Prolog

Walhalla – 16 Jahre zuvor

Odin hasste es zu warten. Doch er zwang sich Geduld und Verständnis aufzubringen. Die Götter waren schwach, denn die Menschen glaubten nicht mehr. Sie verloren an Kraft.

Das betraf nicht nur die nordischen Götter. Hades, dem Bruder des mächtigsten griechischen Gottes Zeus, ging es sicher nicht anders. Odin musste dem Gott der Unterwelt eine Verspätung zugestehen. Die Reise nach Walhalla war beschwerlich. Das Portal, das die Götter nutzten, befand sich hoch im Norden Finnlands. Wenn er sich aufgrund schwindender Kräfte nicht mehr teleportieren konnte, blieb ihm nur die Reise mit dem Hundeschlitten durch Schnee und Eis.

Ob Hades diese Strapazen vielleicht gar nicht auf sich genommen hatte? Doch Odin hatte von einem Götterboten die Nachricht erhalten, dass Zeus' Bruder kommen würde.

Darauf musste er sich einfach verlassen. Sein Anliegen war zu wichtig. Wenn er nicht selbst mit seiner Energie hätte haushalten müssen, wäre er ruhelos in den Gemächern seines Palastes auf und ab gelaufen. Stattdessen saß er träge in einem thronähnlichen Sessel direkt am Feuer.

Die Flammen konnten ihn nicht wirklich wärmen. Innere Kälte hatte schon lange Besitz von ihm ergriffen und ließ ihn ständig frösteln. Er zog die Tierfelle enger um sich, doch auch das half nicht.

Die letzte Reise hatte ihn unglaublich geschwächt. Er hätte sie gar nicht unternehmen sollen. Zeus hatte sie alle auf den Olymp zitiert und ihnen einen Plan dargelegt, wie er alle Götter der Welt retten wollte. Odin war skeptisch, ob dem griechischen Gott dieses Unternehmen gelingen würde. Doch da er selbst keine bessere Idee hatte, musste er sich auf Zeus verlassen.

Während er in die Flammen starrte, erinnerte sich Odin an das Treffen zurück. Seine nordischen Götter hatten sich dem Vorschlag von Zeus genauso gebeugt wie alle anderen – die südamerikanischen Götter, die römischen, die keltischen und die griechischen Götter. Zeus hatte erklärt, dass sich sein Bruder Poseidon derzeit auf der Insel Atlantis befände – verbannt und vom Rest der Götter abgeschnitten. Dort sollte es Menschen geben, die noch glaubten. Zeus verlangte nun von allen fünf großen Götterdynastien jeweils ein Baby. Die fünf Kinder würde er verschlingen und sie auf Atlantis mithilfe eines Trankes wieder ausspucken.

Auf dieser vom Rest der Welt abgeschnittenen Insel würden sie heranwachsen, stark werden, um eine neue Dynastie von Göttern zu gründen. So wären sie nach circa 16 Jahren bereit die Welt erneut zu erobern. Sie würden den Menschen den Glauben zurückgeben.

Zeus wollte die geschwächten Götter selbst auch nach Atlantis bringen. Als Eisgestalten würden sie verharren, bis die göttlichen Kinder ihre Kräfte erlangten und die anderen Götter befreiten, die durch den wiedererwachten Glauben der Menschen wieder zu alter Stärke zurückfinden würden.

Ein überaus weitreichender und langfristiger Plan. Doch alles war besser, als zu verblassen und ein Nichts zu werden. Bis in alle Ewigkeit zu existieren, ohne wirklich leben zu können.

Das Zittern, das Odins Körper einfach nicht verlassen wollte, wurde bei diesem Gedanken stärker. Der nächste beunruhigende Gedanke kam sofort hinterher. Der Grund für dieses so wichtige Treffen mit Hades. Es gab derzeit nur ein einziges Kind der nordischen Götterdynastie, das Zeus' Vorgaben entsprach, und dieses befand sich im Moment nicht in Walhalla. Odin brauchte dieses Kind, koste es, was es wolle.

Hades war nicht minder gefährlich und verschlagen als Loki, der nordische Gott der List. Doch Odin hatte sich dagegen entschieden, seine eigenen Leute zu benutzen. Es musste jemand außerhalb des nordischen Götterclans sein.

Es klopfte.

Das konnte nur Hades sein!

Endlich.

Entweder war das sein Untergang oder die Rettung.

1

Thessaloniki, Griechenland – in der heutigen Zeit

Isabel betrachtete Quinn, den Sohn des Poseidon. Wie gebannt starrte er auf den Bildschirm des Laptops. Ihr Quinn. Groß, muskulös, mit Narben im Gesicht und auf dem Körper, die ihn so verwegen und schön machten. Die blonden Haare lockten sich leicht und fielen ihm in die Stirn. Er ließ sie auf ihren Wunsch hin wachsen.

Isabel konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Das erste Mal hatte sie ihn am See auf Atlantis gesehen. Quinn war einer der menschlichen Jugendlichen, die man in Lager interniert hatte, damit sie lernten zu kämpfen. Die fünf stärksten von ihnen sollten mit den fünf göttlichen Kindern der Insel liiert werden. Erst später hatten sie erfahren, dass Quinn ein Halbgott war und auch von Zeus' Plan, dass sie eine neue Dynastie von Göttern gründen sollten. Quinn war zunächst ihrer Schwester Liliana versprochen worden. Letztendlich hatten die Götter den Sohn des Poseidon aber nur benutzen wollen, um den Gott des Meeres hervorzulocken und ihn zu bekämpfen, der damals wie heute Atlantis versteckt hatte. Durch seine Vernichtung hätten sie von Atlantis aus die Erde wieder betreten und herrschen können.

Zeus' Pläne waren schiefgelaufen. Er, Hades und Thanatos waren zwar auf die Erde gelangt, aber noch hatten sie die Herrschaft nicht zurückerobern können. Zu Isabels und Quinns Glück. Sie konnten ihre Liebe nun genießen und zumindest Atlantis war von Zeus', Hades' und Thanatos' Herrschaft befreit.

Doch sie hatten ihren Preis dafür gezahlt. Die drei Götter waren mit Isabels Schwester Liliana geflohen. Isabels Brüder Harry und Dian waren auf Atlantis geblieben, um die Insel gerecht zu regieren. Sie vermisste die beiden unendlich.

