Publishing

 
ISBN 978-80-272-2866-9

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil
Erstes Kapitel Schwankende Gestalten
Zweites Kapitel Unser Häuschen
Drittes Kapitel Junge Talente, junge Freuden und Leiden
Viertes Kapitel Allerlei Wehmütiges und Sehnsüchtiges
Fünftes Kapitel Unser Mietsherr
Sechstes Kapitel Große Entscheidungen
Siebentes Kapitel Die ersten Lehrjahre
Achtes Kapitel Ein Freund und ein Arzt
Neuntes Kapitel Mein lieber Arzt fängt seine Kur an
Zehntes Kapitel Die Kur wird fortgesetzt
Elftes Kapitel Ohne Ruhe und Maß
Zwölftes Kapitel Lehrmethoden
Dreizehntes Kapitel Es wird wahr
Vierzehntes Kapitel Vorbereitungen
Fünfzehntes Kapitel Die Kerkerszene
Sechzehntes Kapitel Umfaßt von meinen Armen
Siebzehntes Kapitel Am Vorabend großer Ereignisse
Achtzehntes Kapitel Die junge Hofschauspielerin
Neunzehntes Kapitel Ich lebe!
Zwanzigstes Kapitel Ich lebe
Einundzwanzigstes Kapitel Der kranke Königssohn
Zweiundzwanzigstes Kapitel Meines Trauerspieles erster Akt
Zweiter Teil
Erstes Kapitel »Frau Prinzessin«
Zweites Kapitel Auf nach Rom!
Drittes Kapitel Sie rückt und weicht
Viertes Kapitel Neues Leben
Fünftes Kapitel Dämonen
Sechstes Kapitel Vor dem Sturm
Siebentes Kapitel Der neue Tag
Achtes Kapitel Vor der Katastrophe
Neuntes Kapitel Meines Trauerspiels dritter Akt
Zehntes Kapitel Ein Erwachen
Elftes Kapitel Neues Leben
Zwölftes Kapitel Ich mache Entdeckungen
Dreizehntes Kapitel Das Drama wird in Szene gesetzt
Vierzehntes Kapitel Das Passionsspiel
Fünfzehntes Kapitel Auf der Wasserfallalm
Sechzehntes Kapitel Herbststimmungen
Siebzehntes Kapitel Beglücken und beglückt
Achtzehntes Kapitel Frühlingsfluten
Neunzehntes Kapitel Die Flut steigt
Zwanzigstes Kapitel Sie wächst und wächst
Einundzwanzigstes Kapitel Es durchbricht den Damm und vernichtet
Zweiundzwanzigstes Kapitel Künstlerin und Virtuosin
Dreiundzwanzigstes Kapitel »Singt: Weide, Weide, Weide«

Es ist nichts Erdachtes und Gedichtetes, was in diesen Blättern erzählt wird, so daß man dabei von keinem Verfasser, sondern nur von einem Herausgeber sprechen kann. Etwaiges Forschen nach der hochsinnigen und unglücklichen Frau, die, eine geniale Schauspielerin, in diesem Trauerspiel als Dichter und Akteur zugleich vor uns tritt, mögen unterlassen bleiben; es wäre verlorene Mühe. Bei der Veröffentlichung dieser Erinnerungen – dieser Bekenntnisse – mußte nämlich so verschweigend, so verhüllend verfahren werden, daß selbst Vermutungen nicht rege werden durften. Aus solchem Grund sah sich der Herausgeber genötigt, das Leben seiner Heldin nicht nur in eine etwas mehr zurückliegende Zeit zu versetzen, sondern auch von den Aufzeichnungen alles dasjenige wegzulassen und zu unterdrücken, was darin die intimsten Verhältnisse gewisser Bühnen und noch lebender Personen berührte. Er tat dies mit dem Bewußtsein, dem Buche gerade den Teil seines Inhaltes nehmen zu müssen, der für viele das größte, ja ausschließlichste Interesse gehabt haben würde. Auch um seiner lieben Idealistin willen, war ihm solches Verfahren eine bedauernswerte Notwendigkeit. Mußte er doch von ihrer Gestalt vieles ablösen und ausscheiden, was so sehr ihr eigenstes Selbst war, daß dadurch an ihrem Bilde mancher liebenswürdige und bedeutende Zug zerstört wurde. Es werden sich demnach in diesen Mitteilungen Lücken bemerklich machen, deren Ausfüllung einer späteren Zeit vorbehalten bleiben mag. Für den Moment erwarte niemand, von dieser Lektüre die angenehme Aufregung etwaiger »Enthüllungen«, dieses heutzutage so beliebten, pikanten literarischen Gewürzes. Es ist in der Tat nur ein tragisches Frauenschicksal mehr, von dem der Leser erfahren wird: eben eine echte wahre Lebenstragödie. Vielleicht nur dadurch besonders erschütternd wirkend, weil »Komödiespielen« zufällig der Beruf der Heldin war. Die Gestalt, in welcher die Schauspielerin in diesem Drama vor das Publikum tritt, ist vor allem die der Frau. Allerdings gibt es keine tragischere Rolle.

Also nur Schicksale, nicht Namen!

Wozu Namen?

Sie bedeuten so wenig, wenn es nur ihre Geschichte ist, durch die sie die Gemüter bewegen – sie bedeuten so viel, wenn man sie der Verleumdung preisgibt.

Den Namen unserer Freundin – als solche sei sie hier gleich bezeichnet –- nennt, von unverwelklichem Lorbeer umkränzt, die Geschichte der Schauspielkunst. Ihn nennt ihr Grabstein, den der Rosenstrauch beschattet, welchen die Hand eines treueren Freundes pflanzte, als der Herausgeber dieser Hinterlassenschaft der Verstorbenen sein durfte. Ihren Namen nennt gewiß noch mancher Mund, der ihr einst zujubelte, als sie, jung und schön, die begeisterte Menge fortriß zu Ausbrüchen stürmischen Entzückens.

Nun wäre es indessen vielleicht doch möglich, daß dieser oder jener besonders Vertraute sie erkennt. Plötzlich sieht er sie wieder vor sich stehen: als Gretchen und Klärchen; als Desdemona und Ophelia, als Hero und Sappho. Eine ganze Schar leuchtender, unsterblicher Gestalten zieht an ihm vorüber.

Doch gewiß wird er schweigen; er weiß ja warum. Streifte doch auch ihr Kleid die Erde!

Du aber, beschaulicher Freund, der du als Wanderer das Leben durchschreitest, du magst bei etwaiger Betrachtung dieses vernichteten schönen Daseins mit jenem anderen Wanderer ausrufen:

Schätzest du so, Natur,
Deines Meisterstücks Meisterstück?
Unempfindlich zertrümmerst du
Dein Heiligtum.

Frascati, Villa Muti, im März 18..

