Christian Rätsch

Vom Forscher,
der auszog,
das Zaubern zu lernen

Meine Erlebnisse
bei den Erben der Maya

KOSMOS

Umschlaggestaltung von Büro Jorge Schmidt, München unter Verwendung eines Fotos von Claudia Müller-Ebeling.

Es wird darauf verwiesen, dass alle Angaben in diesem Buch trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr erfolgen und eine Haftung des Autors oder des Verlags ausgeschlossen ist.

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© 2012, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-440-13453-5

Produktion: Markus Schärtlein

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Liebe das Leben

„Ich werde Dschungelforscher!“

Musik, Musik, Musik

Mit Humboldt durch Südamerika

Von Pflanzengeistern und Zauberpilzen

Im Tempel der Wissenschaft

Castaneda – Gedanken eines Reisenden

Maya lernen!

Mein Weg zu den Lakandonen

Im Reich des Regenwaldes

Die Pyramiden von Palenque

Die Suche nach meinem Tiergeist

Das Dorf von Naha’

Auf Papageienjagd

Dem Tod so nah

Mein Lehrjahr bei den Lakandonen

Yaxchilan – das Zentrum des Universums

Auf der Suche nach dem Wunderbaren

Fotos aus meinem Leben

Aussprache des Maya und Lakandon

Glossar

Literatur

Danksagung

Zuerst bedanke ich mich bei meinen Eltern, dass sie mich gezeugt, dass sie mir meine Forschereien ermöglicht und dass sie mich heidnisch ohne Religion erzogen haben.

Meiner Frau Claudia Müller-Ebeling danke ich für ihre allseitige Liebe und emsige Unterstützung meiner Vorhaben. Sie gibt mir immer wieder den Mut und die Kraft, die ich benötige.

Meinem Professor und Doktorvater Eike Hinz habe ich den Einblick in die Kognitive Anthropologie zu verdanken. Ortwin Smailus danke ich herzlich für seinen ausführlichen Sprachunterricht. Yok’ol k’abah k’uh! Auch danke ich dem DAAD, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, für das Forschungsstipendium, durch das ich ein ganzes Jahr lang in Mexiko leben konnte. Meine anderen Mexikoreisen hat mir mein Vater großzügigerweise ermöglicht.

Mein größter Dank gebührt den Lakandonen, die mir Freunde und Verwandte wurden, die mir den Einblick in eine andere Wirklichkeit ermöglicht und mir öfter das Leben gerettet haben.

Albert Hofmann danke ich von ganzem Herzen für seine Unterstützung meiner Forschungen sowie für seine Entdeckungen. Ebenso danke ich Ralph Metzner für Freundschaft, Inspiration und Erkenntnisse.

All meinen Freunden, die mich zur Niederschrift dieses Buches angespornt haben, danke ich herzlich. Euch allen sage ich „Liebet das Leben!“

Liebe das Leben

„Was aus Liebe getan wird,

geschieht immer jenseits von Gut und Böse.“

Friedrich NIETZSCHE1

In den Firstbalken unserer Garage hat mein Vater sein Lebensmotto, das Credo unserer Familie, geschnitzt: „Liebe das Leben!“ Ich wuchs mit dieser Liebe fürs Leben auf. Jedes Mal, wenn ich auf den Balken blicke, freue ich mich über diese frohe Botschaft. Und denke an den schönen Satz von Albert Hofmann: „Liebe ist die höchste Form der Wahrnehmung.“ In diesem Sinne ist meine Beziehung zu der wunderbaren Welt der Zauberei zu verstehen.

Zauberei gilt bei uns als Aberglauben. Aber Aberglauben ist Zauberglauben oder das Vertrauen auf Zauberei. Zauberei wird auch als Bühnenzauber, Trickmagie oder Illusion verstanden. Aber über die Trickzauberei schreibe ich nicht, sondern über die schamanische Zauberei oder die „richtige“ Zauberei. Zauberei gehört in der modernen Welt zum Märchenhaften, Sagenhaften, zu Spekulationen und Irrwissen, zu düsteren Heidenwelten und schädlichem Hexenwerk. Aber die Zauberei gehört zur menschlichen Kultur, ist Allgemeingut.

„Kinderkram“ – Ja, als Kind hatte ich eine besondere Beziehung zur Zauberei. Zu Zauberern wie Wotan. Später wurde ich Wissenschaftler, der die Zauberei erforschte. Ich fühle mich manchmal wie ein Lehrling zu Saïs. Ein „echter“ Zauberlehrling …

Ich habe insgesamt über drei Jahre bei den Lakandonen von Naha’ verbracht, ihr Leben geteilt, viel von ihnen gelernt. Ich fand Freunde und Wahlverwandte, legte ein Maismischfeld an, beteiligte mich an der Jagd, erlernte die Zaubersprüche zur Krankenheilung und durfte oft am balche’-Ritual teilnehmen. Aber das für mich Wichtigste und Bedeutendste war die Einweihung in eine lebendige, schamanische Kultur.

Ich habe vier Bücher über die Lakandonen verfasst: eines über ihre Mythologie, dann meine Dissertation, ein weiteres über ihre geistige Kultur, ein viertes über die Kinder. Diese Bücher waren Sachbücher, enthielten meine Forschungsergebnisse. Ich habe bisher noch nie über meine persönlichen Erfahrungen geschrieben. In Erinnerungen und anhand von Tagebucheinträgen lasse ich in diesem Buch meine Erfahrungen im Dschungel sowie meinen Werdegang zum Wissenschaftler und Forscher, der auszog, das Zaubern zu lernen, wiederauferstehen. Es ist mein kommentiertes Dschungelbuch … Ich habe dabei mein Leben Revue passieren lassen, mich nochmals mit all dem Erlebten und Erfahrenen beschäftigt.

Meine Oma mütterlicherseits (Marie Pinckert, 1896–1981) sagte mir als Kind immer wieder: „Junge, das einzige was dir niemand wegnehmen kann, sind deine Erfahrungen.“ Noch heute profitiere ich von diesem weisen Spruch. Erfahrungen sind das Wertvollste im Leben. Durch sie lernt man, durch sie erkennt man, an ihnen wächst man, an sie reiht sich das Glück, das Lebensglück, an ihnen reift der Sinn; wie es mein Freund und Mentor Albert Hofmann ausdrückt: „Glück lässt sich nur umschreiben als ein besonderer Zustand des menschlichen Bewusstseins. Glück gehört in die Kategorie des Seins. Unsere Suche nach Glück – und Sinn – ist demnach eine Suche nach den Voraussetzungen, die die Wahrnehmung von Glück und Sinn erst möglich machen.“

„Ich werde Dschungelforscher!“

Vom Zaubern handeln nicht nur die Märchen, die man einst den Kindern erzählte, sondern auch die Wissenschaften.“

Christoph DAXELMÜLLER2

Die norddeutsche Ostsee hat mich sehr geprägt. Schon vor meiner Geburt waren meine Eltern begeisterte Camper und schlugen jedes Jahr dort ihr Zelt auf einem FKK-Platz auf. Ich wurde mit natürlicher Nacktheit aufgezogen. Schon meine Großeltern mütterlicherseits gehörten zu der aufkommenden Nudistenbewegung im Deutschen Reich. An der Ostsee sind wir fast jeden Morgen früh aufgestanden, an den Strand gegangen, haben nackt die Sonne gegrüßt und kurz gebadet. Nackt war für mich normal. Nackt war Natur pur.

