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Buch

Weihnachtszeit in London: Die Stadt funkelt festlich, unter den Sohlen knirscht der Schnee – doch die Finanzexpertin Allegra Fisher hat nur einen Wunsch: dass die Feiertage schnell vorübergehen. Die Karrierefrau arbeitet gerade an einem Riesendeal und hat keine Zeit für das »Fest der Liebe«. Als im verschneiten Zermatt die sterblichen Überreste einer Frau in einer alten, lange verschütteten Berghütte entdeckt werden, kann Allegra kaum glauben, dass der Fund etwas mit ihrer Familie zu tun haben soll. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Isobel fliegt sie in die Schweiz – und mit der Reise und ihrem so attraktiven wie gefährlichen Konkurrenten Sam nimmt Allegras Leben eine ganz neue Wendung. Vielleicht gibt es Wichtigeres als die Karriere – und vielleicht wird es ja doch ein Fest der Liebe …

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KAREN SWAN

Winterküsse

im Schnee

Roman

Übersetzt

von Gertrud Wittich

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Christmas in the Snow« bei Pan Books, an imprint of
Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited,
London, Basingstoke and Oxford.
Copyright © 2014 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung der Originalgestaltung
Umschlagbild: Frau: © Ayal Ardon/Trevillion Images
London: ©Doug Armand/Getty Images
Zweige: © SuperStock/Corbis
Schneehügel: © Emilie Chaix/Photononstop/Corbis
LT · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-17117-9
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für William

Skiteufel. Bär

Prolog

21. Januar 1951

Der Wind pfiff durch ein Astloch und ließ die Kerze flackern, doch sonst rührte sich nichts – kein Rascheln im Stroh, kein Windstoß in ihrem langen schwarzen, lose herabhängenden Haar. Ihr Blick hing unverwandt an der Tür, um die herum sich ein schmaler Lichtrand abzeichnete.

Sie war schon viel zu lange hier. Draußen schneite es wie verrückt, da würde sich keiner herauswagen. Ihr dagegen kam das zupass, da ihre Spuren inzwischen längst wieder zugeschneit waren. Keiner würde merken, dass sie hergekommen war.

Sie kam sich vor wie eine langsam schmelzende Wachsfigur. Der Holzboden zu ihren Füßen hatte überall dunkle Wasserflecken. Rhythmisch wiegte sie sich vor und zurück, um den Blutkreislauf in Gang zu halten. Sie sollte wirklich gehen; sie durfte nicht länger bleiben.

Mit den Händen hielt sie ein Zinnglöckchen umklammert, mit dem sie bimmeln würde, sobald das Zeichen kam. Sie strich zärtlich darüber; es war schon ganz warm. Das Lederband, an dem es hing, war um ihr zartes weißes Handgelenk gewickelt.

Da ertönte ein Geräusch. Wie erstarrt blickte sie zur Tür. Aber der Lichtrahmen schien auf einmal zu verblassen, und dem kurzen Peitschenknall, den sie gehört hatte, folgte ein dumpfes Poltern: Der Berg entledigte sich seiner Schneelast wie eines überflüssigen Pelzmantels. Das beunruhigte sie nicht weiter, sie war mit solchen Geräuschen aufgewachsen, sie waren ihr vertraut wie das Schnarchen ihres Großvaters, wenn sie in der warmen Stube gesessen hatten, während sie zu seinen Füßen mit ihren Spielsachen spielte. Aber das hier war anders. Der Fußboden begann zu vibrieren. Sie warf einen Blick zur Tür: Der Lichtrahmen war vollkommen verschwunden, als hätte jemand die Sonne am Himmel ausgeknipst.

Es blieben nur zwei Sekunden. Keine Zeit zu schreien, ja nicht einmal, um nach Luft zu schnappen. Schon brach der Schnee über sie herein.

1. Kapitel

Allegra konnte nur betreten den Kopf schütteln, während sie ihrer Schwester zuschaute, die mit wehendem blondem Haar vor ihr herrannte und wie ein Kind nach Blättern haschte. Sie hatte die Arme hochgestreckt und versuchte lachend eins der großen braunen Herbstblätter zu fangen, die rings um sie her von den Bäumen trudelten. Allegra war sich fast sicher, dass nur die Tatsache, dass Isobel einen Kinderwagen vor sich herschob, die Passanten davon abhielt, sie in die Klapsmühle zu stecken.

