Cologne Occasional Papers on International Peace and Security Law

Number 1

March 2013

Claus Kreß

Friedensmissionen unter einem Mandat der Vereinten Nationen und Menschenrechte

Kurzstellungnahme im Rahmen der Öffentlichen Anhörung

des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

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Prof. Dr. Claus Kreß LL.M. (Cambridge) ist Direktor des Institute for International Peace and Security Law der Universität zu Köln.

Ich danke meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Elisabeth Günnewig und Denise Fuchs sehr herzlich für wertvolle Unterstützung bei der Recherche.

Inhalt

Vorbemerkungen

  1. Zum (inzwischen „schillernd“ gewordenen) Begriff der „VN-Friedensmissionen“ und deren Rechtsgrundlagen
  2. Zu den Problemen und Dilemmata bisheriger militarisierter friedenserhaltender VN-Missionen
    1. Fehlender politischer Wille auf der Seite des SR
    2. Schwierigkeiten bei der stringenten Verwirklichung des VN-Kommandos
    3. Zu geringe Truppenstärke und Verspätungen bei der Truppenentsendung
    4. Unzureichende Ausstattung
    5. Mangelnde Beteiligung von Streitkräften gut ausgestatteter und ausgebildeter Armeen
    6. Problematische Abhängigkeit von Sicherheitskräften des Gebietsstaats
  3. Militarisierte friedenserhaltende Operationen der VN und die drei „fundamental principles“ friedenserhaltender Operationen
    1. Die Praxis der Friedensmissionen
    2. Der (offizielle und quasi-offizielle) Sprachgebrauch
      1. a) ONUC (1964)
      2. b) Agenda for Peace (1992)
      3. c) SR-Praxis in der ersten Hälfte der 1990er Jahre
      4. d) Supplement to an Agenda for Peace (1995)
      5. e) „Brahimi-Bericht“ (2000)
      6. f) „Capstone-Principles” (2008)
      7. g) New Horizon Initiative (2009-2011)
      8. h) Zusammenfassende Betrachtung
  4. Die Reformbemühungen innerhalb der VN („Brahimi-Bericht“; The New Horizon Initiative)
    1. Der „Brahimi-Bericht“ (2000)
      1. a) Mitgliedstaaten
      2. b) Sicherheitsrat
      3. c) VN-Sekretariat
    2. Die Wirkung des „Brahimi-Berichts“
    3. The New Horizon Initiative
      1. a) Bestandsaufnahme
      2. b) Reformvorschlag einer „neuen Partnerschaft“
      3. c) Aktueller Stand der Reformbemühungen
        1. aa) Policy Development
        2. bb) Die Entwicklungen im Übrigen in Kürze
    4. Bewertung
  5. Überlegungen zu Fragen des Policy Development
    1. Quasi-Zwangsmaßnahmen vs militarisierte friedenserhaltende Maßnahmen
    2. Zu den Voraussetzungen erfolgreicher militarisierter („robuster“/ „effektiver“) Friedenserhaltung
      1. a) Vorhandensein militärischer Mittel
      2. b) Politische Bereitschaft zum Einsatz des militärischen Instruments
      3. c) Offene Völkerrechtsfragen im Zusammenhang mit dem Einsatz des militärischen Instruments in friedenserhaltenden VN-Missionen
        1. aa) Zur Menschenrechtsbindung einer friedenserhaltenden VN-Mission
        2. bb) Zur Rechtslage im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt
        3. cc) Zur Rechtslage außerhalb eines (nicht-internationalen) bewaffneten Konflikts
        4. dd) Folgerung
    3. Exkurs: Zur entsprechenden Völkerrechtsfrage bei Quasi-Zwangsmaßnahmen und zur Rechtsauffassung der Bundesregierung
    4. Der Schutz von Zivilisten und mögliche Dilemmata
    5. Zum „early peacekeeping“ bei multidimensionalen friedenserhaltenden Operationen
  6. Zwei Desiderata
    1. Zum Rechtsschutzdefizit gegenüber Eingriffen von VN-Friedenstruppen
    2. Zu den Schwierigkeiten der Ahndung von Fehlverhalten von Angehörigen von VN-Friedensmissionen
  7. Zusammenfassung in 21 Thesen

„Nothing in the experience of Suez and the Congo suggests that an international force is exempt from the workings of the inexorable rule that he who wills the end must will the means.”