Seit frühesten Kindertagen haben mich Steine fasziniert. So saß ich ständig im Spülsaum und spielte mit ihnen. Ich schaute sie mir genau an und entdeckte eine unglaubliche Vielfalt in ihnen. Besonders fasziniert war ich von geschossförmigen, hellbraun kristallisierten, kreisrunden Steinen. Sie sollten mich zu einem wichtigen Urerlebnis führen.

Von meinen Eltern lernte ich, dass spezielle Steine von unserem Donnergott Thor mit dessen Hammer durch die Wolken getrieben worden waren, um es regnen zu lassen. Sie heißen Donnerkeile, weil sie den Donner erzeugen und dann mit dem Blitz in die Erde fahren. Wenn ich einen Donnerkeil gefunden hatte, war ich davon überzeugt, einen Stein des mächtigen Gottes in Händen zu halten.3

Eines Tages wurde im Kurmittelhaus von Grömitz eine Ausstellung mit Funden aus dem Grömitzer Geschiebe gezeigt. Ich war gerade neun Jahre alt und interessierte mich gleichermaßen für Dinosaurier, Neandertaler, Hexen, Zauberer und die Götter meiner Ahnen. Ich schob mich zwischen den Kurgästen an den Vitrinen vorbei – bis mich der Blitz traf. Ich blickte in ein seltsames Gesicht, eine magische Maske aus Flintstein. Ich glaubte, Thor persönlich zu sehen. Da lag ein versteinerter Seeigel4 hinter dem Schaufensterglas, der ein Gesicht hatte. In dem kleinen Begleitkatalog zur Ausstellung las ich eilends nach. Da stand: „Wenn nicht alles täuscht, stellt jener seltsam und eigenwillig retuschierte Seeigel den frühen Versuch des prähistorischen Menschen dar, aus einem Petrefakt ein Artefakt, aus einem versteinerten Seeigel eine Dämonenmaske, einen Fetisch, ein Amulett zu schaffen: Man sieht, wie mittels weniger Schliffe gleichsam Augen, Nase, Mund und eine gefurchte, seltsam hohe Stirn entstanden sind. – Oder sollte das Ganze nur ein Naturspiel sein?“5 In den folgenden Wochen hockte ich nur noch zwischen den Steinen am Strand. Ich wollte unbedingt so eine Seeigelmaske finden. Ich war wie besessen, besessen vom natürlichen Pentagramm im Stein.

In der Grömitzer Ausstellung über die Geschiebefossilien überraschte mich auch die Erklärung, woher diese Donnerkeile stammen. Donnerkeile, oder wissenschaftlich Belemniten6, sind die versteinerten (calcitisierten) Spitzen der kalkigen Innengerüste (Rostren) vorzeitlicher, Kalmaren ähnlicher Tintenfische, die auf hoher See schwammen und vor 65 Millionen Jahren, also am Ende der Kreidezeit, zusammen mit den Ammoniten und Dinosauriern ausgestorben sind. Diese Geschichte über die Donnerkeile fand ich genauso spannend wie das mythische Bild meiner Eltern. Aber ist es nicht eigentlich egal, ob man die Herkunft der mit Händen greifbaren Donnerkeile mit einem mythologischen Modell oder mit einer wissenschaftlichen Theorie zu erklären versucht?

Am Ostseestrand begann mein Weg zum Dschungelforscher. Eines Tages, ich war gerade dreieinhalb, baute ich mich vor meiner Mutter auf, drehte mit der linken Hand energisch den Daumen der rechten, und sprach erstaunlicherweise zu ihr: „Mami, ich werde Dschungelforscher!“ – Wohl verblüfft schrieb meine Mutter diese Aussage auf, und daher weiß ich auch so genau davon. Ich weiß allerdings nicht, wie ich damals darauf gekommen bin. Vermutlich bin ich als Knirps einfach einer folgenschweren Intuition gefolgt.

Ich war anders als die anderen Kinder, die Lokführer, Baggerfahrer, Kranführer und Ähnliches werden wollten; ich wollte Forscher sein. Mit fünf konnte ich lesen und schreiben. Ich interessierte mich jedoch nicht für Comics, Märchenbücher oder gar die Bücher von Karl May. Mein Lieblingsbuch war „Die illustrierte Enzyklopädie der Welt“. Besonders angetan war ich von den Seiten, auf denen die griechischen und andere Heidengötter dargestellt waren. Ja, zu den alten Göttern hatte ich eine sehr frühe Beziehung. Sie wurde mir vor allem durch meinen Vater vermittelt.

Mein Vater Paul, den wir alle Päule nennen, war ein großer Geschichtenerzähler. Er erzählte mir und den Nachbarskindern die ganze germanische Mythologie; entweder in unserer Straße, der Kuhkoppel, oder auf dem Zeltplatz an der Ostsee. Er erzählte aus Leidenschaft und mit Verve. Er monologisierte nicht wie viele Märchenerzähler, sondern schmückte die Geschichten fantasievoll aus, fragte die Zuhörer etwas, ging auf Fragen der gebannten Kinder ein. Kurz, es war eine echte Erzähltradition. Diese Form des Erzählens habe ich von Päule geerbt. Und ich habe sie später in meinem Leben, im Dschungel von Südmexiko bei den Lakandonenindianern, wieder erlebt.

Am meisten haben mich die germanische Schöpfungsgeschichte sowie die Sagen von Wotan (= Odin), Thor und Loki gefesselt. In der Urzeit war nichts, dann Ginnungagap, die gähnende Tiefe, das germanische Chaos. Daraus entstand zunächst eine Kuh. Aus ihrem Euter rannen vier Milchflüsse, die Ymir, den ersten Riesen, ernährten. Dann entstanden die ersten Götter, Odin und seine Brüder. Sie erschlugen den Riesen und schufen aus seinen Überresten die Welt7:

„Aus Ymirs Fleisch

Ward die Erde geschaffen,

Aus dem Blute das Brandungsmeer,

Das Gebirge aus den Knochen,

Die Bäume aus dem Haar,

Aus der Hirnschale der Himmel.