Ihre Schwester Brigitte hatte die Insel ebenfalls verlassen, war aber nicht mit ihnen nach Griechenland gekommen. Sie stammte von einer keltischen Göttin und einem Menschen ab und eben diesen Menschen, ihren Vater, wollte Brigitte suchen.

Quinn drehte sich um. Seine meerblauen Augen schafften es täglich aufs Neue, Millionen von Schmetterlingen in ihrem Bauch aufflattern zu lassen.

»Hey, kleine Göttin, alles in Ordnung?«

Isabel setzte sich auf Quinns Schoß. Sobald er die Arme um sie schloss, war alles wieder im Lot. Die Sehnsucht nach ihren Geschwistern ließ nach und auch die Frage, wie sie Liliana und die drei Götter finden sollten, trat kurz in den Hintergrund. Doch nur aus diesem Grund hatten sie ihre Heimat Atlantis verlassen. Laut Quinns Vater waren sie beide dazu auserkoren zu verhindern, dass Zeus, Hades, Thanatos und Liliana Unglück und Leid über die Menschen bringen würden.

»Ich habe an Liliana gedacht.«

Quinn blickte ihr tief in die Augen und sah ihren Schmerz darin. Sie konnte es in seinem Gesicht ablesen. Sanft streichelte er über ihren Rücken.

»Ich weiß, sie ist deine Schwester und sie war nicht immer so bösartig, aber du musst irgendwann den Gedanken zulassen, dass du sie vielleicht nicht retten kannst.«

Isabel wollte aufbegehren. Es war immer wieder das gleiche Thema, sie hatten sogar ihren ersten Streit wegen Liliana gehabt. Denn die Halbgöttin war die Tochter einer nordischen Walküre und eines Menschen. Isabel schluckte die Worte herunter. Quinn hatte ja Recht.

»Ich werde es trotzdem versuchen.«

Sein Lächeln raubte ihr den Atem. »Ich weiß und ich werde dich sicher nicht daran hindern, deswegen liebe ich dich so sehr, kleine Göttin.«

In ihrer ersten Nacht auf dem griechischen Festland hatten Quinn und Isabel sich vereint, am Strand, ganz sanft und mit mehr Liebe, als sie es sich je hätte vorstellen können. Der Liebesakt hatte sie endgültig untrennbar miteinander verbunden.

Seine Küsse brachten jedes Mal die Erinnerung an diese besondere Nacht hoch. Es war das erste Mal, dass sie einfach nur zusammen sein konnten. Diese Nacht war für immer in ihrem Herzen eingebrannt. Wie Quinn sie gehalten und ihr Zeit gegeben hatte. Mit jeder seiner Berührungen hatte sie gespürt, wie sehr er sie liebte und begehrte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich angekommen, bei jemandem, der sie verstand, sie respektierte und ihr vertraute. Dem es wichtig war, dass es ihr gut ging und der sie um jeden Preis der Welt glücklich machen wollte. Seine Hände auf ihrem Körper konnten damals wie heute Empfindungen wachrufen, die nicht nur körperlicher Natur waren, die so tief gingen, dass ihr Herz vor Glück in tausend Teile zerspringen wollte. Sie konnte nur hoffen, dass es ihm genauso erging, dass sie ihm all das, was er ihr gab, zurückgeben konnte. Denn das hatte sie sich geschworen. Sie teilten etwas ganz Besonderes, das sie für immer festhalten wollte.

Quinn war nur ein Halbgott, doch mit dem mächtigen Poseidon als Vater war er genauso unsterblich wie Isabel, die Tochter der Aphrodite und des Ares. Nur Zeus, Thanatos und Hades stellten eine Gefahr dar. Die drei mächtigen griechischen Götter würden sicher Mittel und Wege finden, Götter oder Halbgötter zu töten. Ihnen zumindest dauerhaft zu schaden. Daran hegte Isabel keinen Zweifel.

Der Gedanke machte ihr Angst. Quinn und sie hatten nur wenig Erfahrung mit ihren Eigenschaften als Götter und es gab niemanden, der ihnen helfen konnte. Poseidon hatte Atlantis, nicht nur die Heimat vieler Menschen, sondern auch der Götter der Erde, am Meeresgrund versteckt – unerreichbar, auch für Quinn und Isabel.

Als Tochter der Göttin der Liebe hatte Isabel die Fähigkeit, Pflanzen zu erschaffen, mit ihnen zu reden und sie als Waffe zu benutzen. Quinn konnte unter Wasser atmen. Von seinem Vater hatte er einen Dolch bekommen. Doch was er damit anstellen konnte, wussten sie noch nicht. Viel war es nicht, um gegen drei mächtige Götter zu kämpfen.

Zumal sie viel Zeit verloren hatten, bis sie sich in der neuen Welt zurechtfanden. Computer hatte es auf Atlantis nicht gegeben, keine moderne Technik, auch keine Autos.

Als sie vor einigen Monaten hier gestrandet waren, war all das Wissen sofort in ihrem Kopf gewesen, als seien sie in der modernen Welt aufgewachsen. Zuerst hatten sie sich Geld, menschliche Identitäten und eine Bleibe beschaffen müssen.

Quinn hatte noch ein anderes unschlagbares Talent erkannt: Er bewies ein gutes Händchen für das Glücksspiel. Immer griff er nach dem richtigen Los und konnte die Zahlen der Lotterie relativ treffsicher voraussagen. Quinn nannte es Bauchgefühl. Einmal waren sie sogar in einem Casino gewesen und hatten eine Menge Geld mit nach Hause gebracht. Sie erspielten sich nur so viel, wie sie für ein unbehelligtes Leben benötigten.

Isabel träumte davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu sehen, aber auch ein Leben zu führen, in dem sie beide einer normalen Arbeit nachgingen. Sie würde viele Leben mit ihrem Quinn leben können. Sie hatten eine Ewigkeit Zeit.

Allerdings mussten sie dafür erst ihre Aufgabe meistern. Denn wenn Zeus und seine Verbündeten ihre Pläne umsetzten, dann würde es vielleicht keine Erde mehr geben, auf der Isabel und Quinn ihre Träume verwirklichen konnten.