Ein Gutes hatte die Sache zumindest: Ihre Schwester war jetzt schon fast hundert Meter voraus. Allegra beschloss blitzschnell, ihre Chance zu nutzen. Sie verschwand hinter der nächstbesten Rosskastanie und holte ihr BlackBerry aus der Tasche, das bereits mehrmals aufdringlich gepiept hatte, seit Isobel sie auf diesen »Spaziergang« verschleppt hatte. »Du brauchst dringend frische Luft und Bewegung!«, hatte sie gemeint, und Allegra hatte sich wohl oder übel fügen müssen. Rasch scrollte sie durch die ungelesenen Nachrichten – und alles schien wie immer äußerst dringend zu sein.

»Was zum Teufel machst du da?« Mit empörtem Gesichtsausdruck hatte Isobel sich vor ihr aufgepflanzt, die Hände in die Hüften gestemmt. »Los, gib schon her.« Sie streckte gebieterisch die Hand aus, die Handfläche nach oben gewandt, als wäre Allegra das ungehorsame Kind und nicht das Baby im Kinderwagen, dessen Pausbäckchen ganz orange waren vom Karottenbrei und das eine bedauerliche Schwäche dafür hatte, umherstreunenden Hunden mit dem Finger ins Auge zu stechen.

»Ich wollte bloß …«

»Los, her damit!«

Allegra gab klein bei und händigte ihr Smartphone aus. Sie mochte ja die ältere der beiden Schwestern sein, die »Erwachsene« dagegen war Isobel, denn sie war verheiratet, hatte ein Kind und wohnte in einem hübschen Londoner Reihenhaus mit Garten. Sie gab Dinnerpartys und fuhr, wie sollte es anders sein, einen SUV, die Familienkutsche des gehobenen Mittelstands.

»Danke«, schmunzelte Isobel, schon besänftigt, und steckte den Übeltäter mit der einen Hand ein, während sie ihrer Schwester mit der anderen ein karamellbraunes Kastanienblatt überreichte, so groß wie ihre Handfläche. »Als Gegenleistung!«, strahlte sie.

»Nicht doch, das ist zu viel!«, antwortete Allegra ironisch. »Dein allerschönstes Blatt!«

»Das ist kein Blatt.«

»Ach nein?« Allegra hob die Braue und ließ das Blatt am Stängel kreiseln.

»Es bringt Glück, wie du sehr wohl weißt! Ich hab’s extra für dich gefangen.« Sie keuchte dramatisch, wie um zu beweisen, wie viel Mühe sie sich damit gegeben hatte.

»Du machst das doch nicht etwa immer noch?«, fragte Allegra fassungslos.

»Na klar!«, antwortete Isobel stirnrunzelnd. Ihre Stirn war aufgrund der gestörten Nachtruhe in den letzten Monaten merklich faltiger geworden, fand Allegra.

»Und ich dachte, du wolltest bloß Ferdy zum Lachen bringen«, spottete Allegra. Dann zuckte sie zusammen. Ihr BlackBerry, das nun in den Tiefen von Isobels dickem Dufflecoat steckte, hatte schon wieder gepiept.

Sie selbst trug natürlich etwas deutlich Modischeres – auch wenn sie sich darin zu Tode fror –, einen taillierten olivgrünen Burberry-Kurzmantel mit hohem Kragen, der um die Oberschenkel in kesse Falten auslief: die ideale Kombi zu Skinny Jeans. Leider nicht gerade geeignet für diese Temperaturen. Laut Wettervorhersage sollte es gegen Ende der Woche sogar Schnee geben.