Erster Teil

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Schwankende Gestalten

Inhaltsverzeichnis

Heute, beim Kramen in alten Papieren, fiel mir ein Paket Photographien in die Hände. Das vergilbte Seidenband, welches es zusammenhielt, löste sich, so daß die einzelnen Blätter sich vor mir ausstreuten. Gedankenlos nahm ich eines der Bilder auf: ein junges Mädchen im altmodischen, weißen Mullkleid, Blumen im Haar, mit großen, sehnsuchtsvollen Augen – –

Nachdem ich das Bild lange betrachtet, legte ich es fort, ohne eine der übrigen Photographien angesehen zu haben. Dann stand ich auf, trat zum Spiegel und blickte lange auch mein Spiegelbild an. Aber wie betäubt ließ ich endlich von der Totenschau ab. Beide Hände vor das Gesicht gepreßt, das solche Veränderung erlitten, versuchte ich darüber nachzudenken; und jetzt – es ist tief in der Nacht – sitze ich und beginne die Geschichte jener Wandlung niederzuschreiben.

Ich führe den ungewöhnlichen Namen Rolla, nach meiner Großmutter so genannt, einer schönen, stolzen, unerbittlich strengen Frau, die von meiner Mutter, obgleich ihrer Heirat wegen von ihr verstoßen, schwärmerisch geliebt wurde.

Mein Vater war Lehrer an einer Stadtschule und zwar in so bescheidener Stellung, daß er Zeit seines Lebens mit Sorgen zu kämpfen hatte. Er starb in seinen besten Jahren, kurze Zeit nach meiner Geburt. Kaum konnte er das kleine Geschöpf an sein Herz drücken, sich freuend, daß es die blauen, strahlenden Augen der Mutter hatte und allem Anschein nach den trotzigen Mund des Vaters bekommen würde.

Diesen frühen Tod des Gatten und Ernährers machten besondere Umstände noch trauriger.

Mein Vater hatte sich leidenschaftlich in meine Mutter verliebt, als er in der reichen, nordischen Patrizierfamilie dem schönen Mädchen Unterricht im Zeichnen erteilte. Seine Neigung geheim haltend, denn er war arm und stolz, suchte er eine Empfindung zu unterdrücken, die ihn unglücklich machen mußte. Er beschloß, zu gehen, ging auch, nachdem er beim Abschied erfahren, daß er wieder geliebt werde.

Lange Zeit widerstand meine Mutter den Bitten, Vorwürfen und Drohungen der Ihrigen. Ihr Vater starb unterdessen, ebenso einer der Brüder; während ihre einzige Schwester, die eine Konvenienzheirat geschlossen, sich von ihrem Manne scheiden lassen wollte. Doch nichts konnte meine Großmutter erweichen. Sie sah ihre zarte Tochter hinwelken, die Ärzte sprachen sogar von Auszehrung: aber das Rettungsmittel, das so leicht hätte gegeben werden können, wurde der Ärmsten verweigert.

Ebenso unerschütterlich blieb ihr Verlobter. Er war ein Handwerkerssohn und besaß keine großen Fähigkeiten, wenigstens nicht zum Lehrberuf. Mit seinem kräftigen Wesen und seiner freien, zuweilen wild ausbrechenden Natur hätte er besser zum Landmann oder Jäger gepaßt. Zu hartnäckig, um aufzugeben, was er einmal angefangen (ein kleines Zeichentalent und drückende Verhältnisse gaben die erste Veranlassung zu seiner Wahl), bekleidete er in der Hauptstadt die Stellung an einer guten Volksschule. Hoffnungslos, jemals das heißgeliebte Mädchen sein Weib nennen zu dürfen, beschwor er dieses, ihn aufzugeben.

Er erwartete gerade ihren letzten Brief; da kam sie selber: eine Ausgestoßene, eine Verlorengegebene – eine Gerettete! Aber es dauerte lange, bis Liebe und Glück diese, in ihrem innersten Sein zerrüttete Natur wiederherzustellen vermochten, und erst nach vielen Jahren wurde das erste Kind geboren. Der glückliche Vater sah es und starb.

Gottesglaube und Mutterliebe machten es der Witwe möglich weiterzuleben; aber ihr Dasein, das sich eben erst zu einer spaten Blüte hatte entfalten wollen, war für immer geknickt. Solange sie lebte, blieb sie zart und kränkelnd, für ihre schwärmerisch angelegte Tochter in ihrer himmlischen Güte und Holdseligkeit eine fast unirdische Gestalt.

Denke ich an meine ersten, schattenhaften Erinnerungen zurück, so sind das Bild meines Vaters und das Grab meines Vaters die ersten starken Eindrücke, auf die ich mich besinnen kann. Wenn ich noch das schöne, stille Antlitz meiner angebeteten Mutter und das freilich minder liebliche unserer getreuen Magd nenne, so habe ich damit die vier großen Empfindungen meiner Kindheit bezeichnet.

An sonnigen Sommernachmittagen ging die Mutter, die immer ein schwarzes Gewand trug, zuweilen mit mir zum Tor hinaus. Wie ich mich jedesmal darauf freute! Ich hatte mein Sonntagskleid an und beide Händchen voll Blumen. Wir kamen in einen großen Garten – wie war es da schön! Unter dunklen Bäumen standen viele weiße, schimmernde Steine, viele blasse Bilder, um welche Rosen und Lilien blühten. An kleinen, umgitterten Blumenbeeten knieten Frauen, alle schwarz gekleidet wie die Mutter. Einige weinten. Ringsum war's geheimnisvoll, lautlos und feierlich! Wenn ich über einen Schmetterling, der im Sonnenschein über die Blüten gaukelte, aufjubeln wollte, so ward mir das gleich verwiesen. Dann mußte ich meine Blumen auf einen Stein niederlegen, der ganz voll hübscher, goldiger Zeichen war.

Zu Hause spielte ich dann: »Das Grab meines Vaters«.

Selbst ein Grab zu haben war damals meine höchste Sehnsucht. Ein solches dünkte mir schöner, als die rosigen Abendwolken und der Sternenhimmel. Seltsam ist, daß jetzt, da ich dieses schreibe, meine heftige Kindersehnsucht wieder zurückkommt: ein Grab mir lieber ist und mir schöner deucht, als der Himmel mit all seinen Seligkeiten.

Ich war ein äußerst phantastisches Kind. Leicht konnte ich mir vorstellen, daß die Steine Lichter seien, die allabendlich von den Engeln angezündet wurden. In meinen Träumen sah ich das ganze Firmament mit lichten Gestalten bevölkert. Aber trotz meiner glühenden Vorstellungskraft gab es ein Wesen, dem ich keine Gestalt zu verleihen vermochte; das war Gott.

Daß ich mir diesen großen und guten Geist gar nicht denken konnte, verursachte mir seltsamem Kind bereits damals heftigen Schmerz; denn bereits damals hatte ich das dringende Bedürfnis, mir alles, wovon ich hörte und was mich lebhaft beschäftigte, zu verkörpern und dann in diese leuchtenden Erscheinungen mein eignes kleines Ich hineinzuphantasieren.

