Jens Petersen
Das Halbmondamulett.
200 Jahre in den Gegenden Rechts des Verweilens.
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhalt
Verwehte Spuren
Die Stadt der Dschinns
Der zweite Wächter
Geschichten und deren Verdichtung
Das reine Licht der Höhe
Wegelagerer, Magier, Lustschlösser und die Lust der Sprachlosigkeit
Dämmerung der Zeitalter
Vier Patronen
Von modernen und alten Zeiten, von Wein und Qat, dem siebenten Propheten und von den behaarten Beinen der Königin
Auf der Suche nach der alten Stadt Zufar
Das Gästehaus
Die Sache des Volkes
Sandkörner
Kain, der Wiederholungstäter
Der dritte Passagier
Magganon
Die Gärten des Hadramaut
Söhne des Weges
Leere
Al-Muhādschirūn
Ruhende und bewegte Steine
Die Hüter des Schatzes
Die Belagerung von Hureida
Der hundertneunundachtzigste Tag
Lange Stunden geduldigen Wartens waren uns schon vorher auferlegt. Wo wir doch beide in zunehmendenm Maße danach fieberten, endlich etwas zu unternehmen. Die Sonne war längst hinter dem dunklen Kratermassiv verschwunden. Voraus war die Lichterkette der Uferstraße von Ma´alla zu sehen, Backbord die vielen verstreuten Lichter der Einzelhäuser in Khormaksar auf der Landbrücke zum Festland. Gedämpfte Stimmen drangen herüber von den Decks der umliegenden Dhaus. Auch unsere Wachmannschaft war noch lange auf. Am meisten sorgte uns der Schiffseigner. Alte Leute haben meist einen leichten Schlaf. Zudem lag er nur eineinhalb Meter entfernt, allein durch die Kajütenwand von uns getrennt. Durch ein Bullauge konnte er uns sogar beobachten, ohne dass wir ihn in der dunklen Kajüte erkennen konnten. Zu unserem Glück war er Kettenraucher. Man konnte sich darauf verlassen, er würde es nicht allzu lange ohne Zigarette aushalten. Wann immer wir diese noch glimmen sahen, verhielten wir uns am besten ruhig. Die sollten gar nicht erst argwöhnen, wir hätten irgendetwas vor. Lieber den Eindruck erwecken, wir warteten noch weiterhin geduldig auf Hilfe von außen am nächsten Tag. Die Wachen saßen zum Glück alle auf dem etwas tiefer gelegenen Mitteldeck zwischen Mast und Kochnische. Von unserem Lagerplatz aus konnten wir sie gut beobachten. Schon früh am Abend hatten wir die Aktion in allen Details verbal durchgeführt, um auf mögliche Fehler zu stoßen. So wie der Plan jetzt stand, barg er zumindest die wenigsten Risiken. Es wäre müßig noch weiter darüber zu reden. Wir legten uns besser hin, krochen in unsere Schlafsäcke und taten, als ob wir schliefen. Es bestand nicht die leiseste Gefahr des Einschlafens. Dazu waren wir viel zu aufgeregt. Lange, endlos lange hörten wir noch die leisen Stimmen der Mannschaft und sahen die Zigarettenglut des Alten. Auf den nächstgelegenen Dhaus war es schon länger still. Endlich schienen auch bei uns an Bord alle zu schlafen. Wir warteten noch eine geraume Zeit um sicher zu gehen. Es musste mittlerweile schon spät in der Nacht sein, denn auch an der Uferstraße sah man nur noch selten die Scheinwerfer eines Fahrzeugs. Dann waren wir uns sicher, es wäre so weit. Hermann kroch nur mit der Badehose bekleidet aus dem Schlafsack und ging auf die Toilette. Wie auf allen Dhaus war diese ein an drei Seiten geschlossener Kasten, offen nur nach unten und zum Eingang hin. Nur wenige Schritte von uns entfernt war er, und der Gang dorthin würde noch keinen Argwohn erregen. Außer dem leisen Klatschen der Wellen an der Bordwand war noch immer alles still. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Was in der Dunkelheit nicht zu sehen war, eng an den Körper gepresst und mit einer Schnur um den Hals gebunden, trug Hermann einen verschlossenen Plastikbeutel, in dem sich ein Handtuch, ein Hemd, eine Hose, Sandalen, etwas Geld und Schreibzeug befanden. Einmal in diesen Abtrittskasten eingetreten war er im Dunkeln nicht mehr zu sehen. Wir hatten abgemacht, dass er dort einige Sekunden warten sollte, ob irgendwer ihn bemerkt hätte. In diesem Fall hätten wir den ganzen Versuch abgebrochen und nach langer Wartezeit aufs Neue gestartet. Es blieb immer noch still. Jetzt müsste er sich langsam durch die untere Öffnung, die dazu weit genug war, herunterlassen und an der breiten Leiste entlang hanteln, die wie ein Stoßdämpfer den ganzen Schiffsrumpf unterhalb des Bordgeländers umgab. Das waren nur wenige Meter, und er müsste jetzt eigentlich schon am Ruder sein. Dort könnte er mählich ohne Aufklatschgeräusch ins Wasser gleiten. Die Ankertrosse wäre leichter gewesen, aber die war heute viel zu weit entfernt in der Nähe des Bugs gespannt. Offenbar machte er seine Sache gut. So aufmerksam ich auch hinhörte, ich vernahm nichts als das gewohnte flache Schlacksen der Wellen gegen die Schiffswand. An Bord rührte sich immer noch nichts. Es war abgesprochen, dass er unter Wasser blieb, bis er hinter dem nächsten Schiffsrumpf außer Sicht war. Vorsicht war jedoch auch weiterhin geboten. Nicht vorauszusehen war, welches Ende es nähme, wenn man von anderen Dhaus auf ihn aufmerksam würde und ein Geschrei anhebe. So hatten wir ausgemacht, dass er sich immer den jeweils nächsten Punkt zum Auftauchen sorgfältig vorher ausspähen sollte, irgendeinen Fleck konzentrierter Dunkelheit oder den Sichtschutz überkragender Hecks. So weit wie möglich sollte er unter Wasser bleiben und beim Auf- und Eintauchen keine Geräusche machen. Ich hatte schon längst Gepäckstücke in Hermanns Schlafsack gestopft, so dass es aussah als läge er darunter. Wahrscheinlich war doch weit weniger Zeit verstrichen, als es mir vorkam. Bei Aufregung ist es besonders schwer den Verlauf der Zeit zu schätzen. Dann kam mir der Gedanke zu zählen. Das würde eine annähernd messbare Qualität ergeben. Übertragen auf die Entfernung zum Ufer, müsste er mittlerweile dort angekommen sein. So weit zu hören war, blieb immer noch alles in tiefster Ruhe. Am Uferstrand gab es etliche Dhaus, die wegen Reparaturarbeiten an Land gezogen waren. Dazwischen standen Wrackteile und Bretter von Bauholz herum, aber auch Hütten, in denen Menschen wohnten einige mit Hunden. Hermann musste wohl Glück gehabt haben, konnte sich unbemerkt in einem abgeschirmten Winkel anziehen. Jedenfalls kam auch von dort kein beunruhigendes Geräusch herüber.