»Na komm, trinken wir jetzt erst mal einen schönen heißen Latte macchiato«, schlug Isobel gutmütig vor. Die Bemerkung von vorhin überging sie großzügigerweise, da sie sehen konnte, dass Allegras Lippen schon ein wenig blau anliefen. Außerdem bestand wohl kaum die Aussicht, dass ihre modische Schwester in diesen High Heels loslaufen und ihr ebenfalls ein Blatt einfangen würde. »Das wird dich aufwärmen.«

»Ja, haben wir denn noch Zeit dafür? Es wirkt fast so, als wolltest du dich vor dem Besuch bei Mum drücken.«

»Auf keinen Fall!«, antwortete Isobel. »Aber dafür haben wir noch den ganzen Tag Zeit. Und ich weiß, wie unleidlich du wirst, wenn dir die Zehen abfrieren.«

Allegra grinste. »Na gut, aber nur auf einen Kurzen, ja?« Koffein war ihr ohnehin lieber als frische Luft. Außerdem bestand die Chance, dass Isobel sich zwischendurch zum Wickeln aufs Klo zurückziehen musste, was ihr, Allegra, wiederum die Gelegenheit bot, sich über ihr heißgeliebtes BlackBerry herzumachen.

Isobel hakte sich bei ihrer Schwester unter. Mit der anderen Hand steuerte sie geschickt den Racer-Kinderwagen. Gemächlich schlenderten sie die baumbestandene Allee an der Themse entlang, deren braune Fluten sich träge dahinwälzten. An der mit Gummireifen gepolsterten Uferwand hatten vereinzelte Frachtbarkassen festgemacht. Auf der Straße fuhren die typischen klobigen schwarzen Londoner Taxis vorbei.

»Also, nun erzähl schon von dem neuen Haus«, forderte Isobel sie auf.

»Ich hab’s selbst noch nicht gesehen, nicht richtig jedenfalls. Ich weiß auch nicht mehr als du.«

Isobel schnalzte missbilligend. »Wie kannst du ein Haus kaufen, ohne es dir vorher anzusehen!«

»Keine große Sache. Ich hab das meinem Immobilienmakler überlassen. Der hat es sich angeschaut und mir die PDF-Datei gemailt. Es hat genau meinen Anforderungen entsprochen.«

»Immobilienmakler! Das ist ja mal wieder typisch für dich«, schnaubte Isobel.

»Na, dann eben House-Hunter, wenn dir das lieber ist. Er hat seine Sache jedenfalls sehr gut gemacht.«

»Er? Aha! Nachtigall, ich hör dir trapsen!«

Allegra verdrehte die Augen. »Nein, bitte nicht schon wieder! Willst du mich jetzt etwa mit jemandem verkuppeln, ohne ihn dir vorher angesehen zu haben?«

»Was bleibt mir denn anderes übrig? Deine Arbeitskollegen verschmähst du ja – was eine Schande ist, denn da wimmelt es nur so von attraktiven ledigen Männern.«

»Mag sein, aber da gibt’s ein klitzekleines Problem, Schwesterherz: Diese ›attraktiven ledigen Männer‹ sind meine Untergebenen. Und die paar, die es nicht sind, sind meine Vorgesetzten.«

Isobel zuckte verständnislos mit den Schultern. Für sie waren das Büroleben und Liebeleien unter Kollegen ja vielleicht wirklich nicht die Todesfalle, für die Allegra sie hielt.

»Und, sieht er gut aus, dein House-Hunter? Sag schon!« Isobel grinste vielsagend.

Allegra musste schmunzeln. »Och, er war ganz okay.«

»Ganz okay? Wow! Dann muss er ja der reinste Adonis sein, wenn du schon so was sagst.« Isobel lachte laut und heimste einen bewundernden Blick von einem Rollerblader ein, der mit orangefarbenen Kopfhörern an ihnen vorbeiflitzte. »Warum lädst du ihn nicht zu einem romantischen Dinner in die neue Wohnung ein? So zur Einweihung und als kleines Dankeschön, was meinst du dazu?«

»Ach, das Haus habe ich doch als reines Spekulationsobjekt gekauft. Ich lasse es ausschlachten und gründlich renovieren; nur die Fassade bleibt erhalten, weil die nämlich denkmalgeschützt ist.«

»Wo liegt die Wohnung denn?«

»Islington.«

»Mann! Wieso denn am anderen Ende der Stadt? Du hättest zumindest eine in Wandsworth kaufen können, da hättest du obendrein ein bisschen mehr Garten dazubekommen. Und wir wären näher beieinander gewesen.«

»Hast du nicht gehört? Ich will da gar nicht wohnen. Es ist nur eine Kapitalanlage. Ich bleibe schön in meinem hübschen Apartment in der Innenstadt.«

»Ja, wo man sich auf den Kopf stellen und mit den Zehen wackeln kann, und man kriegt trotzdem keinen Parkplatz! Da, wo du wohnst, hat doch keiner ein Auto.«

»Ja, weil man keins braucht. Ist doch alles in Fußweite.«

Isobel prustete.