Da mag man sich denn vorstellen, was für mich die Märchen waren. Meine feinsinnige Mutter, tief erschrocken über die heftige Aufregung, in die ich durch jede Geschichte versetzt wurde, versuchte ängstlich, mich vor solchen Erschütterungen zu bewahren. Dennoch wußte ich mir die verbotenen Genüsse zu verschaffen, deren gefährliche Wirkung durch die Heimlichkeit, mit der ich sie genoß, nur verstärkt wurde. Ich sehe mich noch, ein ganz kleines Ding, zitternd vor Erregung, in die Küche schleichen, Luisen, die gute Seele, die mir nichts abschlagen konnte, beschwörend: mir aus »Barmherzigkeit« die Geschichte von dem armen Aschenputtel oder dem lieben Schneewittchen nur »noch ein einziges Mal« zu erzählen. Es bedurfte stets eines großen Aufwands von Liebkosungen und Schmeichelworten, bis ich Luisens Zaudern und Zweifeln überwunden und sie dazu vermocht hatte, mir unter Brummen und Schelten einige Brosamen von ihrem Märchenschatz zuzuwerfen. Die Mutter war vielleicht gerade ausgegangen oder in der Dämmerstunde ein wenig eingenickt.

Da hockte ich nun auf meinem kleinen Fußschemel, die Händchen gefaltet, wie ich es beim Gebet tun mußte, mit großen staunenden Augen an den unlieblichen Lippen der Erzählerin hängend. Für meinen heißen Durst erhielt ich wirklich nur tropfenweise gespendet. Nichts weniger als ein weiblicher Cicero, stammelte Luise die einfachen Geschichten so verwirrt her, wie auf der ganzen Welt nur sie allein es fertig bekam. Schon beim drittenmal kannte ich sie besser als meine Fatima selbst. Eine Weile ertrug ich's, bis ich – Luise befand sich vielleicht gerade in einer hoffnungslosen Konfusion über das verwandtschaftliche Verhältnis Schneewittchens zu ihrer Stiefmutter – flehentlich bat: »Willst du es mir nicht sagen, liebste, beste Luise?«

Sie sagte mir's, aber gräßlich falsch! Das hielt ich nicht aus. Ich sprang auf.

»Ach, Luise, das ist ja nicht wahr!«

»So!« rief diese, höchlichst entrüstet, »willst du's besser wissen, kleines Ding? Will das Küchlein schon jetzt klüger sein als die Henne?«

»Sei mir nicht böse; aber es war ganz gewiß anders.«

Nun erzählte ich das Märchen, wobei ich die Personen stets selbst sprechen ließ. Hatte Dornröschen oder Aschenputtel etwas zu sagen, so stellte ich mich vor Luisen hin, bewegte meine Ärmchen und ließ meine kleinen Heldinnen mit rührender Stimme ihr Leid klagen. Kam es zum Sterben, so konnte ich oft vor Schluchzen nicht weiter; wachte jedoch Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg wieder auf und wurde Aschenputtel zuletzt gar Prinzessin, so war die Freude grenzenlos.

Luise, die, zuerst auf das tiefste beleidigt, mächtig mit ihren Tellern und Schüsseln geklappert, war allmählich ganz still geworden. Von Zeit zu Zeit brach sie in begeisterte Ausrufe aus, womit sie mir immer förmlich weh tat. Hatte ich geendet, pflegte sie niederzuknien, mich zu küssen und an sich zu drücken, bis es mir den Atem benahm. In stillem Glück ging ich fort, hinaus in den Garten, wo ich mich unter einem Strauch niederkauerte und noch eine gute Weile Aschenputtel oder Schneewittchen weitererlebte.

Ich müßte jetzt von meiner Mutter sprechen – als ob sich's von einer Mutter sprechen ließe! Ich will erzählen, wie sie aussah, was sie tat, wie sie mich liebte. Wie sie aber war, was sie war, das kann ich so wenig erzählen, als sich's erzählen läßt, was Liebe und Güte ist. Ich sehe sie vor mir. Sie trägt ihr schlichtes, dunkles Kleid. Ihr lichtbraunes Haar ist tief über Stirn und Wangen gelegt. Wie blaß diese sind! Oft fährt sie mit ihrer zarten, weißen Hand über den Scheitel hin, den weichen Glanz mit leichter, leiser Bewegung glättend. Was ist's für eine sanfte, gütige Hand! Außer einem, der längst im Grabe ruht, weiß das nur ihr Kind.

Während mir die Mutter wie eine meiner Märchengestalten selbst erschien, sah ich sie viele Stunden des Tages eine Arbeit verrichten, die mir, die ich staunend zuschaute, ein Wunder deuchte. Die Blumen, die draußen aufsproßten und dufteten, erblühten vor meinen Augen auf ihrem Schoß, ein ganzer Garten von Knospen und Kelchen!

Mit ihrem zarten Gesicht und ihrer schmächtigen, zierlichen Gestalt, sah sie fast jugendlich aus; und das selbst dann noch, als ihr brauner Scheitel bereits zum reinsten Weiß erbleicht war. Das kam allerdings sehr früh. Wie sie später nicht mehr zu sorgen und zu sparen brauchte, vertauschte sie ihr schwarzes Kleid mit einem lichten. Als käme ihr mit dem späten Glück noch einmal die Jugend zurück, sah ich die geliebte Gestalt von da an immer gleichsam von Schimmer umflossen. Und so erblicken meine Augen sie jetzt, wo ich nicht mehr zu dem heiligsten Platz, den der Mensch auf der Welt hat, flüchten kann, zu der Brust der Mutter, um dort auszuruhen und Frieden zu finden.

Zweites Kapitel
Unser Häuschen

Inhaltsverzeichnis

Wir wohnten in der großen Stadt in einer Weise, die noch jetzt als das wunderlieblichste Idyll in mir nachklingt.

Auch die Residenz hatten einst Mauern umzogen, an denen Gärten und Gemüsefelder lagen oder gar Getreideland anstieß. Allmählich wandelte sich die ganze freie Weite in Stadt um. Wo sich keine Straßen zogen, entstanden Villen oder Fabriken. Von den Feldern blieb nichts übrig, von den Gärten wenig; zuletzt mußte selbst die alte, ehrwürdige Stadtmauer fallen. Aber noch war hier und dort das Häuschen eines Gärtners stehengeblieben und wohl auch der Garten, der nun inmitten hoher, düsterer Wände recht wie ein freundliches, grünes Eiland dalag; auch wie ein solches von dem rauschenden und tosenden Gewühl der Großstadt umbrandet.

