Als Ravensburger E-Book erschienen 2019
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2020 Ravensburger Verlag
© 2019 by Rose Snow
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Lektorat: Franziska Jaekel
Umschlaggestaltung: Anna Rohner
Verwendete Bilder von © lenaer/Shutterstock, © pittaya/Shutterstock und © Romolo Tavani/Shutterstock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47971-9
www.ravensburger.de
Für meine Mutter Johanna, die mir das Licht der Liebe geschenkt hat
Die Nacht ist von einer schmerzhaften Schönheit. Verschwommene Lichter pulsieren auf den Leuchtreklamen der Wolkenkratzer. Aus den Lautsprecherboxen des silbernen Porsches wummert Musik. Der rhythmische Klang vermischt sich mit Phoenix’ Lachen, mein Herz schlägt im Takt dazu. Selbstsicher trete ich aufs Gas. Menschen, Geschäfte und Autos fliegen in der hoch aufragenden Häuserflucht an uns vorbei. Die Straße vor mir ist leer, Ampeln locken mit strahlendem Grün. Der Geschmack von Freiheit liegt mir auf der Zunge. Ich fühle mich lebendiger als je zuvor. Phoenix berührt meinen Oberschenkel, ich umfasse das Lenkrad fester. Mein Körper will mehr davon.
Plötzlich schießt uns ein schwarzer Jeep entgegen. Blaues Licht explodiert gleißend hell hinter meiner Netzhaut. Irgendwie gelingt es mir, auszuweichen. Unser Porsche schlittert über den Bürgersteig. Das blaue Licht überflutet meine Sinne, es durchtränkt jede einzelne Zelle. Mit aller Kraft trete ich auf die Bremse. Ich spüre den Verlust der Kontrolle, höre die laute Musik und mein ersticktes Keuchen. Nur Phoenix’ Lachen ist verstummt.
Und dann ist da plötzlich nur noch Dunkelheit, gefolgt von einer tiefen Stille.
Als ich wieder zu mir komme, bin ich nicht mehr ich, das fühle ich. Auch meine Welt hat sich verändert. Mattschwarze Seerosen schweben über einem spiegelnden See. Es ist noch immer Nacht, doch die Luft riecht geheimnisvoller als zuvor. Ich stehe auf einer gebogenen Brücke. Eine einzelne Gaslaterne wirft ihren spärlichen Schein auf die marmorglatte Brüstung, in deren dunklem Stein sich blaue Lichtfunken bewegen. Mein Nacken kribbelt auf eine unheilvolle Art.
Ich bin hier nicht sicher. Und ich weiß auch warum.
Der Schatten eines hochgewachsenen Mannes schält sich aus der Dunkelheit. Cajus Conterville. Ich kenne seinen Namen, genau wie sein Gesicht. Er trägt seltsame Kleidung, passend zu diesem seltsamen Ort. Die hohen Stiefel sind pechschwarz wie der Mantel, der bedrohlich um seinen schlanken Körper flattert. Seine funkelnden Augen mustern mich unbarmherzig. Ein kurzer dunkler Bart bedeckt seine Wangen. Seine Bewegungen sind entschlossen, während er lautlos näher kommt.
Ich greife in meine Tasche.
Ich bin bereit, zu kämpfen.
Panisches Luftholen. Wie nach einem langen Tauchgang schrecke ich aus dem Schlaf hoch, breche erschöpft durch die Oberfläche der Realität. Es war nur ein Traum. Nur ein Traum. Zwei Atemzüge lang glaube ich mir selbst. Dann kommt die Erinnerung zurück. Die Party am Rande der Stadt. Phoenix’ Lippen an meinem Hals. Seine Hände an meinen Hüften. Die Bässe der Musik, unsere ausgelassenen Bewegungen, der Geschmack von Cola, vermischt mit Alkohol. Die Fahrt zurück durch das hell erleuchtete Seattle. Seine Finger auf meinem Oberschenkel. Mein trommelnder Herzschlag. Der schwarze Jeep. Danach nur noch Dunkelheit und Schuld.
Seit vier Wochen begleitet mich diese Schuld, als würde sie eine verdammte Auszeichnung dafür bekommen, mich überallhin zu verfolgen. Sie ist da, Tag und Nacht. Seit achtundzwanzig Tagen gehört sie zu mir wie das Muttermal über meiner Lippe, das ich noch nie leiden konnte.
Aber so ist das nun mal. Nur ein Moment kann dein Leben verändern. Niemand fragt dich um Erlaubnis. Bloß ein paar Sekunden, das reicht, um den Unterschied zu machen. Plötzlich ist alles anders. Jeder Blick, jeder Atemzug, selbst jedes Gefühl, das du hast, wird bestimmt durch den Moment. In letzter Zeit frage ich mich häufig, wie viele dieser Momente so ein Menschenleben erträgt. Ob es eine Obergrenze gibt, oder ob alles doch nur Willkür ist, ohne irgendwelche Regeln, nicht mehr als ein Glücksspiel.
Noch vor vier Wochen hatte ich das Glück vielleicht nicht gerade gepachtet, aber zumindest führte ich das normale Leben einer Neunzehnjährigen – mit einem langweiligen Job, der meine Rechnungen bezahlt und einem neuen Freund, der mich glücklich machte. Ich hatte mich treiben lassen, ganz ohne Zukunftspläne. Jetzt hat meine Zukunft einen Plan. In einigen Wochen findet mein Gerichtstermin am King County Superior Court statt. Dann wird entschieden, ob ich die Schuld an Phoenix’ Zustand trage, der seit dem Autounfall im Koma liegt. Ich kenne die Antwort auf diese Frage. Es ist zu offensichtlich. Wie ein treuer Hund wird mir die Schuld auch bis ins Gerichtsgebäude folgen, doch nur ich werde sie sehen, die Jury wird sie ignorieren. Unschuldig. So wird ihr Urteil lauten und das nur, weil die Sache mit Phoenix nicht zu erklären ist. Weil es ein gottverfluchtes Rätsel ist. Es ist weder aufregend noch fesselnd, es ist ein schwarzes Loch, für das jeder seine eigene Lösung findet.
Mit einem frustrierten Seufzen donnere ich mein Kissen quer durch mein Zimmer. Es prallt an der halb heruntergelassenen Jalousie ab und fällt unbeeindruckt auf die darunter stehende Kommode, die mir Mom und Dad zum Einzug in die WG geschenkt haben. Das Kissen landet genau auf dem Teller mit den Resten meines Currys, die grüne Sauce spritzt direkt auf meine neuen Bleistiftskizzen. Das Mondlicht, das durch das Fenster dringt, beleuchtet die seltsamen Farbkleckse und lässt meine düsteren Skizzen darunter noch unwirklicher erscheinen.