Impressum neobooks
Jens Petersen
Das
Halbmondamulett
Zweihundert Tage in den Gegenden rechts des Verweilens
1. Verwehte Spuren
2. Die Stadt der Schinns
3. Der zweite Wächter
4. Geschichten und deren Verdich-
Tung
5. Das reine Licht der Höhe
6. Wegelagerer, Magier, Lustschlös-
ser und die Lust der Sprachlo-
sigkeit
7. Dämmerung der Zeitalter
8. Vier Patronen
9. Von modernen und alten Zeiten,
von Wein und Qat, dem siebenten
Propheten und den behaarten Bei-
nen der Königin
10. Auf der Suche nach der alten
Stadt Zufar
11. Das Gästehaus
12. Die Sache des Volkes
13. Sandkörner
14. Kain, der Wiederholungstäter
15. Der dritte Passagier
16. Magganon
17. Die Gärten des Hadramaut
18. Söhne des Weges
19. Leere
20. Al-Muhādschirūn
21. Ruhende und bewegte Steine
22. Die Hüter des Schatzes
23. Die Belagerung von Hureida
24. Der hundertneunundachtzigste Tag
"Wären da nicht die weiten Felder der Seele, es gäbe keine wirkliche Reise des Wandernden"
Ibn 'Ata Allah
Natürlich könnten wir immer noch umkehren und unbehelligt zurückfahren. Niemand hätte uns daran gehindert. Wußte doch niemand von unserer Anwesenheit hier, noch von unserem Vorhaben. Wir stellten den Motor ab. Die Stille hatte etwas Betäubendes. Wenige Meter vor uns endete die Straße abrupt im Sand. Dahinter war das Meer zu erkennen, reglos in der Hitze daliegend, nur das Gleißen der Sonne wiederspiegelnd.
Linker Hand ragten einige aus ausgeschnittenen Teertonnen zusammengeklopfte Hütten aus dem Sand, dahinter die Baracken und die Mine, wie eine vergessene Kulisse, zurückgelassen in der Weite von Sand und Meer. Nichts darin regte sich. Nur soviel spürten wir alle vier, hier in Marsa Alam nahm etwas seinen Anfang, zu fremdar= tig, um erkannt zu werden. Zur Rechten, in Richtung Süden, parallel zum Meer, schwang sich eine Schotterpiste über den nächsten Hügel und damit außer Sichtweite. Noch davor, schon nach wenigen hundert Metern, war eine Schranke errichtet mit einem braunen Militärzelt daneben.
„Das kann man ja wohl unter Ulk abhaken“,
bemerkte Hermann,
„denn rechts davon wären gute zweihundert Kilometer Raum sie zu umfahren.“
Als niemand Anstalten machte sie zu öffnen, stellten wir den Motor ab. Ein Soldat trat heran und hieß uns, ihm in das Zelt zu folgen. Der Offizier wollte die Pässe sehen, blätterte lustlos darin herum und überraschte uns so gar nicht, mit der Frage, ob wir Visa für den Sudan hätten. „Nein, wozu braucht man die denn auch in Ägypten?“
Er klärte uns sodann freundlich auf, dass Ausreisende schon hier abgefertigt würden, obwohl es noch über dreihundert Kilometer bis zur Grenze wären, weil keine Siedlung mehr käme, nur noch eine Kontrollstation. Wir gaben vor, nicht so nahe am Ort campieren zu wollen, sondern lieber einige Kilometer weiter am Strand unser Lager aufschlagen, um ein paar Tage mit Baden und Schnorcheln zu verbringen, bevor wir zurück nach Assuan führen. Er schien uns das abzunehmen, wohl auch, weil er mit einem Blick den Eindruck gewinnen konnte, dass wir für eine so lange Wüstenfahrt, mit unserem ohnehin wenig geeigneten VW-Kastenwagen, gar nicht ausgerüstet waren. Eine Weile unterhielten wir uns noch beim üblichen Tee, ließen uns von ihm die Kamele vorführen und wurden dann weiter gelassen. Nach etwa zwei Kilometern, gut außer Sicht- und Hörweite, errichteten wir tatsächlich am Strand unser Lager. Am Nachmittag kam, wie nicht anders erwartet, eine Kamelpatrouille vorbei. Wie es gute Sitte verlangte, luden wir die Beiden zum Tee ein.
„Unser Verschwinden“,
frohlockte Bernd, als wir endlich in Fahrt kamen,
„werden die erst in 24 Stunden bemerken, wenn die nächste Kamelpatrouille uns nicht mehr antrifft. Aber dann hat sich nichts mehr mit Verfolgung. Dann werden wir schon tief in der Wüste sein und kaum noch aufzufinden. Na ja, eigentlich sollte es den Ägyptern sowieso schnuppe sein, was wir im Sudan machen.“
Die Makkadampiste hörte schon bald auf. Es folgte eine Wegmarkierung mit Steinen und bald nur noch Spuren, an denen man sich orientieren konnte. Das Meer zur linken Seite war längst außer Sichtweite, aber manchmal tauchte ein schwarz-weiß geringelter Stab auf oder eine Pyramide aufgeschichteter Steine. Wir wussten dann, dass die Richtung noch stimmte. Später wurden auch diese Wegmarken seltener, und wir freuten uns jedes Mal, wenn wir eine zu Gesicht bekamen. An diesem Tag schafften wir noch etwa fünfzig Kilometer, ohne, außer einigen freiweidenden Kamelen, ein Lebewesen zu sehen. Das Gelände kam uns entgegen, indem es durch eine Unmenge kleiner Erhebungen unübersichtlich war. Trotzdem mussten wir sehr weit ausweichen, damit die Staubsäule, die jedes Fahrzeug unvermeidlich erzeugte, uns nicht verriet.
Als wir endlich sicher waren, Berenis jetzt weit hinter uns gelassen zu haben, drehten wir wieder nach links ab, um die Route zu suchen. Wir hatten Glück und trafen, ziemlich genau nach der errechneten Kilometerzahl, wieder auf Spuren im Sand. Jetzt lagen etwa dreihundert Kilometer leeres Land vor uns, ohne irgendeine, noch so winzige Siedlung oder Station.
Die Fahrt ging leidlich flott voran. „Die Ägypter haben wir jetzt abgehängt“,
freute sich Bernd. Von nun an war für lange Zeit nichts zu erwarten. Bei monotonem Motorgeräusch und unentwegtem Staubrieseln dösten wir nur in Badehosen so vor uns hin.