Herbert Nicholas,
International Organization 17 (1963), 335.

Vorbemerkungen

Die nachfolgenden Anmerkungen berühren Punkte, die in den Fragen der Fraktionen an die Sachverständigen angesprochen werden. Die Anmerkungen folgen indessen nicht streng der Chronologie der Fragenliste und erheben überdies nicht den Anspruch, alle Fragen bzw. wenigstens einige von ihnen erschöpfend zu behandeln. Hierfür sind Thema und Fragen zu vielschichtig. Einfache Antworten, diese Bemerkung sei vor die Klammer gezogen, lassen sich bei den zahlreichen Dilemmata, die mit dem Thema „Friedensmissionen der Vereinten Nationen“ verbunden sind, ohnehin nicht geben.

Die nachfolgende Kurzstellungnahme soll nicht mit umfassenden Nachweisen zur einschlägigen wissenschaftlichen Literatur überfrachtet werden, zumal ich nicht für mich in Anspruch nehmen kann, etwa das politikwissenschaftliche Schrifttum vollständig zu überschauen (lesenwert ist jedenfalls die kenntnisreiche Analyse von Denis M. Tull, Die Peacekeeping-Krise der Vereinten Nationen, SWPStudie, 2010; s. auch Thorsten Benner/Stephen Mergenthaler/Philip Rotmann, The New World of UN Peace Operations. Learning to Build Peace?, 2011). An dieser Stelle sei deshalb nur auf wenige aus völkerrechtswissenschaftlicher Sicht wichtige Arbeiten verwiesen.

Das klassische Werk zum Thema ist Rosalyn Higgins, United Nations Peacekeeping 1946-1967. Documents and Commentary; Band 1: The Middle East, 1969; Band 2: Asia, 1970; Band 3: Africa, 1980 (s. daneben vor allem noch Derek Bowett, UN Forces – A Legal Study, 1964). Arbeiten jüngeren Datums sind Roberta Arnold/Geert-Jan Alexander Knoops, Practice and Policies of Modern Peace Support Operations under International Law, 2006; Terry D. Gill/Dieter Fleck (Hrsg.), The Handbook of the International Law of Military Operations, 2010. Hervorgehoben sei schließlich die jüngst erschienene, ebenso gründliche wie kritische Monografie von James Sloan, The Militarisation of Peacekeeping in the Twenty-First Century, 2011. Eine Sammlung wichtiger Dokumente bieten Bruce Oswald/Helen Durham/Adrian Bates, Documents of the Law of UN Peace Operations, 2010, sowie die Internetseite http://www.un.org/en/peacekeeping/.

Speziell zu Menschenrechtsfragen sei ergänzend auf die folgenden Arbeiten bzw. Sammelwerke verwiesen: Dieter Weingärtner (Hrsg.), Die Bundeswehr als Armee im Einsatz, 2010; ders. (Hrsg.), Streitkräfte und Menschenrechte, 2008; Jeanette Boehme, Human Rights and Gender Components of UN and EU Peace Operations, 2008; Norman Weiß (Hrsg.), Menschenrechtsbindung bei Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte, 2006.

Speziell zu(r Verfolgung von) Straftaten von Angehörigen einer friedenserhaltenden VN-Mission siehe William Durch/Katherine N. Andrews/Madeline L. England/Matthew C. Weed, Improving Criminal Accountability in United Nations Peace Operations, Stimson Center Report No. 65, 2009; Geert-Jan Alexander Knoops, The Prosecution and Defense of Peacekeepers under International Criminal Law, 2004.