***

Dion, Griechenland

Liliana biss sich so fest auf die Lippe, dass sie zu bluten begann. Der Schmerz half ihr nicht einfach loszuschreien. Sie saß an einem kleinen Bach, den sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte, und seitdem war sie jeden Nachmittag hergekommen, um ihre Ruhe zu haben.

Sie hasste Dion. Es war nicht mehr als ein Dörfchen am Fuß des Olymps. Nein, nicht des göttlichen Olymps, sondern dieses verdammten Gebirges. Früher hatten die Menschen tatsächlich geglaubt, der Berg sei die Heimat der Götter. Dion hatte den Beinamen »Zeusstadt«, doch von einer Stadt konnte nicht die Rede sein, da war auf Atlantis mehr los gewesen. Touristen jeden Alters tummelten sich hier. Die Einwohner waren hingegen meist ältere Semester. Ihr Tagesablauf schien hier recht einfach gestrickt.

Absolut nicht das, was Liliana sich von ihrem neuen Leben erhofft und erwartet hatte. Herrschaft über die Menschen, über die Erde, ein aufregendes Leben als Göttin, all das hatten ihr Zeus, Hades und Thanatos versprochen, als sie mit ihnen von der Insel geflohen war.

Seit Monaten saßen sie in diesem Ort fest. Das Städtchen war die Wahl von Zeus gewesen. Denn hoch oben auf dem Berg befand sich das Portal, das sie zum wahren Olymp hätte bringen können. Doch das Portal war versiegelt. Es gab kein Durchkommen. Sie hatten vor vielen Wochen versucht durch die Tür zu kommen. Zunächst hatten sie nur den Nebel gesehen. Nachdem sie dort ein paarmal abgeprallt waren, hatte Zeus es zumindest geschafft, das erste Siegel zu brechen und sie waren hoffnungsvoll durch den Nebel geschritten. Doch dann hatte sich eine Tür offenbart. Der Eingang zum Olymp. Ebenfalls versiegelt. Thanatos hatte als Erster versucht hindurchzukommen und sich dabei schwer verbrannt. Die Tür glomm rot auf und verbrannte jeden, der es versuchte. Es gab kein Durchkommen, das Siegel war zu mächtig. Keiner der Götter wusste bislang eine Lösung für das Problem. Also hatte Zeus am Fuß des Berges einen kleinen Olymp geschaffen. Das war aber auch seine einzig gute Tat gewesen.

Lilianas neue Heimat war für die Menschen als unscheinbare Hütte sichtbar, doch das war eine Illusion. Trat man über die Schwelle, wurde man vom Anblick von Marmor und Gold empfangen, die die zahlreichen Räume zierten. Ja, so hatte sich Liliana den Olymp vorgestellt, mit allem erdenklichen Luxus. Doch was nützte es einem, wenn man sich zu Tode langweilte?

Was nützte ein Ballsaal, wenn es kein Orchester gab? Keine Götter, die darin tanzten?

Was nützte ein riesiges Himmelbett, wenn niemand das Lager mit ihr teilte?

Seit diesem Zauber war Zeus geschwächt. Noch so ein Punkt, der Liliana zur Weißglut trieb. Zeus lag meist auf einem Diwan und ließ sich von ihr bedienen. Er sah aus wie ein alter Mann und roch auch so. Widerlich. So mächtig, wie sie gedacht hatte, war er nicht.

Thanatos und Hades hatte sie kaum gesehen in den letzten Wochen. Sie hatten damit zu tun, sich als Geschäftsleute unter die Menschen zu begeben. Recht erfolgreich, wie Liliana zugeben musste. Die beiden stellten sich geschickt an im Kauf und Verkauf von Aktien, im Investieren und vor allem darin, Menschen zu ihrem Vorteil zu manipulieren.

Das war alles gut und schön, sie hatte ein luxuriöses Zuhause und mehr und mehr Geld zur Verfügung … doch wozu?

Liliana war die Tochter einer mächtigen Walküre, sie sollte Walhalla regieren und nicht in diesem verfluchten griechischen Dorf festsitzen.

Hier am Bach war sie allein, nein, sie war eigentlich immer allein. Es ärgerte sie, aber es war unmöglich, die Gedanken an ihre Geschwister zu verhindern. Was war aus ihnen geworden? Harry, Dian, Brigitte und Isabel. Als sie an Isabel dachte, fühlte sie einen Stich in ihrem Herzen. Ihre Schwester hatte diesen tollen Jungen bekommen. Quinn. Der gut aussehende Kämpfer und Sohn des Poseidon. Er hätte ihr gehören sollen.

Die ganze Welt hätte ihr gehören sollen.

Sie zog die Knie an und schlang ihre Arme darum. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Aber die Wut und die Enttäuschung verursachten diesen Kloß in ihrem Hals, der einfach nicht verschwinden wollte.

»Alles okay mit dir?«

Verdammt! Als Walkürentochter hatte sie bessere Sinne als jeder Mensch, sie war stärker und schneller, die perfekte Kriegerin – wieso hatte sie das Mädchen nicht kommen hören?

»Ja.«

Warum setzte es sich einfach hierhin? Kapierte die dumme Göre nicht, dass sie allein sein wollte?

»Du siehst traurig aus.«

»Ich bin nur müde.« Lust auf ein Gespräch hatte Liliana überhaupt nicht.

»Ich mag den Platz hier. Ich komme oft her, dich habe ich aber noch nie hier gesehen.«

Liliana wollte widersprechen. Das war ihr geheimer Rückzugsort! Dann fiel ihr ein, dass es eben nicht so war. Nichts auf dieser bescheuerten Erde gehörte ihr allein. Noch nicht.

Schweigend musterte sie das Mädchen. Sie war sehr hübsch, auch wenn Liliana es ungern zugab. Etwas dünn vielleicht und blass, aber trotzdem eine echte Schönheit. Die langen glatten Haare leuchteten in der Sonne blauschwarz. Sie hatte ein schmales Gesicht mit einer geraden Nase, schwarze Augenbrauen, schwarze lange Wimpern und große, fast schwarze Augen.

