BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manuel Prieto/Norma
eBook-Produktion:
César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5441-6
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Stampedenreiter
1
Es war etwa sechs Wochen nach Kriegsende – also im Juni 1865 – als sie uns aus dem Gefangenenlager jagten und uns sagten, dass wir verdammte Hurensöhne seien, die man eigentlich aufhängen müsse.
Aber so ist das nun mal, wenn man den Krieg verloren hat. Dabei hatten wir in der großen Schlacht um Atlanta wie die Teufel gekämpft. Am Tunnel Hill, durch den der Schienenstrang führte, waren wir am 8. Mai 1864 in Gefangenschaft geraten. Und dann war mehr als ein Jahr vergangen in einem Gefangenenlager nahe bei Atlanta, wo Major Ezard Willow herrschte wie ein grausamer Despot.
Nun saß er auf seinem herrlichen Rotfuchs und sah zu, wie seine Männer uns aus dem Lager trieben, so als müssten sie sich von der Pest oder einer anderen Seuche befreien. Es war ein grausamer Hass zwischen Besiegten und Siegern.
Denn die Unionssoldaten waren die Gerechten, die Guten und die Sklavenbefreier. Wir aber waren die verdammten Rebellen, denen man alles Leid anlastete, das während des Krieges verübt worden war.
Wir hatten die zerstörte Bahnlinie wieder instandsetzen müssen. Es war eine harte Knochenarbeit, doch das wäre zu ertragen gewesen, hätte man uns genug zu essen gegeben. Aber wir hungerten die vielen Wochen und Monate und zogen nun ausgemergelt und krank in die Freiheit – ein elender Haufen von Verlierern.
Als wir an diesem Major Ezard Willow vorbeistolperten, da spürten wir noch einmal seinen ganzen Hass. Ja, er hasste uns, weil seine Familie von Guerillas des Südens ausgerottet wurde, und er übertrug diesen Hass auf den ganzen Süden.
Chet und ich, wir schleppten unseren Bruder Mike zwischen uns, denn Mike war zu schwach, um allein laufen zu können. Er hatte die letzte Woche in Dunkelhaft gesessen und nur manchmal eine dünne Wassersuppe bekommen. Nun war er zu schwach.
Wir mussten ihn also zwischen uns mitschleppen, obwohl wir selbst kaum laufen konnten. Wir waren die letzten Gefangenen des armseligen Zuges, der in die Freiheit stolperte.
Am großen Ausgangstor stand die Lagerwache, darunter auch Master-Sergeant Mallone, der so manchem von uns mit einem Knüppel die Knochen gebrochen hatte, nur weil ihm das einen sadistischen Spaß bereitete.
Der Major hatte sich seine Leute gut ausgesucht. Wer ihm zu human gegenüber den Gefangenen war, wurde schnell wieder ausgetauscht. Als wir an Sergeant Mallone vorbeimussten, da trat er mir kräftig in den Hintern und rief uns hinterher: »Ihr verdammten Kilbourne-Brüder, euch hätte ich auch noch kleinbekommen, euch auch, ihr Läusefresser!«
Wir erwiderten nichts, denn wir wussten, er wartete nur darauf.
Mit unserem Bruder Mike in unserer Mitte schafften wir es an diesem Tag noch etwa drei Meilen und blieben immer weiter zurück, bis wir auf der staubigen Wagenstraße neben dem Bahndamm allein waren.
Es war später Nachmittag, fast schon Abend, als wir anhielten, um ausruhen zu können. Der Hunger fraß in uns, so als wollte er uns von innen her aufzehren wie böse Nager, die in uns gekrochen waren.
Mike fluchte fast tonlos und sagte dann: »Was haben die aus uns gemacht? Ich wette, dieser Major hatte Anweisung, uns ehrenhaft aus der Gefangenschaft zu entlassen und uns auch auszurüsten mit den notwendigsten Dingen an Ausrüstung und Proviant. Gewiss hätten wir auch ein Entlassungsgeld bekommen müssen. Dieser Hurensohn von Major hat gewiss gegen alle Anordnungen gehandelt. Er ist ein Bandit, ein ehrloser Offizier. Ich will seinen Skalp, verdammt, ich will seinen Skalp! Was hat er nicht in diesem Jahr alles auf sein Gewissen geladen, dieser Menschenschinder.«
Chet und ich, wir nickten nur stumm, indes wir im Grase lagen und auf die sinkende Sonne im Westen starrten.
