Monika Czernin
Duino, Rilke und die Duineser Elegien
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2004
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41145 - 5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 34108 - 4
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de/ebooks
Editorial
Im Modellbaukasten ferner Lebensentwürfe
Zwischen Überresten vergangener Kulturen
Getragen von mütterlicher Freundschaft
Dem Brausen des Sturmes abgelauschte Stimmen
Alles ist entzaubert – der Zauber beginnt von Neuem
Die Elegien
Die erste Elegie
Die zweite Elegie
Die dritte Elegie
Die vierte Elegie
Die fünfte Elegie
Die sechste Elegie
Die siebente Elegie
Die achte Elegie
Die neunte Elegie
Die zehnte Elegie
Anhang
Zeittafel
Stammbaum der Familie della Torre-Valsassina
Stammbaum der Familie della Torre-Hofer-Valsassina
Stammbaum der Familie Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst
Stammbaum der Familie Thurn und Taxis (della Torre e Tasso)
Bibliographie
Bildnachweis
Danksagung
[Informationen zum Buch]
[Informationen zum Autor]
Für
Raymond della Torre e Tasso (1907 - 1986),
das einzige Kind, das Rilke zu verstehen vorgab,
und
Willy von Thurn und Taxis (1919 - 2004),
»den lustigsten kleinen Kerl, den ich je erlebt habe« (Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe)
Duino ist unser Familiensitz. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir mein Vater als Kind Geschichten über seine Großmutter Marie von Thurn und Taxis (meine Urgroßmutter) erzählt hat. Er hat sie sehr gut gekannt, denn sie starb erst 1934. Als er noch ein kleiner Junge war, hat sie ihn vor dem Schlafengehen Geschichten vorgelesen, aus Büchern, die sie selbst geschrieben und illustriert hat. Da gab es zum Beispiel ›The Tea Party of Miss Moon‹, eine wunderbare Geschichte, die sie ihren Enkeln Raymond und Louis gewidmet hat. Mein Vater Raymond hat sie mir viele Jahre später ebenfalls vorgelesen.
Er hat mir auch immer von Rainer Maria Rilke erzählt. Der Dichter mochte Kinder nicht, aber komischerweise ist er mit meinem Vater sehr gut ausgekommen. Das kann man in der Korrespondenz zwischen Rilke und meiner Urgroßmutter nachlesen.
Maries Mutter Teresa Hohenlohe hatte stets viele Schriftsteller und Musiker zu Gast in ihrem Salon in Duino. Als sie starb, übernahm Marie diese Aufgabe; sie lud Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Kassner, Gabriele d'Annunzio, Rainer Maria Rilke und viele andere ins Schloss ein. Und sie schrieb selbst auf Englisch, Französisch und Deutsch Romane und Theaterstücke.
Heute leben meine Frau und ich mit unseren drei Kindern in Duino. Wir haben Duino und seinen Park öffentlich zugänglich gemacht, und es ist unser Wunsch, die Liebe zu unserem alten Haus voller Geschichte und Erinnerung an all unsere Gäste weitergeben zu können. Möge auch dieses Buch dazu beitragen.
Das äußere Burgtor war wie eine große Falltür. Eine Falltür in eine andere Zeit, ein anderes – ein gänzlich märchenhaftes – Leben, das Kaninchenloch, durch das Alice ins Wunderland gepurzelt war. Nichts sonst sahen wir, wenn wir am Dorfplatz von Duino ankamen, als dieses mächtige Holztor in der dicken Steinfassade voll Efeu und wildem Wein, die Park und Schloss vom Dorf, ja von der ganzen übrigen Welt abtrennte. Und kaum hatte sich das Tor hinter uns geschlossen, tauschten wir für einige kostbare Tage unser Leben, unsere Kleider, unsere Gedanken gegen geliehene Biographien aus. Duino verzauberte stets.
Alles hier war anders. Autos schienen innerhalb des Schlossareals zu verstummen. Lautlos glitten sie vom Tor bis in den Schlosshof hinauf. Sogar das Nicken der Pförtnerin schien uns vornehmer als anderswo. Ein livrierter Diener wartete im Schlosshof, um uns in die Gästezimmer zu geleiten. Welches würden wir dieses Mal bekommen? Das Biedermeierzimmer, das mit dem goldbestickten Baldachin über dem Bett oder das Zimmer mit dem Spitzenschuh einer längst verstorbenen Ballerina in der Vitrine? Wer mag sie wohl gewesen sein? So zart, so klein waren ihre Füße, dass die charakteristisch vorne abgeflachten Spitzenschuhe wie für ein Kind gemacht schienen. Vielleicht war sie samt diesen matt glänzenden Schuhen aus schwarzer Seide unter die frisch gestärkte Damastdecke geschlüpft? Mit der auf dem kleinen Biedermeiersekretär zurechtgelegten Schreibfeder hat sie wohl geschrieben. Ob die Tintenspuren in der alten ledernen Briefpapiermappe von ihr stammen? An wen hat sie gedacht? Was hat sie erzählt? Dass sie sich hier, in diesem immens ans Meer hingetürmten Schloß, eine Weile fern der Welt des Tanzes und der Bühne auszuruhen gedenkt?