Wahrscheinlich lief ihr jeder Dorftrottel hinterher. In Griechenland waren so gut wie alle dunkelhaarig. Liliana fiel mit ihren hellblonden Haaren und den himmelblauen Augen ziemlich aus dem Rahmen. Sie war nun mal ein Kind der nordischen Götter – okay, einer nordischen Walküre und eines Menschen. Wie sie den Gedanken hasste, eine Halbgöttin zu sein. Was hatte ihre Mutter sich dabei nur gedacht? Nie würde sich Liliana mit einem Menschen abgeben.

»Ich heiße Taisia.«

»Liliana.«

»Was für ein schöner Name. Hat er eine Bedeutung?«

»Keine Ahnung.« Liliana hatte noch nie darüber nachgedacht. »Deiner?«

»Ja, es ist ein altgriechischer Name und bedeutet ›die Zarte‹.«

Das passte wie die Faust aufs Auge, nur interessierte es Liliana nicht sonderlich.

»Ich sollte nach Hause gehen.« Sie erhob sich.

»Ihr seid neu in der Stadt? Du und deine Onkel? Vielleicht können wir ja Freunde werden.« Taisia streckte ihr die Hand entgegen.

Liliana ignorierte die Geste. Freunde werden? Mit Sicherheit nicht.

2

Walhalla – 16 Jahre zuvor

Odin hatte Hades nie gemocht. Der schwarzhaarige Gott mit dem schmalen Gesicht und dem verschlagenen Blick aus den dunklen Augen hatte ihm schon immer Unbehagen bereitet.

Doch auch Hades war geschwächt. Beruhigend, dass es dem griechischen Gott der Unterwelt nicht anders erging als den nordischen Göttern.

»Setz dich doch. Ich sehe, die Reise hat dich angestrengt.« Es war Odin wichtig, Hades darauf hinzuweisen, dass er nicht gerade wie das blühende Leben wirkte.

Hades kam seiner Aufforderung nach und nahm im Sessel gegenüber Platz.

»Wenn es um Zeus' Plan geht, dann …«

»Darum geht es, aber nicht direkt«, tönte Odin mit tiefer und klarer Stimme und war froh, dass zumindest sie mit gewohnter Kraft durch den Raum hallte.

Wenn es Hades nicht passte, unterbrochen zu werden, so ließ sich der Gott nichts anmerken.

»Es geht um das Kind, das wir zur Verfügung stellen«, erklärte Odin.

Hades schlug die langen dünnen Beine übereinander. Seine Gliedmaßen erinnerten Odin immer an Spinnenbeine und Spinnen zählten nicht gerade zu seinen Lieblingstieren.

»Welches Kind habt ihr ausgewählt?«

Das war das große Problem. Es gab nicht viel auszuwählen. »Wir haben nur ein Kind, das das entsprechende Alter hat.«

Hades nickte. »Nun gut, aber warum musste ich herkommen? In drei Wochen soll alles über die Bühne gehen. Was ist das Problem?«

»Das Kind lebt auf der Erde. Es ist ein Mädchen. Brünhild, die Walküre, hat es mit einem Menschen gezeugt.«

»Auch eine Halbgöttin wird unserem Plan dienlich sein, mach dir keine Sorgen.«

»Das ist nicht meine Sorge. Brünhild wird mir das Kind nicht freiwillig übergeben. Es lebt bei einem Menschen. Dem Vater.«

Ein verschlagenes Lächeln erschien auf Hades' Gesicht. »Ich verstehe. Du willst es dir nicht mit deinen Göttern verscherzen, indem du sie tötest oder von einem deiner Götter töten lässt, um an das Kind zu kommen.«

Damit lag er nur fast richtig. »Nicht ganz, mein lieber Hades. Brünhild zu töten, ist mir kaum noch möglich. Sie wird mit uns kommen, wenn ihr uns nach Atlantis bringt. Sie ist ein wichtiger Teil der nordischen Götterwelt. Wir werden sie brauchen, wenn Kriege zwischen den Menschen ausbrechen, sobald wir zurück sind. Die Soldaten müssen daran glauben, dass Brünhild sie zu uns bringt und sie als Helden sterben, sonst zieht doch keiner in einen Krieg.« Politische Schachzüge waren nun mal das A und O in der Götterwelt.

»Dann soll ich das Kind entführen?«

»Richtig, und vor allem: Töte den Vater, diesen kleinen nichtsnutzigen Menschen.«

»Soll ich ihn mit in meine Unterwelt nehmen?«

»Das wäre gut. Ich traue Brünhild zu, dass sie gemeinsam mit Hel oder Loki versucht ihn aus unserer Unterwelt zu befreien.«

»Was habe ich davon?«

Odin hätte fast die Augen verdreht. Das war abzusehen gewesen. Hades half niemandem ohne Gegenleistung. Doch das war bei den meisten Göttern so.

»Nenn mir deinen Preis.«

»Brünhild ist eine attraktive Frau.«

»Du willst eine nordische Walküre?« Odin war erstaunt.

Hades lachte. »Nein, nein. Die nächsten 16 Jahre werden wir alle zwischen Leben und Tod auf Atlantis verbringen, bis wir wieder durch die auserwählten Kinder zum Leben erweckt werden. 16 Jahre sind für uns keine lange Zeit, dennoch kann ich mir vorstellen, dass wir danach nach Vergnügung dürsten.«

Zum Donner noch mal, was wollte Hades?

Der griechische Gott der Unterwelt faltete die Hände über den Knien und ließ sich Zeit mit seiner Ausführung.

»Ich will die Tochter der Walküre. Sie wird sicher wertvolle Kräfte haben und, wenn sie nach ihrer Mutter kommt, eine Schönheit werden.«

»Sie soll die neue Dynastie von nordischen Göttern gründen.«

Hades zog die Augenbrauen nach oben. »Das kann sie auch, wenn sie mir gehört. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Sagen wir, alle zwei Jahre kann sie ein Kind bekommen. In der Zwischenzeit dient sie meinem Vergnügen.«

Das war machbar. Odin nickte zufrieden. »Gut, dann soll es so sein!«

***

Dion, Griechenland

Leise betrat Liliana die Hütte, den künstlichen Olymp. Aus dem großen Saal, der sich geradeaus an den Eingangsbereich anschloss, waren die Stimmen von Thanatos und Zeus zu hören. Die Tür war nur angelehnt. Auf Zehenspitzen schlich Liliana darauf zu und lauschte.