Aus des Riesen Wimpern

Schufen Rater hold

Midgard den Menschensöhnen;

Aus des Riesen Gehirn

Sind die rauhgesinnten

Wolken alle gewirkt.“

Ich konnte mir alles so plastisch vorstellen, meine Fantasie war davon sehr erregt. Mir machte es nichts aus, dass die geologische Erklärung von der Entstehung unserer Welt ganz anders war. Für mich standen die beiden Schöpfungsgeschichten nicht in Konkurrenz. Sie ergänzten sich.

Ich habe damals sehr viel gemalt und gezeichnet. Ständig brachte ich die germanischen Götter zu Papier. Ich zeichnete sie nach meiner Fantasie, die der Erzählung meines Vaters entsprang. Mich wunderte es sehr, dass andere Kinder nur Autos, Kräne und Lokomotiven zeichneten. Die technischen Errungenschaften des Menschen interessierten mich herzlich wenig. Aber die mythische, gar mystische Welt der heidnischen Geschichten hielt mich in Bann. Ich erlebte eine Art Mythomania – und Mystomania.

Ich genoss eine echte heidnische Erziehung. Ohne Schuld und Sünde! Keiner in unserer Familie war religiös oder gehörte einer Religion an. Deshalb bin ich auch erst später in meinem Leben mit diesem seltsamen Phänomen in Berührung gekommen. Als ich in die Schule kam, wurde ich von Mitschülern merkwürdige Dinge gefragt wie „Bist du evangelisch oder katholisch?“ oder „Glaubst du an Gott?“ Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter, was ich sei und ob wir an Gott glauben würden. Meine Mutter antwortete mir: „Wir sind gar nichts. Wir glauben nicht an Gott, wir verehren die Natur!“

Später ergänzte mein Vater, dass die Natur das ewig Geheimnisvolle sei. Wir sähen in der Natur das Wunder des Lebens und deren Schönheit. Die Natur ist so fantastisch, da braucht man keinen Gott mit langem Bart. Ja, die Natur war mir das Wichtigste und Erstaunlichste überhaupt. Je mehr ich in sie eindrang, desto rätselhafter und geheimnisvoller wurde sie für mich und die Mythen sind die Geschichten, die einem das Wunder des Daseins erklären sollten. Ich vertraute auf die Naturwissenschaften und die Mythologie.

Gleichermaßen wie die Mythen fesselten mich die geologischen und paläontologischen Geschichten. Mich faszinierten die Dinosaurier, die Ammoniten, die Trilobiten (Dreilappkrebse), die Großsäuger aus dem Tertiär, die Urmenschen und Neandertaler.

Eines Tages kam der tschechische Film „Die Reise in die Urzeit“ im Fernsehen. Ich saß gebannt vor dem Schwarz-Weiß-Gerät. Der vierteilige Film handelte von einer Gruppe von abenteuerlustigen Jungs, die einen Fluss entdeckt hatten, auf dem sie mit dem Boot in die Urzeit paddeln konnten. Sie führten genau Buch über ihre Eindrücke und Abenteuer. Das regte mich an, auch ein „wissenschaftliches“ Journal zu führen. Ich schrieb alle meine Aktivitäten als kleiner Forscher darin auf, ich machte Zeichnungen von Fossilien, die ich an der Ostsee gefunden hatte. Ich malte Stammbäume des Lebens ab und verfasste kurze Texte zur allgemeinen Paläontologie. Als ich in der dritten Klasse von meiner Lehrerin ermuntert wurde, einen Vortrag über Fossilien in meiner Klasse zu halten, traf ich ins Schwarze. Außer mir hatte keiner Ahnung von Versteinerungen und Geologie. Ab da nannten mich meine Mitschüler „Professor“.

Obschon ich mich auf die Schule gefreut hatte, war ich doch schon am ersten Tag meiner Einschulung bitter enttäuscht. Wir bekamen nach der Schultüte eine Fibel, eine „Schulfibel“ für die erste Klasse. Ich schlug das Buch auf und war entsetzt. Da gab es ein Bild von einem Fahrzeug im Straßenverkehr, darunter stand geschrieben „Tut, tut, ein Auto“. – Ich war bedient. Wie konnte ein Buch derart einfach beginnen. Mich überfiel die Banalität der Schulwelt; ich wusste, hier kann ich nichts lernen. Aber ich wollte lernen. Deshalb gab ich mich in meiner Freizeit meinen wissenschaftlichen Studien hin. Was mir die Schule nicht bieten konnte, erschuf ich für mich selbst. Ich habe Bücher über Dinosaurier, die Evolution des Lebens, Petrefaktenführer und Bestimmungsbücher für Insekten, Muscheln und Schnecken studiert. Zu Hause lebte ich in einer vollkommenen Anderswelt. Die Mysterien des Seins erfüllten mich. Woher kommt der Mensch? Was soll er hier? Wohin geht der Mensch? – Das waren die Fragen, die ich mir stellte, nicht ein simples „Tut, tut …“

Mein Vater fütterte mich mit Büchern, sobald ich an einem Gebiet Interesse kundtat. Er war sehr großzügig. Mein Vater war nämlich sehr arm, bescheiden und ohne Bücher aufgewachsen. Deshalb hatte er, im Gegensatz zu mir, die Schule geliebt, denn dort bekam er Bücher. Als junger Mann hatte sich mein Vater geschworen, dass seine Kinder, sollte er einmal welche haben, auf jeden Fall mit Büchern aufwachsen würden. Von seinem Schwur sollte ich noch oft profitieren. Als ich mich für die Paläontologie, vor allem für Dinosaurier und die Paläanthropologie, die Entwicklung der Urmenschen, interessierte, kaufte er mir sofort Sach- und Fachliteratur.

Die Paläontologie, die Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung des Lebens, gehörte zu meinen liebsten Gebieten. Die vorzeitlichen Geschöpfe unserer Evolution fesselten mich. Zuerst sammelte ich nur Fossilien, später trieb mich die Frage nach der Entstehung des Lebens. Auf meiner Suche nach den Anfängen des Lebens landete ich bei der Chemie.