Na toll. Genervt schlage ich die Bettdecke zurück und stehe auf.
Mein Handy zeigt 5:12 Uhr an.
Ich habe drei Stunden geschlafen, mehr als in den letzten beiden Nächten. Ich schnappe mir das Curry-Kissen, ziehe den schmutzigen Bezug ab und mache mich zusammen mit dem Teller auf in Richtung Waschmaschine. Blaues Fernsehlicht strahlt mir entgegen, als ich die Tür zum Wohnzimmer öffne. Nur mit Boxershorts und einem grauen T-Shirt bekleidet sitzt mein bester Freund Scott auf dem Sofa und zockt mit Inbrunst eines seiner Onlinespiele, bei denen es darum geht, so viele Leute wie möglich niederzumetzeln.
»Hey …« Er sieht mich nicht an, während er wie wild auf die Knöpfe seines Controllers drückt.
»Hey, solltest du nicht schlafen?«, frage ich.
»Yep. Und du, Harper?«
»Kann nicht.« Ich steige über eine zerknüllte Jeans, Scotts alten Baseballschläger und eine einsame Socke, die mir auf dem Weg zur Küche begegnen. Dann stelle ich den Teller in die Spüle und stopfe den Kissenbezug in die Waschmaschine, die mal wieder bis oben hin voll ist. Da ich keinen Ärger mit den Nachbarn will, widerstehe ich dem Drang, sie einzuschalten. Stattdessen lasse ich ein Glas kaltes Wasser ein. Es tut gut, aber das Gefühl der Enge in meiner Brust wird dadurch auch nicht besser.
»Fuck!«, schreit Scott. Er wirft den Controller neben sich auf das olivgrüne Sofa. »Diese verdammten Idioten! Was ist so schwer daran, sich mal für zwei Sekunden zu verschanzen, statt sich direkt ins Kreuzfeuer zu stürzen?!«
Lächelnd gehe ich zurück ins Wohnzimmer, dafür braucht es nicht viele Schritte. Unsere WG hat gerade mal einundsechzig Quadratmeter, die wir uns seit ein paar Monaten teilen. »Sei nicht zu hart mit ihnen. Du spielst wahrscheinlich mit irgendwelchen Dreizehnjährigen.«
»Diese Dreizehnjährigen können mich mal«, mault Scott, bevor er seinen kabellosen Kopfhörer neben den Controller pfeffert. Dann fährt er sich durch seine unordentlichen braunen Haare, die beinahe den gleichen Farbton wie meine haben. »Sei so nett und lenk mich von dieser bescheuerten Tragödie ab. Was hat dich um diese Zeit aus dem Bett getrieben? Schon wieder ein Albtraum?«
Ich hebe eine Augenbraue. »Müssen wir wirklich darüber reden?«
»Hast du denn ein besseres Thema?«
»Ich hätte da einige.« Ich deute auf den halb leeren Pizzakarton, der vor Scott auf dem Boden steht. »Wie wäre es zum Beispiel mit der Vereinbarung, die wir letzte Woche getroffen haben?«
»Dass du aufhören sollst, dich selbst zu hassen?«
»Dass du aufhören sollst, überall dein Zeug rumliegen zu lassen.«
Er nimmt den Pizzakarton und stellt ihn zwischen ein paar leere Getränkedosen auf den Couchtisch. »Das esse ich noch.«
»Und die Socke da auch?« Grinsend kicke ich die einsame Socke in seine Richtung, die Scott erstaunlich elegant auffängt. Obwohl er ein paar Pfund zu viel auf den Rippen hat, sind seine Reflexe beneidenswert.
Scott legt die Socke ordentlich auf die Lehne des Sofas. Dann klopft er auf den Platz neben sich. »Komm, erzähl mir davon.«
»Wovon?«, frage ich widerspenstig, lasse mich aber trotzdem neben ihn nieder.
»Von deinem Traum. Wenn du den Putzdiktator raushängen lässt, war’s mal wieder übel.« Seine warmen braunen Augen mustern mich auf diese spezielle Art, bei der ich nicht weiß, ob ich sie mag oder nicht. Es ist schön, dass wir uns so nahestehen, um selbst die kleinste Regung des anderen richtig deuten zu können. Gleichzeitig ist es auch die Hölle.
»Lass den Röntgenblick.« Unwillig ziehe ich meine Beine in den Schneidersitz. »Ich bin keine deiner Bakterien, die du dir unter dem Mikroskop ansiehst.«
»Stimmt, die sind entspannter«, erwidert Scott trocken, woraufhin ich lachen muss. »Dafür siehst du besser aus. Zumindest, wenn du den störrischen Gesichtsausdruck stecken lässt. So erinnerst du mich an Miss MacKenzie-Devenshire, die wir in der Grundschule hatten.«
Das ist kein hübscher Vergleich. Miss MacKenzie-Devenshire sah aus, als hätte sich eine Zitrone mit einer Ziege gepaart.
Ich binde mir die Haare zu einem Knoten zusammen und fixiere Scott. »Du könntest auch mal wieder einen Haarschnitt vertragen. Und eine Rasur.«
Er hebt eine Augenbraue. »Gleich verlangst du auch noch, dass ich duschen gehe.« Er schnuppert an seinem T-Shirt. »Ist noch im gelbgrünen Bereich.«
»Gelbgrün ist kein guter Bereich, Scott.«
»Jede Nacht nur drei Stunden zu schlafen ist auch kein guter Bereich, Harper.«
Seufzend drehe ich das Wasserglas in meiner Hand.
»Ging es wieder um den Unfall?«, fragt er.
Ich nehme langsam einen Schluck, bevor ich nicke. Dabei fühle ich mich wie das in der aufgewühlten See gefangene Dampfschiff aus William Turners Gemälde Schneesturm auf dem Meer. Irgendwann weiß man einfach nicht mehr, wo oben und unten ist.
»Ich habe von dem Unfall und diesem merkwürdigen dunklen Ort geträumt.«
In meinem Kopf taucht immer wieder eine Stadt auf, als würde sie dort hingehören. Nacht für Nacht nimmt sie mehr Konturen an, auch wenn die Erinnerungen danach jedes Mal leise wegdriften. Deshalb versuche ich, ihre schwarzen Brücken und schimmernden Laternen in meinen Skizzen festzuhalten.