Ein derartiges, trauliches Asyl war meiner Kindheit und ersten Jugend zur Heimat beschieden. Das kleine niedere Haus lag ganz von Grün umgeben und war bis zum Dach von Efeu umsponnen; im Juni blühte ringsumher hochstämmiger Holunder, und ein prachtvoller Nußbaum überschattete es. Eine schmale Holztreppe führte vom Garten zu dem einzigen Geschoß des Häuschens hinauf. Vor der Tür gab es einen kleinen Altan, den tief überhängende Weinreben zu einer Laube machten. An jedem sonnigen Tag zog sich das Leben des Hauses ins Freie hinaus. Unter Blumen bildete die Mutter ihre Blumen; auf der Türschwelle saß Luise, las das Gemüse oder rührte ihren ewigen Strickstrumpf, indessen ich ab und zu lief, die kleine Brust voller Kinderlust, die mir gewiß aus den Augen strahlte, hell wie der Sonnenschein selbst. Dann wiederum konnte ich stundenlang dasitzen, der Mutter zusehen oder in den leuchtenden Tag hinausträumen, wie dieser auf den Rebenblättern und dem Laub des Baumes seine goldigen Lichter tanzen ließ. Oder ich saß da, die Schreibtafel auf dem Schoß, emsigst deren glänzendes Schwarz mit Hieroglyphen füllend; auf dem Schoß lag auch das Büchelchen, daraus zur stillen Freude der Mutter und zum lauten Entzücken Luisens mit lauter Stimme vordeklamiert wurde.

»Nein, was das Ding gescheit ist! Solch ein Kind, wie unseres, gibt's gar nicht mehr. Was aus dem wohl noch einmal werden wird!?«

Zu solchen und ähnlichen Ausrufen einer völlig fanatischen Bewunderung meiner hübschen, klugen und wohl auch recht liebenswürdigen, kleinen Person war die Getreue zu jeder Zeit bereit. Es mußte denn sein, daß sie sich gerade in der Stimmung befand, in welcher sie mit großer Entschiedenheit die unbestreitbare Behauptung aufstellte, daß »man doch auch ein Mensch sei«.

Unsere gute Luise! Mit feuchten Augen muß ich lächeln. Sie war eine hoch aufgeschossene, überaus schlank gewachsene Jungfrau, schwarzhaarig und schwarzäugig. Von Antonios Wiege waren die Grazien nur fern geblieben; wären diese Huldinnen durch einen unglücklichen Zufall an die Wiege unserer Luise geraten, darin dieses merkwürdige Wickelkind mit hochrotem Gesicht (das sie zeitlebens beibehalten) die Welt anschrie – die entsetzten Göttinnen hätten sich sicher wehklagend geflüchtet. Zu der glücklichen Zeit, da ich die Vortreffliche als »meine Luise« liebte und – fürchtete, führte sie zwar mit ihrer ehrlichen Hand Samstags kräftig genug den Besen; aber daß dieselbe Hand des Sonntags jemals zu karessieren verstanden, wage ich nicht zu behaupten.

Sie war aus demselben Dorf, wie mein Vater, den sie vergötterte, und dem sie, schon damals, eine Person in den gesetztesten Jahren, in der Stadt die kleine Wirtschaft führte, Freude und Leid der Familie nicht als Dienerin, sondern als Freundin tragend. Sie hatte mich in die Wiege gelegt, den Vater in den Sarg und war mit den Jahren so sehr zu »unserer« Luise geworden, daß ich mir damals die Welt ohne sie gar nicht zu denken vermochte.

Sie war eine schlichte, rechtliche und kräftige Natur, gedankenlos, aber mit ungemeiner Heftigkeit der Empfindung, die sie auf die leidenschaftlichste Weise auszudrücken pflegte. Von den Menschen dachte sie lieber Schlechtes als Gutes, war immer ahnungsvoll, immer mißtrauisch, witterte überall Hinterlist und Tücke, befand sich stets gegen alle Welt in der Defensive. Mit höchstem Pathos bejammerte sie fortwährend die Armen, beneidete sie fortwährend die Reichen, wobei sie sich feierlichst als eine »Demokratin« erklärte. Sie war natürlich sehr fromm, hegte eine leidenschaftliche Vorliebe für alle geistlichen Vereine und Bibelgesellschaften, hielt sich dann und wann für eine arge Sünderin, schluchzte bei jeder Predigt und kritisierte nebenbei den neuen Hut ihrer Nachbarin. Sie glaubte an Geister und Träume, war stets voller »Ahnungen«, prophezeite für jeden Tag in der Woche ein Unglück, buk meisterhaft Schmalzkuchen und machte unübertrefflich Salzgurken ein. In ihrer Küche erhielt der Sonntag noch dadurch eine besondere Weihe, daß sie, eine mächtige Hornbrille auf die stattliche Nase rückend, unter lautem Gestöhn eine Bußandacht abbuchstabierte. Nie hätte sie einem Bärbelchen verziehen, einem Gretchen noch weniger.

Trotz solcher gestrengen Sinnesart hatte sie ihre großen Schwächen, deren größeste wohl meine kleine Person war: ihre Rolla! Dann kam die Mutter: » ihre Frau«! Dann die Küche: » ihre Küche«, bis zum letzten blitzblanken Kessel darin: » ihre Kessel«! Auch auf die stets reinlich leuchtenden Fußböden und schneeweißen Gardinen war sie ganz unchristlich stolz, und, was die ersteren anbetraf, auch wohl christlich unduldsam.

Sie besaß eine bedenkliche Neigung für die lebhaftesten Farben, die sie womöglich alle an ihrem eignen Leibe unterzubringen suchte. Mit besonderem Entsetzen entsinne ich mich einer hochroten Flanelljacke, nur um eine Nuance heller als Gesicht und Hände. Da ich sie tagtäglich behaupten hörte, daß jeder Mensch seine Eigenheiten habe, hielt ich bewußtes Konglomerat von Farben: die ihrer Jacke und die ihres Gesichtes für Luisens angeborene Eigenheit und ergab mich darein.

Natürlich war nicht die Mutter Herrin und Beherrscherin unseres kleinen Reiches, sondern Luise, Was diese wollte, geschah, was diese nicht wollte, geschah nicht. Sie gebot und wir waren gewöhnlich sehr glücklich und dankbar, wenn es unserer gestrengen Dienerin beliebte, guter Laune zu sein, oder einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Mit mir trieb sie eine Art von Götzendienst. Ich war für sie nämlich ein so schönes, so kluges, so wunderbares Kind, daß mein Dasein sie geradezu fassungslos machte. Offnen Mundes staunte sie das Wunder meiner Existenz an, mit unerschütterlichem Glauben prophezeiend (die gute Seele hatte von ihren Märchen profitiert!), daß sicher noch einmal etwas »Großes« aus mir werden würde; zum Beispiel eine Prinzessin. Ihrer durchaus maßgeblichen Meinung nach brauchte ich nur zu wollen, um mich eines schönen Tages per goldener Kutsche auf irgendeinen gerade vakanten Königsthron befördern zu lassen. Kurz diese »böse- gute, liebe-schlechte« Luise verwöhnte mich gründlichst.

Ihr schönen, glücklichen Zeiten! Ihr verklungenen Klänge, noch einmal klingt in mir nach!