„Du hast Recht“,
überlegte 0-Chang,
„selbst wenn sie uns vielleicht verfolgt hatten, hier sind wir außerhalb ihrer Reichweite.“
Das Gefühl der Sicherheit und die Hitze machten träge, so dass auch Gespräche bald nicht mehr aufkamen.
Zur Linken musste irgendwo das Rote Meer liegen, vielleicht zwei vielleicht auch zwanzig Kilometer entfernt. Wir sahen es den ganzen Tag nicht. Den rechten Horizont bildete eine schier nicht endende Bergkette. Stunde um Stunde starrten wir in diese gleichbleibende Landschaft. Auf kahler, steiniger Ebene wanderten kleine Flugsandanhäufungen vor dem Wind, und hefteten sich gelegentlich an niederes Dornengestrüpp oder in flache Bodensenken. Der Horizont vor uns ging unter im Flimmern, und in sich ständig wieder entziehenden Luftseen. Stumm in Wachträumen versunken verdämmerten wir den Tag. „Wenn man es recht überlegt“,
unterbrach O-Chang die dösende Stille,
„so müssen wir ja ganz schön zugenagelt sein.“
„Wie meinst du?“
„Hast du dir schon mal überlegt, was passiert, wenn wir hier ´ne Panne haben, oder hoffnungslos im Sand festsitzen? Auf dieser einsamen Route kann es Monate dauern, bis wer vorbeikommt.“
„Was ist mit Suchaktion?“
„Wer denn? Wir haben doch selber dafür gesorgt, dass niemand weiß, dass wir hier sind.“
„Die Ägypter wissen es.“
„Die werden nicht gerade in Laune sein, so wie wir die verladen haben. Außerdem sind wir schon nicht mehr auf ihrem Hoheitsgebiet.“
„Es wird ohnehin kommen, wie es kommt“,
sagte ich.
„In letzter Zeit habe ich immer mehr den Eindruck, als passieren die Dinge mit uns, gleichgültig, was wir tun oder wollen.“
„Das geht mir auch so“,
meldete sich jetzt Bernd,
„diese Wüste ist irgendwie eine andere Wirklichkeit. Und wisst ihr was noch? Ich werde den Eindruck nicht los, als ob mit jedem Kilometer nicht nur unser Ziel näher kommt, sondern auch unser Traum greifbarer wird.“ „Ja, ich glaube, extreme Reisen tun so etwas, sie verändern die gewohnte Realität, und die Wüste tut das ihrige.“
„Was wir sonst daheim für Realität halten“,
überlegte O-Chang,
„kommt mir sowieso vor, wie eine Bandschleife, die sicheren Boden
unter den Füßen suggerierren soll.“ „Genau, und das Reisen hilft, ein wenig Korrektur daran vorzunehmen.“
„Was unser Ziel betrifft“,
mischte ich mich ein,
„sind wir ja noch viel mehr bereit,
den Sprung ins Ungewisse zu wagen. In ein rätselhaftes Land, abgeschlossen vom Rest der Welt und in einer ganz anderen Zeit lebend.“
„Erst einmal müssen wir überhaupt bis dorthin durchkommen.“
Unterbrochen wurden derlei Spekulationen, weil Bernd gerade verbissen und mit Vollgas auf eine breite Sandbank zusteuerte. Diesmal reichte der Schwung nicht, er musste immer weiter herunterschalten.
„Raus“,
brüllte er, als er den ersten Gang einschob. 0-Chang und ich sprangen ab, rannten hinterher und schoben. Auch das half nicht lange. Der Wagen saß im Sand fest. Nichts anderes blieb übrig, als Fuß vom Gas und Motor aus. Jeder weitere Versuch würde ihn nicht vorwärts bringen, sondern nur noch tiefer eingraben. Jetzt mußten wir Steine unter die Achsenmitte legen und schweißgebadet die Räder frei schaufeln, sowie zwei mählich ansteigende Gräben bis zum ebenen Boden, in die wir die Sandleitern auslegten.
Bernd mußte nun ganz behutsam anfahren und, sobald er sich einmal vorwärts bewegte, versuchen immer mehr an Fahrt zu gewinnen, um erst wieder anzuhalten, wenn er festen Boden unter den Rädern wußte, gleichgültig wie weit er uns dabei zurück ließ.
Als die Sonne dem Horizont nahte, hielten wir an. Wegen der Hitze wäre es zwar angenehmer nachts zu reisen, wie Karawanen es gerne taten, aber wir hätte uns dabei zu leicht verfahren oder in einen Wadi stürzen können.
Während Bernd den Motor entsandete und den Ölfilter reinigte, bauten wir anderen das Lager auf. Die knappe Spanne zwischen Sonnenuntergang und völliger Dunkelheit ließ in kurzer Folge die grandiosesten Schauspiele erleben. Der Dunst und das Flimmern des Tages hatten sich aufgelöst, die Sicht wurde glasklar, und die Landschaft gewann an Weite. Es war als dehnte der Raum sich aus, wurde durch die Stille noch majestätischer. Chamäleonartig färbte sich dann alles von orange bis blutrot, und binnen weniger Minuten war es dunkel.
„Heute Abend können wir unbesorgt ein Feuer anzünden“,
schlug ich vor.
„Genau“,
meinte Hermann,
„ein Topf Tee und 'ne warme Mahlzeit wären jetzt angesagt. Ziemlich sicher, dass wir hier im Umkreis von wenigstens hundert Kilometern allein sind.“
„Gute Idee, was gibt´s denn heute?“
„Tüten-Erbsensuppe surprise an Saucissones fines aus hauseigener Konservendose.“
„Pst!“
„Hört ihr das auch?“
flüsterte 0-Chang. Schlagartig brach das Gespräch ab und alle horchten.
„Ich höre da Stimmen“,
wisperte Hermann und Bernd nickte. Alle drei sprangen auf und suchten die Umgebung ab. So dunkel war es nun doch nicht. Man konnte ein relativ weites Umfeld überblicken. Das Gelände zeigte nur leichte Sandwellen, keine größeren Sträucher oder Steine, hinter denen man sich verbergen könnte.
Ich war als einziger sitzen geblieben. Nach einer Weile kamen sie etwas verwirrt zurück.