»Diesmal war ich jedoch nicht allein. Der Typ von der Conterville Group war auch da.«
»Welcher Typ von der Conterville Group?« Scott dreht sich zu mir. »Meinst du den Schönling?«
»Er ist kein Schönling, er ist einfach nur reich. Und ein Arsch. Er hat Mom gefeuert. Wenigstens haben sie noch Dads Lehrergehalt.«
Scott tätschelt mir die Schulter. »Mir ist klar, dass du ihn nicht magst, Harper. Aber Cajus Conterville sieht trotzdem ziemlich gut aus, zumindest nach aktuellen gesellschaftlichen Kriterien – die sich hoffentlich irgendwann ändern.«
Ich mag das Grinsen in Scotts Gesicht, genauso wie sein Selbstbewusstsein. Egal was passiert, meinen besten Freund bringt nichts so schnell aus dem Konzept.
»Im Moment müssen wir leider in dieser oberflächlichen Welt leben, in der Cajus Conterville auf dem Cover der Vogue landet und nicht ich. Trotzdem hat er deine Mom nicht aus dem Schuhladen gefeuert, der kennt doch nicht mal ihren Namen, geschweige denn deinen. Aber ist doch klar, dass es dir mächtig auf den Sack geht, weiterhin für diese profitgeile Familie zu arbeiten. Man muss echt nicht Freud sein, um zu kapieren, warum der Kerl ausgerechnet jetzt in deinen Träumen aufkreuzt.«
Ich erinnere mich an den Moment, als meine Hand in meine Tasche geglitten war. Das war nicht ich in meinem Traum, aber ich konnte sehen und fühlen, was in der Person vor sich ging. Und diese Person war bereit, gegen Cajus Conterville zu kämpfen – bis in den Tod.
»Bei dir ist gerade eine Menge los. Vielleicht solltest du heute einfach mal nicht zu Phoenix ins Krankenhaus fahren.«
»Ich habe Zeit. Meine Schicht im Laden beginnt erst um zwölf«, erwidere ich. »Ich möchte bei ihm sein.«
»Seit dem Unfall hast du ihn jeden Tag besucht, Harper.« Scott greift nach meiner Hand. »Seine Mutter möchte nicht, dass du dort bist. Und du kannst auch nicht dein ganzes Leben an seinem Krankenbett verbringen.«
»Wieso nicht? Ich habe ihn ja schließlich auch dorthin gebracht.«
Scott schüttelt den Kopf. »Hör auf, dir das einzureden.«
»Ich rede mir nichts ein. Ich saß am Steuer, obwohl ich etwas getrunken hatte.«
Ich wünschte, wir hätten das Firmenfest des Architekturbüros, in dem Phoenix arbeitet, nie besucht, hätten nie an der Tombola teilgenommen und nie das Cabrio für ein Wochenende gewonnen.
»Du warst nur knapp über der Promillegrenze. Hör auf, die Märtyrerin zu spielen, Harper. Der Typ mit dem Jeep ist falsch in die Einbahnstraße gefahren, du hast euer Cabrio geistesgegenwärtig auf den Bürgersteig gelenkt. Du hast niemanden verletzt, sondern bloß ein Straßenschild gerammt. Und selbst das auf die sanfte Art.«
»Dennoch liegt Phoenix seitdem im Koma.«
»Aber doch nicht wegen dir.«
Meine Schultern beginnen zu zittern. »Und warum dann?«
Ich wünschte, ich hätte an dem Abend nichts getrunken. Wünschte, ich hätte konkretere Erinnerungen an das, was passiert ist. Aber ich habe nur verschwommene Bilder, das verdammte Blackout sowie die Aussage des besoffenen Jeepfahrers, der Phoenix und mich aus dem Cabrio gezerrt hat, weil er dachte, wir wären tot. Aber wir waren nicht tot, wir waren beide bewusstlos. Nur dass ich wieder aufgewacht bin, während Phoenix noch immer nicht ansprechbar ist. Und niemand hat eine Erklärung dafür.
»Keine Ahnung. Vielleicht habt ihr auf der Party versehentlich irgendwelche unbekannten Drogen genommen, die man in eurem Blut nicht nachweisen kann. Vielleicht hat Phoenix eine exotische genetische Prädisposition. Oder es handelt sich um einen neuen Schockzustand, den die Medizin noch nicht kennt, keine Ahnung.« Er seufzt. »Egal wie, du musst dich wieder um dich kümmern. Schließlich kennst du Phoenix erst seit ein paar Wochen. Du bist ihm gegenüber zu nichts verpflichtet. Geh zum Judo, zieh dir ein paar Serien rein oder mach sonst irgendwas. Aber vernichte dich nicht. Nicht so.«
Für einen Augenblick schweigen wir. Die Stille ist kaum zu ertragen, denn sie wartet. Wartet darauf, dass ich reagiere, dass ich mich nach rechts oder links bewege. Dass ich endlich handle.
»Ich versuche es«, sage ich irgendwann, nur um das Gespräch zu beenden.
Scott erwidert nichts. Er sieht mir an, dass ich Zeit brauche, und dass wir hier nicht weiterkommen. Mit einem tiefen Atemzug stehe ich auf und gehe in mein Zimmer. Mein Glas lasse ich neben dem Pizzakarton stehen, doch meine Schuldgefühle nehme ich mit.
Drei Stunden später sitze ich in der U-Bahn und starre auf die spiegelnde schwarze Scheibe des Waggons, der durch den lichtlosen Tunnel rast. Das monotone Rattern der Räder auf den Schienen vereint sich mit meinem dumpfen Herzschlag. Ich betrachte mein Spiegelbild, das mir müde auf dem zerkratzten Glas entgegensieht. Für die anderen Leute in dem überfüllten Abteil sehe ich aus wie eine junge Frau auf dem Weg zur Uni oder zur Arbeit. Mit den hochgebundenen braunen Haaren, der blauen Jeans und den bequemen Sneakers unterscheide ich mich kaum von Millionen anderer junger Frauen, die morgens unterwegs sind. Ich bin eine von ihnen und doch bin ich es nicht. Wahrscheinlich ist es sowieso eine Illusion, zu glauben, dass wir uns alle ähnlich sind. Jeder von uns ist anders, ist innerlich hässlicher oder hübscher, älter oder jünger, total lebendig oder nur noch am Überleben.