Kindheit! Kindheit! Ist es denn möglich, daß die Sonne so hell scheinen, eine Blume so duften kann?! Kindheit! Kindheit! Du schönstes Märchen, du wundersamstes Gedicht, bist du auch mir jemals erklungen? Noch immer mit braunem Haar, kann ich kaum noch begreifen, wie der gramvolle Mensch je ein fröhliches Kind gewesen sein soll, das junge Herz so voll Sonnenscheins, daß ihm die trüben Tage nicht dunkler deuchten als die heiteren. Kindheit! Kindheit! Ich erlebe dich wieder und mir wird so wohl, mir wird so weh! Ich schließe die Augen, um einzuschlafen und noch einmal so selig zu träumen. Ein Meer von Strahlen steigt wirbelnd aus dem Dunkel auf. Töne umbrausen, Melodien umrauschen mich. Still, weckt mich nicht!

Drittes Kapitel
Junge Talente, junge Freuden und Leiden

Inhaltsverzeichnis

Luise mochte mit ihrem staunenden Ausruf, was ich für ein wunderbares Kind sei! nicht Unrecht haben. Wenigstens war ich sicher ein sehr eigentümliches Kind, wohl eines der seltsamsten kleinen Geschöpfe, die jemals Sand und bunte Steine für große Herrlichkeiten hielten und sich mit ihren Puppen herumschleppten, als seien das winzige Menschen.

Dabei war ich ein so zärtliches, liebebedürftiges und liebesehnsüchtiges kleines Wesen, daß mich die Heftigkeit meiner Empfindungen oft krank machte. Bei solcher Anlage war es denn nicht verwunderlich, wenn ich mich nicht damit begnügte, mein Mütterchen »gräßlich« und Luise »schrecklich« lieb zu haben; sondern auch einen großen Teil meines Liebesreichtums auf Dinge warf, die entweder Ideen oder leblose Gegenstände waren. Zu der ersten Gattung dieser heiß Geliebten gehörten meine sämtlichen Märchengestalten, zur zweiten natürlich meine Puppen. Meine Einbildungskraft beschenkte sie sowohl wie mich selbst mit allen denkbaren irdischen und unirdischen Herrlichkeiten. Mittels meiner Phantasie konnte ich Wunder vollbringen. Freilich wurden mir diese schimmernden Gebilde durch einen andern skeptischen und auflösenden Zug meines Wesens gewöhnlich wieder auf das Grausamste zerstört. Dann war ich eine Zeitlang ganz elend, bis ich mir eine neue Phantasmagorie hergestellt hatte.

Im Idealisieren maßlos, geriet ich nur zu leicht auch in der entgegengesetzten Empfindung völlig ins Extrem. Dieses Doppelwesen meiner Natur wurde in dem Verhältnis zu meinen Puppen am schärfsten ins Licht gesetzt. Hier idealisierte ich, was ich nur konnte. Alles an diesem kümmerlichen Spielzeug sah ich glänzend und prachtvoll. Ich beseelte es mir und ließ dann daraus mein eigenes phantastisches Ich in einer mir selbst unverständlichen Sprache reden und predigen. Durch dieses Vermenschlichen von etwas Leblosem versetzte ich mich in eine geradezu krankhafte Aufregung, bis zuletzt auch hier nach dem Rausch die unbarmherzige Entnüchterung eintrat. Plötzlich sah ich meine herrlichen Gestalten als aus Holz, Leinwand und Pappe verfertigt, mit schlechtem Flitter behangen. Die Engelsmienen waren bemaltes Wachs, die strahlenden Augen Glas, die »goldenen« Locken Seide und Flachs. Einmal bis zu dieser Erkenntnis gelangt, scheute ich mich nicht, meinem schmerzenden Herzen auch den letzten Wahn zu benehmen: die Leiber meiner Puppen zerfielen unter meinen zerrenden Fingern, häßliches Gefüllsel streute sich aus – nun hatte ich Wirklichkeit.

Eine Menge ähnlicher Züge beweisen Ähnliches. Ich war eben eine sehr gemischte Natur. Bald übermäßig froh, bald übermäßig traurig; jetzt in ausgelassenen Jubel ausbrechend, dann über die Lust selbst in Schwermut verfallend.

In ernsthafteren Dingen zeigte ich mich übrigens einheitlicher. Ich besaß eine große Wahrheitsliebe und früh bemerkte meine Mutter einen leidenschaftlichen Hang zur Grübelei in mir. Mit trotziger Liebeskraft strebte ich allem zu, was mir zu eigen zu machen ich mir vorgenommen. Erkannte ich jedoch die Unmöglichkeit des Besitzes, so war ich gleich bereit, Wunsch und Hoffnung aufzugeben. Es kam oft vor, daß irgendein bescheidenes Vergnügen, worüber ich lange vorher stürmische Freude empfunden, vereitelt wurde oder beim Beginn abgebrochen werden mußte. Wenn ich dann so ruhig, fast gleichmütig entsagte, freute sich meine Mutter über ihr »vernünftiges« Kind. Ich besaß eben ein großes Talent zum Entsagen. Nun, dafür bin ich Frau.

Schreiben und Lesen hatte mich die Mutter gelehrt. Später wurde ich Schülerin derselben Anstalt, an der mein Vater sich so viele Jahre lang abgequält. Wohl mochte es meiner Mutter tief wehmütig sein, ihr Kind denselben Weg gehen zu lassen, den täglich der Unvergeßliche zurückgelegt und sich ihre Tochter in denselben Räumen denken zu müssen, welche die Gegenwart des Verstorbenen geweiht. Weil ich wirklich fleißig war, leicht faßte und mit voller Lust arbeitete, ward ich bald von den Lehrern bemerkt und bevorzugt. Doch war das gewiß nicht der Grund, daß ich unter meinen Mitschülerinnen keine Freundin, kaum eine Kameradin fand. Und das ist so geblieben – bis heute! Ich habe niemals eine Freundin gehabt. Forsche ich nach der Ursache dieser befremdenden und traurigen Erscheinung, so muß ich sie wohl oder übel in mir selber finden. Ich fürchte, daß mein Geschlecht mich nicht für liebenswürdig hielt und das wahrscheinlich mit vollem Recht. Ohne mir einfallen zu lassen, mich besser als sie zu dünken, fühlte ich, daß ich anders war. Dieses dumpfe Bewußtsein machte mich trotz meines heißen Bedürfnisses, Zärtlichkeit zu empfangen und zu geben (ich rede von meiner Kinderzeit), scheu und verschlossen. Wie gern hätte ich mich damals mitgeteilt, wie gern meine junge, stürmische Empfindung in ein anderes, ebenso junges, ebenso bewegtes Herz ausströmen lassen! Schüchterne Versuche, die ich machte, mißlangen vollständig. Obgleich ich in meiner natürlichen Sprache zu ihnen redete (wie hätte ich anders können!), war dieselbe ihnen doch eine völlig fremde. Sie verstanden mich nicht und ließen mich allein. Wie darf ich mich darüber beklagen?

Später wurde ich dann sehr bald eine zu entschiedene Individualität, um mir damit Freundinnen erwerben zu können.

