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Übersetzung aus dem Italienischen von Claudia Franz
ISBN 978-3-492-99006-6
Deutsche Erstausgabe
© Sandrone Dazieri 2017
Titel der italienischen Originalausgabe: »L’Angelo«, Mondadori 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018
© 2017 First published in Italy by Mondadori
This edition published in arrangement with Grandi & Associati
Covergestaltung: Favoritbuero, München
Covermotiv: Marcel Germain/GettyImages
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Für meine Mutter
I am an antichrist
I am an anarchist
Don’t know what I want
But I know how to get it
I wanna destroy passerby[1]
Midnight Special
Die beiden Gefangenen, die in der Zelle zurückgeblieben sind, unterhalten sich leise. Der erste hat in einer Schuhfabrik gearbeitet, bevor er im Suff einen Mann umgebracht hat. Der zweite war Polizist und hat einen Vorgesetzten verpfiffen. Sie sind im Knast eingeschlafen und in der Schachtel wieder aufgewacht.
Der Schuhmacher schläft praktisch den ganzen Tag, der Polizist schläft praktisch nie. Wenn beide wach sind, unterhalten sie sich, um die Stimmen zu übertönen, die immer lauter werden und mittlerweile zu einem steten Gebrüll angeschwollen sind. Manchmal kommen auch noch Farben hinzu, so grell, dass sie die Männer zu blenden drohen. Das ist die Wirkung der Medikamente, die sie täglich nehmen müssen, die Wirkung des Helms, den man ihnen über den Kopf stülpt, woraufhin sie wie Würmer in der Pfanne zu zucken beginnen.
Der Vater des Schuhmachers saß während des Kriegs in einem Gefängnis mitten in seiner Heimatstadt. Unter dem Gebäude befand sich ein Raum mit einem Balken, auf dem man, wenn man draufgesetzt wurde, tunlichst das Gleichgewicht hielt, um nicht ins eiskalte Wasser zu fallen. Ein anderer Raum war so winzig, dass sich die Gefangenen nicht aufrichten konnten. Niemand weiß, wie viele Menschen in diesen Katakomben gefoltert wurden, niemand weiß, wie viele umkamen. Tausende, heißt es.
Aber die Schachtel ist schlimmer. Aus dem alten Gebäude ist man mit viel Glück nach Hause zurückgekehrt. Verletzt, geschunden, aber lebendig, wie der Vater des Schuhmachers.
In der Schachtel wartet man nur auf den Tod.
Die Schachtel ist weder ein altes Mietshaus noch ein Gefängnis, sie ist ein Betonkubus ohne Fenster. Ein wenig Tageslicht fällt durch die Gitter zum Hof über ihren Köpfen herein, jenem Hof, den solche wie sie nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen – das letzte Mal. Sie bringen dich nämlich erst wieder an die frische Luft, wenn du schon fast hinüber bist. Weil du vielleicht eine Wache angegriffen oder einen Zellengenossen umgebracht oder dich selbst verstümmelt hast. Oder weil du schon anfängst, deine Exkremente zu fressen. Jedenfalls reagierst du nicht mehr auf die Behandlung und bist nicht mehr von Nutzen für sie.
Diesen Punkt haben der Polizist und der Schuhmacher noch nicht erreicht, obwohl ihnen klar ist, dass nicht mehr viel fehlt. Sie sind gebrochen, sie haben gefleht und gebettelt, aber sie haben sich noch nicht aufgegeben, nicht im Mindesten. Und als das Mädchen kam, wollten sie es unbedingt beschützen.
Das Mädchen dürfte dreizehn Jahre alt sein, vielleicht sogar noch jünger. Seit es in ihre Zelle verlegt wurde, hat es kein Wort gesprochen. Es beobachtet sie nur mit seinen kobaltblauen Augen, die in dem kahl geschorenen Schädel riesig aussehen.