Ich fange den Blick eines Mannes auf, der mir kurz in die Augen sieht, bevor er meinen Mund betrachtet. Ich sehe genau, dass er das Muttermal oberhalb meiner Lippen fixiert, weil es auffällt und heraussticht. Mir selbst hat es noch nie gefallen, aufzufallen und herauszustechen, aber Phoenix hat meinen Schönheitsfleck gemocht. Er behauptet immer, er sähe exakt so aus wie der von Cindy Crawford, und dass ich überhaupt eine große Ähnlichkeit mit ihr hätte. In den paar Wochen, in denen wir zusammen waren, hat er eine Menge schmeichelhaften Unsinn behauptet. Phoenix ist jedoch nicht der romantische Typ, im Gegenteil. Er reagiert allergisch auf Sonnenuntergänge und Strandspaziergänge. Dennoch war er davon überzeugt, dass wir zusammenpassen, weil wir so unterschiedlich sind. Während er Marathonläufe, die aktuellen Charts und Autos gut findet, zeichne ich gern, interessiere mich für Kunst und mag im Grunde keinen Sport, außer Judo. Er liest vor allem Biographien oder russische Autoren, ich liebe Bücher, die eine gewisse Leichtigkeit und Verrücktheit mit sich bringen. Er bevorzugt Sushi und isst meist gesund, bei mir darf es auch Pizza mit Eis zum Nachtisch sein.
Ich mochte die Gespräche mit ihm, weil er charmant und gleichzeitig so anders ist. Phoenix ist zielstrebig und hat immer einen Plan, er verliert nie die Orientierung. Auch wenn er es nicht direkt aussprach, war klar, dass er sich nicht ewig als technischer Zeichner in dem Architekturbüro sieht. Er will mehr und ist bereit, dafür auch hart zu arbeiten. Oft machte er Überstunden und auf keinen Fall wollte er wie sein Vater enden, der bis zu seinem Tod in derselben Position, in derselben Firma, in demselben Jackett gearbeitet hatte.
Eine blecherne Stimme kündigt den Namen meiner Station an. Mit einigen anderen dränge ich mich in Richtung Ausgang. Der Weg zum Krankenhaus ist mir in den letzten achtundzwanzig Tagen so vertraut geworden, dass ich ihn blind finden würde. Bekannte Geräusche und Gerüche pflastern meinen Weg, als ich die U-Bahn hinter mir lasse und über die breite Treppe nach oben laufe, weil das schneller geht, als die Rolltreppe zu nehmen.
Seattle ist um diese Zeit bereits zum Leben erwacht. Mit eingezogenen Köpfen hasten die Menschen durch die Straßen, den Blick gesenkt oder nach innen gekehrt. Nur die wenigsten sehen einem ins Gesicht, vielleicht weil sie es gar nicht anders kennen.
Ich komme an dem Kiosk vorbei, den ich täglich zu ignorieren versuche. Ich habe keine Lust auf die Illustrierten mit den fröhlichen Bildern, die so falsch sind wie die perfekten Fotos auf Instagram. Leider fällt mein Blick auf eine Schlagzeile: Cajus Conterville ist kein Single mehr! Darunter ist ein Bild des jungen Firmenerben zu sehen, der eine halb nackte Brünette auf irgendeiner Jacht küsst. Seine Familie muss unzählige Boote besitzen, dennoch werfen sie lieber treue Mitarbeiterinnen raus, um billigere Arbeitskräfte einzustellen. Schon allein bei dem Gedanken wird mir schlecht.
Mit schnellen Schritten lege ich die letzten Meter bis zum Eingang des Hospitals zurück. Die vertraute Atmosphäre des Krankenhauses beruhigt mich auf eine verstörende Art. Das hier ist Gewohnheit. Zuerst am Empfang vorbei zu den Aufzügen. Im Durchschnitt vierzig Sekunden warten, dann öffnen sich die Fahrstuhltüren mit einem trostlosen Pling. In der Kabine steht gewöhnlich eine Person, weiß angezogen. Kurz lächeln, dritte Etage drücken. Pling. Geradeaus, am Stationstresen vorbei, vierte Tür links. Zaghaft eintreten. Wie jeden Tag liegt Phoenix reglos auf dem Rücken, die Augen sind geschlossen. Ohne die vielen Infusionen und Schläuche könnte man meinen, er würde nur schlafen.
»Hey.« Meine Stimme klingt seltsam hohl. Die Maschinen rund um Phoenix’ Bett piepsen leise und vermischen sich mit seinen gleichmäßigen Atemzügen, bei denen sich seine Brust langsam hebt und senkt. Sein Zimmernachbar liegt auf der anderen Seite in einem Bett. Er bewegt sich ebenso wenig.
Leise gehe ich in das kleine Bad, um mir die Hände zu waschen, bevor ich zu Phoenix zurückkehre und mich auf den harten Stuhl neben seinem Bett setze. Dabei greife ich nach seiner Hand. Seine Finger sind noch immer leicht gebräunt, obwohl er nun schon fast einen Monat auf dieser Station liegt.
»Du siehst gut aus«, flüstere ich. Sanft streiche ich ihm durch seine dunkelblonden Haare, die auch ohne Styling ein wenig verstrubbelt aussehen. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«
Phoenix bewegt sich nicht, nur die Augen unter seinen Lidern zucken leicht.
»Meine Nacht war auch gut«, lüge ich. »Ich hab von uns beiden geträumt.«
Von der Nacht, in der ich dir das hier angetan habe.
Die Ärzte haben empfohlen, zuversichtliche und positive Worte zu wählen, wenn ich mit Phoenix spreche. Dass ich ihm vertraute Musik vorspielen oder ihn an gemeinsame Erlebnisse erinnern soll. Und dass ich nicht aufgeben darf, da es Komapatienten gibt, die selbst nach Jahren wieder aufwachen – im Gegensatz zu anderen, die nie wieder aufwachen, weil der Hirntod einsetzt.
»Ich habe neulich etwas über eine amerikanische Schriftstellerin gelesen«, sage ich einfach nur, damit er meine Stimme hört. »Sie hieß Helen Keller. Als sie neunzehn Monate alt war, hatte sie eine Gehirnhautentzündung, von der sie blind und taub wurde.« Phoenix reagiert nicht, dennoch drücke ich weiter seine Hand. »Mit sieben Jahren lernte sie schließlich, mit der Außenwelt zu kommunizieren, indem ihr eine Therapeutin Buchstaben von Dingen auf die Hand malte, die sie ihr gleichzeitig zum Befühlen gab. Unglaublicherweise lernte Helen auf diese Art lesen und schreiben. Als Erwachsene erzählte sie von ihren Träumen, die bunt und vielfältig waren, obwohl sie nichts davon jemals tatsächlich erlebt hatte.« Ich mache eine kurze Pause, in der ich ihm die Haare aus der Stirn streiche. »Ich weiß nicht, wo du bist, Phoenix – aber ich hoffe, dass du da, wo du bist, auch so wunderbare Träume hast.«
»Was machen Sie schon wieder hier?«
Die kalte Stimme einer Frau in meinem Rücken lässt mich zusammenzucken. Erschrocken drehe ich mich zu Mrs Hunt um, die in der Tür steht. Phoenix’ Mutter trägt einen grauen Mantel, die blonden Haare hat sie zu einem Knoten hochgebunden. Bei ihrem unversöhnlichen Blick lasse ich Phoenix’ Hand ganz automatisch los. Normalerweise kommt Mrs Hunt erst gegen zwölf Uhr, wenn ihre Tierarztpraxis Mittagspause hat.