Wir »duldenden« Frauen sind so unduldsam, was Frauen anbetrifft! Wir, für die alles Ungewöhnliche beim Manne einen so gefährlichen Reiz besitzt, fordern von unserem Geschlecht, daß es typisch sein solle. Können wir es doch kaum einer Frau verzeihen, wenn sie sich anders kleidet als andere. Von der Coiffüre bis zur Schleppe soll sich bei uns alles gleichen. Dabei sind wir jedoch sehr bereit, selbst durch einen überraschenden Schnitt aufzufallen, wie wir es denn gewiß weit lieber haben, nachgeahmt zu werden, als nachzuahmen. Dulden wir also selbst nicht bei der Toilette Individualitäten, wie sollten wir uns dann einander Abweichungen und Ausschreitungen in unseren Persönlichkeiten gestatten und vergeben?

Mein ganzes Leben lang ohne Freundinnen, möchte ich mir doch jetzt die eine oder die andere zur Freundin erwerben. Ich, die ich nie so glücklich gewesen, einer Frau mein Herz ausschütten zu dürfen, tue das nun in diesen Blättern. Kann doch schließlich nur die Frau die Frau verstehen! So schreibe ich denn diese Aufzeichnungen – diese Bekenntnisse! – für euch, meine Schwestern, nieder. An eure Herzen wende ich mich, zu euren Herzen rede ich. Möchtet ihr mich in meinem Unglück liebenswürdiger finden, als eure Gefährtinnen das taten, da sie mich für glücklich hielten, für überschwenglich, für beneidenswert glücklich! Ich habe mich immer nach euch gesehnt, nach euch, meinen Leidensgenossinnen. Denn das seid ihr! Alle habt ihr ja gelitten! Freilich – ihr werdet meine Liebe Verirrung nennen, mein Leiden die gerechte Buße für eine schwere Schuld. Aber, wenn ich euch mein Herz offen darlege und vor euren Augen seine tiefen, blutigen Wunden rinnen lasse, werdet ihr vielleicht milder denken über Vergehen, in denen wir Frauen – beklagen und bereuen wir es nicht allzusehr! – so leicht zu Sünderinnen werden, sobald wir uns nur gestatten, völlig das zu sein, als was wir geschaffen sind – ein Weib.

Nachdem ich mir dies vom Herzen gesprochen, bin ich noch einmal wieder ein Kind.

Von den Lehrgegenständen, die nach und nach meinen kleinen Kopf füllten, war mir Geschichte bei weitem das liebste, Geschichte, deren Helden jetzt die Stelle der Gestalten meiner Märchen einnahmen. Ihre Wirkung auf mich war beängstigend groß. Statt mit Schneewittchen, Dornröschen und Rotkäppchen zu leiden, tat ich das fortan mit Virginia, Lukrezia und Thusnelda. Die beiden Grundzüge meines Wesens: einen Gegenstand zu idealisieren und ihn dann gewaltsam auf seine Realität zurückzuführen, konnten hier friedlich nebeneinander wirken. Wenn ich über den Tod Virginias begeisterte Tränen weinte, ihr mit jedem Gefühl nachstarb, brauchte ich mich danach keinem noch heißeren Schmerz hinzugeben; denn Virginia war eine Tatsache der Geschichte, während schon das Kind vor dem Pfefferkuchenhäuschen der Frau Holle und dem Glaspantoffel Aschenputtels bald nach dem ersten Entzücken qualvolle Unsicherheit empfunden hatte.

Ich versuche nicht, die Verzückung Luisens auszumalen, wenn ich, mit einer Decke oder einem Bettuch drapiert, vor sie hintrat, um als Horatia pathetische Klage zu erheben, darüber, daß mein Bruder meinen Geliebten erstochen. Wenn es so weit kam, daß ich bei dem furchtbar großartigen Ausruf Horatios: »So ergehe es jeder Römerin, welche den Feind betrauern wird!« erstochen werden sollte, sank Luise ganz schwach auf einen Stuhl, über das »Ungetüm« von Bruder in wilde Entrüstung ausbrechend. Jedoch meinen größten Triumph errang ich vor diesem empfänglichen Publikum, als ich, in eine weiße Gardine gewickelt, einen Rosenkranz auf, mir vor Luisens eigenen entsetzten Augen deren großes Küchenmesser auf die Brust setzte, um mir als Lucrezia das Herz zu durchstoßen. Laut schreiend stürzte Luise auf mich zu, riß mir die Mordwaffe aus der Hand, brach in eine Flut von Tränen und Vorwürfen aus: ich hätte es auch gar zu natürlich gemacht!

Wenn ich nur die Küche als Bühne und nur Luise als Auditorium erwähne, so zeigt das, wie ich dergleichen Vorstellungen vor meiner Mutter geheimhalten mußte. Ich tat es unter den heftigsten Gewissensbissen; aber der Drang zum Schauspielern in mir war so unwiderstehlich, daß ich's nicht zu unterlassen vermochte. Ich konnte es auch nicht für mich allein tun, sondern mußte gehört und gesehen werden, wobei mir jedoch der Beifall nicht nur durchaus Nebensache, sondern im Gegenteil geradezu verhaßt war. Besonders gern hielt ich diese Vorstellungen in Abwesenheit der Mutter auf unserem Altan ab. Die Gartentür war verschlossen, drunten auf einem Stuhl saß feierlichst Luise, den Strickstrumpf zwar in der Hand, aber vor Erregung selten dazu kommend, ihre Nadeln in Bewegung zu setzen. Erwartungsvolle Pause –- dann erschien unter dem grünen Gerank eine kleine, weiße Gestalt, die nun zu sprechen begann.

Diese Heimlichkeiten, die Luise nicht nur zugab und begünstigte, sondern zu denen sie mich sogar zuletzt förmlich trieb, machten mein Verhältnis zu ihr immer vertraulicher – immer bedenklicher. Ihre Wirkung auf mich war durchaus nicht mehr harmloser Art. Durch ihre maßlose Bewunderung fing sie an, mir ernsthaften Schaden zu tun. Ich verlor meine schöne Unbewußtheit, wurde eitel, war kein so reines Kind mehr. Meine Mutter bemerkte diese Veränderung mit tiefem Kummer, ahnte vielleicht deren Grund, war aber zu schwach, eine sofortige Abhilfe zu treffen, wozu es auch bereits zu spät gewesen wäre. Indem sie mich inniger und inniger an ihr schönes Herz zog und mir ihre edle Seele zu empfinden gab, hob sie vieles von jenen schlechten Einwirkungen wieder auf.

Natürlich wurde mein deklamatorisches Talent auch in der Schule bemerkt und auch hier mit größerer Aufmerksamkeit behandelt, als mir gut war. Jede deutsche Stunde, in der ich ein Gedicht aufsagen durfte, galt als ein Ereignis für die ganze Klasse. Viele hatten es vor mir gesprochen, die meisten nicht gut – jetzt wurde mein Name gerufen. Wie mein Herz pochte! Wie mir alles Blut ins Gesicht stieg! Ich erhob mich. In die Klasse kam lebhafte Bewegung, der Lehrer mußte Ruhe gebieten, alles sah auf mich. Mit bebender Stimme begann ich, bald jedoch hatte ich meine Umgebung vergessen.