Mit acht oder neun erhielt ich meinen ersten Chemiebaukasten von „Kosmos“. Er war für mich eine wahre Wundertruhe. In dem Kasten verbarg sich aufregendes Wissen. Und das wollte ich erlernen. Ich verbrachte ganze Nachmittage damit, herumzuexperimentieren. Ich sog ich die neuen Kenntnisse und Erkenntnisse in mich auf. Die Materie übte eine starke Faszination auf mich aus und ich wollte deren Geheimnisse ergründen. Außerdem war Chemie, also das Experimentieren mit Materie, kreativ. Wenn man zwei Substanzen zusammenbrachte, entstand eine dritte, manchmal sogar eine vierte. Chemie war für mich so etwas wie Zauberei. Denn ich konnte nach meinem Willen die Materie verändern – so dachte ich damals. Heute weiß ich, dass man als Chemiker keinen neuen materiellen Stoff schaffen kann, man kann sich nur die Eigenschaften der Natur zunutze machen.

Damals mischte ich als erstes Brausepulver, verfärbte Lackmuspapier und machte in der Küche aus Rotkohl Blaukraut. Dann stellte ich Schwarzpulver her, ließ aus Salzsäure und Natronlauge Kochsalz entstehen und bizarre Kristalle aus Kupfersulfat, Eisenoxid und anderen Substanzen in Wasserglas wachsen. Bald analysierte ich den Urin meines Vaters, um zu sehen, ob seine Nieren noch in Ordnung waren.

Als ich zwölf war, baute mir mein Vater ein kleines Haus hinten im Garten, aus richtigen Klinkersteinen. Das wurde mein Laboratorium. Ich hatte zu dem Zeitpunkt ein paar Hundert Chemikalien im Schrank, besuchte einen Volkshochschulkurs für präparative Chemie und las Fachliteratur für die Hochschule. Besonders gerne analysierte ich Mineralproben. Immer wollte ich wissen, was in so einem Gesteinsklumpen versteckt war. Ich hantierte mit gefährlichen Substanzen, wie etwa reinem Natrium, das immer in Petroleum aufbewahrt werden musste, synthetisierte Chloroform, an dem ich mich sogar berauschte, mir gelang sogar die Synthese von Nitroglycerin und die Herstellung von Dynamit. Aber ich war ein sehr besonnener, vorsichtiger, kleiner Chemiker. Mir ist niemals etwas passiert. Ich habe weder Geräte noch Häuser in die Luft gejagt. Das Schlimmste, was jemals geschah, war ein Loch, das ich mit Schwefelsäure in ein modisches Blümchenhemd hineingeätzt hatte. Meine Mutter hatte zwar immer Angst, doch vertraute sie auf meine Weitsicht.

Ich verbrachte jeden Nachmittag in meinem Labor, das ich mir mit der Zeit immer gemütlicher eingerichtet habe. Ich hatte Bilder von den Laboratorien der Alchemisten gesehen. Ich wollte es ihnen gleichtun und hängte ausgestopfte Krokodile, Sägefischsägen und aufgeblasene Kugelfische in die Ecken. Ein ganzes Regal dekorierte ich mit Muscheln und Schnecken, Korallenästen, Fossilien und Mineralien. Ich schuf mir ein echtes Naturalienkabinett. Für mich entstand eine Zauberwelt der Natur, der Materie; in deren Mitte saß ich und zauberte, d.h. ließ chemische Reaktionen geschehen. Mein Lieblingsbuch war das „Lehrbuch der analytischen und präparativen anorganischen Chemie“. Ich liebte es, mir Sachgebiete meiner Wahl selbst anzueignen. Das ist einer meiner Charakterzüge, der mich durch mein ganzes Leben begleitet hat und weiterhin begleitet.

Bei der Beschäftigung mit der präparativen organischen Chemie tauchte wieder die Frage nach der Entstehung des Lebens auf. Wie konnten aus den Elementen der Ursuppe chemische Verbindungen entstehen, die zusammen Leben ergaben? Wieder konsultierte ich die Fachliteratur, etwa R.W. Kaplans „Der Ursprung des Lebens“ aus dem Jahr 1972. Daraus entnahm ich, dass unter gewissen Bedingungen und Umständen aus einfachen Kohlenstoffverbindungen komplexe Moleküle entstehen, die die Grundlage für lebende Materie bilden. Ich kam auf die vermessene Idee, Experimente in dieser Richtung zu unternehmen. Aufgrund fehlender Spezialgeräte kam ich aber nicht weit, jedenfalls nicht in der Praxis.

Aber im Geiste konnte ich mir vorstellen, wie aus Methan, Wasser und Stickstoff Moleküle entstehen konnten, die eine organische Grundlage für die Entstehung von Aminosäuren und Eiweißkörpern, von organischen Bausteinen und Alkaloiden in urzellenartigen chemischen Herden bildeten. Aber der chemische Weg zum Wunder des Lebens hatte seine Grenzen. Was ist denn überhaupt Leben? Wie definiert sich Leben? Können wir uns eine chemische Evolution vorstellen, die zu geistesgegenwärtiger Materie führt? Mit diesen Fragen beschäftigte ich mich damals.

Mir schien die Grenze zwischen anorganischer und organischer Materie zu verschwimmen. Wo lag der Beginn von Leben, was ist das Geheimnis von Leben? Ist Leben nicht so etwas wie Zauberei? Wodurch wird aus ein paar Molekülen ein lebender Organismus? Und wie entsteht in einem solchen Organismus der Geist?

Mit sechzehn gründete ich eine Art Schülerverein, die IGN, die Interessengemeinschaft Naturwissenschaft. Darin versammelten sich die Mitschüler, die, so wie ich, ernstes Interesse an Naturwissenschaften hatten. Wir trafen uns einmal in der Woche. Dann hielt immer einer von uns einen Vortrag und wir diskutierten darüber. Wir gaben auch eine eigene Zeitschrift heraus, den „IGN Reflektor“. Ich wurde Schriftführer und schrieb allerlei Artikel zu naturwissenschaftlichen Themen. Gleich in der ersten Ausgabe (April 1974) platzierte ich einen Artikel „Was ist Leben?“. Darin veröffentlichte ich meine Lebensdefinition: „Leben ist eine Substanz, die aus eigener ‚Energie‘ Bewegungen hervorbringt und in einer Umgebung, die aus den Elementarteilchen der Substanz besteht, durch Autokatalyse eine Bildung gleichartiger Substanz wieder zum eigenen (weiteren) Aufbau (Wiederaufbau) bewirkt.“

Für mich war die Grundlage des Lebens klar: autokatalytische Reduplikation. Den kurzen Artikel beendete ich mit dem Satz: „Philosophisch gesehen ist Leben das, was man dazu erklärt.“ Damit bezog ich mich ausdrücklich auf Friedrich Nietzsches Werke, die ich noch als Schüler komplett gelesen hatte. Aus Nietzsches Werk zitierte ich auch den Satz: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen“.