Wir befanden uns noch Georgia, und bis nach Tennessee, wo wir daheim waren, waren es noch etwa dreihundert Meilen.
Dreihundert Meilen!
Früher hätten wir sie in drei Tagen reiten können.
Doch jetzt zu Fuß in unserem Zustand kamen sie uns so weit vor wie bis hinauf zum Mond.
Ein Wagen näherte sich aus einem Waldstück auf einem Weg, der dicht bei uns auf die Wagenstraße einmündete. Es war ein leichter Viersitzer, richtig nobel mit Ledersitzen und einem Faltdach. Davor trabte ein prächtiges Rappengespann.
Im Wagen aber saßen vier Frauen. Als der Wagen näher kam, sahen wir, dass sie jung und reizvoll waren.
Und dann erkannten wir sie, erinnerten uns an sie.
Denn vor mehr als einem Jahr, als Atlanta noch nicht von den Yanks zerstört war, da verkehrten wir in jenem Etablissement, in dem man sich bei ihnen vergnügen konnte, weil dort alle Sünden zu kaufen waren.
Nach uns hatten sich dann die Yanks dort verwöhnen lassen.
So war das nun mal. Diese Mädchen lebten von der Lust der Männer.
Der Wagen hielt nun neben uns.
Ich fragte: »Na, habt ihr einen Ausflug gemacht, um mal wieder reine Luft zu atmen und die Düfte des Landes zu wittern, ihr Schönen aus Mollys Pussycats House? Gibt es das Paradies von Atlanta City eigentlich noch?«
Sie sahen zu uns her. Wir hatten uns nun im Gras aufgesetzt.
Eine, deren Namen Rosy war, fragte: »Kennen wir uns? Ihr kommt mir so bekannt vor. Könnte es sein, dass ihr die Kilbourne-Brüder seid, die wir einige Male zu Gast hatten und die uns damals eine ganze Wagenladung echten Bourbon aus Kentucky verschafften?«
Sie fragte etwas zweifelnd.
Ich aber erwiderte: »Rosy, an mich kannst du dich gewiss erinnern. Du sagtest einmal, dass ich der beste Mann gewesen sei, den du bisher in deinem Bett gehabt hättest und dass ich fortan von dir alles umsonst bekommen könnte. Leider habe ich dein großzügiges Angebot nicht mehr ausnützen können. Und jetzt bin ich zu krank und von oben bis unten voller Läuse.«
»Aha«, sagte Rosy und nickte. »Ja, jetzt erkenne ich dich wieder. Das war vor mehr als einem Jahr. Du bist dieser Sergeant Joshua Kilbourne. Nach euch kamen die Yanks. Tut mir leid, dass es euch nun so schlecht geht – wirklich.«
Sie kletterte aus dem Wagen und trat zum hinteren Gepäckkasten. Auch die anderen drei Mädchen taten es. Und dann brachten sie uns Decken und einen noch halb gefüllten Picknickkorb.
»Zum Glück haben wir auf unserem Ausflug nicht alles aufgegessen, was uns der Koch mitgab«, sagte Sally und lächelte.
»Ihr tut uns wirklich mächtig leid«, sprach Jenny.
Und Goldie nickte heftig und sagte dann: »Verdammter Krieg.«
Wir aber sagten nichts, denn wir räumten den Korb aus und begannen zu essen.
Nein, wir schlangen nicht, wir aßen langsam. Denn wir waren wahrhaftig keine primitiven Dummköpfe trotz unseres gewaltigen Hungers.
Die vier Süßen aus Mollys Pussycats House aber hockten sich zu uns und sahen zu, wie es uns schmeckte. Oha, es waren köstliche Sachen, die wir da verputzen konnten, gebratene Hühnerschenkel zum Beispiel, Weißbrot, Käse, Pasteten, Würste, Eier, Obst, alles Dinge, die wir schon ewig lange nicht mehr bekamen, nicht mal mehr bei der Truppe vor unserer Gefangenschaft.