„Hast du die Stimmen nicht gehört?“
„Doch.“
„Und?“
„Ich hab so was schon mehrmals erlebt, in der Sahara.“
„So wie die Stimmen waren, hätten sie ganz in unserer Nähe sein müssen. Aber da war weit und breit niemand." „Ich weiß. Ziemlich sicher, dass wir tatsächlich im Umkreis von mehr als hundert Kilometern allein sind.“
„Und? Was ist das denn?“
„Das hat mir bislang noch niemand sagen können. Nur dass es eines der Phänomene ist, die einem in der Wüste begegnen.“
„Unheimlich - wundert einem nicht, wenn die Leute an Geister glauben.“
Die Wüste erschien mir von der ersten Begegnung an, als ein magischer Ort anderer Realität. Begab man sich einmal dort hinein, so ließ man die gewohnte Welt hinter sich. Aber da war noch etwas anderes, unerklärliches, wahrnehmbar nur als eine Art Glücksgefühl. Es war, als fließe einem dort Energie zu, möglicherweise die Ursache der großen Anziehung, welche die Wüste immer wieder ausübt. Gar nicht denkbar wäre der Orient ohne die Wüste. Aller Zauber rührt ursprünglich daher. Erst die Wüste gibt den nötigen Hintergrund für das so ungemein farbige Gepränge, ist die wahre Quelle der üppigen Phantasie.
Tagsüber sah ich sie diesmal nur an den geschlossenen Scheiben vorbeiziehen, bei offenen erwies sich der hereinfliegende Sand noch lästiger als die Hitze. Jetzt nach dem Abgang des Tages überkam mich das Verlangen hier allein zu sein. Als ich mich leise erhob, drangen aus den anderen drei Schlafsäcken nur noch ruhige, gleichmäßige Atemlaute. Der Boden, an dieser Stelle weich wie ein flauschiger Teppich, schluckte jedes Geräusch meiner Schritte. Nur wenige Minuten von Auto und Lagerstätte entfernt setzte ich mich auf eine der vielen Sandwellen.
Erst des Nachts zeigte die Wüste ihre wahre Schönheit. Nichts lenkte mehr davon ab, kein Geräusch, kein Hitzeflimmern, nicht einmal ein Lufthauch. Der tägliche Jahrmarkt der Sinne mit seinem Gaukelspiel war verschwunden, hatte sich aufgelöst wie eine Luftspiegelung. Es gab nur noch Unendlichkeit. Alles um mich herum war Sternenhimmel, von einer nie gesehenen, unwirklichen Pracht. Zum ersten Mal ging mir auf, dass er in Wahrheit hinabreichte bis an den Boden, auf dem ich saß. Auch dieser letzte Rest Erdenkontakt schmälerte nicht die plötzliche Erkenntnis, mitten im Weltraum zu sitzen, gefolgt von der Einsicht, absolut allein zu sein, so allein wie man nur sein konnte. Nichts erinnerte mehr an vertraute Umgebung, auch Vorstellungen von Nähe und Gemeinschaft verflüchtigten sich als imaginär. Da war nur unermessliche schwarze Tiefe, verwirrend angefüllt mit Glitzern, kalt, unnahbar und doch unerklärlich anziehend wie ein fernes, unbekanntes Ziel. Vielleicht sollte Furcht aufkommen angesichts dieses Gewahrwerdens eigener Bedeutungslosigkeit. Etwas ganz anderes stellte sich ein, wie bei jeder Begegnung mit der Wahrheit: Ein Gefühl tiefer Befriedigung. Die natürlichste Art zu leben, nannte Ibn Al-Arabi das Reisen, da nicht das Verweilen die Natur aller Dinge im Universum sei, sondern das ständige in Bewegung sein. Mir war eher so, als wäre ich von langer Reise endlich angekommen, angekommen in einem wahren Zuhause. Das konnte nicht mehr sein, als eine vorübergehende Vision, ein Gefühl von einem Zustand zu fern und zu unbekannt, um selbst in Bildern sich auszudrücken. Doch bei all seiner Flüchtigkeit unterschied dieser Eindruck sich gar zu deutlich von üblichen Emotionen, blieb mir für immer als Erinnerung wie eingraviert. Und mit ihm die unerklärliche Gewissheit, es gäbe für mich irgendwo ein Ziel, auch wenn ich noch keinerlei Vorstellung davon hätte, ja nicht einmal einen Namen dafür. Nur die ungeheure Bedeutung begriff ich, sich dorthin zu bewegen, auch wenn selbst die einzuschlagende Richtung noch unbekannt blieb. Gewiss war überhaupt nur eines: Verweilen wäre ein Fehler. Vorübergehendes Verweilen gehörte zum Weg mit seinen Intervallen, aber völliges Stehenbleiben rührte zu so etwas wie dem Aufhören zu existieren. Weiterziehen erschien mir als etwas Elementares, ein kosmisches Gesetz, dass alles in Bewegung bleibe, in Wandlung und ständigem Fortschreiten, sei es nun reine Materie, eine Lebensform oder ein Bewusstsein mit der Fähigkeit eigener Entscheidung. Das unfassbare Chaos ringsherum zeigte auf einmal so etwas wie Vollkommenheit, die sich mir in einer Musik jenseits des Hörvermögens ausdrückte. Für einen zeitlosen Moment nahm ich mich wahr als einen Teil dieser Schwingungen. Was blieb war diese unerklärliche Gewissheit, namenlos, nicht fassbar, aber ähnlich einem erhaltenen Versprechen.
Der dritte Tag verlief nicht viel anders als der zweite, Staub, Hitze, Monotonie und bei mäßiger Geschwindigkeit im Wagen vor sich hindösen. Einige Kamelgerippe im Sand erinnerten daran, dass das Reisen hier nicht immer unproblematisch verlief, und was aus uns im Falle einer Panne werden könnte. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie versessen ich auf dieses Unternehmen war.
„Bequemer ist es ja, die Piste entlang dem Niltal zu fahren“,
feixte 0-Chang.
„Sicherer allemal.“
„Ich geb was drum, die Gesichter von den Typen in der sudanesischen Botschaft zu sehen, wenn die uns beobachten könnten, wie wir hier heimlich durch die Hintertür bei ihnen reinbrettern“,
kicherte Bernd.