»Was?«

»Du und laufen?! Du bist doch viel zu wichtig und viel zu beschäftigt, um zu Fuß zu gehen. Du lässt dich doch überall hinchauffieren.«

Allegra warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu, konnte aber kaum widersprechen. Sie hatte wirklich keine Zeit, um irgendwohin zu Fuß zu gehen.

»Ich finde trotzdem, dass man, wenn man schon ein Haus kauft, auch drin wohnen sollte. Es zu renovieren und dann leerstehen zu lassen, bis man es gewinnbringend weiterverkaufen kann – also das finde ich einfach nicht richtig.«

»Nicht jedes Haus muss ein Zuhause sein, Iz.«

»Nicht für dich, meinst du! Du wohnst ja praktisch in deinem Büro.«

Darauf ging Allegra nicht ein. »Was soll ich mit einem Achtzig-Quadratmeter-Haus? Das ist doch für einen allein die reinste Verschwendung.«

»Achtzig Komma vierundzwanzig, bitte schön!«

Allegra schmunzelte. »Achtzig Komma vierundzwanzig.« Ihr Blick fiel auf die ferne Silhouette der Canary Wharf, jenseits der Themse. Der Büroturm ihrer Firma war der höchste am Horizont. Mit verengten Augen spähte sie dorthin. Brannte nicht Licht in ihrem Stockwerk? Ein Vorwurf aus der Ferne.

Es war wirklich ein schöner Tag, nicht einmal Allegra konnte das übersehen. Kalt und klar, erfüllt mit eisiger Luft aus der Arktis; ein Tag, der in einem herrlichen roten Sonnenuntergang ausklingen würde. Allegra nahm sich vor, unbedingt einen Blick aus ihrem Bürofenster zu werfen, wenn es so weit war.

Sie kehrten in einem Straßencafé ein, vor dessen Eingang so viele Kinderwagen herumstanden, dass in Allegra der Verdacht aufkeimte, es könne sich hier um einen Treffpunkt für alleinerziehende Mütter handeln. Magere dunkelgraue Tauben stolzierten mit nickenden Köpfen über die tannengrünen Metalltische, die schon seit Wochen unbenutzt vor dem Lokal standen, da sich die Kundschaft bei diesen Temperaturen natürlich ins warme Innere flüchtete.

Isobel schnallte Ferdy los und machte Anstalten, ihn ihrer Schwester zu überreichen. »Ich besorge uns was zu trinken«, erbot sich Allegra hastig. In diesem Mantel würde sie ganz bestimmt kein Kleinkind halten, das sowohl oben als auch unten undicht war. »Einen Latte macchiato, oder?«

»Ja, aber bring mir bitte auch einen Brownie oder ein Stück Kuchen mit – ich kann einen Zuckerstoß gebrauchen!«, fügte Isobel hinzu, die sich Ferdy auf die Hüfte gesetzt hatte und nun in der Gepäckschale des Buggys herumkramte. »Und könntest du bitte auch gleich fragen, ob ich einen Krug heißes Wasser bekommen kann? Ich muss die hier aufwärmen.« Seufzend hielt sie ein Milchfläschchen hoch. »Und lass dich ja nicht abwimmeln! Ja, ja, ich weiß, man kann sich mit heißem Wasser verbrühen, und das Lokal übernimmt keine Haftung – aber die sollten erst mal hören, was Ferdy macht, wenn er die Milch kalt trinken muss! Sag ihnen das ruhig!«

»Schon klar.« Allegra nickte und eilte Richtung Theke.