Diese Mädchen lebten gut.
Doch das war wohl schon immer so auf unserer Erde seit Adam und Eva.
Es entwickelte sich dann zwischen uns eine freundliche Unterhaltung. Wir taten ihnen leid, und so benahmen sie sich wie mitfühlende Schwestern gegenüber vom Pech verfolgten Brüdern.
Ich fragte schließlich: »Gibt es das Pussycats House noch? Wurde es damals nicht zerstört, als Atlanta brannte und kein Stein mehr auf dem anderen blieb?«
Sie wurden alle vier plötzlich sehr ernst, wirkten dankbar und geradezu feierlich. Ja, Rosy und Goldie sandten sogar Blicke gen Himmel, als würden sie beten.
Dann sagte Jenny: »Der Himmel hat uns und unser Haus beschützt. Es wurde nur ein wenig beschädigt. Das Dach brannte, aber das konnten wir löschen. Und als dann die Yanks kamen und bei uns Vergnügen suchten, da waren wir bald aus dem Gröbsten raus. Binnen weniger Wochen war unser Haus wieder wie neu. Ich glaube, es war das erste Haus am Rande von Atlanta, das wieder repariert und instandgesetzt wurde.«
Als sie verstummte, sahen wir Kilbourne-Brüder uns an und vergaßen sogar das Kauen. Aber dann begannen wir zu lachen. Chet sagte: »So ist die Welt, oho, so ist sie nun mal! Ja, ihr Süßen, wir gönnen euch das alles! Warum auch nicht! Wir würden euch gerne mal besuchen und drei Tage und drei Nächte bei euch weilen. Aber das geht wohl leider nicht, selbst wenn wir vorher baden, unsere Läuse loswerden könnten und auch etwas zu Kräften kämen. Und so bleibt uns wohl jetzt nur noch übrig, euch für eure Mildtätigkeit zu danken.«
Sie sahen uns mitleidig an.
Gewiss machten wir einen erbarmungswürdigen Eindruck.
Rosy sagte: »Ihr wart damals für uns so etwas wie drei zweibeinige Tiger aus Tennessee, und alle drei hattet ihr die Sergeantenwinkel an den Ärmeln. Was haben die Yanks nur aus euch gemacht …«
»Es war der Major, dieser Ezard Willow«, knurrte ich. »Der hatte das Kommando im Gefangenenlager. Ihm waren wir ausgeliefert.«
»Ja, den kennen wir«, sprach Sally. »Der kommt oft zu uns mit seinen Offizieren und lässt sich verwöhnen. Die haben Geld wie Heu.«
Wir staunten.
Die Mädchen erhoben sich.
»Versteckt euch dort im Wald«, sagte Rosy. »Wir kommen morgen wieder und versorgen euch mit allen notwendigen Dingen. Ruht euch aus. Morgen wird es euch nach diesem Essen etwas besser gehen. Erwartet uns morgen um diese Zeit dort drüben am Waldrand, an dem schmalen Weg, der zu dieser Straße führt. Wir machen fast immer eine Spazierfahrt, um frische Luft zu atmen. Morgen also. Wir müssen jetzt weiter. Denn bei Nachteinbruch beginnt unsere Arbeit.«
Sie sagten tatsächlich ganz ernsthaft »Arbeit«.
Aber es war ja wohl auch so. Was sie taten, war eine mit Dollars bezahlte Dienstleistung, also Arbeit.
Sie fuhren davon.
Wir sahen ihnen nach. Die Dämmerung war von Osten her herangekrochen. Die Sicht wurde schlechter.
Mike sagte: »Vielleicht ist unsere Pechsträhne jetzt zu Ende – oder …«
Chet aber sprach langsam Wort für Wort: »Das Pussycats House … Der Major und dessen Offiziere sind dort oft zu Gast … Ihr habt es ja gehört.«
Er sprach die beiden ersten Sätze nicht bis zum letzten Wort, ließ es beim Anfang, aber wir wussten sofort, was er meinte.
Und dann knurrte Mike: »Wenn wir wieder etwas bei Kräften sind …«
Mehr brauchte auch er nicht zu sagen.