Nietzsche war für mich eine Offenbarung. Da gab es jemanden, der das ausdrücken konnte, was ich unbewusst dachte und was ich fühlte, aber noch nicht ausformulieren konnte. Sein Werk machte einen ungeheuren Eindruck auf mich und lehrte mich, komplizierte Gedanken auszudrücken. Nietzsches Worte führten mich von der Naturwissenschaft zur Geisteswissenschaft. Ich merkte sofort, dass sich Chemie und Philosophie nicht ausschlossen, sondern sich gegenseitig ergänzten. In beiden Disziplinen gab es Annäherungen an das Mysterium des Seins. Und beide Wissenschaften sollten mich mein ganzes Leben lang begleiten und mir immer wieder neue Perspektiven aufzeigen.

Später, als ich Albert Hofmann schon kannte, überraschte er mich mit dem Ausspruch „Nur ein Chemiker, der auch zum Mystiker wird, ist ein echter Chemiker!“ – Albert Hofmann (geboren 1906), der Entdecker des LSDs und dessen psychedelischer Wirkung, war Naturstoffchemiker und hatte bei der pharmazeutischen Firma Sandoz in Basel das Forschungslabor geleitet. Für ihn war die Materie in ihrer vielfältigen Gestaltungskraft an sich schon ein Mysterium. Als Chemiker war er sozusagen Myste, ein in die Geheimnisse des Materiellen Eingeweihter.

Musik, Musik, Musik

Von Musik erfüllt mein Sein

Duftende Klänge

Der Erinn‘rung Segen

Wie Balsam träufelt

Ergießt sich meiner Seel‘

Des Sees Spiegel nährt mich

Ich darf glücklich sein!

Neben den Naturwissenschaften und der Philosophie liebte ich vor allem Musik. Immer schon hatte Musik in meinem Leben eine zentrale Bedeutung. Musik ist eine meiner wichtigsten kulturellen Wurzeln geworden. Mit Musik reiste ich durch viele Welten. Viele Welten erschlossen mir die Musik. Sie verzauberte mich im wahrsten Sinne des Wortes.8

Ich komme aus einem musikalischen Haushalt. Meine Mutter war Baletttänzerin, mein Vater begann eine Karriere als Opernsänger, spielte Gitarre und komponierte Lieder. 1962/63, als ich fünf war, brachte mein Vater eine Single von den Beatles mit. Da sangen die in Hamburg groß gewordenen Pilzköpfe auf Deutsch: „Komm‘ reich mir deine Hand“, die Hamburger Version von „I want to hold your hand“. Ich war sofort Beatles-Fan. Die Schallplatte hörte ich ständig. Ab diesem Zeitpunkt gab mir mein Vater jeden Monat fünf Mark extra – das war damals viel Geld! –, damit ich mir die jeweils neueste Beatles-Single kaufen konnte. Natürlich musste ich auch sofort einen Pilzkopf haben. Nach den Beatles kamen die Rolling Stones. Auch ihr Fan wurde ich. Sie waren viel dreckiger als die Beatles. „I can’t get no satisfaction …“

Zu der Zeit erschien bei der Deutschen Grammophon eine LP-Box mit den neun Symphonien von Ludwig van Beethoven, dirigiert von Herbert von Karajan und von den Berliner Philharmonikern gespielt. Mein Vater schaffte sie sich an, obwohl sie damals ein kleines Vermögen kostete. Jeden Sonntagvormittag hörten mein Vater und ich eine der Symphonien, bis ich alle kannte. Damals liebte ich vor allem die Fünfte, die Schicksalssymphonie, und die Neunte mit ihrem großartigen Choral „Freude schöner Götterfunken“. Später wurde Beethovens Siebte meine Lieblingssymphonie, und das ist sie bis heute.

Beethoven und die Beatles standen also am Anfang meines Musikinteresses, meiner musikalischen Laufbahn. Dann kamen die Rolling Stones, die Supergruppe Cream und der Gitarrengott Jimi Hendrix. Ihre Musik beflügelte mich, gab mir ein herrliches Lebensgefühl und tiefe Befriedigung. Musik ist für mich das wahrhaft Mystische. Oder wie es Rüdiger Safranski ausdrückt: „Die wahre Welt ist Musik. Musik ist das Ungeheure. Hört man sie, gehört man zum Sein. So hat Nietzsche sie erlebt. Sie war ihm ein und alles. Sie sollte niemals aufhören. Doch sie hört auf, und deshalb hat man das Problem, wie man weiterleben kann, wenn die Musik vorbei ist.“9 Zum Glück kann man Schallplatten immer wieder auflegen und abspielen.

In unserer Straße, der Kuhkoppel, gab es mehrere Jungen in meinem Alter. Oft verbrachten wir die Tage damit, gemeinsam unsere Platten anzuhören. Da wir nur wenig Geld hatten und LPs verdammt teuer waren, kaufte jeder ein Album, sodass wir gemeinsam mehr Musik hören konnten als alleine. So kam ich früh in den Genuss der Mothers Of Invention (Frank Zappa), Steppenwolf und Walter Carlos. Ich steuerte meine erste erworbene LP „Goodbye Cream“ und andere Platten von Ten Years After, John Mayell und Jethro Tull bei. Wir hörten alle Alben rauf und runter. Wir merkten, dass uns diese Musik in einen glücklichen, fröhlichen Zustand versetzte. Wir merkten auch, dass in dieser Musik die Kraft zur Revolte schlummerte. Ihr Klang verkündete ein neues Zeitalter, den Anbruch der Hippiebewegung.

Ein musikalisches Urerlebnis hatte ich, als ich Arthur Brown zum ersten Mal im Fernsehen – ich glaube, es war Beatclub – sehen und hören durfte. Lauthals rief er „I am the god of hellfire“ and „I bring you fire, fire to the world“ („Ich bin der Gott des Höllenfeuers“ und „Ich bringe euch Feuer, Feuer für die Welt“). Der Sänger seiner Band, die bezeichnenderweise The Crazy World of Arthur Brown hieß, begann einen wahnwitzigen Gesang zu stampfenden Riffs. Er trug dabei eine Stahlmaske, die sein halbes, mit schwarzer und weißer Farbe bemaltes Gesicht verdeckte und nur die Augen eines Irrsinnigen durchblicken ließ. Auf dem Kopf trug er eine Krone, aus der echte Flammen züngelten. Er war in einen schwarzen, aber glitzernden Umhang gehüllt, wie ein echter Höllenfürst. Seine Single „Fire!“ wurde mein Lieblingsstück. Ich konnte es immer wieder hören, Hunderte Male mindestens. Später erfuhr ich, dass der von mir so hoch geschätzte Arthur Brown Philosophie mit dem Schwerpunkt Friedrich Nietzsche studiert hatte, sich selbst gerne als Zarathustra vorstellte, dass er reichlich über psychedelische Erfahrungen verfügte und in Mexiko bei Schamanen Zauberpilze verzehrte und von ihnen lernte.