Vier Minuten später kehrte sie mit einem Krug Wasser, einem dicken, schweren Stück Schokoladenkuchen, bei dessen Anblick man förmlich spürte, wie sich die Adern verstopften, einem Latte macchiato und einem doppelten Espresso zurück: Isobel war nicht die Einzige, die in der vergangenen Nacht nur vier Stunden Schlaf abbekommen hatte.

Als sie sah, dass ihr BlackBerry auf dem Tisch lag, erhellten sich ihre Gesichtszüge. Und es blinkte wie verrückt. Aber Isobel drehte das Gerät sofort um. »Hände weg! Wir müssen unbedingt reden. Ich hab’s bloß da hingelegt, weil ich mir mit dem Ding in der Tasche wie Inspektor Gadget vorkomme.« Sie schnalzte missbilligend. »Andauernd piept und brummt es. Ich hatte schon Vibratoren, die sich weniger angestrengt haben.«

Allegra prustete überrascht los. »Das ist nicht mein Fachgebiet.«

Isobel tunkte die Milchflasche in den Krug und warf ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wie auch? Wann hast du eigentlich zum letzten Mal Sex gehabt?«

»Wie bitte?!« Allegra hätte im Boden versinken können. Das Pärchen am Nebentisch hatte offenbar mitgehört und glotzte nun neugierig herüber.

»Du hast doch schon seit ewigen Zeiten keine Beziehung mehr gehabt. Du bist einunddreißig, Schwesterherz. Die Uhr tickt.« Als ob Allegra das nicht selbst wüsste.

»Ach bitte, fang nicht schon wieder damit an!« Allegra war das Grinsen vergangen. »Ich hab so viel um die Ohren, dass ich kaum Zeit zum Duschen habe.«

»Dein Beruf kann dich aber nachts nicht warm halten.«

»Doch, kann er schon.« Allegra zuckte mit den Schultern. Sie dachte an die gemütliche, warme Luxussuite im Four Seasons, in der sie mindestens zweimal pro Woche übernachtete. So viel musste die Firma schon für sie springen lassen (gemäß EU-Regulation), wenn sie wieder mal bis zum Morgengrauen im Büro aufgehalten worden war.

»Was ist eigentlich aus diesem Philip geworden? Der war doch ganz nett.«

Allegra schnalzte missbilligend und trommelte ungehalten mit ihren kurzen manikürten Fingernägeln auf die Tischplatte. »Überempfindlich, der Knabe. Ich bin doch kein Babysitter.« Ihr Blick fiel auf Ferdy, der nun in einem Hochstuhl saß und glücklicherweise vorerst mit den Plastikkugeln an der Haltestange beschäftigt war.

»Überempfindlich?!« Isobel lehnte sich seufzend zurück. »Was hast du angestellt? Los, spuck’s aus.«

»Ich? Gar nichts.«

Isobel sagte nichts, verdrehte nur die Augen.

»Wir standen kurz vorm Abschluss eines ganz wichtigen Deals. Und er hat mich andauernd angebettelt, er müsse mich unbedingt sehen: Bloß auf einen Drink, komm schon. Ich will dich doch bloß sehen und hören, was so bei dir los ist.« Allegra zog die Nase hoch. »Also hab ich Kirsty geschickt. Das war alles.«

Schweigen.

»Kirsty? Du meinst deine persönliche Assistentin Kirsty?«

Allegra nickte. »Er wollte wissen, was so bei mir los ist. Das konnte Kirsty ihm auch erzählen.« Sie zuckte mit den Schultern.

Isobel war fassungslos. »Du hast echt deine Assistentin zu deinem Date mit deinem Freund geschickt?«

»Na ja, jetzt ist er mein Exfreund.«

»Und da wundert man sich, wieso! Einfach unglaublich«, sagte Isobel mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Sie nahm das Fläschchen aus dem Wasserkrug und träufelte ein paar Tropfen Milch auf ihr Handgelenk, um die Temperatur zu prüfen. »Und war’s das wenigstens wert?«, fragte sie. Ihr Ton verriet, dass nichts es wert war, dafür eine Beziehung aufs Spiel zu setzen.

