Dirk Husemann

Kalkriese – Ort der Varusschlacht?

Campus Verlag
Frankfurt/New York

Über das Buch

Was haben Getränkedosen, Nägel und Kronkorken mit der legendären Varusschlacht zu tun? Was sucht ein britischer Offizier und Hobby-Archäologe im tiefsten Niedersachsen? Und weshalb gelten drei bonbonförmige Bleikugeln vielen heute als einer der bedeutendsten Funde in der jüngeren Altertumsforschung? Dirk Husemann hat die Antworten.

Dieses E-Book ist Teil der digitalen Reihe »Campus Kaleidoskop«. Erfahren Sie mehr auf www.campus.de/kaleidoskop

Über den Autor

Dirk Husemann

Dirk Husemann, geboren 1965, ist Archäologe und Historiker. Seit vielen Jahren ist er als freier Autor und Journalist, unter anderem für Spektrum der Wissenschaft, GEO und Spiegel Online, tätig. Bei Campus erschienen bislang von ihm »Die Neandertaler« (2005), »Spiele, Siege und Skandale« (2007) und »Der Sturz des Römischen Adlers« (2008). Dirk Husemann lebt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Ort des Geschehens in Ostbevern bei Münster.

Inhalt

Die Schlacht um die Varusschlacht

Die kleinen Funde von Kalkriese

Eine millionenschwere Rostlaube

Ein Gesicht aus Eisen

Grabenkämpfe um eine Wallanlage

Ein Maultier spuckt große Töne

Knochenarbeit im Kalksteingrab

Die Wahrheit für bare Münze

Preisschild oder Varusbeweis

Silberstreif am Fundhorizont

Illegale Archäologie

Das Schlachtfeld – eine Spielwiese für Archäologen

Die verlorenen Legionen vom Little Bighorn

Kulturwissenschaftliches Minenfeld

Archäologen zwischen den Stühlen

Campus Kaleidoskop

Impressum

Die Schlacht um die Varusschlacht

Die Varusschlacht ist ein Mythos. Der Kampf der Germanen und Römer ist in einem jahrhundertelangen Prozess aus seinem historischen Kontext gehoben und in ein Zeichen verwandelt worden. Dieses Varus-Zeichen hat im Laufe der Rezeptionsgeschichte verschiedene Formen angenommen, es zeigte sich lokalpatriotisch als Vehikel der Heimatforscher, es flatterte nationalistisch an den Fahnenstangen der Deutschtümelnden. Doch gerade hier entlarvt sich der Varus der Neuzeit als Ungeheuer, das sich von den Ketten der Historizität losgerissen hat und ein Eigenleben führt – im Dienst der jeweils aktuellen Ideologie.

Heute hat die Varusschlacht als Heldentat im Namen der Nation ausgedient, nach wie vor aber belebt der Mythos das Fantasiespiel von Varus und Arminius neu. An die Stelle des nationalpathetischen Sentiments ist der kriminalistische Nervenkitzel des historischen Rätsels getreten. Wo und wie schlugen die Germanen die Römer? Es gibt keine Augenzeugenberichte, und die Krümel der Geschichte, welche die Archäologen dem Boden bei Kalkriese entlocken, sind nur in der Sprache der Wissenschaft verständlich. Trotzdem findet die Diskussion für und wider Kalkriese nur zum Teil auf dem Boden der Tatsachen statt. Meist stehen die Kombattanten wie einst Römer und Germanen knietief im Morast unhaltbarer Anschuldigungen. Im Sommer 2007 erstattete ein Unbekannter Anzeige gegen die Kalkrieser Museumsleitung, weil dort angeblich Informationen zurückgehalten worden waren, die den Anspruch Kalkrieses als Schlachtort hinfällig gemacht hätten. Die Anzeige, die nicht weiter verfolgt wurde, ist ein Beispiel für die Vehemenz, mit der noch heute um die Varusschlacht gerungen wird. Das überrascht – unter mehreren Hundert verdächtigen Orten ist Kalkriese der einzige, auf dem Beweise für ein antikes Schlachtfeld erbracht werden können. Das Bedürfnis, trotz der Indizienlage mit großen Gesten gegen Wissenschaft zu wettern, entsteht aus Unwissenschaftlichkeit. Motor dieser Schlacht um die Schlacht bleibt die Lust am Mythos. Denn in dem Augenblick, in dem Kalkriese die Legende um die Varusschlacht unzweifelhaft in die Realität überführt, entzieht sie dem Mythos den Nährboden. Der Streit um den Ort der Varusschlacht ist auf seriöser Seite eine Argumentation unter Historikern, abseits davon der Kampf um den Fortbestand einer Legende.