Das Album „Switch On Bach“ von Walter Carlos faszinierte mich schon bei den ersten Tönen. Gerade war der Moog Syntheziser erfunden worden. Und Walter Carlos spielte damit Werke von Johann Sebastian Bach, die für die elektronische Interpretation arrangiert waren. Ich war begeistert, von den neuen elektronischen Möglichkeiten sowie von Bachs Kompositionen. Ich wollte von beidem mehr wissen. So entdeckte ich für mich die elektronische Musik, die seit den 1950er-Jahren in Köln, vor allem durch Karlheinz Stockhausen ihren Ausgang genommen hatte. Stockhausen galt als Wahnsinniger, als Bürgerschreck, als Kulturbanause. Ich aber fand ihn genial. Ich besorgte mir Schallplattenaufnahmen seiner elektronischen Experimente. Meine Eltern konnten darüber nur lachen und bemerkten, dass dieser Krach und diese Geräusche wohl eher keine Musik wären. Ich war ganz anderer Meinung, für mich war Stockhausens Werk echte Musik. Ich konnte den elektronischen Schleifen, Spiralen, Schwingungen und den mit ihnen manipulierten Tonbändern viel abgewinnen. Erst später hörte ich, dass auch Pink Floyd von Stockhausens Musik inspiriert wurde. Jedenfalls wollte auch ich solche elektronische Musik spielen. Dazu nahm ich eine Heimorgel, einen Verstärker, ein Tonbandgerät und einen Sinusgenerator, den mein Bruder Stephan selbst gebaut hat (er wurde später Elektroingenieur). Meine Eltern lachten sich tot, als sie meinen ersten Darbietungen lauschen durften. Das machte mir aber nichts aus, ich blieb am Sinusgenerator und experimentierte mit den elektronischen Tönen und Klängen weiter.

Als ich vierzehn war, wurde meine Mutter nochmals schwanger, mit 48! Der Familienrat freute sich auf den Zuwachs. Der „Indianername“ meines jüngeren Bruders lautet bis heute „Gutartiges Myom“, denn als solches wurde er zunächst diagnostiziert. Meinem kleinen Bruder Sebastian verdanke ich die einflussreichste Erfahrung, das einschneidenste Erlebnis meines jugendlichen Lebens. Als meine Mutter im achten Monat schwanger war, hatten meine Eltern Karten für die Hamburgische Staatsoper, für „Lohengrin“ von Richard Wagner. Meine Mutter meinte, ihr sei in ihren Umständen ein so langer Opernbesuch nicht zumutbar. Als meine Eltern darüber sprachen, wie das Problem zu lösen sei, rief ich plötzlich: „Ich komme mit!“

So gingen mein Vater und ich in die Hamburgische Staatsoper. Für mich war es das erste Mal. Wir hatten sehr gute Plätze, in der ersten Reihe im Parkett. Als das sphärische Vorspiel zu „Lohengrin“ anhob, war ich sofort verzaubert. Ich hatte noch nie etwas Derartiges erlebt. Ich saß unmittelbar am Orchestergraben und staunte über den Klang, den das Orchester strahlend erschuf. Die Musik hob mich in selige Gefilde, sie sprach zu mir. Noch im Bann der Opernaufführung ging ich am nächsten Tag in ein Schallplattengeschäft, in die Abteilung EM, „Ernste Musik“. Ich fragte den Verkäufer, ob es eine Schallplatte mit den Vorspielen zum ersten und dritten Akt von „Lohengrin“ gäbe. Schnell zog er eine LP hervor. Ich kaufte sie sofort und eilte nach Hause. Noch in den Straßenschuhen stürzte ich zur Musiktruhe, warf die Scheibe auf den Plattenteller und machte es mir bequem. Da stieg wieder diese fantastische Musik auf, so als säße ich wieder am Orchestergraben. Die LP barg noch andere Kostbarkeiten: die Ouvertüre zu „Rienzi“ sowie „Wotans Abschied und Feuerzauber“ aus der „Walküre“. Das war der Hammer! Ich konnte es kaum fassen, dass ich jetzt meinem Lieblingsgott Wotan erneut begegnete. Ich hörte diese Schallplatte den ganzen Tag, über Wochen hinweg, so lange, bis ich jedes Stück auswendig kannte. Besonders Wotans Abschied hatte es mir angetan, so sehr, dass ich mir eine Gesamtaufnahme der „Walküre“ zu Weihnachten wünschte.

Tatsächlich bekam ich zu Weihnachten die „Walküre“ geschenkt, dirigiert von Herbert von Karajan, die zur damaligen Zeit nur als LP-Box erhältlich war. Wotans Abschied und Feuerzauber haben mich derart verzaubert, dass ich für den Rest der Welt einer „dieser verrückten Wagnerianer“ wurde. Ich erkannte begeistert, dass „Die Walküre“ nur ein Teil des vierteiligen Werkes „Der Ring des Nibelungen“ war. Von da an legte ich mir die anderen Opern aus dem Zyklus als LPs zu: „Das Rheingold“, „Siegfried“ und die „Götterdämmerung“. Ich las die Texte und war verblüfft, das Wagner die germanische Mythologie, mit der ich ja aufgewachsen war, zu einem Opernstoff verarbeitet hatte. Der „Ring“ gab mir eine Art musikalisches Zuhause. In dieser mächtigen Musik konnte ich vollkommen aufgehen. Sie beglückte mich und schenkte mir immer wieder wundervolle Gänsehaut. Wagners Werk wurde zu einer wichtigen Wurzel. Gerade in einer Zeit der kulturellen Verunsicherung, der Entwurzelung ist es wichtig, zu den eigenen Wurzeln zu finden, kulturelle Geborgenheit zu erleben, das Leben mit Sinn zu erfüllen. Der Sinn wird uns durch die Sinne, die Sinneswahrnehmung gegeben. Was wir „wahrnehmen“ ist unsere Wirklichkeit. Sie ist das sinnliche Sein, sie ist unser Leben. Jeder Mensch ist das Zentrum des Universums! Und eines jeden Wirklichkeit ist richtig. Sie gilt aber nur für den einzelnen, nicht für andere, denn auch sie sind das Zentrum des Universums.

Wagners Musik hat mich von Anfang an total verzaubert. Seine Musik hat Zauberkraft. „Wagner ist ein Zauberer“, kommentierte der glänzende Sänger Dietrich Fischer-Dieskau Wagners Musik in der Dokumentation „The Golden Ring“, dem Film über die erste Studioaufnahme der „Götterdämmerung“ unter Leitung von Sir Georg Solti.