»Ich bin noch zu schwach.«

Die Schwäche war Zeus anzuhören. Seine Stimme war kratzig und leise.

»Du wirst dich erholen. Doch wie gedenkst du das Siegel zu brechen?«

»Ich weiß es nicht. Verdammt, es ist mein Olymp!«

Selbst beim Fluchen klang Zeus kränklich.

»Wir werden einen Weg finden. Beruhige dich, Zeus. Wir müssen herausfinden, wer das Portal zum Olymp versiegelt hat und warum.«

»Thanatos, was glaubst du, worüber ich mir den Kopf zerbreche? Ich weiß es einfach nicht. Es muss ein mächtiger Gott oder Zauberer gewesen sein. Als wir die Götter nach Atlantis gebracht haben, war jeder einzelne von ihnen zu schwach, um solch einen Zauber auszuführen. Wir haben auch keinen vergessen. Wer also kann uns das angetan haben?«

Eine Pause entstand. Gespannt wartete Liliana darauf, dass die Diskussion weiterging.

»Vielleicht ein Mensch?«, war Thanatos' Vorschlag.

Zeus' Lachen ging in Husten, dann in ein Röcheln über. Es dauerte eine Weile, bis er sprechen konnte. Sie hörte das Gluckern von Wasser und ein Scharren, wie von einem Kelch, der auf dem Tisch abgestellt wird. »Ein Mensch? Wie soll das gehen? Menschen haben keine Zauberkräfte. Niemand kann ein so mächtiges Siegel erschaffen. Niemand!«

»Dennoch ist es real, Zeus. Wir können das Portal nicht durchqueren.«

»In unserer Heimat hätte ich mich längst erholt.«

Der einst so mächtige Zeus hörte sich nun auch noch weinerlich an. Liliana verdrehte die Augen. Der alte Sack schien Heimweh zu haben.

»Wir finden einen Weg, wir finden einen Weg.« Thanatos murmelte den Satz immer wieder vor sich hin.

Mit einem lauten Knall flog die Eingangstür auf. Liliana zuckte zusammen. Mist, ihre Lauschposition war vom Eingang aus direkt zu sehen, sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich schnell noch zu verstecken.

Hades stand auf der Schwelle. Die untergehende Sonne hinter ihm, die als leuchtender orangefarbener Ball am Himmel stand, ließ seine Erscheinung noch dunkler wirken.

Hades war der einzige der drei Götter, der ihr Unbehagen bereitete. Sie konnte es sich selbst nicht erklären. Es war nicht direkt Angst, das wäre übertrieben, aber Liliana mochte ihn nicht sonderlich. Sie misstraute ihm.

In ihrem Schreck darüber, beim Lauschen erwischt worden zu sein, war ihr zunächst nicht aufgefallen, dass Hades nicht allein war. Nun sah sie ihn: Gefesselt und geknebelt stand ein junger Mann neben ihm, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Hades stieß ihn mit einem bösartigen Lächeln über die Schwelle. Der junge Mann landete auf den Knien.

Warum tat er das?

»Au!« Die Türklinke bohrte sich in Lilianas Rücken.

»Sollst du lauschen, Kindchen?« Thanatos stand in der geöffneten Tür.

»Nenn mich nicht Kindchen, ich bin eine erwachsene Frau!«

Mittlerweile war Hades auch eingetreten und baute sich in der Mitte der Eingangshalle auf. »Keinen Streit, ihr beiden.«

»Was soll der Mensch hier?«, fragte Thanatos.

»Was ist da draußen los?« Zeus' Stimme erklang leise aus dem Saal.

Eine Antwort bekam er nicht. Hades richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf Liliana.

»Meine Liebe, es wird Zeit, dass du auch etwas tust und nicht untätig hier rumsitzt.«

Untätig hier rumsitzen? Was sollte das denn? Es waren schließlich die drei Götter, die Abend für Abend dem Wein zusprachen, lamentierten und bisher noch nichts von den großen Plänen verwirklicht hatten. Keine Versprechung, die sie Liliana gegeben hatten, wurde eingehalten. Doch sie hielt lieber den Mund.

Hades versetzte dem jungen Mann einen Tritt in die Magengrube. Der Junge keuchte hinter dem Knebel und Tränen traten in seine Augen. Er war übel zugerichtet. Blut sickerte aus einer Stichwunde an der Schulter. Das graue Klebeband schnitt tief in seine Handgelenke. Seine Hände waren vor dem Bauch gefesselt, was aber auch deutlich machte, wie muskulös seine Arme waren. Er trug ein ärmelloses Shirt und eine verblichene Jeans mit Schuhen, die man Chucks nannte. Liliana hatte sich selbst ein Paar davon gekauft. Sie waren bequem, wenn auch nicht elegant.

Durch den Klebestreifen über seinem Mund konnte sie nicht sagen, wie die untere Partie seines Gesichtes aussah, aber der Rest war einfach toll. Anders hätte Liliana es nicht beschreiben können. Wie bei allen Griechen, denen sie bisher begegnet war, waren seine Haare dunkel, allerdings hatten seine keine einheitliche Farbe. Unter die dunkelbraunen Strähnen mischten sich einige goldene.

Doch das Beste waren die Augen. Kein langweiliges Braun oder Schwarz, wie sie es von einem Griechen erwartet hätte, sondern sie leuchteten dunkelgrün. Vielleicht war er kein Grieche, sondern kam aus einem der Nachbarländer, deren Namen sie sich noch nicht alle gemerkt hatte. Ländergrenzen waren Liliana sowieso egal, sie wollte die Herrschaft über alles, über diesen ganzen verdammten Erdball.

So hatte man es ihr schließlich versprochen.

Liliana wollte sich wieder Hades zuwenden, aber der verzweifelte Blick aus den grünen Augen hielt sie gefangen. Was war das? Warum konnte sie nicht wegsehen? Warum versetzte es ihr einen Stich, als Hades noch einmal zutrat? Der junge Mann sackte reglos in sich zusammen und der Augenkontakt brach ab.