Es war Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), der Duine dieses immens ans Meer hingetürmte Schloß genannt hat, jener Dichter, der sich zum künstlerischen Ziel gesetzt hat, »Vorstellungen an der Grenze des Sagbaren in Sprache zu verwandeln« (Stefan Schank). Wer sonst hätte ein so akkurates wie knappes Bild für das Vorgefundene entwerfen können. Im Schlossarchiv wurde lange Zeit ein von Rilke eigens für die damalige Besitzerin von Duino, Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe (1855 - 1934), abgeschriebenes Originalexemplar der ›Duineser Elegien‹ aufbewahrt, denn ausgerechnet hier an diesem magischen Ort hat der 1875 in Prag geborene Dichter nach einer langen und leidvollen Schaffenskrise zur Quintessenz seines Denkens und Schreibens gefunden. Das Ganze ist Ihr's Fürstin, wie sollts nicht! Wird heißen: ›Die Duineser Elegien‹. Ins Buch wird (: denn ich kann Ihnen nicht geben, was Ihnen, seit Anfang, gehört hat) keine Widmung stehen, mein ich, sondern: »Aus dem Besitz .....«. Erleichtert und überglücklich wird Rilke am 11. Februar 1922 aus dem Château de Muzot in der Schweiz diese Worte an »seine Fürstin« richten, zehn Jahre, nachdem er in ihrem Duino sein Hauptwerk niederzuschreiben begonnen hatte. Rilke hat Duino zu seinen »Elegienlandschaften« gezählt: das in den Himmel übergehende Meer, der karstige Fels, aus dem eine Burg herauswächst, die überreich mit Spuren ältester Kultur angefüllte Natur.
Rilke, die Ballerina – angeblich war sie eine Tochter Marie-Antoinettes, die einzige, die die Französische Revolution überlebt hatte ... Wenn man fünfzehn ist, braucht es nicht viel, um sich alsbald in dieser, dann in jener Rolle wiederzufinden, sich an den kleinen Schreibtisch zu setzen, einen Bogen des perlmuttfarbenen Briefpapiers aus der Ledermappe zu nehmen und unter dem in Gold gedruckten Familienwappen samt geschlossener Fürstenkrone und dem in eleganter Schreibschrift glitzernden Namen des Hausherrn Il Principe della Torre e Tasso, Duca di Castel Duino gekonnt altmodisch einen Brief zu beginnen. »Liebe Soundso, du wirst mein Glück kaum ermessen können, aber wenn ich dir sage, wo ich bin, wirst du selbst zu der Ansicht gelangen, dass ich unversehens in ein Wunder geraten bin ...«
Kleine Meißner Porzellanfiguren stehen auf der Rokoko-Kommode, dazu ein in Silber gefasster Handspiegel und eine ebenso verzierte Haarbürste – alles symmetrisch angeordnet. Auch eine mit Rosen verzierte Halterung für Tintenfässer und Schreibfedern aus Altwiener Porzellan und für das 19. Jahrhundert typische Aquarellporträts, hauchzart gemalte Damen mit Wespentaille und alabasterfarbenen Schultern, fehlen nicht. Ein staubgesättigter Lichtstrahl fällt durch die Zwischenräume der Jalousien ins Innere des Zimmers. Alles riecht nach alten Möbeln, frischer Wäsche und nach den von der Sonne aufgeheizten Schlossmauern. Nur ein Handgriff und das Quietschen der sich öffnenden Fensterläden – und schon liegt das Meer tief und glitzernd unter mir, am Fuße des fast hundert Meter aufragenden Felsens von Duino. Dazwischen ein dichter grüner Saum, die Baumwipfel des Schlossparks, aus dem das Gezwitscher der Vögel und das Zirpen der Zikaden an mein Ohr dringt, und ganz hinten am Horizont im Sommerdunst die Küstenlinie von Aquileia und Grado.