Sie reagiert auf nichts und hält sich von ihnen fern. Der Polizist und der Schuhmacher wissen nichts über sie, außer dem, was man in den Gängen der Schachtel so munkelt. Sperre Leute an den unzugänglichsten, schauerlichsten Orten ein, trenne sie voneinander, lege ihnen Handschellen an, reiße ihnen die Zunge aus dem Mund, sie werden trotzdem eine Möglichkeit finden, miteinander zu kommunizieren. Sie klopfen Morsezeichen an die Wand, flüstern in der Dusche, schmuggeln Zettelchen ins Essen oder in die Eimer für die Notdurft.
Irgendjemand meint zu wissen, dass sie mit der ganzen Familie in die Schachtel gekommen ist und als Einzige überlebt hat. Ein anderer behauptet, sie sei eine Zigeunerin und habe auf der Straße gelebt. Was auch immer die Wahrheit sein mag, das Mädchen behält sie für sich. Es hockt in seiner Ecke und verfolgt jede ihrer Bewegungen, misstrauisch. Es verrichtet seine Notdurft in den Eimer und nimmt das Essen und das Wasser, das ihm zusteht, redet aber kein Wort.
Niemand kennt seinen Namen.
Dreimal hat man das Mädchen aus der Zelle geholt. Die ersten beiden Male hat es hinterher aus dem Mund geblutet, und seine Kleider waren zerrissen. Die beiden Männer, die eigentlich dachten, innerlich schon vollkommen leer zu sein, haben geweint. Sie haben das Mädchen gewaschen und es gezwungen, Nahrung zu sich zu nehmen.
Beim dritten Mal war dem Polizisten und dem Schuhmacher klar, dass es das letzte Mal sein würde. Wenn die Wachen kommen, um dich in den Hof zu bringen, klingen ihre Schritte anders, verändert sich ihr ganzes Gebaren. Sie sind freundlicher und sanfter, damit du dich nicht aufregst. Sie bitten dich, deine Decke mitzunehmen und deinen nach Desinfektionsmittel stinkenden Zinnteller, beides schon für den nächsten Gefangenen bestimmt, und führen dich hinauf.
Als sich die Tür öffnete, richteten sich die beiden Gefangenen mühsam auf, um das Mädchen zu beschützen. Sie schien die Männer, mit denen sie fast einen Monat lang die Zelle geteilt hatte, zum ersten Mal wahrzunehmen. Aber sie schüttelte den Kopf und folgte den Wachen langsam hinaus.
Der Schuhmacher und der Polizist warten auf das Geräusch des Lkws, der die Leichen nach dem Gemetzel vom Hof wegbringt, denn es ist ein Gemetzel, mit dem man dir den Segen für deine letzte Reise erteilt. Eine kurze Reise, die hinter der umgrenzenden Mauer bereits endet, auf einem verschneiten Feld im Niemandsland. Das hat ein anderer Gefangener berichtet, der mal zu der Mannschaft gehörte, die die Leichen vergräbt. Mindestens hundert liegen unter der Erde, hat er gesagt, Körper ohne Gesicht und Hände. Die Schachtel wünscht nämlich nicht, dass man sie erkennt, sollten sie je gefunden werden. Irgendwann hat sich der Gefangene, der die Leichen vergraben hat, etwas in die Ohren gerammt, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Inzwischen hat auch er die letzte Reise angetreten.
Zwanzig Minuten sind vergangen, aber der Polizist und der Schuhmacher haben immer noch nicht gehört, wie sich der alte Dieselmotor hustend in Bewegung setzt. Jenseits der Stimmen in ihrem Kopf und der Schreie aus den Nachbarzellen herrscht nur Stille.
Dann öffnet sich plötzlich die Zellentür. Es ist keine Wache und auch keiner der Ärzte, die regelmäßig zur Visite kommen.
Es ist das Mädchen.
Ihr Schlafanzug ist blutverschmiert, ein Spritzer ist auch auf ihrer Stirn gelandet, aber das scheint sie gar nicht zu merken. Sie hält den großen Schlüsselbund des Wachmanns, der sie hinausgeführt hat, in der Hand. Auch die Schlüssel sind blutverschmiert.
»Zeit zu gehen«, sagt sie.
In diesem Moment zerreißt das Schrillen der Sirenen die Luft.