»Zäher Bursche. Hab ihn eben bei einem Kampf erwischt. Gehört wohl so einer Art Gang an, die hier im Umkreis alles unsicher macht. Alles obdachlose, elternlose Jugendliche. Er war der einzig Brauchbare. Guter Kämpfer, kein Junkie. Er gehört dir, Liliana.«

»Was?«

Hades hob die schwarzen Augenbrauen. »Du brauchst ein Trainingsobjekt. Deine Walkürenfähigkeiten verbessern sich nicht von allein. Du brauchst einen guten Trainingspartner, an dem du dich testen kannst. Sobald er sich erholt hat, solltest du an ihm üben. Wenn er hinüber ist, besorg ich dir einen Neuen.«

Hades durchquerte die Eingangshalle Richtung Treppe. Thanatos war längst wieder im Saal verschwunden. Wahrscheinlich, um seinem neuen Hobby, dem Testen der verschiedensten italienischen Rotweinsorten, nachzugehen.

»Und was soll ich jetzt mit ihm machen?«

»Bei allen Unterwelten, du scheinst manchmal echt langsam zu denken, Kind! Versorg seine Wunden, sperr ihn in einen Käfig und gib ihm was zu essen. In ein paar Tagen kannst du dich dann endlich nützlich machen und trainieren. Unsere Pläne werden nicht durch Nichtstun umgesetzt.«

Bevor Liliana etwas erwidern konnte, war Hades schon in der oberen Etage verschwunden.

3

Oslo – 18 Jahre zuvor

Hätte ihr nicht jemand vorher sagen können, wie weh das tat? Brünhild schrie. Was zur Folge hatte, dass eine der Fensterscheiben zersplitterte. Als Walküre war sie stark und konnte Schmerzen ertragen, aber das hier? Das war die Hölle und noch viel mehr als das.

Harald drückte ihre Hand. »Du schaffst das.«

Sie sah ihn an. Die Wehe war verebbt, gleich würde die nächste kommen. »Tut mir leid wegen des Fensters.«

Sein Lächeln ließ sie die Schmerzen vergessen. »Das Fenster kann man reparieren.«

Er wusste, dass sie eine Walküre war. Seit Harald und sie von der Schwangerschaft überrascht worden waren, suchte er gemeinsam mit ihr eine Möglichkeit, wie sie menschlich werden konnte.

Brünhild strich mit ihren Fingern über seine Wange, ließ die Fingerspitze um seine vollen Lippen kreisen und er hauchte einen prickelnden Kuss darauf. Brünhild liebte Harald und das würde sich auch nicht ändern, wenn sie menschlich wäre. Walküren empfanden alles intensiver, einfach weil sie stärker waren. Weil sie es aushalten konnten. Das bezog sich nicht nur auf körperliche Schmerzen wie die Wehen, die sie gerade zu ertragen hatte. Doch Brünhild zweifelte keinen Moment daran, dass diese Liebe so tief bliebe.

»Bist du sicher, dass wir keinen Arzt hinzuziehen sollen?«

Die Besorgnis in seinem Blick tat gut. Doch sie musste ihn beruhigen. Brünhild war nun mal eine Göttin. Sie hatte keine Ahnung, was gleich zwischen ihren Beinen herausgepresst wurde. Walküren waren unberechenbar. Es gab Legenden in Walhalla, nach denen von Walküren einst Stiere oder Schlangen zur Welt gebracht wurden. Sie erschauderte bei dem Gedanken.

»Nein. Alles wird gut gehen.« Mehr konnte sie nicht sagen, denn die nächste Wehe erfasste sie.

»Pressen, Schatz.«

Sie hörte ihn nur noch entfernt. Hoffentlich konnte sie das, was auch immer sie zur Welt bringen würde, lieben. Etwas, das einem so große Schmerzen zufügte, konnte man doch nicht gernhaben?

Sie wollte schreien, so wie eben, die Fenster waren egal. Aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Etwas zerriss ihren Unterleib, ließ sie rote Sterne sehen. Übelkeit, Krämpfe, ein Gefühl, als platzte ihr Kopf, alles auf einmal. Und dann doch: ein Schrei!

Doch es war nicht ihr eigener. Es war das Geschrei eines Babys. Kräftig und laut. Alle Schmerzen ließen nach.

Brünhild blinzelte, war der Schweiß ihr in die Augen geronnen? Nein, das waren Tränen, die ihre Augen füllten, als Harald ein kleines Mädchen hochhielt und es zu säubern begann.

Die Walküre zitterte. Sie traute sich kaum, das zarte, wunderschöne Mädchen mit den himmelblauen Augen in die Arme zu nehmen. Es sah so zerbrechlich aus.

Harald legte die Kleine vorsichtig in ihre Armbeuge. »Sie ist einfach perfekt. Atemberaubend. Sie sieht aus wie du.«

So viel Liebe in seinem Blick.

Einst war sie eine grausame Göttin gewesen. Hatte es geliebt, über Schlachtfelder zu ziehen. Zerfetzte Körper zu betrachten und sich aus den Kriegern die Helden herauszupicken, um sie nach Walhalla zu bringen. Oft auch zu ihrem eigenen Vergnügen.

Das alles war schon lange nicht mehr wichtig. Ihre Familie war nicht in Walhalla, war es nie gewesen. Ihre Walkürenschwestern waren selbstsüchtig und grausam. So wurden sie geboren. So war auch Brünhild geboren und aufgezogen worden.

Doch niemand musste so sein. Jeder konnte sich ändern, auch eine Walküre.

»Ich liebe dich.«

Harald nickte. »Und ich euch beide.«

Familie. Sie hatte jetzt eine Familie, einen Mann und eine Tochter. Sie würde ihr beibringen gut zu sein. Den grausamen Teil in sich zu akzeptieren und in Gutes zu verwandeln.

»Wie soll sie heißen? Wir haben nie über Namen geredet.«

Überrascht sah Brünhild zu Harald. Es war schwer, sich vom Anblick des kleinen Wesens loszureißen, aber er hatte Recht. Das Baby brauchte einen Namen.

Da gab es nichts, worüber sie lange nachdenken musste. Liliana, so wie Haralds Schwester. Sie war bei der UN gewesen, als Blauhelm in Afghanistan, und dort mit ihrem Wagen über eine Mine gefahren. Die hatte die Frau in tausend Stücke zerrissen und damit auch Haralds Herz.

Brünhild hatte es geschafft, sein Herz wieder zusammenzusetzen. Es war nur richtig, ihre Tochter nach ihrer Tante zu benennen.