»Und ob! Dieser Deal hat uns statt der zwei die zwanzig eingebracht. 27 Millionen Pfund Provision.« Allegra nippte lässig an ihrem Espresso. Dass ihre Schwester keine Ahnung von der 2/20-Regel hatte, die einer der Hauptanreize im Hedgefondsgeschäft war, daran dachte sie nicht. »Allein dafür hab ich mir eine Beförderung verdient. Das wird mich in den Vorstand katapultieren, wirst sehen. Ist dir bewusst, dass ich der einzige weibliche Präsident in der Firma bin?«

Isobel schüttelte verständnislos den Kopf. »Kein Wunder, dass Mum sich andauernd solche Sorgen um dich macht.«

Allegra warf ihrer Schwester einen grimmigen Blick zu und Isobel senkte sogleich beschämt den Kopf. Beiden war bewusst, dass ihre Mutter sich dieser Tage höchstens phasenweise um sie Sorgen machen konnte. »Entschuldige, das war dumm von mir«, murmelte Isobel. Sie holte Ferdy aus seinem Stuhl und nahm ihn auf den Schoß.

Allegra lehnte sich zurück, um ihrer Schwester, die nun ihren Sohn zu füttern begann, ein wenig Raum zu lassen. Sie nippte an ihrem Espresso und schaute sich um. Sie fühlte sich fehl am Platz in dieser Umgebung, in der die Leute plauderten und aßen, als ob sie alle Zeit der Welt hätten und nirgendwo dringend erwartet würden. Sie starrte auf ihr BlackBerry, das auf dem Tisch lag und wie eine Satellitenschüssel blinkte, und stellte sich vor, wie sich die dringenden Nachrichten stapelten, eine auf der anderen, wie Flugzeuge in einer überdimensionalen Parkgarage. Ihr Puls begann unwillkürlich zu klettern.

Wie auf ein Stichwort begann ihr BlackBerry zu klingeln. Beide Schwestern schauten sich kurz an – Isobel in Panik, Allegra triumphierend. Erstere hatte beide Hände voll und wäre nie vor Allegra an das Gerät rangekommen – was diese natürlich wusste. Isobel schnalzte missbilligend und wandte resigniert den Blick ab, während ihre Schwester sich das BlackBerry schnappte.

»Fisher«, meldete sich Allegra mit diskret gedämpfter Stimme. Ihre Schwester plapperte derweil liebevoll auf Ferdy ein. Wie sie bloß so unterschiedlich sein konnten, fragte sich Allegra. Von außen betrachtet gab es unübersehbare Ähnlichkeiten zwischen ihnen: Beide waren schlank und mit ihren gut eins fünfundsiebzig überdurchschnittlich groß, und beide besaßen einen sportlich durchtrainierten Körper. Doch während Allegra an Triathlons teilnahm (zum Ausgleich und um »ein wenig Dampf abzulassen«, wie sie behauptete), gab sich Isobel mit der Tatsache zufrieden, dass alle Mütter im Schwangerschaftskurs sie beneideten, weil sie die Erste war, die wieder in ihre alte Jeans passte. Zwischen ihnen lagen eineinhalb Jahre und nur sieben IQ-Punkte – sie waren weder Genies noch Dummchen –, doch während Allegra der fast pathologische Zwang, immer gewinnen zu müssen, antrieb, egal, was sie sich in den Kopf setzte, war Isobel den bequemen Weg gegangen. Es reichte ihr zu wissen, dass sie bewundert wurde und das Leben es gut mit ihr meinte.