»Ich wollte ihn vor meiner Schicht nur kurz besuchen«, sage ich.
Sie macht einen Schritt ins Zimmer hinein und mustert mich ohne erkennbare Regung. »Auch wenn Sie jeden Tag vorbeikommen, wird ihn das nicht wieder zurückbringen, Harper.« Ihre Vorwürfe hängen in der Luft, schwer und undurchdringlich. »Es würde jedoch helfen, wenn Sie endlich die Wahrheit sagen.«
»Ich habe die Wahrheit gesagt.«
»Dass Sie sich nicht erinnern können? Mein Sohn liegt seit vier Wochen aus unerklärlichen Gründen im Koma. Und Sie können sich nicht erinnern?!«
Ich stehe auf und schiebe den Stuhl zurück. Dieses Gespräch hat schon zu oft stattgefunden.
»Ich glaube Ihnen nicht«, macht sie weiter. »Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie der Polizei alles gesagt haben, Harper. Sie erzählen nicht die ganze Geschichte, aber das werden Sie noch.« Sie holt Luft, als wollte sie Anlauf für eine neue Attacke holen. »Ich wünschte, Phoenix wäre nie mit Ihnen in dieses verdammte Auto gestiegen. Ich wünschte, er hätte Sie nie kennengelernt.«
Mrs Hunt besteht auf der Gerichtsverhandlung, auch wenn ihr Anwalt davon abrät, wie alle anderen. Es gibt keinerlei Beweise, dass ich etwas mit Phoenix’ Komazustand zu tun habe. Die Fakten sind eindeutig: Das silberne Cabrio hat nur ein paar Schrammen abbekommen. Für den Schaden werde ich aufkommen müssen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Phoenix und ich blieben jedoch unverletzt, es gab keinen einzigen Kratzer. Dennoch fielen wir beide in eine Bewusstlosigkeit, die sich niemand erklären kann. Zumindest nicht mit Röntgenbildern oder irgendwelchen Tests.
Doch egal, wie oft dieses Szenario durchgespielt oder bestätigt wurde, dass Phoenix’ Zustand nicht erklärbar sei, seine Mutter braucht einen Schuldigen – genau wie ich. Wahrscheinlich lebt man lieber mit einer schlechten Erklärung als mit gar keiner.
»Es tut mir unendlich leid, das wissen Sie«, sage ich.
Sie reagiert nicht. Es ist immer der gleiche Ablauf. Zuerst die Vorwürfe, dann die Stille. Meine Worte verhallen in dem kargen Raum, übertönt von den Geräuschen der Maschinen, übertönt von der Trauer, für die ich verantwortlich bin. Denn ich saß am Steuer. Und während Phoenix im Krankenbett vor mir liegt, kann ich hier stehen und bin wach – obwohl ich mich so verdammt müde fühle.
Das rhythmische Rattern der U-Bahn vermischt sich mit dem Anblick der Häuser, die an mir vorbeiziehen. Für ein paar Sekunden sehe ich in fremde Wohnzimmer, Küchen und Leben. Sehe fremde Leute, die nichts von mir wissen, die unbekümmert vor dem Fernseher sitzen oder den Tisch decken. Bekomme einen minimalen Einblick in ihren Alltag und spüre, wie die Müdigkeit nach mir ruft. Der versäumte Schlaf will sich seine Stunden zurückholen. Meine Lider werden schwer, egal wie sehr ich dagegen ankämpfe.
Ich möchte nicht einschlafen, nicht jetzt und nicht hier. Ich will nicht wieder einen dieser Träume haben, die mich in eine andere Welt ziehen. Eine Welt, die nach tiefen Geheimnissen und alter Magie schmeckt und mich in einen Körper katapultiert, der nicht mir gehört. Vielleicht ist es der Schock, der von dem Autounfall rührt, vielleicht ist es auch nur mein Geist, der nach Ablenkung sucht und sich nach einem anderen Universum sehnt.
Ich schiele auf die Uhr. Bis zu meiner Station bleiben mir noch fünfzehn Minuten. Ich bin viel zu früh dran, weil ich eigentlich länger bei Phoenix hatte bleiben wollen. Aber mit dem Wollen ist das so eine Sache. Seit dem Unfall ist mir klar geworden, dass das Leben nicht dafür gemacht ist, dir zu geben, was du willst. Vielleicht ist es nicht einmal dafür gemacht, dir zu geben, was du verdienst.
Meine Lider senken sich wie von allein. Sofort reiße ich sie wieder auf. Ich möchte nicht schlafen, will mich wehren. Aber die Erschöpfung rollt über mich. Ich drifte weg, zucke auf, drifte erneut weg – immer tiefer, bis sich alle Geräusche um mich herum auflösen.
Plötzlich bin ich wieder auf der gebogenen Brücke, in deren Marmorbrüstung ein kaum wahrnehmbares blaues Licht blitzt. Die Welt um mich herum versinkt in der Nacht und ich in einem anderen Körper. Aus ihm erhasche ich einen Blick auf den spiegelglatten See mit den tiefschwarzen Seerosen, die sanft auf der Oberfläche leuchten. Viel Zeit, meine Umgebung zu betrachten, bleibt mir nicht, denn mit nur wenigen Schritten ist Cajus Conterville bei mir. Der spärliche Schein der einsamen Straßenlaterne fällt auf ihn. Seine Kleidung ist eigenartig, viel zu alt. Er trägt hohe Stiefel zu einem dunklen Mantel, unter dem eine blaue Halsbinde hervorblitzt. Auf dem Kopf sitzt ein glänzender Zylinder. Vereinzelte schwarze Haarsträhnen lugen darunter hervor. Cajus Contervilles markante Gesichtszüge sind vor Wut verzerrt und auch seine smaragdgrünen Augen verraten, dass er mir nicht wohlgesonnen ist.