Denn Rosy hatte es vorhin ziemlich genau ausgedrückt: Wir waren drei zweibeinige Tiger aus Tennessee. Selbst der Major hatte uns nicht zerbrechen können. Und auch seine gnadenlosen Untergebenen nicht, von denen Sergeant Mallone der Schlimmste gewesen war.
Nun würden wir es ihm zurückzahlen, bevor wir aus Georgia verschwanden.
Verdammt, vielleicht war unsere Pechsträhne wirklich beendet.
***
Es vergingen drei Tage, und an jedem Nachmittag kamen die vier Süßen aus Mollys Pussycats House mit dem Wagen am Waldrand vorbei und brachten uns Kleidung, Ausrüstung, Waffen, Proviant und auch Geld.
Sie waren wirklich schwesterlich zu uns und wollten uns helfen.
Es war nur zu gut erklärlich, denn sie hatten uns als stolze Burschen gekannt – und dann zuletzt so erbärmlich heruntergekommen wiedergesehen, als wären aus drei stolzen Tigern armselige, kranke Hunde geworden.
Als sie am dritten Tag am Waldrand in der Abenddämmerung hielten und wir zu ihnen traten, da sagte Rosy: »Der Major … Dieser Ezard Willow … Er gibt heute bei uns eine Art Abschiedsfeier. Wie viele andere Offiziere wird auch er nun aus der Armee entlassen. Er war ja nur Major auf Kriegszeit. Er will mit seinen Offizieren bei uns den Abschied von der Armee feiern.«
Als sie verstummte, sprach Sally weiter: »Vielleicht interessiert euch das.«
»Und wie«, erwiderte Mike und fragte: »Wie weit ist es bis Atlanta?«
»Weniger als vier Meilen«, sprach Goldie. »Und von jetzt an kennen wir euch nicht mehr.«
Der Wagen fuhr mit ihnen an.
Wir starrten ihm nach, bis die Dämmerung ihn verschluckte.
Dann starrten wir auf die Sachen, die uns die Mädchen diesmal mitgebracht hatten. Wir würden alles tragen müssen, wenn wir uns auf den Weg nach Atlanta und zum Hurenhaus machten.
Chet sagte: »Ihr wisst ja, dass sie alle erstklassige Pferde reiten. Habt ihr etwas dagegen, wenn ich den Rotfuchs des Majors für mich reserviere?«
»Nein«, erwiderten Mike und ich zweistimmig.
Und dann sagte Mike: »Aber den Major reserviere ich für mich, verstanden?«
Wir nickten stumm in der zunehmenden Dunkelheit. Denn Mike hatte unserer Meinung nach wirklich das größte Anrecht auf Vergeltung und Genugtuung. Er hatte am meisten leiden müssen. Mike war rothaarig. Und er wirkte schon äußerlich wie ein Rebell. Dem Major hatte er einmal auf die Stiefel gespuckt und ihm gesagt, dass er eine Schande für die Unions-Armee sei. Von diesem Moment an musste er leiden. Bis zum letzten Tag hatte er in Einzelhaft in der Dunkelzelle gehockt wie ein Hund in einer Kiste.
Doch nun …
Wir waren jetzt gut ausgerüstet, trugen Zivilkleidung und waren auch gut bewaffnet. Während der letzten drei Tage ruhten wir uns aus und aßen viel. Die Säfte in unseren ausgemergelten Körpern verwandelten sich nun in Kräfte.
Für den Major würde es keine lustige Abschiedsfeier werden.
Als es Nacht geworden war, machten wir uns auf den Weg und verließen die Zweighütte, die wir uns im dichten Wald errichtet hatten.
Es wurde eine sehr dunkle Nacht.
Deshalb konnten wir nicht viel von der zerstörten Stadt Atlanta sehen. Sie war im vergangenen Juli in Schutt und Asche gelegt worden und noch längst nicht wieder aufgebaut in diesem einen Jahr. Wir sahen jedoch viele Lichter, die uns sagten, dass dort wieder eine ganze Menge Menschen lebten. Gewiss arbeiteten sie alle hart am Wiederaufbau.
Damals hieß es, dass Richmond in Virginia der Kopf der Konföderation des Südens wäre, Atlanta jedoch das Herz.