1 Der Tod erreichte Rom zehn Minuten vor Mitternacht, mit einem Hochgeschwindigkeitszug aus Mailand. Er fuhr in die Stazione Termini ein, hielt an Gleis 7 und spuckte etwa fünfzig Fahrgäste mit leichtem Gepäck und müden Gesichtern aus. Sie zerstreuten sich rasch, um die letzte U-Bahn zu erwischen oder zum Taxistand zu gehen, während im Zug die Lichter erloschen. Aus der luxuriösen Executive Class war erstaunlicherweise niemand ausgestiegen – die pneumatischen Türen waren noch geschlossen –, und ein schläfriger Zugführer öffnete sie von außen, um nachzuschauen, ob vielleicht jemand eingeschlafen war.
Das hätte er besser bleiben lassen.
Sein Verschwinden wurde zwanzig Minuten später bemerkt, weil ein Mitarbeiter der Bahnpolizei in einer marokkanischen Bar auf den Zugführer gewartet hatte, um nach Ende der Schicht ein Bierchen mit ihm zu trinken. Sie waren nicht direkt Freunde, aber bei ihren gelegentlichen Begegnungen zwischen den Gleisen hatten sie ein paar Gemeinsamkeiten entdeckt, darunter ihre Leidenschaft für denselben Fußballverein und für Frauen mit ausladenden Hinterteilen. Der Polizist stieg in den Waggon und sah seinen Trinkkumpan mit angezogenen Knien im Verbindungsgang liegen, die Augen weit aufgerissen und die Hände am Hals, als wolle er sich eigenhändig erwürgen.
Aus seinem Mund war ein Blutfaden gelaufen, der auf dem rutschfesten Teppichboden eine Pfütze hinterlassen hatte. Der Polizist dachte unwillkürlich, dass er noch nie einen toteren Toten gesehen hatte, aber er legte trotzdem die Finger an seinen Hals, um den Puls zu suchen, den er nicht finden würde. Ein Herzinfarkt vielleicht, überlegte er. Nun hätte er sich im Zug umschauen können, aber es galt, gewisse Regeln zu beachten und Ärger zu vermeiden. Daher kehrte er sofort auf den Bahnsteig zurück und rief in der Zentrale an, damit sie jemanden von den zuständigen Polizeibehörden schickten und den diensthabenden Staatsanwalt verständigten. Den Rest des Waggons und das, was er enthielt, bekam er nicht zu Gesicht. Er hätte nur den Arm ausstrecken und die automatische Milchglastür zurückgleiten lassen müssen, um sein Schicksal und das der Leute, die nach ihm eintrafen, zu verändern, aber das kam ihm nicht in den Sinn.
Die Untersuchung übernahm daher jemand aus der dritten Abteilung der Squadra Mobile – die von allen außer den Polizisten selbst Mordkommission genannt wurde –, eine Frau, die nach langer Rekonvaleszenz und einer Reihe unglücklicher Begebenheiten, die über Monate hinweg für Gesprächsstoff in den Talkshows gesorgt hatten, in den Dienst zurückgekehrt war. Sie hieß Colomba Caselli, und vor Ort hielt man ihr Erscheinen für einen Glücksfall.
Sie selbst tat es nicht.
2 Colomba traf um Viertel vor eins in einem Dienstwagen an der Stazione Termini ein. Am Steuer saß Massimo Alberti, siebenundzwanzig Jahre alt, aber mit seinen Sommersprossen und den hellen Haaren würde er auch im Alter noch wie ein Junge aussehen.
Colomba selbst war dreiunddreißig, ihre grünen Augen, die sich je nach Stimmung anders färbten, wirkten jedoch deutlich älter. Die schwarzen Haare hatte sie im Nacken straff zusammengebunden, was die ausgeprägten, eher orientalischen Wangenknochen, die sie von einem Vorfahren aus irgendwelchen ominösen Zeiten geerbt hatte, noch stärker hervortreten ließ. Sie stieg aus und ging zu dem Gleis, an dem der Zug aus Mailand stand. Vier Beamte der Bahnpolizei warteten dort. Zwei saßen in einem dieser albernen zweisitzigen Elektroautos, die die Polizei im Bahnhof benutzte, die anderen beiden standen neben der Verbindungskupplung des Zugs. Alle waren jung, und alle rauchten. Nicht weit entfernt hatten sich Schaulustige versammelt und fotografierten mit ihren Handys; ein Grüppchen von etwa zehn Leuten, darunter Reinigungskräfte und Sanitäter, war in eine leise Diskussion vertieft.