Allegra führte das auf ihre Kindheit zurück. Isobel war Papas Liebling gewesen – das hatte Allegra immer gewusst, und sie hatte es ohne Groll akzeptiert. Außerdem hatte Isobel das hübschere Gesicht, sie kam nach ihrem Vater, mit ihren rosigen Wangen, den blauen Augen und dem hellblonden Haar. Allegra dagegen wirkte schärfer, hagerer, war schon als Kind fast altklug gewesen, zu ernst für ihr Alter. Ihre Augen waren im Gegensatz zu denen ihrer Schwester mandelförmig und bitterschokoladenbraun, Augen, die verbargen, was sie fühlte, dazu besaß sie hohe, gemeißelte Wangenknochen und von Grübchen konnte keine Rede sein – oder gar von Apfelbäckchen. Der einzige »Schönheitsfehler«, den sie besaß, war die schmale Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Ihre Mutter hatte sich eine entsprechende Zahnbehandlung nicht leisten können, und von der Krankenkasse wurde so etwas nicht übernommen. Bemerkungen wie »süß« oder »kess« fand Allegra nervtötend. Immerhin war ihr Spitzname in Börsenkreisen »Lipstick-Killer«. Zum Glück sah man die Zahnlücke nur, wenn sie lächelte – was in der Welt der Aktienspekulanten ohnehin nur schaden konnte. Also vermied sie es zu lächeln.

Was die beiden jedoch vor allem voneinander unterschied, war die Frisur: Isobels Haar war lang und glänzend und immer in Bewegung, eine wogende Fülle, wie Kim Sears’ in Wimbledon oder Kate Middletons Mähne. Ihr Haar verriet, dass sie aus der Oberschicht kam (oder zumindest aus der gehobenen Mittelschicht) und in einer guten Gegend wohnte. Natürlich durfte auch die Designer-Handtasche nicht fehlen. Allegras Haar hingegen war kurz, die Frisur nüchtern, ein fast strenger Pagenschnitt, der ihr nur bis knapp über die Ohren reichte und sich dann in einer natürlichen Welle nach innen rollte, darunter ein langer, schlanker Schwanenhals, von dessen Anmut und Wirkung Allegra keine Ahnung hatte, dazu eine stets angespannte Kinnpartie, die aus dem Stress im Job resultierte und daraus, dass sie nachts im Schlaf mit den Zähnen knirschte.

Sie beendete das Telefonat abrupt, ohne Abschied, ohne ein Wort. »Iz, tut mir schrecklich leid, aber ich muss los.«

»Hätte ich mir ja denken können.« Isobel verdrehte stöhnend die Augen.

»Es geht um diesen Deal, an dem wir gerade arbeiten. Eine Riesensache. Bob hat das Büro schon seit Mittwoch nicht mehr verlassen, und seine Frau besteht darauf, dass er wenigstens zum Mittagessen heimkommt.« Sie schnalzte missbilligend und verdrehte die Augen. »Sie kapiert einfach nicht, dass wir die Zahlen noch nicht ganz zusammenhaben, das Angebot aber schon am Dienstag in Zürich vorlegen wollen.«

»Wie egoistisch von ihr«, bemerkte Isobel sarkastisch.

Allegra hob eine Braue. »Na, ich muss ihn jedenfalls mal ablösen.«

»Aber was ist mit deinen privaten Verpflichtungen? Was ist mit uns? Mit jetzt?« Sie zog Ferdy mit einem Plopp das Fläschchen aus dem Mund und wies damit auf ihre Umgebung, auf all die Fremden in dicken Wollpullis und warmen Winterstiefeln. Ferdy fing prompt an zu weinen, und sie stopfte ihm den Sauger sofort wieder in den Mund. »Wir wollten doch mit dem Ausmisten des Hauses weitermachen. Du hast es mir versprochen!«

»Ja, aber es bleibt doch sowieso nur noch der Speicher, oder?«

»Nur der Speicher? Spinnst du? Da sind doch die besten Sachen! Da tut man doch alles hin, was man nicht wegschmeißen kann. Wer weiß, auf was für Schätze wir da stoßen? Da sind wir Stunden beschäftigt!«

»Oh. Gut.«

»Jetzt komm schon, Legs. Du weißt doch, dass ich das nicht alleine kann. Ich werde nichts wegwerfen können und am Ende alles behalten, und das landet dann in Schachteln und Tüten in unserer Wohnung, und Lloyd wird mich verlassen und …«

»Wo ist der überhaupt?«

»Noch im Bett. Jetlag. Er war doch in Dubai, du weißt schon.«

Allegra bemühte sich um einen mitfühlenden Gesichtsausdruck. Sie selbst erledigte so was wie Dubai noch vor dem Frühstück. »Hör zu, Iz, es war echt schön, dich mal wiederzusehen. Und Ferdy, natürlich.« Allegra beugte sich vor und stützte die Handflächen auf die Tischplatte, wie sie es auch bei Konferenzen tat, wenn sie einen besonders aufrichtigen und ernsthaften Eindruck machen wollte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel entspannter ich nach diesem tollen Spaziergang bin.« Sie schlug sich mit der Hand auf die Brust, wie um ihre Worte zu unterstreichen.