»Sie soll Liliana heißen.«

Das Strahlen und die Feuchtigkeit in Haralds Augen waren alles, was Brünhild wahrnahm.

Diese Familie war alles, was sie brauchte. Alles, was sie wollte. Sie musste sie um jeden Preis schützen, auch vor den Göttern selbst.

***

Dion, Griechenland – in der heutigen Zeit

Silas öffnete die Augen. Er brauchte eine Weile, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Nur eine einsame Kerze erhellte den Raum und spendete notdürftig Licht. Ein Raum war das nicht wirklich. Eher ein steinernes Verlies. Damit nicht genug, er saß in einem Käfig fest. Ein verdammter Käfig! Man hatte ihn eingesperrt wie ein Tier!

Er erhob sich langsam. Die Übelkeit war erträglich, auch das Pochen der Wunde an seiner Schulter. Vorsichtig betastete er die Stichwunde. Er spürte Nähte unter seinen Fingern. Jemand hatte seine Verletzung versorgt. Sie fühlte sich glatt und sauber an. Seine Klamotten allerdings nicht. Die starrten vor Dreck.

Langsam kam die Erinnerung wieder. Er war mit ein paar Leuten aus seiner Gang in eine Messerstecherei geraten. Das war nicht ungewöhnlich. Silas war gut im Umgang mit Messern. Ungewöhnlich war das Auftauchen des Mannes im Anzug gewesen. Ihm war sofort klar gewesen, dass der Mann kein Polizist war. Er hatte nicht körperlich eingegriffen, aber irgendetwas hatte er getan. Alle um ihn herum waren zusammengesackt. Sie hatten sich an die Kehlen gegriffen und nach Luft gerungen.

Doch der Blick aus den schwarzen Augen des Mannes hatte sich nur auf Silas gerichtet. Magisch von diesem Mann angezogen war er zu ihm gegangen und dann war da nichts mehr. Nur Dunkelheit, bis zu dem Moment, als er die Hütte gesehen hatte. Als er über die Schwelle geschubst wurde, hatte ihn die Übelkeit erfasst. Das, was sich vor ihm in der Hütte auftat, konnte nicht sein. Die Empfangshalle passte nicht zur Größe der Holzhütte, die er zu betreten geglaubt hatte. Der Boden der Halle war aus Marmor, an den Wänden hingen Bilder von Göttern und Engeln in goldenen Rahmen. Eine Treppe führte nach oben, doch nicht in eine weitere Etage, sondern in die Unendlichkeit. Es hatte ausgesehen, als reichte diese Treppe bis in den Himmel. Die Decke der Hütte war mit den Augen kaum wahrzunehmen und schimmerte in einem durchsichtigen Blau.

Das Mädchen. Dieses Mädchen hatte ihn sofort abgelenkt von seiner seltsamen Umgebung. Sie war so unglaublich schön gewesen. Groß, mit langen hellblonden Haaren und diesen leuchtend himmelblauen Augen. So viel Reinheit und Schönheit hatte er noch nie gesehen.

Doch da war auch ein grausamer Zug um ihren Mund gewesen, der für einen Moment milder geworden war, als sie sich in die Augen gesehen hatten. Ein winziger Moment, in dem er tatsächlich überlegt hatte, wie es sich anfühlen würde, wenn er diese vollen Lippen küsste.

Als Nächstes hatte er den Tritt in den Magen gespürt und die Übelkeit hatte ihn überwältigt.

Jetzt saß er in einem Käfig. Hervorragend. Vielleicht war er bei der »Versteckten Kamera« oder irgendeinem Live-Fernsehexperiment gelandet?

Silas schaffte es, sich vollständig aufzurichten. Vorsichtig lief er ein paar Schritte. Die Übelkeit war fast ganz verschwunden. Er schritt den drei mal drei Meter großen Käfig ab und rüttelte hier und da an den Stäben. Keine Chance, er schien ausbruchssicher zu sein.

Was sollte der Scheiß?

»Hallo!«

Seine Stimme hallte von den steinernen Wänden wider. Die Kerze brannte, von irgendwoher musste also Sauerstoff kommen. Er konnte aber weder eine Tür noch ein Fenster außerhalb des Käfigs ausmachen.

Was zum Teufel war das hier für ein Höllenhaus?

Silas fluchte laut vor sich hin. Er hatte schon so viel durchgemacht, so viel Scheiße erlebt in seinem kurzen Leben, aber das setzte allem echt die Krone auf. Grausame Pflegeeltern und ein hartes Leben auf der Straße hatten ihm nichts anhaben können, nur damit er jetzt in einem Käfig vor sich hinvegetierte? Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

Dass es keine Tür in den steinernen Wänden gab, machte ihm Angst. Hatte man ihn eingemauert in der kurzen Zeit? Was hieß überhaupt kurz? Vielleicht war er länger ausgeknockt gewesen, als er dachte. Tage? Wochen? Müsste er dann nicht tot sein?

War er tot? War das die Hölle?

Okay, er war dabei durchzudrehen, eindeutig. Aber wer würde das nicht, in so einer aussichtslosen Lage?

Eines Tages würde er sicher in die Hölle kommen. Er hatte einfach zu viel Mist gebaut in seinem Leben. Nur noch nicht jetzt. Mit zwanzig. Das war zu früh. Er hatte doch oft nur deshalb Mist gebaut, weil das Leben ihm keine andere Wahl gelassen hatte. Nicht weil es ihm Spaß gemacht hatte. Im Gegensatz zu seinen Gangkollegen wäre er gern zur Schule gegangen. Immerhin konnte er lesen und schreiben, weil er zumindest die ersten fünf Jahre zum Unterricht gegangen war. Danach nicht mehr. Die Misshandlungen durch seine Pflegeeltern wären sonst aufgefallen und außerdem hatten sie ihn ab seinem zwölften Lebensjahr arbeiten geschickt.

Auch nicht regelmäßig, immer nur dann, wenn ein Knochenbruch verheilt war. Denn er war nie lange unversehrt gewesen.