Hasserfüllt starrt er mich an. Wie automatisch fährt meine Hand in meine Tasche. Erleichterung durchströmt mich, als wäre es mein eigenes Gefühl. Der glatte harte Gegenstand mit den antiken Verzierungen ist noch da. Ich habe etwas, das ich Conterville entgegensetzen kann.
»Wo ist sie?«, faucht er mich an. »Wo zum Teufel ist sie?!« Seine tiefe Stimme hallt durch die Nacht.
Ich weiß genau, was er will. Aber das kann er vergessen.
Im nächsten Moment packt er mich am Kragen. Sein Gesicht nähert sich meinem, bis ich seinen Atem auf meiner Haut spüren kann. Sein Geruch nach Kälte und schwarzem Efeu dringt mir in die Nase, während mir sein Blick unmissverständlich klarmacht, dass er mich nicht gehen lassen wird, bis ich ihm gebe, was er verlangt.
Ohne zu zögern, ziehe ich die Feuerlupe hervor, die ich beim alten Ossiander erstanden habe. Mit einer schnellen Bewegung hebe ich sie hoch und ziele auf Contervilles Hand. Ein glühend roter Blitzstrahl schießt hervor, direkt auf seinen Handrücken. Er stöhnt auf. Keuchend lockert er seinen Griff. Dieser Moment reicht aus, um ihm einen kräftigen Stoß gegen die Rippen zu verpassen, sodass er Richtung Brüstung taumelt. Damit hat er nicht gerechnet. Doch ich gestatte mir nicht, meine Genugtuung auszukosten und stecke die Feuerlupe weg. Noch ist die Zeit nicht reif, aber er wird noch viel mehr leiden. Er wird bezahlen für das, was er verbrochen hat. Unwillig wende ich mich ab. In diesem Moment stürzt er sich ein zweites Mal auf mich. Der Schwung seines Angriffs bringt mich ins Stolpern. Blitzschnell hakt Conterville seinen Fuß zwischen meine Beine und bringt mich zu Fall. Ich lande auf dem Rücken, der Aufprall drückt mir die Luft aus den Lungen. Ich stoße ein dumpfes Keuchen aus, dann ist er über mir. Sein finsteres Gesicht taucht vor meinem auf, gleichzeitig spüre ich eine kalte Klinge an der Kehle.
»Wo ist sie?«, zischt er erneut. Wie eine gesprungene Platte, die zu keinem anderen Satz fähig ist. Als ich den unverhohlenen Hass in seinen Augen sehe, heben sich meine Mundwinkel wie von allein. Ich kann spüren, dass er mir am liebsten den Hals durchschneiden würde. Aber er braucht mich noch. Sein Zögern gibt mir genug Zeit, um unauffällig in meine Tasche zu greifen. Die Feuerlupe ist noch warm von ihrem letzten Einsatz. Ich kann nur hoffen, dass sie noch genug Magie für einen weiteren Blitzstrahl enthält. Mit zusammengepressten Lippen richte ich die Waffe auf Conterville. Der glühende Strahl schießt in seine Hüfte, brennt sich durch seine dunkle Kleidung. Mit einem Schmerzensschrei rollt er von mir herunter. Ich lasse die nutzlos gewordene Feuerlupe fallen und hechte in die Höhe. Conterville hat noch sein schwarzes Messer. Er ist nicht zu unterschätzen. Ich verpasse ihm einen Tritt in den Bauch, dann schwenke ich herum und renne los. Ich weiß, dass er stark ist, ich kenne Contervilles Ruf. Aber ich werde ihm keine Möglichkeit geben, seinem Ruf hier und jetzt gerecht zu werden. Meine Schritte donnern über die Brücke und sind alles, was in dieser Nacht zurückbleibt.
»Hey, mach mal Platz«, höre ich eine Stimme. Zuerst ist sie ganz weit weg, doch dann kommt sie näher. Langsam öffne ich die Augen. Meine verschwommene Welt nimmt wieder Konturen an, mein Atem geht schnell. Ein junges Mädchen mit Undercut steht vor mir, ungeduldig deutet sie auf den Sitzplatz. Offenbar habe ich beim Einschlafen zwei Plätze belegt. Nervös rapple ich mich hoch, das Mädchen setzt sich hin.
Im nächsten Moment realisiere ich, dass ich meine Station soeben verpasst habe. Ich springe auf, um bei der nächsten Möglichkeit auszusteigen. Mein Herz trommelt, als hätte es einen Marathon hinter sich gebracht, dabei war es doch nur ein verdammter Traum …
Zwanzig Minuten später öffnen sich die automatischen Schiebetüren der Footastic Shoecompany. Jedes Mal, wenn ich den riesigen Laden in der 17th Avenue Street betrete, nehme ich mir vor, dass heute der letzte Tag ist. Der letzte Tag, an dem ich mir die alberne Verkaufsschürze umbinde, mir das Lächeln ins Gesicht tackere und allen möglichen Menschen dabei helfe, ihre Füße neu einzukleiden.
Der leichte Zitronen-Orangenduft, auf den unsere Chefin besteht, weht mir entgegen, ebenso wie die Stimme einer älteren Kundin, die sich bei Angela darüber beschwert, dass ihr linker Schuh nach dem Kauf eingegangen sei. Angela nickt und lächelt tapfer, immer abwechselnd. Es ist ein Ritual, das sie vollführt, ungeachtet ihrer eigenen Gefühle und Gedanken. Der Kunde hat immer recht ist nur eine der goldenen Regeln der Geschäftspolitik der Footastic Shoecompany. Der Rest des Handbuchs ist genauso schwachsinnig. Natürlich könnte ich kündigen und das alles hinter mir lassen, aber momentan brauche ich einfach das Geld.
»Miss Mitchel will dich sprechen«, begrüßt mich Molly, die hinter dem Verkaufstresen einen Karton Schnürsenkel nach Farben sortiert. Unsere Chefin ist keine schlechte, aber auch keine besonders gute Chefin. Sie ist karriereorientiert und penibel wie ein Staubsauger, keine hübsche Kombination.
Ich schlüpfe aus meiner Jacke. »Und weshalb?«
»Keine Ahnung.« Molly verzieht das Gesicht.
Die zierliche Blondine jobbt neben dem Studium in dem Laden. Ohne sie und die anderen Mädels, die hier arbeiten, wüsste ich nicht, wie ich das Ganze überleben sollte.
Nachdenklich kratzt sich Molly an der Nase. »Wahrscheinlich hast du dich nicht an Regel Nummer elf gehalten.« Sie blinzelt mich an.