„'N Rad abhaben müssten wir ja, deswegen die kostbaren Jemen-Visa verfallen zu lassen. Du hast übrigens immer noch nicht erzählt, wie du das eigentlich gedeichselt hast.“
„Ebtehag!“
„Deine und Hermanns ägyptische Kommilitonin?“
„Genau, das Mädchen hat eine einmalige literarische Begabung. Die setzt einen arabischen Text in so bestechendem Klang und Rhythmus auf, dass du ihn nur noch in ehrfürchtigem Singsang rezitierst. Sie war es auch, die mir verraten hat, wie verliebt Araber in ihre Sprache sind. Jedenfalls müssen die im Außenministerium in Sana'a so entzückt gewesen sein, dass das bislang Unmögliche geschah.“ „Wie bist du überhaupt auf den Jemen gekommen? Ich mein' inzwischen hast du uns ja alle längst angesteckt, aber woher der Jemen?“
„Neugierig wurde ich zuerst, als ich im Orient wiederholt Andeutungen auf den Jemen zu hören bekam. Wahre arabische Kultur wäre noch anzutreffen, weil sich dort, seit ihrer Blüte im hohen Mittelalter, nichts verändert habe. Auch von der "Hikma jemenija", der jemenitischen Weisheit war die Rede, und schon seit langer Zeit wollte man wissen, dass der Jemen es war, woher den Propheten "An-Nafas Ar-Rahman" erreicht hatte, der Odem des Erbarmers. Nur Genaueres wußte niemand, weil auch keiner meiner arabischen Gesprächspartner je im Jemen war.“
„Und woher dann hast du was erfahren?“
„Ich verschlang alles, was es an Büchern darüber gab.“
„Da hattest du dir was vorgenommen, wie?“
„Ach das war nicht so viel, meist Berichte von den wenigen Reisenden. Aber zwei Dinge wurden dabei immer deutlicher und ließen mich nicht mehr los.“
„Ja?“
„Ein geheimnisvolles, verschlossenes Land, in dem tatsächlich orientalisches Mittelalter noch lebendiger Alltag ist, und Berichte über eine kaum bekannte antike Hochkultur.“
„Du meinst Saba mit seiner berühmten Königin?“
„Nicht nur, da gab es noch die Reiche von Kataba, Ausan und Himjar und noch früher die der Minäer und Hadramoten. Allein was von den wenigen wagemutigen Reisenden entdeckt und berichtet wurde, lässt auf hunderte antiker Fundstätten schließen, ganzer Städte, Tempel, Befestigungen und ausgeklügelter Bewässerungssysteme. Unzählige Inschriften waren gefunden. Immer deutlicher wurde, dass ein ganzer Kulturkreis in diesem entlegenem Teil der Welt verborgen liegt.
„Und das alles ist noch kaum erforscht?“
„Nach allen mir bekannten Berichten war es noch niemandem zuvor gestattet, so ohne Beschränkungen durch den Jemen zu reisen. Es sieht so aus, als wäre das Glück der Stunde mit uns. Übrigens, auch für den anderen Teil des antiken Südarabien haben wir eine vorläufige Zusage der Protektoratsverwaltung in Aden.“
„Dann wären wir die ersten, die sich da unbehelligt umsehen könnten?“
„Noch sind wir nicht da. Das Land hieß nicht umsonst über Jahrhunderte "das Verbotene". Alle Reisenden trafen bislang auf merkwürdige Hindernisse schon bei dem Versuch dort hinzugelangen. Wir sind ja auch gerade dabei, das erste zu überwinden.“
Es war der Morgen des vierten Tages nach Marsa Alam. Wir studierten wieder einmal Karte und Tachometer mit dem Entschluss, ein weiteres, großzügiges Umfahrmanöver zu beginnen, da Halaib nicht mehr weit sein konnte. Gerade eben hatten wir damit begonnen, als aus den Sandverwehungen Männer auf schnellen Reitkamelen auftauchten. Das Gasgeben hätte Bernd sich sparen können. Es entsprach wohl auch mehr einem unwillkürlichen Fluchtreflex, denn dass da nichts Gutes auf uns zukam, war gar zu deutlich.
Dschinns, das sind, wie hinlänglich aus den einschlägigen Geschichten bekannt, Geister und zwar keine guten. In den Tausend und einen Nächten wimmelt es nur so von ihnen. Sie sind jedoch nicht so fürchterlich wie Devs, vor denen man — wie ebenfalls dort nachzulesen — besser gleich auf Knie und Angesicht fällt, um sie respektvoll mit Dev-Effendi oder Dev-Hadratak je nach örtlichen Gepflogenheiten anzureden. Diese ausgewachsenen Dämonen scheinen, wie alle sonstigen unreinen Geister, besonders eitel zu sein und großen Wert zu legen auf bei jeder Gelegenheit entgegengebrachte Ehrfurchtsbezeugungen. An weiteren Fürchterlichkeiten gibt es da noch Ifrits, denen man teilweise nachsagt, sie wären auf Jungfrauen fixiert, oder Ghuls, die so abartig veranlagt sind, dass man besser gar nicht erst von ihnen redet. Wenn es einmal hart auf hart kommen sollte, so ist derjenige fein heraus, der in solch einem Augenblick das "Mu'auwidatan" zitieren kann. Aus glaubhaften Quellen wird versichert, wie daraufhin solchen Kreaturen ganz anders werde.
Von besagten Dschinns ist bekannt, dass sie nicht derart beängstigend übermächtig sind, sehr wohl aber in der Lage arglosen Reisenden einen fürchterlichen Schrecken einzujagen. Ja von Haus aus scheinen sie sich geradezu an allerlei Schabernack gegenüber Menschen zu ergötzen.
Über Suakin wussten wir bislang nur, dass es eine Geisterstadt war, nicht aber, dass dort auch Geister wohnten.
In den letzten Tagen hatte es starke Regenfälle gegeben, was in diesen Gegenden sehr selten war, und so wurde unsere Fahrt durch die nicht endenden Pfützen des ungepflasterten Weges auf beiden Seiten des Wagens von erhabenen Wasserspielen begleitet. Wir gelangten an eine Bucht, in der sich das Bleigrau des Himmels wiederholte, und mitten darin lag kalkig weiß Suakin. Auf der anderen Seite angelangt hielt der Weg direkt auf die Stadt zu, der wir jetzt schnell näher kamen. Nun sahen wir auch, was es war, das der Ferne auf uns so anders und befremdlich erschien. Die meisten Gebäude, besonders die an der Wasserseite gelegenen, waren teilweise eingefallen. Einzelne Mauern oder Reste davon standen herum wie Zahnstümpfe in unregelmäßigem Rhythmus und mit ausgefressenen Kanten. Die ganze Stadt schien auf einer Insel zu liegen. Ein paar Männer kamen hervor und begrüßten uns. Sie wohnten hier auf dem Festland gegenüber Suakin. Wahrscheinlich Fischer, waren sie gerade mit Instandsetzungsarbeiten an umgedrehten Booten beschäftigt. Von ihnen hörten wir zum ersten Mal, dass in der alten Stadt Dschinns wohnten. Niemandem in diesen Breiten braucht man zu erläutern, was Dschinns sind. Wird doch schon kindliches Wohlverhalten mit dem Hinweis auf diese reguliert. Sie warnten uns, dort hinüber zu gehen. Um uns zu vergewissern, dass es nicht nur Gerede sei, machten wir die Probe und boten ein verlockendes Backschisch für eine Führung. Nicht dass sie unwillig oder gar unfreundlich waren. Es war nur so, dass die Furcht vor irgendetwas größer zu sein schien.
Interessiert äugten wir hinüber. Drüben regte sich noch immer nichts. Nur eine Wasserstrasse trennte uns von der alten Stadt. Ein einziger Erddamm führte hinüber. Stumm und bewegungslos starrte uns ein Labyrinth von kalkweißen Mauerresten und Gebäudeteilen mit ihren leeren Fensterhöhlungen an, und spiegelte sich ebenso unbewegt im Wasser darunter. Nichts war daran, was an unsere Zeit erinnerte.