Als es zerstört wurde, war dies der Anfang vom Ende, und der Süden erhielt den Todesstoß.
Wir wussten es, als wir an dem großen Schutthaufen, der Atlanta immer noch war, vorbeimarschierten und uns dann etwa eine halbe Meile nördlich der Stadt einem Haus zuwandten, dessen Lichter uns in der dunklen Nacht den Weg wiesen.
Wahrscheinlich war Major Ezard Willow mit seiner Begleitung dort bereits eingetroffen und das Fest schon im Gange. Wir hatten unterwegs mehrmals Reiter auf der Wagenstraße in Richtung Atlanta reiten gehört.
In uns war eine kalte Gnadenlosigkeit, und wir wussten, dass wir wahrscheinlich die einzigen Gefangenen aus dem Lager waren, die vom Major und dessen Schergen nicht zerbrochen wurden. Alle anderen hatten sie geschafft, nur uns nicht. Und so war es gewiss unsere Pflicht, auch für alle anderen Genugtuung zu verlangen und ihn für seine Brutalität zur Rechenschaft zu ziehen.
Immer wieder hatten er und seine Männer uns verdammte Rebellen geschimpft.
Nun wollten wir wie Rebellen handeln.
2
Als wir in den Vorgarten kamen, sahen wir die Pferde im herausfallenden Lichtschein. Sie standen in einer Reihe an den Haltebalken vor den Wassertrögen. Gewiss waren sie auch gefüttert worden.
Von rechts tauchte der alte Neger auf, der auch schon vor einem Jahr für die Pferde der Gäste sorgte.
Er sagte: »Gentlemen, hier ist heute eine Feier. Das ganze Haus ist vermietet. Es tut mir leid, aber ich darf niemanden einlassen. Geschlossene Gesellschaft.«
Er sprach die letzten Worte sehr gewichtig und fügte warnend hinzu: »Major Willow, der Kommandant des Gefangenenlagers, ist drinnen mit seinen Offizieren.«
»Das passt uns gut«, erwiderte Mike. »Und dir, Bimbo, gebe ich den guten Rat, dich zu verkriechen und es wie die drei Affen zu machen, die nichts sehen, nichts hören und nichts reden. Verstanden? Oder kennst du diese drei Affen nicht?«
»Neineinein«, stotterte der Schwarze. Doch dann begehrte er auf: »Sir, mein Name ist nicht Bimbo. Ich bin Mister Marmaduke. Die Zeiten sind vorbei, da man jeden Schwarzen verächtlich Bimbo nennen konnte.«
»Das ist richtig, Mister Marmaduke«, erwiderte Mike ernst. »Deshalb entschuldige ich mich auch. Aber was glaubst du, Mister Marmaduke, wie man uns ein ganzes Jahr lang als Gefangene in diesem Lager genannt hat? Hau ab!«
Der Schwarze, dessen Haar weiß im herausfallenden Lichtschein leuchtete, sagte nichts mehr, sondern verschwand.
Wir ließen die Taschen und Beutel fallen, in denen wir unsere Siebensachen mitschleppten, und stiegen die vier Stufen zur Veranda empor, von der aus man in das Haus treten konnte.
Die Tür stand offen. Man hörte Stimmengewirr, Gelächter – und dann begann ein Klavier zu klimpern. Wir wussten, jetzt spielte die dicke Molly.
Wir kannten sie gut genug. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie auch für uns gespielt. Sie wog mehr als dreihundert Pfund, aber sie konnte spielen und singen wie ein Engel.
Sonst hatte sie alles fest hier unter Kontrolle und sorgte für ihre Mädchen wie eine Henne für ihre Kücken.
Als Chet zuerst eintreten wollte, tauchte ein Lieutenant vor ihm auf und wollte heraus. Er versuchte Chet zur Seite zu stoßen und knurrte dabei: »Verdammt, aus dem Weg mit dir!«
Obwohl über der Tür eine Lampe Lichtschein verbreitete, und mehrere Laternen die ganze Veranda ausleuchteten, erkannte uns dieser Lieutenant nicht.
Er hieß Bullog und war im Zivilberuf Gefängnisdirektor.