Noch sensationellere Erfolge erzielte meine junge Kunst bei den öffentlichen Prüfungen, die jede Klasse zweimal des Jahres zu bestehen hatte. Das Sprechen eines Gedichtes war der Höhepunkt dieser Produktion. Jedesmal ward die Deklamation mir übertragen. Sobald der wichtige Tag kam, war die Aufregung im Häuschen groß. Bereits eine Woche vorher, hatte Luise im Waschen und Plätten meines weißen Mullkleides ihr Meisterstück geliefert.

Dieses weiße, oft gewaschene Mullkleid! Mit Wehmut erinnere ich mich seiner recht bescheidenen Pracht, die mir damals als die denkbar größte Herrlichkeit erschien. Das köstliche Gewand durfte nur wenige Male des Jahres angelegt werden: an dem Geburtstag der Mutter, des Vaters und Luisens, an meinem eigenen und an eben jenem festlichen Ereignis in der Schule. Zum Glück hatte das Kleid sehr viele Falbeln: von diesen wurde jedes Jahr eine oben abgenommen und unten wieder angesetzt.

Dieses liebe köstliche Kleid ward an bewußtem festlichen Tag unter heftigem Applaus Luisens angelegt, durch eine rosaseidene Schärpe prächtig verschönt. Um die braunen Locken, die heute von den liebevollsten Händen mit besonderer Sorgfalt geordnet waren, wand sich ein Rosenkranz, von denselben gütigen Fingern verfertigt. So geschmückt betrat ich den weiten, mit Menschen angefüllten Saal, deklamierte, erhielt unter allgemeinem, oft geradezu stürmischen Beifall den Preis.

Was war's für ein Glück, wenn ich, so ausgezeichnet, mit strahlenden Augen nach den Meinen hinübersah. Dort saßen beide! Ich glaubte auf dem sanften Gesichte meiner Mutter einige Freude zu erkennen. Wie eine Päonie glühend, thronte Luise majestätisch im Staatskleid, heftig die Arme bewegend. Nickend und winkend, gestikulierte und pantomimierte sie ihr höchstes Entzücken zu mir herüber, so daß alle im Saale auf sie blickten. Was scherte sie das? Wie schön war der Heimweg, in Luisens Augen der Triumphzug, wobei sie fortwährend auf alle Begegnenden schielte, ob mich auch alle nach Gebühr anstaunten. Welche Entrüstung, wenn sie das nicht taten! Zu Hause gab's dann eine kleine, festliche Mahlzeit, zu welcher Luise einen wunderbaren Kuchen gebacken. Den ganzen Mittag und Abend gestattete sie uns nicht, von irgend etwas anderem zu reden.

Ich war vierzehn Jahre alt, als ich zum erstenmal ein Schauspiel sah.

Was hatte dieses Wort seit meinem ersten Erinnern für einen geheimnisvollen, mächtigen Klang für mich gehabt! Der Rattenfänger von Hameln hätte mich damit hinter sich her durch die ganze Welt gelockt.

Seit meine Mutter ihren lieben Lehrer geheiratet, war sie in kein Theater gekommen. Aber Luise war einigemal dort gewesen und erzählte mir davon, wie man sich denken kann, in nicht weniger wunderlicher Art, als von ihren Märchen. Da erhielt ich denn seltsame Begriffe. Schließlich malte ich es mir in meiner eigenen Weise aus und schuf mir so auf der Welt eine zweite Welt. Und – was soll ich's nicht gestehen – mir deuchte die selbstgeschaffene, die schönere.

Jedesmal, wenn ich zur Schule ging, blieb ich an den Straßenecken stehen, wo auf gelben, roten und blauen Zetteln zu lesen stand, welches Stück heute in dem und dem Theater gegeben wurde. Ich las die Titel, die Personen, die Namen der Schauspieler, fabulierte mir daraus die Handlung zusammen, wählte die Gestalt, die ich vorstellen würde, und setzte dahinter meinen Namen: Rolla. Ich fühle noch jetzt die Sehnsucht, die mir in jenen Zeiten wie ein glühender Strom zum Herzen drang; sehe mich noch jetzt an sonnigen und trüben Tagen an den Straßenecken stehen, ein kleines schmächtiges, mehr als einfach gekleidetes Ding. An mir vorüber brauste das Getriebe der Großstadt, rollten die Wagen, drängten sich die Menschen – ich hörte nichts! Vor mir stand mit großen Buchstaben: Die »Jungfrau von Orleans«, oder »Kabale und Liebe«, oder »Faust«. Ich stand, staunte hinauf und vergaß darüber das Leben.

Ich hatte auch noch nie ein Schauspiel gelesen, und jetzt sollte ich gar eines sehen!

Erst einen Tag vorher ward mir mein Glück angekündigt: es machte mich fassungslos. Von armen, kleinen Leutchen, die wir waren, konnte für das teure königliche Schauspiel nur ein Billett für die letzte Galerie erschwungen werden. Das Theater (es geschah an einem Sonntag) war ausverkauft: eine berühmte Tragödin gab Maria Stuart.

Schon das große, glänzend erleuchtete, von Menschen erfüllte Haus, der dunkelfarbige gewaltige Vorhang, der etwas Geheimnisvolles von uns abschloß, die Klänge des Orchesters, das Schwirren der Stimmen – alles das versetzte mich in einen Zustand von Fieber und Traum. Als der Vorhang aufging, wagte ich kaum hinzusehen und von der ersten Szene zwischen Sir Paulet und der Kennedy verstand ich kein Wort. Als man sagte:

»Da kommt sie selbst – den Christus in der Hand,
Die Hoffart und die Weltlust in dem Herzen!«

erhob ich mich, wie magnetisch angezogen. Die Mutter mußte mich niederdrücken: ich hatte gar nicht gehört, daß die Menschen, die hinter mir saßen, laut über mich murrten. Dann kam sie.

Ein Applaus, der das Haus erschütterte, begrüßte sie, ein Regen von Blumen fiel ihr zu Füßen. Noch ehe sie gesprochen, stürzten mir schon die Tränen aus den Augen.

Was soll ich weiter sagen? Ohne mich zu regen, saß ich da und starrte in die Tiefe hinab. Wenn die große Tragödin agierte, hätte ich – ich kann es noch heute nicht ausdrücken! Ihr wie eine der Blumen zu Füßen liegen, den Saum ihres Kleides berühren zu dürfen, erschien mir als Glück ohnegleichen.