Ich habe das Werk Wagners über dreißig Jahre lang studiert, Texte, die Wagnerschen Sprachquellen erforscht, Partituren, Klavierauszüge, Sekundärliteratur gelesen; bin in Hunderten von Opernaufführungen seiner Werke gesessen, habe Hunderte Liter Tränen der Freude und tiefen Ergriffenheit geheult. Den „Ring“ liebe ich über alle Maßen. Die ihm inhärente Weisheit erschüttert mich immer wieder. Die Wiedergeburt des Heidentums aus dem Geiste der Musik!

Wagner prophezeite mit seinem „Ring des Nibelungen“, wie durch das Ergreifen der „maßlosen Macht“ all das Elend, die Verstrickungen, Intrigen und Betrügereien unsere Welt in ihrer Schönheit und Harmonie zerstören. Richard Wagner war ein Visionär, ein Skalde, ein Mystiker – mehr noch: Er war von Wotan, dem Gott der Erkenntnis, erfüllt. Wagners Vision war der „Ring des Nibelungen“ – ein prophetisches Werk, ein Fenster in den schamanischen Kosmos und in die Abgründe des menschlichen (Fehl-)Verhaltens. Der „Ring“ zeigt das Drama, das zwangsläufig eintritt, wenn man dummerweise den Weg der Liebe mit dem Streben nach Macht vertauscht. Ein echtes Mysterienspiel, ein zauberhaftes Kunstwerk, das gewaltigste Opernwerk der Musikgeschichte.

Wagners Musik beeindruckte mich weitaus tiefer als die Beethoven’sche Symphonik. Aber Beethoven war ein gutes Sprungbrett in die Wagnersche Welt. Beethoven war der erste Rock-Musiker der Geschichte, jedenfalls für mich. Wagner war der erste Heavy Metal-Komponist – man höre sich mal genau Siegfrieds Schmiedelied an!

In der neunten Klasse schlug ich im Deutschunterricht vor, das Thema Stabreim mit Richard Wagners Texten aus dem „Ring“ zu illustrieren. Ich brachte mein Grundig-Tonbandgerät mit und spielte „Immer ist Undank Loges Lohn“ aus dem „Rheingold“ vor. Ich glaube, dass meine Darbietung nur von der Lehrerin, der Tochter eines berühmten Dirigenten, geschätzt wurde. Meine Schulkameraden haben sie wohl nicht verstanden. Für mich hingegen war die Wagnersche Dichtung der pure Wahnsinn; ich schätzte sie noch mehr als Goethes „Faust“. Durch sie inspiriert begann ich Gedichte im Stabreim zu schreiben, die wohl keiner verstand. Ich fühlte mich wie ein unverstandener Dichter, der sich von der Welt abwendet.

Erst in der zehnten Klasse bekamen wir einen Musiklehrer, bei dem mir zum ersten Mal der Unterricht gefiel. Wir nahmen Zwölftonmusik durch – und ich komponierte sogleich ein Zwölftonstück für Klarinette und Klavier. Später habe ich noch ein Lied geschrieben und Nietzsches Rundgesang des Zarathustra für Altstimme und Querflöte vertont.10 Meine Komposition wurde sogar auf einem gemeinsamen Musikfest mehrerer Schulen uraufgeführt. Damals wurde ich immer mehr zu einem Menschen des neunzehnten Jahrhunderts. Mich zog es mehr in die Oper als in die Schule. Wagner sprach zu mir, nicht das Lehrerkollegium.

In der Oberstufe gründete ich zwei Bands. Die erste hieß „Tutti Freaky“. Wir wählten diesen Namen, weil wir zusammen gewürfelte Freaks waren. Wir waren zu dritt: ein Gitarrist, ein Mann für alles Freakige und ich als Flötist und Klarinettist. Wir machten Stücke, die ihrer Zeit weit voraus waren. Wir integrierten ethnische Musik, die heute Weltmusik heißt, in raue Gitarrensounds, elektronische Sinusgeneratoren und atonale Klarinettenläufe. Die zweite Band nannten wir „Can Cega“ (der Lakotaname für Holztrommel); wir bekamen einen Bassisten und einen Schlagzeuger. Das war sehr gut für unseren Freakhaufen. Dadurch kam mehr Linie in unsere Musik. Ich bastelte immer an Songs, die irgendwie mit indianischer Musik zu tun hatten. Nebenbei beschäftigte ich mich mit der Musikethnologie oder Ethnomusikologie. Ich vertiefte mich dabei immer weiter in die indianische Musik. Ich kaufte alle Schallplatten, die ethnische Aufnahmen ertönen ließen. Ich sammelte auch von Indianern gemachte Rockmusik, wie beispielsweise Link Wray, Redbone, Xit und Buffy Saint-Marie. Bald begann ich eine Diskografie indianischer Musik zusammenzustellen.

Ich beschäftigte mich mein Leben lang mit Musik, studierte ihre Geschichte, erforschte ihre Zauberwirkung. Wie konnten Opernsänger bloß ihre Zauberkraft auf der Bühne oder bei Schallplattenaufnahmen erzeugen. Oft wirkten die Wagnerschen Monologe wie Beschwörungen auf mich. Am stärksten bezirzten mich Brünhildes Schlussgesang in der „Götterdämmerung“ und Isoldens Liebestod aus „Tristan und Isolde“. Die erstklassigen Sängerinnen, die ich in diesen Rollen erleben durfte, Birgit Nilson, Helga Dernesch, Ingrid Bjohner, Catharina Ligenza und Gwyneth Jones, versetzten mich jedes Mal mit ihren Gesängen in eine Art Trancezustand. Ich hatte dabei immer das Gefühl, mich ganz in der Musik aufzulösen, selbst zur Musik, zum göttlichen Gesang zu werden, als ob ich mich in das Universum als goldenes Licht ergießen würde.

Jahre später stieß ich auf ein Zitat von Joachim-Ernst Berendt (Nada Brahma) das mir sofort einleuchtete: „Lateinisch cantare wird im Allgemeinen mit singen übersetzt; ursprünglich aber heißt es: zaubern, durch Zauber schaffen. Man spürt den Übergang, den es da irgendwann einmal gegeben haben muss: Indem der Mensch durch den Laut – den Ur-Laut – zauberte, Veränderungen bewirkte, begann er, die Ur-Laute musikalisierend, zu singen.“ Also ist das Singen bereits Zauberei. Dies wurde mir bei meinen Forschungsreisen richtig bewusst, als ich die Zauberlieder und Zaubersprüche der Lakandonen erlernt habe. Aber davon später.