Ich blinzle zurück. »Oje, habe ich Kunden ohne innerliches Schuhgebet verabschiedet? Habe ich sie einfach so in die kalte, triste Welt entlassen?« Ich mache ein entsetztes Gesicht, das Molly ein Grinsen entlockt.
»Dafür kommst du in die Schuhhölle, Harper.«
»Und ich dachte, dass ich dort schon längst bin«, kontere ich. Dann bringe ich meine Sachen in den Pausenraum und nehme meine gelbe Schürze vom Haken. Auf dem Stoff tanzen bunte Schuhe, als wären sie völlig zugekifft. Schmerzvoll erinnern sie mich an Regel Nummer vier: Schuhverkäufer der Footastic Shoecompany müssen für alle Kunden auf den ersten Blick erkennbar sein. Ich binde meine Haare zu einem Knoten und werfe noch kurz einen Kaugummi ein, bevor ich wieder nach draußen gehe – wo mich auch schon Miss Mitchel erwartet.
»Hallo, Harper«, begrüßt mich die Vierzigjährige mit dem brünetten Pagenschnitt. Sie trägt wie immer eine weiße Bluse zu einer dunklen Stoffhose und wirkt damit seltsam steif und puppenhaft.
»Hallo, Miss Mitchel.«
Seit drei Monaten ist sie Filialleiterin, möchte aber die Karriereleiter innerhalb der Conterville Group noch weiter nach oben klettern. Laut Forbes-Liste gehört das weltweit operierende, familiengeführte Unternehmen zu den wichtigsten Größen und besitzt nicht nur unzählige Schuhläden, sondern auch Modehäuser und exklusive Restaurants. Man munkelt, dass Miss Mitchel ins Marketing aufsteigen möchte.
Ich hingegen hege keinerlei ähnliche Ambitionen. Schon während der Highschool habe ich auf Empfehlung meiner Mom nebenbei im Schuhladen gejobbt. Da ich nach meinem Abschluss nicht wusste, wie es weitergehen soll – aber gleichzeitig mit Scott in eine WG ziehen wollte –, erhöhte ich meine Stundenanzahl. Es sollte nur vorübergehend sein, doch inzwischen waren neun Monate daraus geworden. Neun Monate, in denen andere ein Kind bekamen und ich zum Leid meiner Eltern noch immer nicht wusste, was ich mit meinem Leben anstellen sollte.
»Ich wollte eigentlich nur über eine zusätzliche Schicht mit Ihnen sprechen, aber wie ich sehe, müssen wir uns noch einem anderen Thema zuwenden. Sie wissen, wie wichtig es ist, dass wir uns an die Richtlinien des Konzerns halten, Harper. Wie lautet Regel Nummer sechzehn?«
Jeder Mitarbeiter wird dazu gezwungen, die zwanzig goldenen Regeln des professionellen Schuhverkaufens auswendig zu lernen. Ich kann es nicht leiden, dass auch in meinem Kopf dieser Schwachsinn verfügbar ist und damit garantiert den Platz für etwas Wichtigeres besetzt.
»Der Kunde erhält unsere volle Aufmerksamkeit.«
Sie verschränkt die Arme vor der weißen Bluse. »Genauso ist es. Aber wie wollen Sie den Kunden Ihre volle Aufmerksamkeit schenken, wenn Ihre Kaumuskulatur beschäftigt ist? Außerdem wirken Kaugummi kauende Mitarbeiter gelangweilt, ein Eindruck, den wir unserer Kundschaft nicht vermitteln wollen. Ich verwarne Sie nicht gern, aber mir bleibt leider nichts anderes übrig. Sie müssen sich wirklich an unsere Richtlinien halten, sonst können Sie nicht Teil unserer Schuhfamilie sein, Harper.«
Schuhfamilie. Ein Wort, bei dem mir übel wird.
»Es wird nicht wieder vorkommen«, sage ich artig, auch wenn ich am liebsten etwas anderes erwidert hätte. Aber ich darf auf keinen Fall meinen Job verlieren.
Der restliche Nachmittag verläuft relativ harmlos, trotz Verwarnung. Gedanklich bin ich zwar bei Phoenix und meinen Albträumen, aber davon lasse ich mir nichts anmerken. Einer Frau mit zwei kleinen Kindern verkaufe ich Sportschuhe, einem älteren Pärchen Hausschuhe und drei Teenagern bunte Sneakers. Die meiste Zeit verbringe ich jedoch im Lager, um es wieder auf Vordermann zu bringen. Miss Mitchel glaubt, mich damit bestrafen zu können, doch sie irrt sich. Die Stunden unten im Keller tun mir gut. Ich genieße es, allein zu sein, bis ich schließlich Feierabend habe.
»Hey, du bekommst von mir gleich noch eine Verwarnung, wenn du dich nicht endlich an unserem intellektuellen Gespräch beteiligst«, motzt mich Molly an.
Wir sitzen zusammen mit Angela in einem Irish Pub um die Ecke, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Die dunklen Möbel sind abgenutzt und das Licht ist schummrig, aber die Preise sind okay und der alte Barmann ist nett. Aus den Boxen dröhnt I see fire von Ed Sheeran. Der Song vermischt sich mit dem Stimmengewirr der Leute.
»Sorry, ich war in Gedanken.«
»Warst du wieder bei Phoenix?«, will Angela wissen. Sie ist knapp dreißig Jahre älter als ich. Ihr dunkelgrüner Pullover steht im Kontrast zu ihren kurzen roten Haaren und strahlt eine erfrischende Lebendigkeit aus, die ihrem Charakter entspricht. »Mädchen, jetzt mach dich doch nicht so fertig.«
»Ich war nicht bei Phoenix.«
Molly dreht einen Bierdeckel in der Hand. »Geht es um das Geld? Machst du dir Sorgen wegen der Kohle für den Porsche? Es war doch ein Unfall, außerdem hatte der andere Schuld.«
»Aber ich hatte zu viel getrunken, was das Ganze komplizierter macht«, gebe ich bitter zu und wünschte, ich hätte das zweite Glas stehen gelassen oder mich einfach nicht an dieses verdammte Steuer gesetzt.
»Und wie viel wird der Schaden kosten?«, hakt Angela nach.