Was geschähe, wenn Varus und Arminius ihre Stammplätze in den Köpfen der Deutschen verlassen würden, zeigt die Arbeit der Archäologen vor Ort. In zwanzigjähriger Forschungsarbeit haben die Grabungsteams in Kalkriese den wahren Schatz des Varus schon lange gehoben, unbemerkt hinter dem laut geführten Etikettenstreit um Mythos, Wahrheit und Forschungsgelder. Die Schlachtfeldarchäologie ist im Begriff, eine neue Facette der Altertumsforschung zu werden, die aus ihr zu gewinnenden Erkenntnisse öffnen Einblicke in Leben, Sterben und Kultur der Menschen in der Vergangenheit. So eng die Grenze der Varusdiskussion ist, so weit öffnet sich der Horizont der Kulturwissenschaftler auf der Grabungsfläche. Hier zeigt die Varusschlacht ihre moderne Bedeutung, nicht als blutige Ursuppe der Deutschen, sondern als Quelle, aus der Geschichte sprudelt.

Die kleinen Funde von Kalkriese

Ausgrabungen im Osnabrücker Land brachten Anfang der 1990er Jahre eine Handvoll Artefakte ans Tageslicht. Genügen eine Eisenkette, Münzen und eine Gesichtsmaske, um Arminius endlich dingfest zu machen?

Wenn sich Wolfgang Schlüter heute an seine erste Begegnung mit Tony Clunn erinnert, fallen ihm die vielen Folgen ein, die aus dem Treffen erwachsen sollten. Folgen »für die wissenschaftliche Erforschung der römisch-germanischen Auseinandersetzungen in den Jahrzehnten um Christi Geburt«, Folgen »für das kulturelle Selbstverständnis«, Folgen »für die touristische Attraktivität der Region Osnabrück«, Folgen »für viele heute auf die ein oder andere Weise mit dem Projekt ›Kalkriese‹ verbundenen Menschen«. Dabei begann alles ganz unscheinbar mit einem merkwürdigen Hobby und einem Berg Schrott.

Das war im Frühjahr 1987. Damals tauchte ein britischer Offizier im Büro des Stadt- und Kreisarchäologen Schlüter auf und fragte nach einer Genehmigung zur Schatzsuche. Der Mann hieß Tony Clunn und war damals »noch schlank und Leutnant«, erinnert sich Schlüter. Mit dem Metalldetektor wollte Clunn nach römischen Münzen suchen, die schon des Öfteren in der Region um Kalkriese entdeckt worden waren. Von der Varusschlacht war noch keine Rede. Clunn war Hobbyarchäologe und in seiner Heimat England ebenfalls gern mit dem Detektor unterwegs. »Solche Geräte hatten wir in den Ämtern damals noch gar nicht«, sagt Schlüter. Für ihn war Clunn ein Exot, aber er wirkte seriös. »Allein schon die Tatsache, dass er, bevor er etwas unternahm, um eine Genehmigung nachsuchte, sprach für ihn«, sagt Schlüter heute. Er stellte dem Offizier eine Genehmigung zur Münzsuche aus, drückte ihm Landkarten mit Fundverteilungen in die Hand und wünschte viel Glück.

Als Stadt- und Kreisarchäologe war Schlüter immer wieder mit den Schändungen geschichtsträchtigen Bodens konfrontiert, den Wunden, die Schatzsucher mit dem Klappspaten nachts in Grabhügel der Bronzezeit stechen oder mit Spitzhacken in die Fundamente römischer Villen schlagen. Den meisten illegalen Bodenschnüfflern geht es ums Geld. Eine römische Kupfermünze lässt sich schnell versilbern und bringt im Online-Auktionshaus einen Euro, ein Steinbeil bringt es auf 150 Euro. An der Universität Mainz errechnete der Frühgeschichtler Peter Haupt, dass ein Sondengänger im Monat bis zu 2 000 Euro erwirtschaften kann, wenn er regelmäßig Nacht für Nacht in Grund und Boden wühlt. Der Schaden, den die Nacht- und Nebelaktionisten in der Geschichtsforschung anrichten, lässt sich mit Geld nicht aufwiegen.