Mit vierzehn war er abgehauen, hatte das Dorf außerhalb Athens verlassen und sich in der Hauptstadt einer Gang angeschlossen. Sie kehrten immer wieder nach Athen zurück, grasten aber häufig kleine Städte und Dörfer ab, um die Leute dort in Angst und Schrecken zu versetzen. Touristen beklauen war auch ein lukratives Geschäft.

Diese Gang war einem Gefühl von Familie näher gekommen, als alles andere in seinem Leben vorher.

Trotzdem war er allein gewesen.

So wie jetzt auch.

»Denk nach, verdammt. Denk nach«, murmelte er vor sich hin. Es beruhigte ihn, seine eigene Stimme wahrzunehmen. So verrückt es auch war – wenn er laut vor sich hin redete oder ein Lied sang, fühlte er sich weniger allein.

Doch als die Kerze erlosch und der Raum hell erleuchtet wurde, verstummten seine Lieder und Motivationsreden.

Staunend sah er sich um. Das mussten hunderte von LED-Lichtern in den steinernen Wänden sein. Nach der Dunkelheit brauchten seine Augen etwas Zeit, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Doch leider offenbarte ihm das Licht, dass er Recht gehabt hatte: Da war keine Tür. Kein Ausgang. Er war eingeschlossen.

Sein Herz pochte in wilder Panik und schien ihm aus der Brust springen zu wollen.

Nein!

Er würde verhungern oder verdursten. Ersticken würde er aus unerfindlichen Gründen wohl eher nicht. Trotzdem war er anscheinend lebendig begraben!

»Bitte! Hol mich einer hier raus!«

Er hatte nie um etwas gefleht. Doch jetzt tat er es. Silas schrie um Hilfe. Bettelte, dass man ihn rausließ. Kein schönes Gefühl. Er hatte alle Misshandlungen und Schmerzen ertragen in seinem Leben. Bis zum heutigen Tag.

Heute flehte er zum ersten Mal um Gnade. Aber eines tat er nicht: weinen. Nie wieder. Das hatte er sich vor sechzehn Jahren geschworen.

»Hör auf zu schreien, sie werden sonst sauer. Und da habe ich keinen Bock drauf.«

Silas war auch gar nicht mehr in der Lage, einen Ton von sich zu geben. Das Mädchen, das er in der Eingangshalle gesehen hatte, trat einfach durch die steinerne Wand. War da eine Tür, die aussah wie die Wand? Nein. Sie konnte tatsächlich durch Wände laufen.

Okay, er wurde verrückt. Das stand jetzt offiziell fest. Dabei hatte er als einer der wenigen aus der Gang immer die Finger von Drogen gelassen. Ja, er hatte ab und zu einen getrunken, aber das war keine Erklärung für das, was er jetzt sah.

Erklären konnte er auch nicht, dass etwas in den unteren Regionen seines Körpers erwachte. Er war in Lebensgefahr und bekam einen Ständer, weil ein hübsches Mädchen vor ihm stand. Das war sicher auch nicht normal.

»Wenn du die Klappe hältst, lass ich dich raus und sage dir, wie die Dinge laufen.«

Sie schien genervt zu sein.

»Okay.«

»Gott, ich hatte noch nie ein Haustier.«

»Haustier?« Echt jetzt? Hatte er richtig gehört?

»Na ja, Hausmensch? Wie soll ich dich sonst nennen?«

Sie warf die blonden Haare in den Nacken. Seidige, leuchtende Strähnen.

Wow. Nein, nicht wow, sie hatte ihn gerade als Haustier bezeichnet, da sollte er nichts an ihr »wow« finden.

»Silas.«

»Silas?«

»Ja, so heiße ich. Und du?«

Sie stand nah am Käfig, direkt vor ihm. Er hätte einfach durch die Gitterstäbe greifen und sie würgen können. Sie zwingen ihn freizulassen. Doch er rührte sich nicht. Silas war wie erstarrt. Sie war überirdisch schön.

»Liliana. Auch wenn das für dich nicht mehr von Bedeutung sein wird. Du wirst leider nicht lang genug leben, um meine Herrschaft zu erleben.«

»Deine Herrschaft über was?«

»Über die Erde.«

Silas konnte nicht anders. Das Mädchen namens Liliana war verrückt, nicht er! Er musste einfach lachen. Doch dann wurde ihm wieder klar, dass sie eben durch eine Wand gegangen war und ihr Blick ihn gerade förmlich aufspießte. Er riss sich zusammen.

»Lass mich raus. Ich verschwinde einfach und vergesse alles, was ich gesehen habe.«

Im Grunde hatte er ja gar nichts gesehen.

»Das geht nicht, dann wird Hades sauer. Und da hab ich wie gesagt keinen Bock drauf. Außerdem hat er Recht, ich brauche jemanden zum Trainieren.«

Liliana strotzte nur so vor Selbstsicherheit. Aber auch vor Arroganz. Irgendwie süß. Vielleicht war sie gar nicht so verrückt, nur von diesem Typen falsch erzogen worden.

»Du willst mit mir trainieren? Dafür bin ich hier? In diesem Käfig?«

»Nein, wir trainieren im Hof.«

»Die Hütte hat einen Hof?«

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf. »Der Olymp, du Idiot. Die Hütte ist nur Tarnung.«

»Stopp. Langsam. Der Olymp? Welcher Olymp? Das Gebirge?«

Sie verdrehte die großen Augen. »Da du eh sterben wirst, hier die Wahrheit in Kurzversion: Ich bin die Tochter einer Walküre. Ich hoffe, du weißt, was das ist. Ich werde zusammen mit den griechischen Göttern Hades, Zeus und Thanatos die Weltherrschaft übernehmen. Du befindest dich im Dorf Dion. Hier hat Zeus vorübergehend einen künstlichen Olymp geschaffen, solange bis die drei in den echten Olymp zurückkönnen und ich mich auf den Weg nach Walhalla mache.«

Jetzt konnte Silas nicht mehr. Das Lachen war nicht aufzuhalten. Er bekam kaum noch Luft.

»Das ist doch die ›Versteckte Kamera‹ hier! Okay, Leute, ihr habt euren Spaß gehabt. Lasst mich raus.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen und sah zu Liliana.

Ihre Haare wehten, ihre Augen glommen für einen Moment rot auf. Nein, das war keine Fernsehshow. Ihre Hände bogen sich und hässliche Krallen ersetzten ihre Fingernägel.