Mit Humboldt durch Südamerika

„Es ist mit den großartigen Szenen der Natur wie mit den erhabenen Werken der Poesie und der Künste; sie lassen Erinnerungen zurück, die immer wieder erwachen und sich während des ganzen Lebens mit allen Gefühlen für das Große und Schöne verbinden.“

Alexander von HUMBOLDT

Als ich sechzehn war, durfte ich zum ersten Mal nach Südamerika reisen. Gute Freunde meiner Eltern waren von Deutschland nach Venezuela ausgewandert. Hans und Susanne haben uns immer bei ihren Deutschlandreisen besucht und einen exotischen Flair in unser Haus gebracht. Gerne lauschte ich ihren Geschichten aus der fernen Welt. Besonders aufregend fand ich ihre Schilderungen von Schlangen auf der Gardinenstange, Rieseninsekten, fantastischen Karibikstränden, unendlichen Urwäldern, steinzeitlichen Indianerstämmen. Und von Humboldt haben sie erzählt, er sei eine Art Nationalheld von Venezuela.

Eines Tages haben Hans und Susanne meinen älteren Bruder Stephan und mich nach Venezuela eingeladen! Ich war überglücklich. Meine Eltern stimmten sofort zu und bezahlten unsere Flugtickets nach Caracas. Da die sechs Wochen Sommerferien zu wenig Zeit waren, wurde ich von der Schule beurlaubt. Damals war Fliegen noch etwas Besonderes. Niemand in meiner Schulklasse war jemals geflogen. Aber ich durfte es jetzt erleben. Mein erster Flug – und ganz alleine. Denn mein Bruder hatte weniger Zeit und kam nach. Zuerst flog ich nach London. Dort musste ich zu dem transatlantischen Flug umsteigen. Beim Einchecken erhielt ich sehr zu meiner Verwunderung und dem Erstaunen der Stewardessen an Bord einen Boarding Pass für die Erste Klasse. Klasse dachte ich: zum ersten Mal nach Amerika und das auf die angenehmste Weise.

In Caracas holte mich Susanne am Flughafen in La Guira ab. Ich konnte es kaum fassen, aber es war tatsächlich wahr geworden! Ich war in Südamerika angekommen. Zuerst fuhren wir durch lange Tunnels in Richtung Stadt. Auf den Bergen über den Tunnels lagen die „ranchos“, die Slums. Sie erzeugten so viel Dreck und Abwässer, dass eine schwarze, zähe Flüssigkeit von den Tunnelwölbungen heruntertropfte und schmutzige Flecken auf der Karosserie und den Fenstern des weißen Mercedes hinterließen. So schlug uns die Armut direkt ins Gesicht.

Wir durchquerten die Stadt Caracas „in cola“, „in einem Schwanz“ von Wagenkolonnen und Verkehrsstaus. Caracas erschien mir sofort völlig übervölkert. Noch nie hatte ich eine so große Stadt gesehen.

Das Haus von Hans und Susanne lag in einem noblen Vorort auf einem Hügel, in dem überwiegend Deutsche lebten. Ich bekam das Gartenhaus als Herberge. Hans erzählte mir, dass er am Morgen meines Ankunftstages dort eine Schlange, und zwar eine Korallenschlange, erschlagen hatte. Ich dachte mir, das kann ja heiter werden. Aber ich war auch begeistert, dass wir so dicht an der wunderbaren Natur lebten. Denn es war die Natur des Landes, des Kontinents, die mich magisch anzog.

Ich war ausgerüstet mit Schmetterlingsnetz, Insektensammeltasche und Botanisiertrommel. Spiritus, Äther und Formaldehyd besorgte mir Susanne in einer Chemikalienhandlung in Caracas. Ich wollte unbedingt, wie ein echter Dschungelforscher, Insekten fangen und präparieren; ich wollte tauchen und Muscheln und Schnecken sammeln; ich wollte Speere, Pfeil und Bogen und andere Sachen von den Indianern erwerben. Ich wollte ein kleiner Humboldt sein.

Ja, Alexander von Humboldt (1769–1859) wurde zu dem Leitmotiv meiner ersten Südamerikareise. Humboldt und Bonpland legten mit ihrem Schiff am 20. November 1799 in La Guira, dem alten Hafen von Caracas, an, also am selben Ort wie ich. Denn der moderne Flughafen gehört ebenfalls zu La Guira. In den folgenden Wochen sollte ich noch häufig an den Orten sein, die schon Humboldt besucht, erforscht, dokumentiert und beschrieben hatte. Überall gab es Denkmäler, Gedenktafeln, Büsten von und Erinnerungen an Humboldt. Humboldt ist in Venezuela ein edler Held, ein Nationalheiligtum; dort wird er vielmehr verehrt und geehrt als in Deutschland, seiner Heimat. Der große Freiheitskämpfer von Venezuela Simón Bolívar (1783–1830), der Libertado („Befreier“) des nördlichen Südamerika, äußerte sich mit tiefem Respekt: „Alexander von Humboldt hat Amerika mehr Wohltaten erwiesen als alle seine Eroberer“, er ist der „wahre Entdecker“ Amerikas. Humboldt schrieb, dass „die schwachen Spuren der Kunst oder vielmehr des Gewerbefleißes der Völker des neuen Kontinents unserer Aufmerksamkeit würdig  [sind]. Von dieser Überzeugung geleitet, habe ich auf meinen Reisen alles gesammelt, was eine tätige Neugier mich in den Ländern entdecken ließ, wo in Jahrhunderten der Barbarei die Intoleranz fast alles zerstört hat, was mit Sitten und Kultur der alten Bewohner zu tun hatte; wo man Bauwerke niedergerissen hat, um sich der Steine zu bemächtigen oder um verborgene Schätze zu suchen.“11 Humboldt war vielleicht der erste Europäer, der den Wert der altamerikanischen Kulturen erkannt hatte.

Der Hauptantrieb von Humboldts Reisen „war das Bestreben, die körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen.“12 Humboldt war ein wahrer Naturfreund und Forscher: „Der Eindruck der Natur ist so mächtig und großartig, dass man schon nach wenigen Monaten Aufenthalt lange Jahre darin verbracht zu haben meint.“13 Mir erging es ähnlich. Venezuelas Natur hat sehr tief auf mich gewirkt; ich glaubte, schon immer dort zu Hause gewesen zu sein. Und ich verstand Humboldts Bemerkung zur Natur nur zu gut: „Nirgends durchdringt sie uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt.“14

(Dynastes hercules)(Caligo atreus)(Copiopteryx semiramis); nur dort gibt es die Tepuis, die gewaltigen Tafelberge, sowie den höchsten frei fallenden Wasserfall der Welt, den „Salto Angel“, den „(Wasser-)Fall der Engel“ – mit über tausend Metern freiem Fall.