I. Zum (inzwischen „schillernd“ gewordenen) Begriff der „VN-Friedensmissionen“ und deren Rechtsgrundlagen

Über den genauen Inhalt des Begriffs der „VN-mandatierten Friedensmission“ herrscht ebenso Unklarheit wie über denjenigen der „UN Peacekeeping Mission“. Dieser Unklarheit sei eingangs dieser kurzen Stellungnahme dadurch abgeholfen, dass der eigene Begriffsgebrauch offen gelegt wird.

Idealtypisch lassen sich nach der Satzung der Vereinten Nationen (SVN) militärische Zwangsmaßnahmen („enforcement measures“) und friedenserhaltende Maßnahmen („peacekeeping measures“) einander gegenüberstellen. Militärische Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit nach Art. 42 der SVN bedeuten idealtypisch den Einsatz massiver militärischer Gewalt gegen einen staatlichen Friedensstörer zur Wiederherstellung des von diesem Störer gebrochenen oder zumindest bedrohten internationalen Friedens i.S.v. Art. 39 SVN. Art. 43 SVN sieht für die Durchführung solcher Zwangsmaßnahmen die Aufstellung von Truppen der Vereinten Nationen vor.1 Doch haben sich die Staaten bislang nicht dazu bereit gefunden, den VN solche genuin internationalen Streitkräfte an die Hand zu geben. Deshalb folgt die Praxis dem so genannten Ermächtigungsmodell, wonach der Sicherheitsrat einzelnen Staaten bzw. Staatengruppen gestützt auf das VII. Kapitel der SVN das Mandat zum militärischen Gewalteinsatz gegen den Störer erteilt.2 Insoweit das betreffende Mandat reicht, dispensiert es vom Verbot der militärischen Gewaltanwendung nach Art. 2 Nr. 4 SVN. Der alliierte Gewalteinsatz des Jahres 1991 gegen den Irak gestützt auf die Resolution 678 des VN-Sicherheitsrats (SR)3 ist der diesem Idealtyp der militärischen Zwangsmaßnahme bislang am nächsten kommende Fall.

Dem steht die idealtypische friedenserhaltende Operation gegenüber. Sie verfolgt das Ziel, einen bereits eingetretenen, aber noch fragilen Frieden zu sichern. Die zu diesem Zweck eingesetzten Friedenstruppen agieren mit Zustimmung des jeweiligen Gebietsstaates („host state consent“), sie agieren gewaltfrei mit Ausnahme der Befugnis, sich gegen einen gegenwärtigen Angriff zu verteidigen („non-use of force except in self-defence“), und sie agieren schließlich ohne für oder gegen eine der (früheren) Konfliktparteien Position zu beziehen („impartiality“). Die ersten Missionen dieser Art (United Nations Yemen Observation Mission (UNYOM), United Nations Military Observer Group in India and Pakistan (UNGOMIP), United Nations Troop Supervision Operation in the Middle East (UNTSO)) wurden Ende der 1940er Jahre eingerichtet und nahmen (im Wesentlichen unbewaffnet) die Aufgabe der Beobachtung wahr.4 Die bis heute bekannteste Friedenstruppe eines „klassischen“ friedenserhaltenden Zuschnitts ist die nach dem Suez-Konflikt 1956 von der VNGeneralversammlung (GV)5 eingesetzte United Nations Emergency Force in the Suez (UNEF I).6 Diese Truppe wurde mit Zustimmung Ägyptens auf dem Gebiet dieses Staates stationiert, um dort den Waffenstillstand zwischen Ägypten einerseits und Großbritannien, Frankreich und Israel andererseits zu sichern, aber auch um weitere nicht-militärische Aufgaben wie die Entminung, den Austausch von Kriegsgefangenen sowie die Wiederherstellung zerstörter Straßen zu erfüllen. Im Zusammenhang mit dieser Friedensmission formulierte der damalige VN-Generalsekretär (GS) Dag Hammarskjöld die drei soeben genannten Grundprinzipien („fundamental principles“) von Friedensmissionen.7 Eine ausdrücklich auf solche Missionen zugeschnittene Rechtsgrundlage findet sich weder im VI. noch im VII. Kapitel der SVN, und bisweilen ist ein nicht existentes „Kapitel VIbis“ bemüht worden, um die Zwischenstellung solcher Missionen in ein passendes Bild zu kleiden.8 Ungeachtet der Schwierigkeit, in der SVN die am besten passende Rechtsgrundlage für die Einsetzung einer klassischen friedenserhaltenden Operation zu finden (in Betracht kommen einzelne oder eine Gesamtschau von Bestimmungen von Kapitel VI, Art. 40 SVN oder eine stillschweigend vorausgesetzte Befugnis „implied power“), steht die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme auch im Licht der von den VN-Mitgliedstaaten akzeptierten Praxis im Wesentlichen außer Streit.9