Die Tage in Duino haben ihren eigenen Rhythmus. Bald sind wir verwöhnte Prinzessinnen, die Rosenöl auf ihre helle Haut streichen, bald Feen, die durch den Park gleiten, und Nixen, die nach dem verlorenen Ring der dama bianca tauchen. Die arme Edelfrau war von ihrem Ehemann aus Zorn und Eifersucht über den senkrechten Felsen ins Meer gestoßen worden, als er sie in den Armen eines anderen antraf. Doch die Götter, so geht die Sage, fingen die Unglückliche auf und verwandelten sie in den weißen Stein des Karstes, sodass ihre Umrisse auf dem Felsen unter der alten Schlossruine bis heute an ihr missglücktes Liebesabenteuer erinnern. Es war allerdings nicht so sehr das Drama um Liebe, Eifersucht und Tod, das uns beschäftigte. Am meisten regte der Ring unsere Phantasie an. Die Edelfrau hatte doch sicher einen Ring verloren oder ein Diadem. Irgendetwas haben die Götter bestimmt in Stein zu verwandeln vergessen und uns überlassen, uns legitimen Erbinnen der »Weißen Dame«. Und so konnten wir ganze Nachmittage am Fuße des Felsens im Wasser verbringen, gierig durch unsere Taucherbrillen ins türkisfarbene Meer blicken und bei jedem Blinken, verursacht durch Sonne und Wellen, verzückt den Arm der Schwester ergreifen und als Ausdruck vertrauter Komplizenschaft und siegesgewisser Freude hineinkneifen. Und wenn es denn schon nicht der Ring der dama bianca war, den zu finden wir für möglich erachteten, dann hat bestimmt irgendein anderer in dieser Bucht oder oberhalb der Klippen einen Schatz versteckt, in der unheimlichen Fledermaushöhle, in der Marie von Thurn und Taxis, die Großmutter unseres Gastgebers, stets ihre Schoßhunde begrub.
Eine Qualle grast am Meeresgrund und die Möwen tratschen wie eine Schar zerstrittener Marktweiber. War Dante Alighieri, der große italienische Dichter, als er, aus Florenz vertrieben, bereits im Exil lebte und Pagano della Torre, den Patriarchen von Aquileia, aufsuchte, wirklich auf diesem zerklüfteten, vom Meer umspülten Felsen gesessen, der wie der Rücken eines Stachelschweins in den Himmel ragt? Er wird sich die Fußsohlen zerschnitten und die Arme von den Macchien blutzerkratzt haben. Aber vielleicht sah die Halbinsel zu seiner Zeit noch anders aus, vielleicht hatte das Meer sie noch nicht so gierig angefressen, die weichen Teile des Gesteins aus dem Felsblock herausgefräst und nur spitze Kanten übriggelassen. Vielleicht aber hatte Dante auch festere Schuhe und bessere Kleider als wir in unseren Badeschlappen und Bikinis.
Die Tage in Duino gehen theatralisch zur Neige. Ganz allmählich wechseln die Farben von Dur zu Moll, taucht das Abendlicht die Szenerie in die Pastelltöne Canalettos und anschließend in das verschwimmende Licht Turners. Vergoldet wirkende Steinbänke, die sich entlang der Kieswege im Zickzack vom Meer hinauf bis zum Schlossteich winden. Statuen, von Kletterrosen überwuchert, Aussichtsplätze und versteckte Sitzecken als Konzertplätze für den Abendgesang der Vögel und Zikaden, das Auf und Ab der Terrassen und die allmählich stärker werdende Dunkelheit unter den Steineichenbaldachinen. Es gilt, noch einmal durch das Zypressenlabyrinth zu laufen, die in das Schattengras eingestreuten Blumenrabatten, die Spaliere aus Kletterrosen, die üppigen Kameliensträucher und überbordenden Hortensienbeete für heute zu verabschieden und noch einmal die Seerosen ins vom Himmelsrot verfärbten Wasser des Teiches zu betrachten, bevor sie sich schließen. Nicht viel anders als der jugendlichen Marie Hohenlohe, der späteren Fürstin von Thurn und Taxis, die ihre Kindheit in Duino verbrachte, erging es uns, muss es jedem jungen Mädchen an diesem Ort ergehen.
ewiges Dauern zu
W grotta principe,
D
o viel und so gern ich sonst in vielen anderen Ländern gelebt habe, eigentliche Verbundenheit empfinde ich nur zu der russischen Erde und ihren mir brüderlichen Geschöpfen
dama bianca