Tony Clunn blieb auf dem offiziellen Weg. An Wochenenden kämmte er die Felder um Kalkriese ab und wirkte mit seinem Lederhut auf dem Kopf und dem Metalldetektor in der Hand wie ein Wanderer mit einem Spazierstock aus dem Designladen. Den schwenkte der Brite stundenlang gemächlich über den Boden, während er systematisch die Flächen abging, die ihm vielversprechend erschienen. Das bloße Auge war blind: Seit 1900 betrieben die Bauern der Region Plaggenwirtschaft und deckten mit einem etwa 50 Zentimeter mächtigen Humusauftrag den Boden ab. Was darunter lag, wurde gleichsam konserviert wie verborgen. Ohne technische Hilfsmittel ging hier nichts.

Die Arbeit mit dem Suchgerät ist so aufregend wie zermürbend. Ständig sendet der Oszillator einen Piepston durch die Kopfhörer, der höher oder tiefer wird, wenn die Schwingungen des Detektors im Boden auf Widerstand treffen. Erreicht der Ton eine tiefe Frequenz, wird der geübte Sondengänger hellhörig. Nun heißt es nachsehen, ob Lohnenswertes im Boden steckt. Tief graben muss der Fündige nicht, die Geräte erreichen kaum Tiefen von mehr als einem Meter. Nur Grobiane bringen sofort den Klappspaten zum Einsatz. Das scharfe Blatt kann eine römische Münze mit dem Konterfei des Kaisers Augustus sofort in Stücke reißen. Stattdessen scharrt der umsichtige Sondengänger vorsichtig mit dem Spachtel das Erdreich beiseite, hilft mit den Fingern nach und wühlt solange zwischen Wurzeln und Würmern, bis er auf etwas Hartes stößt. In den meisten Fällen entpuppt sich der Schatz als Enttäuschung. Matchboxautos, Metallrohre, Nägel und Getränkedosen aus der Zeit vor der Einführung des Dosenpfands machen den Großteil der Entdeckungen aus. Der Metalldetektor unterscheidet nicht zwischen Schatz und Schrott, Sondengehen heißt, mit Enttäuschungen leben zu können. Nur der Hartnäckige ist erfolgreich.

Tony Clunn musste einstecken: viele Rückschläge und viel Altmetall. »Er ging meist an Wochenenden über die Felder«, so Schlüter, »und brachte mir montags immer seine Ausbeute ins Büro: kistenweise Schrott.« Aber allen Blechbüchsen und Kronenkorken zum Trotz blieb der Brite am Ball. Denn in den Aufzeichnungen Schlüters hatte er einen Hinweis entdeckt und sich mit dem Varusfieber infiziert. Tony Clunn wurde zum Geschichtsdetektiv.

Der britische Offizier begegnete dem deutschen Gelehrten Theodor Mommsen. Der war seit 1903 tot, aber seine Gedanken waren in seinen Schriften durchaus lebendig. Mommsen war auf die römischen Münzen aufmerksam geworden, die von Landarbeitern des Gutes Barenau bei Kalkriese entdeckt worden waren. Er hielt sowohl die Region als auch die Funde für mögliche Hinweise auf die Varusschlacht. Aber Mommsen lebte und dachte in Berlin. Statt selbst die mühselige Kutschfahrt auf sich zu nehmen, schickte der Gelehrte 1884 einen Münzforscher nach Barenau und verließ sich auf dessen Urteil. Nie aber war Mommsen selbst vor Ort, um seinen Geistesblitz zu überprüfen. In diesem Punkt hatte Clunn dem Nobelpreisträger etwas Entscheidendes voraus.

Er habe die Quellen studiert und wolle einen Versuch starten, meinte Clunn. Schlüter blieb skeptisch. Zu Recht. In diesen Tagen war die Varusschlacht ein Treppenwitz der Weltgeschichte, der verlorene Schlachtort ein Tummelplatz für Scharlatane, Schatzsucher und Nationalisten. »Wenn überhaupt«, so Schlüter, »würde er noch römische Goldmünzen des Wiehengebirgshorizonts der zweiten Hälfte des 4. und des frühen 5. Jahrhunderts finden.« Solche Funde gab es wie Sand am Meer, sie wurden noch 300 Jahre nach der Massenschlacht zwischen Römern und Germanen geprägt. Für Wolfgang Schlüter und seine Kollegen war Tony Clunn nur ein weiterer Schatzjäger im Varusfieber, der sich einbildete, etwas entdecken zu können, was Generationen von Forschern verborgen geblieben war.