„Was sollte schon sein?“,
ermutigte O-Chang uns.
„Es ist helllichter Tag, wir zu viert, und Geister, die haben sich bei genauerer Betrachtung, noch allemal als Projektionen erwiesen.“
„Aber für alle Fälle“,
fügte ich bei,
„und falls die Natur der sogenannten Geister eine sehr diesseitige Erklärung haben sollte, bitten wir die Männer, wenn wir nicht bis zum Sonnenuntergangsgebet zurück sind, die Polizei zu rufen.“
Reglos schauten sie uns nach, bis wir auf der anderen Seite in die Strasse hineingingen und die erste Biegung uns ihren Augen entzog. Ohne dass es darüber einer Absprache bedurfte, blieben wir eng zusammen. Schweigend und angespannt wachsam bewegten wir uns nach allen Seiten äugend in der Straßenmitte.
Sobald wir von der Wasserfront fort waren, bemerkten wir mehr intakte Häuser. Alle jedoch hatten sie verschlossene Türen und Fenster. Außen an den Türen hingen große Vorhängeschlösser. Folglich mussten diese Häuser noch irgendwelche Besitzer haben, die aber nicht hier wohnten. Nirgends war auch nur ein lebendes Wesen auszumachen. Wir klopften an einige der Türen und riefen durch die Spalten im Holz hinein. Die einzige Antwort war manchmal der Widerhall unserer eigenen Stimmen von den nackten Wänden.
„Eigentlich ist es eine sehr schöne Stadt von eigenartigem Reiz und verdiente als ganzes erhalten zu werden“,
sinnierte ich. Unbeachtet blätterte der Putz von den Mauern, Risse bildeten sich und Teile der Wände stürzten ein. Manche mit Steinhaufen angefüllten Lücken zeigten, dass hier der Verfall schon vollendet war. Einstiger Reichtum war unverkennbar an den prächtigen, manchmal palastartigen Häusern. Die meisten besaßen schöne Ornamentverzierungen. Erlesene Muschrabien, von denen die schützende Farbe herabgerieselt war, überragten die Strassen, und die Sonne ätzte das Holz trocken und rissig. Die Strasse mündete in einen Platz.
„Hier waren ja wohl die Machthabenden zu Hause“,
deutete Bernd auf zwei kleine, dicke Eisenmörser auf Holzlafetten zu beiden Seiten eines Portals. Die gegenüberliegende Seite des Platzes nahm die Hauptsmoschee ein mit einem achteckigen Minarett. Dazwischen ragten an den Wänden Stangen ins Leere, die wohl einmal einen Balkon trugen und immer wieder Haufen von Bausteinen. Beißende Sonne, salzige Luft und der stete Wind vom Meer trieben ihr unaufhaltsames Zerstörungswerk. Nur die Moschee wirkte wie unberührt davon. War sie soviel solider gebaut, oder kümmerte sich doch noch irgendwer um ihre Erhaltung? Auch sie erwies sich als abgeschlossen und von allen Seiten unzugänglich.
Der große Reisende Ibn Batuta kam um 1350 mit dem Boot vom gegenüberliegenden Mekka hierher. Er schilderte die Gegend als ziemlich heiß und öde, in der nur Strauße, Gazellen und Wildesel hausten. Die Stadt Suakin hatte in ihrer Umgebung weder Wasser noch Getreideanbau, nicht einmal Bäume. Wenn die Wasservorräte in den Zisternen aufgebraucht waren, musste Nachschub von weit her auf Schiffen herbeigeholt werden. Dafür hatte die Stadt viele Ziegen und trieb Handel nach Mekka mit Fleisch, Milch, Gazellenfellen und Straußeneiern.
In manchen Gassen mussten wir über Berge von Mauersteinen steigen um weiter zu kommen. Sie waren dicker als die bei uns üblichen Ziegel und nahezu quadratisch. Einige Muschrabien lagen dadurch jetzt in Augenhöhe. Einst sehr fein gearbeitet waren sie eine kostbare Miniaturarchitektur in Holz, die sich nun langsam und unbesehen auflöste. Ihre zierlichen Gitter für sehnsüchtige Blicke auf die Außenwelt gedacht, Trost für eingesperrte weibliche Augen und Seelen, denen wenigstens das Plaisir der Neugierde und der Träumerei belassen bleiben sollte.
„Ich wollte schon immer mal wissen, was dahinter zu sehen ist.“
Bernd kletterte auf einen Steinhaufen und drückte das Auge gegen die engen Maschen im Ornament eines der hölzernen Gitter.
„Und? Was ist?“
„Nichts. Sonst war es immer verboten, und jetzt, wo man 'mal reingucken kann, - nichts als Dunkelheit.“
Ein idealer Naturhafen auf einer Insel in einer geschützten Bucht gelegen, war Suakin Jahrhunderte lang der Umschlagplatz für den Sudan, angelegt von den Arabern, ihren Händlern das Tor zu einem riesigen Hinterland. Ein Hinterland welches von ihnen zunehmend kolonisiert und auch missioniert wurde, lange vor den Europäern. Die frisch bekehrten Gläubigen pilgerten über Suakin gen Mekka. - Das heißt nicht alle sich hier einschiffenden Afrikaner waren Pilger und alles andere als freiwillig in Suakin.
„Ja natürlich“,
überkam es mich. Die anderen schauten mich verwundert an.
„Was ist?“
„Das Gerede von den Geistern. Wenn denn etwas Wahres daran sein sollte, an jenen Geistern, die man die Ruhelosen nennt. Jene, die so Grässliches erlitten, so unerträglich Grausames, dass sie weder unter der Erde noch auf dem Grunde des Meeres ihren Frieden fanden, dann allerdings hätte man Grund, an diesem Ort Geister zu fürchten.“
Das Geheimnis für den Reichtum Suakins beruhte auf einer Kalkulation für dessen Sollseite Andere mit Verzweiflung und Tränen aufkamen. Ganze Dörfer und Stämme zogen in Hand- und Fußeisen an Ketten geschmiedet durch seine prächtigen Strassen zur Verladung in die Schiffe, überfallen und wie Vieh zusammengetrieben oder auch von eigenen skrupellosen Fürsten verschachert. Die, die solches taten und auch am Ende unter dem Schlussstrich den Profit zusammenzählten, sie saßen in Suakin und jenseits des Roten Meeres.
„Biläd As-Sudan“,
Land der Schwarzen, wie die Araber es nannten, musste über die Jahrhunderte ein schier endloses Menschenopfer erbringen. Unvorstellbare, ohnmächtige Wut muss sich an diesem Ort angesammelt haben, Schicksale, die nicht zur Ruhe gelangen konnten.- Nur mit Dschinns hatte das nichts zu tun, die waren etwas ganz anderes. Doch davon wusste ich zu dieser Zeit noch nichts.