»Du hast Ferdy noch kein einziges Mal auf den Arm genommen«, schmollte Isobel. Sie ließ sich von Allegras Nummer nicht täuschen. Von ihrer Schwester hörte sie sonst nur Börsen-Jargon.

»Na, zuerst hat er doch geschlafen, und jetzt fütterst du ihn, wann hätte ich ihn da nehmen sollen? Aber ich muss wirklich los, sorry.« Sie wandte sich um und griff nach ihrer Handtasche, einer diskreten marineblauen Saint Laurent Besace, die über der Rückenlehne ihres Stuhls hing. Darin befanden sich eine Tube Touche Éclat, ihr Reisepass und Vitamintabletten. Isobel dagegen hatte ihre geräumige, auffällig gemusterte Orla Kiely dabei, vollgestopft mit Pampers, Feuchttüchern, Kuscheltieren, sonstigem Spielzeug und einer Garnitur Babywäsche zum Wechseln. »Dann machen wir das eben morgen, ja? Zusammen schaffen wir das sicher blitzschnell.« Allegra beugte sich vor und gab Ferdy einen Kuss aufs Köpfchen. Er roch gut, irgendwie nussig, nach Pastinake oder Babypuder, und sie spürte, wie erstaunlich kräftig er an der Flasche sog. Sie gab auch Isobel einen Kuss auf die Wange, wobei sie roch, dass diese jetzt eine billigere Feuchtigkeitscreme benutzte – Estée Lauder überstieg mittlerweile offenbar das Haushaltsbudget. Nun ja, Kinder sind nicht billig. Lloyd zerbrach sich jetzt schon den Kopf wegen der teuren Schulausbildung später.

»Wann?«

»Um zehn?«

Allegra zögerte. »Lieber um zwei.«

Isobels Augen wurden schmal. »Mittag? Um zwölf?«

»Okay.« Allegra zwinkerte schelmisch.

Isobel stöhnte. Schon wieder reingelegt. »Vergiss nicht dein Glücksblatt.«

»Mein was?«

Isobel wies mit dem Kinn auf das wachsbraune Kastanienblatt, das wie eine Hand zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Steck’s ein. Du hast doch gesagt, du hast einen wichtigen Deal vor dir – da kannst du etwas Glück gut gebrauchen.«

Allegra lag eine abfällige Bemerkung über sentimentale, abergläubische Schwestern auf der Zunge, aber sie verkniff sie sich. »Ja, du hast recht. Ich brauche wirklich alles Glück, das ich kriegen kann. Danke.« Sie öffnete ihre Handtasche und holte ihr großes kaviarschwarzes Lederportemonnaie hervor, klappte es auf und schob das Blatt hinten ins Fach für die Geldscheine, wo es perfekt hineinpasste.

Schmunzelnd fragte sie sich, ob ihre Schwester wohl noch immer ihr Horoskop mitlas. »Dann morgen um zwei im alten Haus, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich um und marschierte zum Ausgang, vorbei an den Cappuccino schlürfenden Samstags-Stammgästen, die eifrig ihren Facebook-Status updateten oder auf ihren Smartphones herumtippten. Sie selbst hatte ihr Handy bereits am Ohr, noch bevor sie die Tür erreicht hatte. Als Isobel Ferdy wieder in den Buggy geschnallt und Zeit gefunden hatte, Allegra eine SMS zu schicken (»Zwölf Uhr war ausgemacht, zwölf!«), saß diese bereits im Taxi und fuhr über die Tower Bridge. Fünf Minuten später betrat sie die große Marmorlobby, zeigte kurz ihren Ausweis vor und stakste lächelnd zu den Aufzügen, die sie hinauf ins zwanzigste Stockwerk bringen würden. Nach Hause – ins Büro.