Diese idealtypische Gegenüberstellung bildet die gegenwärtige Praxis der VN indessen nicht mehr vollständig ab. Denn inzwischen nehmen Zwischenformen einen zentralen Platz ein. Diese haben zu einer so weitgehenden Annäherung von „Zwangsmaßnahmen“ und „friedenserhaltenden Maßnahmen“ geführt, dass die begriffliche Unterscheidung schwierig wird. Auf der Seite der Zwangsmaßnahmen hat der VN-Sicherheitsrat seit den 1990er Jahren wiederholt Staaten oder Staatengruppen dazu ermächtigt, Gewalt nicht gegen einen friedensstörenden Staat, sondern gegen nichtstaatliche Akteure zum Einsatz zu bringen. Dabei ist das Mandat einmal enger gefasst, ein anderes Mal weiter formuliert, ohne jedoch das Ausmaß eines umfassenden Waffenganges zu avisieren. Häufig sollen solche „Zwangsmaßnahmen“ einer nachfolgenden „friedenserhaltenden Operation“ den Boden bereiten und typischerweise erfolgen solche „Zwangsmaßnahmen“ mit der Zustimmung des Gebietsstaates. Solche Maßnahmen werden im Folgenden im Anschluss an James Sloan10 als „Quasi-Zwangsmaßnahmen“ („Quasi-Enforcement“) bezeichnet, um die Differenz zur klassischen Zwangsmaßnahme von der Art der militärischen Befreiung Kuwaits zu bezeichnen. Ihre Rechtsgrundlage finden indessen auch die Quasi-Zwangsmaßnahmen im VII. Kapitel der SVN, und dort in Art. 42 SVN. Historische Beispiele solcher Quasi-Zwangsmaßnahmen waren etwa der NATO-Einsatz zur militärischen Absicherung der Verteilung humanitärer Hilfe durch die VN im auseinander fallenden Jugoslawien gestützt auf SR-Resolution 77011 vom August 1992, der USamerikanische Gewalteinsatz in Somalia (Unified Task Force (UNITAF)) gestützt auf SR-Resolution 79412 vom Dezember 1992 und die von Australien geführte International Force for East Timor (INTERFET) gestützt auf SR-Resolution 126413 vom September 1999. Die aus deutscher Sicht praktisch bedeutsamsten und politisch wohl brisantesten Quasi-Zwangsmaßnahmen werden seit Dezember 2001 durch die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan durchgeführt. In diesem Fall ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Resolutionen 1386 (2001) und 1510 (2003) sowie den nachfolgenden Verlängerungsresolutionen die Befugnis, alle erforderlichen militärischen Mittel einzusetzen,

„to support the Afghan Transitional Authority and its successors in the maintenance of security in Afghanistan, so that the Afghan Authorities as well as the personnel of the United Nations and other international civilian personnel engaged, in particular, in reconstruction and humanitarian efforts, can operate in a secure environment, and to provide security assistance for the performance of other tasks in support of the Bonn agreement.”14