Aber er konnte uns auch nicht erkennen, denn wir hatten in einem Bach gebadet, uns rasiert, die Haare gestutzt und trugen gute Zivilkleidung.
Chet schlug ihm den Revolverlauf schräg über das Gesicht und brach ihm dabei gewiss das Nasenbein. Als Bullog zu Boden ging, schlug Chet nochmals zu, traf diesmal seinen Kopf von oben.
Aber so waren auch wir manchmal von unseren Wächtern behandelt worden, besonders von Sergeant Mallone, der nur mit einem Knüppel durch das Lager ging. Und wer ihn angegriffen oder sich auch nur gegen seine Schläge gewehrt hätte, der wäre von einem der Wachtürme aus erschossen worden.
Wir stiegen über Lieutenant Bullog hinweg, durchquerten die Diele und traten in den großen Gastraum, der wie ein nobler Saloon eingerichtet war. Hier konnten sich die Paare kennenlernen, bevor sie nach oben gingen.
Major Ezard Willow tanzte mit Sally zu den Klängen des Klaviers.
Die anderen Mädchen und die beiden anderen Lieutenants – es waren ebenfalls so miese Drecksäcke wie Lieutenant Bullog – standen im Kreis und klatschten mit den Händen.
Ja, es war ein Fest, das lärmend in Trunkenheit enden würde.
Molly sah uns vom Klavier her zuerst, dann aber auch Rosy und Jenny. Das Klavierspiel brach ab. Nun sahen sie alle zu uns.
Aber die Offiziere erkannten uns nicht, noch nicht. Der Major sagte böse: »Raus hier! Warum hat euch dieser verdammte Nigger überhaupt reingelassen?«
Oha, er war böse – und obwohl er doch ein so genannter »Sklavenbefreier« war, nannte er Mister Marmaduke einen Nigger.
Mike sagte ganz ruhig in die Stille: »Erkennt ihr uns nicht, ihr miesen Dreckskerle? Macht mal richtig eure Augen auf.«
Nun erkannten sie uns endlich.
Der Major sagte heiser: »Die Kilbourne-Brüder, oha, die verdammten Rebellen aus Tennessee.«
Als er das sagte, wollten sie zu ihren Waffen greifen, denn sie begriffen sofort die Gefahr und wussten, warum wir gekommen waren.
Aber sie hatten ihre Gürtel mit den Hartford-Dragoon-Revolvern abgelegt. Sie waren waffenlos. Wir konnten ihnen mühelos ansehen, wie ihnen die Furcht schreckhaft durch die Glieder fuhr.
Sie verharrten und hielten ihren Atem an.
»Sicher«, sagte Mike, »wir könnten euch jetzt mühelos abknallen. Eure Furcht ist berechtigt. Sie wäre berechtigt, wenn wir solche Mistkerle sein würden wie ihr. Wegen euch und euren willigen Handlangern sind viele von uns Gefangenen verreckt. Andere wurden von euch halbtot geprügelt und zerbrochen. Euer Gefangenenlager war die Hölle. Und wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, so müsste der Präsident unserer Nation, die wir ja wieder werden sollen, euch anklagen und aufhängen lassen. Doch wir glauben nicht mehr an Gerechtigkeit, weil solche Burschen wie ihr die Uniform der Union tragen. He, ihr dürft euch eure Kanonen umschnallen! Und dann könnt ihr es gegen uns versuchen. Na los! Ihr habt nur diese Chance, obwohl ihr sie nicht verdient habt. Vorwärts!«
Nun begriffen sie, dass wir immer noch so viel Stolz besaßen, sie nicht einfach abzuknallen.
Und da atmeten sie wieder ruhiger.
Sie wandten ihre Köpfe, sahen sich an und trafen ein stillschweigendes Übereinkommen. Ja, sie wollten kämpfen. Es war ihre einzige Chance, mochten sie Feiglinge sein oder nicht.
Die vier Mädchen standen bei Molly am Klavier, bildeten dort eine abwartende Gruppe. Molly aber fragte: »Könnt ihr das denn nicht draußen erledigen? Ihr werdet den kostbaren Teppich mit eurem Blut ruinieren.«
Es klang kalt und gefühllos.