Winzige, kaum sichtbare Geister ganz anderer Art waren dazu bestimmt das vorgesehene Schicksal dieser reichen Stadt zu vollstrecken. Korallen mauerten langsam, aber unabwendbar die enge Passage zum offenen Meer zu. Immer kleinere Schiffe nur noch gelangten hindurch. Von 1904 bis 1908 wurde sechzig Kilometer weiter nördlich in einem bisher unbewohnten Küstenstreifen ein neuer Hafen und eine Stadt angelegt: Port Sudan. Eine Eisenbahnlinie von dort nach Khartoum machte die Entscheidung entgültig. Suakin war nur noch verblieben zu sterben. Nach und nach floh die Bevölkerung diesen offensichtlich verfluchten Ort. Lautlos und unaufhaltsam arbeitete die Zeit an seiner Auflösung.
Alle zugleich hielten wir im Schritt inne, wie festgefroren im Augenblick der Bewegung und blickten uns fragend an. Es bedurfte keiner Worte, jeder sah, auch die Anderen hatten es gehört: Ein schleifendes Geräusch, metallisch wie von Ketten und ein Tapsen wie von Schritten. Bildeten wir uns das nur ein? Gar zu prompt war es unseren Gedanken gefolgt. Ja, zugegeben, der Ort hatte etwas Unheimliches und das Gerede über Geister tat das seinige dazu. Aber so weit sollte es nicht kommen, dass wir uns gehen ließen und uns selber etwas vormachten. Diese Appelle an die Vernunft wurden unterbrochen durch eine erneute Folge der gleichen Geräusche. Nun ja, erklärten wir uns selber, wir waren wohl schon so an die Stille gewohnt, dass etwas so natürliches wie Schritte uns als unnatürlich erschienen. Gut, aber was war mit den Ketten? So sehr wir auch versuchten uns zusammen zu nehmen, das Geräusch setzte sich fort, zeigte keine Reaktion auf die plötzliche Stille unsererseits. Wir sprachen leise. Es schlurfte und tapste weiter, in einer bestimmten Folge, einer Art Rhythmus. Wir versuchten dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Endlich hinter einer umgefallenen Mauer auf der Rückseite war uns ein Einblick in das Gebäude gewährt. Es war leer und nur mit einem Berg von Steinen in der Mitte angefüllt. Nach oben schaute man in den offenen Himmel. Die Ansätze ringsherum an den Innenmauern zeigten, wo Dach und Stockwerke durchgebrochen waren. Auf diesem Geröll stapften einige Ziegen herum und mümmelten an den unmöglichsten Materialien, immer drei, vier Schritte vorantapsend und eine Kette hinter sich herschleifend. Aber wie kamen diese Ziegen hierher, und wem mochten sie gehören? Unsere Rufe blieben wieder unbeantwortet. Die Ketten waren nicht angepflockt, möglich wäre also auch, dass sich die Tiere irgendwo am Festland losgerissen hatten.
Also wieder nichts mit Dschinns? Jedem ist dieses ganz bestimmte Gefühl im Nacken bekannt, beobachtet zu werden. Dreht man sich schnell genug um, so ertappt man den fixierenden Blick. Dabei folgt man mehr einer schwer zu beschreibenden plötzlichen Intuition als einer bewussten Wahrnehmung. Gleichwie es funktioniert. Hier blieb noch so rasches Umdrehen ergebnislos. Nur wurden wir dieses mulmige Gefühl im Nacken nicht los. Wir rätselten darüber:
„Gut möglich, dass hier Menschen Unterschlupf fanden, die Gründe haben, nicht gesehen werden zu wollen.“
„Wenn dem so ist“,
überlegte O-Chang,
„dann wäre gut denkbar, dass sie auch das ihre dazu getan haben, andere an Dschinns glauben zu lassen.“
„Das hieße für uns auf der Hut zu sein. Wenigstens wissen die Fischer Bescheid und würden die Polizei benachrichtigen.“
„Hast du schon ’mal überlegt, wo eine ist? Wahrscheinlich wäre die nächste in Port Sudan, und bis die hier ist, das kann dauern.“
Leere und Stille wollten auch uns glauben lassen, wir wären abgesehen von einigen Ziegen die einzigen Lebewesen in dieser Stadt. Nichts anderes war zu hören, als das gelegentliche Knacken alter Gemäuer und das Stöhnen des Windes, keinerlei Anzeichen, sei es von Mensch oder Dschinn.
„He, seht mal“,
rief Bernd aufgeregt. Als wir uns umdrehten, war nichts zu sehen, die Erscheinung offenbar schon verschwunden. Jedenfalls behauptete unser Freund eine nahe vorbeisegelnde Dhau gesehen zu haben, das Deck eng gedrängt voller Menschen. Sie wäre für einen Moment am Ende der Straße aufgetaucht, fast schon die Häuser streifend, hinter denen sie sofort wieder verschwand. Als wir dann endlich, über mehrere Steinhaufen kletternd, am Ende der Straße angelangt waren, sahen wir tatsächlich nur einen Steinwurf entfernt eine Dhau. Ruhig und verlassen dümpelte sie auf dem Wasser, am Kai vertäut, als läge sie hier schon lange. Nur, kein Mensch war zu sehen. Wir traten näher heran, riefen hinüber und in die gegenüberliegender Häuser, die ebenso fest verschlossen waren wie alle anderen. Nichts rührte sich, kein Laut war zu hören. Wir schauten Bernd an.
„Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Sie war zumindest auf dem Deck brechend voll mit Menschen.“
Er ereiferte sich:
„Außerdem könnte die doch nie allein hier anlegen und festmachen. Da muss wenigstens einer am Ruder sein, einer mit dem Tampen an Land springen.“
„Ist gut, Bernd, wissen wir und glauben wir dir. - Nur wo sind die alle so plötzlich geblieben?“
Auch weiteres Suchen und Rufen brachte keine Lösung dieses Rätsels. An Bord unter Deck waren diese Menschen jedenfalls nicht mehr, soweit konnte man durch die Luken sehen. Die Dhau lag direkt am Ufer und man hatte an mehreren Stellen guten Einblick in den Innenraum. Es war keine Planke zum Kai gelegt. Die einzige Verbindung war das Seil, mit dem sie angetäut war. Wir hätten daran hinüber hanteln können, verzichteten aber auf diesen etwas akrobatischen Akt, denn wir waren uns sicher, dass sich niemand mehr an Bord befand. Schließlich würde man von so vielen Menschen auch irgendwelche Geräusche hören. Nur wo waren sie? Sie müssten alle in Windeseile an Land gegangen sein. Ja und, was dann? Und überhaupt, wozu diese ungewöhnliche Eile? Nach Bernds Schätzung müssten es etwa zwanzig Personen gewesen sein. Wir überlegten: Weggefahren könnten sie nicht sein, dazu waren die Gassen an vielen Stellen entschieden zu eng und teilweise auch noch durch Schutt und einstürzendes Mauerwerk blockiert. Außerdem hätten wir in dieser Stille jedes Motorgeräusch gehört. Das galt auch für ein eventuelles Motorboot. Selbst zu Fuß könnten sie kaum so schnell und geräuschlos verschwunden sein. Sie hatten sich einfach in Luft aufgelöst. Gut, wir werden auf alle Fälle bei unserer Rückkehr die Fischer fragen, schließlich haben die den einzigen Zugang im Auge. Seltsam, wir waren uns sicher, dass wir dort nichts erfahren würden. Eigentlich blieb allein die Möglichkeit, dass alle ziemlich hastig in einem der nächstgelegenen Häuser verschwunden waren. Nur warum diese Eile und dieses sich verbergen? Kein Laut drang aus den fest verschlossenen Mauern. O-Chang sagte, was wir alle dachten: „Genau betrachtet lässt dieses Rätsel nur eine Erklärung zu: Irgendwer hatte da etwas zu verbergen und nicht mit unserer Anwesenheit gerechnet, meinte vermutlich, wir hätten schon viel zu viel gesehen.“
„Ein Geisterschiff voll mit Dschinns, die sich jetzt schnell unsichtbar machen",
spottete Bernd.
„Sehr witzig! Vielleicht war es sogar unser Glück, dass wir nicht mehr gesehen haben. Lasst uns lieber eilen, dass wir weiter kommen!“
Dennoch die Dhau voller Menschen, die so unerklärlich schnell verschwunden waren, hatten wir damit nicht abgeschüttelt.
Am anderen Ende setzten wir uns auf die warmen Kantsteine der Kaimauer und ließen den Blick über das Wasser gleiten. Eine Durchfahrt zwischen zwei flachen, kargen Sandzungen war zu sehen, dahinter das offene Meer. „Tor der Tränen“,
wie immer noch der Ausgang des Roten Meeres genannt wurde, wäre für diesen ebenso zutreffend. Wir starrten auf das glasklare Wasser. Vermutlich hingen wir alle vier ähnlichen Gedanken nach, über das Auf und Ab des Schicksals, bei Städten nicht anders als bei Individuen. Was immer wir hier erwartet hatten, es trat nicht in Erscheinung.
„Wenn möglicherweise irgendwer hinter den Gerüchten stecken mochte, so hielt er sich gut bedeckt“,
sinnierte Hermann.
„Auch wenn wenn hier vielleicht seltsame Dinge vor sich gehen, Geister bleiben, zumindest vorerst und für uns, das was sie schon immer waren: nichts als Projektionen.“
„Es sei denn, man sieht sie weniger persönlich, dafür aber als Personifikationen von etwas ganz anderem“,
warf ich ein.
„So wie gewisse Projekte, bei denen man nicht umdenken kann?“
„Du sagst es.“
Derlei Gedanken kamen an diesem Ort ungerufen. Sie kamen auf leichten Füßen und scheinbar von nirgendwo, wie die kleinen Wellen unter herab baumelnden Beinen, die beschwingt und glucksend gegen den dicken Muschelbelag der Ufersteine schwappten. Es war dieses Stillsitzen, an nichts denken und nur die Bewegung des Wassers betrachten, was es diesen leichten Gedankenwellen ermöglichte mich zu erreichen. Der Zeitpunkt schien angebracht, die Suche nach einer gewissen Sorte anderer Geister fortzusetzen. Kindisch und nach einem nicht gerade bewährten Verhaltensmuster hatte ich mich in dieser Unternehmung festgefahren. Als sie nicht ablaufen wollte wie geplant, war ich mit geschlossenen Augen losgerannt und mit dem Kopf durch die Wand, nichts anderes in der Hand als die Hoffnung, diese Wand möge dünn genug sein. Daumen drücken allein hatte sich als nicht ausreichend erwiesen. Jetzt saß ich mit dem Kopf in der Wand fest. Die bewaffneten Kamelreiter hatten uns zu der Grenzstation Halaib gebracht. Auch wenn die anfängliche Aufregung sich bald gelegt hatte, so bestand kein Zweifel, dass wir wegen illegaler Einreise verhaftet waren. Nach Port Sudan gebracht und dem dortigen Kommandanten vorgeführt, drohte uns eine Anklage und womöglich ein Aufenthalt in hiesigen Gefängnissen, von denen es hiess, dass nur wenige sie wieder gesund verliessen. Anschließend würde man uns dorthin abschieben, wo wir vor vierzehn Tagen schon einmal waren. Höchste Zeit selber zu handeln!
Während der Wartetage auf eine Entscheidung hatte man uns diesen Ausflug gestattet, unsere Pässe in Verwahrung und wohl wissend, dass nach diesen sechzig Kilometern, ohnehin der einzige Weg zurück nach Port Sudan führte. Wir standen vor so etwas wie einem Wächter, dem wir nicht das richtige Losungswort präsentieren konnten. Bei ihm lag es, uns passieren zu lassen, zurückzuweisen oder auch einzukerkern. Gründe genug, den Mann, an dem wir vorbei mussten etwas näher in Augenschein zu nehmen. Erfreulicherweise konnte man sagen, wir waren uns eher sympathisch. Das würde die Sache angenehmer machen, aber keineswegs leichter. Schließlich hatte er keine Veranlassung Position und Karriere auch nur für einen Moment aus den Augen zu verlieren. Darüber hinaus schien er geleitet von ehrlichem Engagement für sein Land. Korrektheit und Fairness bedeuteten ihm offenbar etwas und ließen ebenso wie sein geschliffenes Englisch eine britische Ausbildung vermuten.
„Vor allem die Drohung einer Anklage muss vom Tisch“,
unterbrach 0-Chang meine Überlegungen, der offensichtlich gerade an das gleiche dachte.
„Wenn uns das nicht in den nächsten Tagen gelingt, sollten wir unsere Botschaft informieren und um die Vermittlung eines Anwalts bitten.“
„Übrigens“,
mischte sich Bernd ein,
„unser nicht mehr ganz neuer Wagen macht mir Sorgen. Die Strapazen des Wüstentrips haben ihre Spuren hinterlassen. Genaues kann ich erst sagen, wenn ich ihn in einer Werkstatt mit Hebebühne oder Arbeitsgraben gründlich angesehen habe. Nur eines möchte ich jetzt schon bezweifeln, solch ein Programm, wie wir es uns vorgenommen haben, wird er kaum bewältigen.“
„Das wäre ein Grund mehr zum Umdenken, aber auch, um das Ansinnen einer Rückfahrt über 350 Kilometer Wüste bis Marsa Alam mit ehrlicher Überzeugung zurückzuweisen.“