Eigentlich will ich es gar nicht aussprechen. »So wie es aussieht ein paar Tausend Dollar.«
Angela pfeift durch die Zähne. »Scheiße.«
Molly lässt den Bierdeckel auf den versifften Holztisch fallen. »Und wie machst du das mit der Kohle? Können dir deine Eltern aushelfen?«
Ich schüttele den Kopf. »Die können sich mit Dads Gehalt gerade über Wasser halten. Ich bekomme das schon hin. Ich habe noch etwas Erspartes und muss dann eben einen Kredit aufnehmen.« In Wahrheit wissen meine Eltern gar nichts von den Kosten. Sie glauben, dass die Versicherung alles übernimmt, weil es ein Tombolagewinn war. »Können wir bitte über etwas anderes reden? Ich beteilige mich auch gern an eurem intellektuellen Gespräch.«
»Okay.« Angela hebt mit entschlossener Miene ihr Glas. »Wir haben uns überlegt, die Regeln der Footastic Shoecompany gründlich zu überarbeiten und ein eigenes Handbuch herauszugeben.«
Molly prostet ihr nickend zu. »Regel Nummer eins: Der Kunde ist nur dann König, wenn er uns nicht mit seinem Fußgeruch belästigt.«
»Können wir noch Mundgeruch hinzufügen?«, fragt Angela. »Ich hatte heute einen Kunden, der aus jedem Loch gestunken hat.«
»Aus jedem Loch?« Molly und ich lachen los.
»Das sagt man doch bloß so. Wobei ich mir auch vorstellen kann, dass … herrje, das will ich mir gar nicht vorstellen.« Sie seufzt. »Super, Mädels, jetzt habe ich echt hässliche Bilder im Kopf.«
»Du kannst nur im Kopf haben, was du auch hineinlässt«, sagt Molly grinsend.
Angela strafft den Rücken. »Dann lasse ich eine längere Mittagspause hinein, die sollte auch unbedingt zur Regel werden.«
»Und wir sollten das Recht haben, die gelben Schürzen zu verbrennen«, sage ich.
Der alte Barmann stellt uns neue Getränke auf den Tisch und sammelt die leeren Gläser ein. Angela nimmt einen Schluck von ihrem Gin Tonic, bevor sie uns erneut zuprostet. »Tod den Schürzen!«
Wir stimmen mit ein. »Tod den Schürzen!«
Molly stellt ihr Glas wieder ab und trommelt mit dem Zeigefinger auf die dunkle Tischplatte. »Ich hätte da noch eine Idee. Ich finde, Cajus Conterville sollte sich nicht bloß von Weitem auf irgendeiner Firmenveranstaltung zeigen. Es sollte seine Pflicht sein, sämtliche Schuhverkäuferinnen persönlich zu kennen.«
Mit einem Mal sind die Erinnerungen an meinen Traum wieder da. Sein Gesicht, seine Nähe. Schnell schiebe ich die Bilder weg.
»Und was soll das bringen?«, frage ich.
Molly strahlt mich an. »Denk doch an das Märchen, an Cinderella. Cajus Conterville könnte aus den Tausenden Schuhverkäuferinnen die eine wählen, die sein Herz zum Lachen bringt. Und die könnte dann das neue Handbuch durchsetzen. Als Befreiungsschlag für die anderen.«
Mir ist klar, worauf Molly hinauswill. »Und diese eine Schuhverkäuferin … wärst dann wahrscheinlich du?«
Molly lacht, als würden ihre kühnsten Träume in Erfüllung gehen. »Nun, es geschehen die seltsamsten Zufälle.«
Angela hebt die Augenbrauen. »Das Märchen geht doch ganz anders. Mit einem Ball im Königsschloss und einem Schuh, der verloren geht. Nicht mit einem Mädchen in einem Schuhladen. Aber ich kann dich verstehen, wer würde sich nicht für diesen heißen Typen opfern.« Sie fischt die Illustrierte aus ihrer Handtasche, die ich heute am Kiosk gesehen habe, und schlägt sie vor uns auf. Das Licht der gedämpften Deckenbeleuchtung fällt auf eine glänzende Doppelseite, die Cajus Conterville auf einer Jacht zeigt. Mit dem Sixpack und der schwarzen Badeshorts könnte er Werbung für Hugo Boss machen. Neben ihm räkelt sich eine kurvige Brünette, deren Bikini aussieht, als hätte man beim Stoff sparen müssen.
»Offenbar ist er jetzt vergeben«, erklärt Angela und beginnt, die ersten Zeilen des Artikels vorzulesen. »Cajus Conterville ist kein Single mehr! Nach Berichten aus seinem Umfeld ist der attraktive Dreiundzwanzigjährige nun in festen Händen. Die Eltern der zwanzigjährigen Kolumbianerin, die sich den Frauenheld geschnappt hat, gehören zu den einflussreichsten Unternehmern des Landes. Der hübschen Valentina scheint das geglückt zu sein, was schon viele vor ihr vergeblich versucht haben: Sie hat Draufgänger Cajus geknackt. Es wird sogar schon von Verlobung gesprochen. Cajus Conterville macht nach dem Abschluss seines Wirtschaftsstudiums offenbar keine halben Sachen, genau wie sein Vater, der erst letzte Woche das Start-up Shoe-t-me aufgekauft hat. Aber was ist mit Cajus’ Schwester Laetitia? Während sich ihr Ex bereits auf der Release-Party von NEBEN mit einer prallen Blondine vergnügt, hat Laetitia ihren letzten Modeljob in Mailand abgesagt. Eilt sie statt über den Laufsteg vielleicht in Richtung Entzugsklinik? Gerüchten zufolge hat sie die Trennung nur schwer verkraftet …«
»Das ist schrecklich«, sage ich.
Angela überfliegt die nächsten Zeilen, neben denen ein Foto von Laetitia abgebildet ist. Genau wie ihr Bruder ist sie groß, dunkelhaarig und hat smaragdgrüne Augen. Beide verfügen über sehr fein geschnittene Gesichtszüge, das gleiche kantige Kinn. Kein Wunder, dass Laetitia als Model unterwegs ist.
»Was? Hast du etwa Mitleid mit ihr?« Angela sieht noch immer nicht hoch, ihr Blick scheint mit Cajus Contervilles’ Sixpack zu verschmelzen.
»Nein, darum geht es nicht. Ich finde diese Klatschblätter einfach furchtbar. Die schreiben doch nur, was sie wollen.«
Molly wirft ihre blonden Haare nach hinten. »Ich glaube denen auch kein Wort. Vielleicht ist das gar nicht irgendeine Kolumbianerin, sondern einfach nur seine Cousine.«
Es ist irgendwie süß und lächerlich zugleich, dass Molly für Cajus Conterville schwärmt. Der Typ ist aalglatt und definitiv ein Idiot.
»Seine Cousine?« Angela schlägt das Heft zu. Sie deutet auf das Coverfoto, auf dem Cajus Conterville der Brünetten seine Zunge in den Hals schiebt. »Also ich hoffe inständig, dass das nicht seine Cousine ist.«