Ich bin durchaus nicht sicher, ob ich mir an jenem Abend bewußt ward, was es eigentlich mit Maria Stuart und Elisabeth von England für eine Bewandtnis habe. Nach dem dritten Akt vergingen mir fast die Sinne. Ich erholte mich und sollte nun durchaus nach Hause. Doch meine Bitte: bleiben zu dürfen, war so beängstigend leidenschaftlich, daß meine Mutter aus Furcht, mich noch mehr zu erregen, sie mir gewähren mußte. Als der Vorhang zum letztenmal fiel und das Publikum klatschte und klatschte, stand ich da, schluchzte und schluchzte, als ob mir das Herz brechen wollte. Wie die Tragödin hervortrat, hätte ich beinahe einen Schrei ausgestoßen: Maria Stuart war ja tot! Dann konnte ich gar nicht begreifen, daß es aus sei und wir fortgehen mußten. Aus Maria Stuarts Kerker wieder in unser Häuschen zu Luise zurück, das erschien mir nicht möglich.

Auch von den traumhaften Tagen, die diesem unirdischen Abend folgten, vermag ich nichts niederzuschreiben. Luise zeigte sich ungemein entrüstet, daß ich über das große Ereignis keine Silbe äußerte. Wir waren zu arm, als daß die Seligkeit: von neuem für einen Abend Besitzer von zwei Galerieplätzen zu sein, sich sobald hätte wiederholen können. Trotzdem ich für einen nochmaligen Eintritt gern gestorben wäre, war ich verständig genug, meiner Mutter kein Wort zu sagen. Wußte ich doch, wie weh es ihr getan hätte, den Wunsch ihres Lieblings nicht erfüllen zu dürfen. Und ich wußte auch: manche Mitternacht verging, bis die Mutter in das Kämmerchen kam, darin sie mich in festem Schlummer glaubte, sich endlich gleichfalls zur Ruhe zu legen. Im Wohnzimmer saß sie bei trüber Öllampe und ließ ihre armen, müden Hände rastlos, rastlos Blumen verfertigen. Die Tochter wuchs heran, kostete viel Schulgeld, und obgleich Luise für gar kärglichen Lohn eine so treue Dienerin war, gab es Sorgen genug.

So bekam ich denn früh Gelegenheit, mich im Entbehren zu üben. Maria Stuart wurde kein zweites Mal gesehen, wohl aber immer wieder von neuem erlebt, wobei indes der eine Unterschied war, daß die unglückliche schottische Königin statt von der großen Tragödin von der kleinen Rolla gespielt wurde. Im übrigen begnügte ich mich, mit noch mehr Beharrlichkeit als früher, vor den Theaterzetteln zu stehen und sehnsuchtsvoll hinaufzublicken. Den Titeln nach kannte ich bald ganz das Repertoir des königlichen Schauspielhauses auswendig. Trat meine Künstlerin auf – sie war engagiert worden – so war dies, obgleich ich nichts davon zu sehen bekam, ein Ereignis für mich.

Als am Weihnachtsabend dieses Jahres die Lichter an unserem Tannenbäumchen brannten, lagen darunter – wie jauchzte ich auf! – Bücher! Bücher: Schillers sämtliche Werke.

Viertes Kapitel
Allerlei Wehmütiges und Sehnsüchtiges

Inhaltsverzeichnis

Man wird erstaunt sein, daß mir, der Tochter eines deutschen Lehrers, bis zu meinem vierzehnten Jahre der größte deutsche Dichter in seinen Werken fremd geblieben war; denn was ich in der Schule von ihm kennen lernte, waren nur einige seiner Balladen. Wenn mich diese schon außer mir gebracht hatten, wie mußten da erst die Dramen auf mich wirken!

In einer Zeit schwerer Not hatte meine Mutter sich entschließen müssen, die kleine Bibliothek, die heiligste Hinterlassenschaft meines Vaters, zum Antiquar zu tragen; jedoch mit der Bedingung, daß ihr der Rückkauf gestattet sei. Jetzt ging aus den Händen meiner Mutter ein wahrer Frühling hervor, für dessen Erlös nach und nach Band auf Band wieder erworben ward. Auch Luise ließ sich nicht nehmen, den poetischen Blüten meiner Mutter ihre prosaischen Strümpfe hinzuzufügen und so kam es, daß eines Tages in unserem Häuschen ein großes Fest gefeiert werden konnte: das letzte Buch ward zurückgeholt.

Unter den Werken befand sich natürlich auch ein Schiller. Wenn ich nun trotzdem nicht dazu kam, weder diesen Dichter, noch irgendeinen andern zu lesen, so hatte das meine ängstliche Mutter verhütet, wohl nicht mit Unrecht eine Steigerung meiner übergroßen Erregbarkeit bis zum entschieden Krankhaften befürchtend. Der Schrank, dessen Inhalt meine Sehnsucht gestillt haben würde, stand mir unverschlossen. Doch herzlich gebeten, seine Türen nicht zu öffnen, tat ich es niemals. Nur was meine heimlichen Deklamationen anbetraf, vermochte ich nicht eine gehorsame Tochter zu sein. Wie ein Dichter schon als Kind reimen muß, so mußte ich, derselben inneren Notwendigkeit zufolge, schauspielern.

Wie sehr meine Mutter recht gehabt, zeigte sich nach jenem Weihnachtsabend, der mir den Schiller meines Vaters bescherte. Wenn ich sage, daß ich fast alle Dramen auswendig kannte, wird man mich gewiß der Übertreibung beschuldigen. Und doch war das der Fall. Einmal begonnen, war kein Anhalten, kein Aufhören mehr möglich. Mein ganzes Nervensystem litt darunter und einige Zeit kränkelte ich bedeutend. Aus Furcht, daß mir mein Schiller genommen werden könne, äußerte ich jedoch nie eine Klage. Die Angst der Mutter, der mein blasses Aussehen Besorgnis einflößte, lächelte und scherzte ich hinweg. Den wahren Grund ahnte wohl nur – man denke! – unsere grobsinnige Luise.

Ich war gerade eingesegnet worden, als die kleine Familie einen großen Kummer erfuhr.

Unser liebes Häuschen, in dem wir inmitten der lärmvollen Stadt, eine schier ländliche Idylle lebten, war Eigentum eines alten Gärtners, der nichts von der neuen Zeit wissen wollte, welche Stadtmauern niederriß und auf dem Felde des Landmanns riesenhohe Schornsteine aufführen ließ. Trotzig gärtnerte er weiter; pflanzte seinen Kohl, zog seine Blumen, ließ seine Frucht reifen, während rings um ihn her Häuser aus den Boden stiegen und sich Straße auf Straße ausdehnte. Man bot ihm für seinen Garten Summen, die ihn mit einem Schlage zum reichen Mann gemacht hätten; aber mein wackerer Gärtner wollte sterben, wie er gelebt hatte: den Boden bebauend, auf dem seine Eltern und Großeltern im Schweiße ihres Angesichts gesäet und geerntet. Der gute Mann, dem ich seinen redlichen Trotz noch heute danke, starb. Ein gleichgültiger, in diesem Fall wirklich lachender Erbe, mochte den Verkaufskontrakt bereits in der Tasche tragen, als er den braven Arbeiter zur Grube geleitete. Wenige Tage nach dem Begräbnis wurde uns angekündigt, daß wir in kürzester Frist das Häuschen zu räumen hätten.