Colomba zückte ihren Dienstausweis und stellte sich vor. Einer der Polizisten kannte sie aus der Zeitung und setzte das übliche dumme Grinsen auf. Sie tat so, als bemerke sie es gar nicht. »Welcher Waggon?«, fragte sie.
»Der erste«, antwortete der Kollege mit dem höchsten Dienstgrad, während sich die anderen hinter ihn stellten, als benutzten sie ihn als Schutzschild.
Colomba versuchte, durch die dunklen Zugfenster zu schauen, konnte aber nichts erkennen. »Wer von Ihnen war drin?«
Sie wechselten verlegene Blicke. »Ein Kollege, aber der hat schon Schichtende«, sagte der Polizist von zuvor.
»Aber er hat nichts angefasst, er hat sich nur umgeschaut. Wie wir, vom Gleis aus«, meinte ein anderer.
Colomba schüttelte verärgert den Kopf. Ein Leichenfund bedeutete, dass man sich die Nacht um die Ohren schlagen musste, bis Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin mit ihrer Arbeit fertig waren und man selbst einen Haufen Papierkram erledigt hatte. Da wunderte es kaum, dass sich der Kollege verdrückt hatte. Sie könnte sich bei seinen Vorgesetzten beschweren, aber sie hatte auch keine Zeit zu verschwenden. »Weiß man, wer es ist?«, fragte sie, als sie die Latexhandschuhe und die blauen Plastiküberschuhe anzog.
»Er heißt Giovanni Morgan und gehörte zum Team der Zugbegleiter«, sagte der mit dem höchsten Dienstgrad.
»Haben Sie schon die Angehörigen verständigt?«
Noch mehr verlegene Blicke.
»Okay, vergessen Sie’s.« Colomba nickte Alberti zu. »Hol die Taschenlampe aus dem Wagen.«
Er ging los und kam mit einer Maglite-Stabtaschenlampe aus schwarzem Metall wieder. Sie war einen halben Meter lang und wirkte wie ein besserer Gummiknüppel. »Soll ich mit reinkommen?«
»Nein, bleib hier, und halte die Schaulustigen in Schach.«
Colomba meldete an die Zentrale, dass sie nun den Tatort betrete. Wenig später suchte sie, wie auch schon ihr Vorgänger, den Puls am Hals des Zugführers, um ihn, wie auch schon ihr Vorgänger, nicht zu finden. Die Haut des Toten war feuchtkalt. Als sie in der Zentrale nachfragte, ob der Gerichtsmediziner und der diensthabende Staatsanwalt schon unterwegs seien, registrierte sie einen eigentümlichen Geräuschteppich im Hintergrund. Sie hielt die Luft an, als ihr aufging, dass es sich nur um mindestens ein halbes Dutzend klingelnder Handys handeln konnte, eine Kakofonie aus Signaltönen und Vibrationen, die direkt hinter der Tür zur Executive Class erklang, der Klasse mit den echten Ledersesseln und den vorgekochten Gerichten eines aus dem Fernsehen bekannten Spitzenkochs.
Durch die Milchglastür sah Colomba die blinkenden grünlichen Lichter der Handydisplays, die lange, tanzende Schemen produzierten. So viele Handys konnten unmöglich vergessen worden sein, aber die einzige Erklärung, die ihr in den Sinn kam, war zu ungeheuerlich, um wahr zu sein.
Doch sie war es, wie Colomba sofort begriff, als sie die Tür gewaltsam aufschob und ihr der Gestank von Blut und Exkrementen entgegenschlug.
Die Fahrgäste der Executive Class waren alle tot.
3 Colomba richtete den Strahl der Taschenlampe in den Waggon. Er fiel auf die Leiche eines Fahrgasts um die sechzig in einem grauen Anzug. Der Mann war zu Boden geglitten; seine Hände steckten zwischen den Schenkeln, der Kopf war zurückgeworfen. Das Blut, das aus seinem Mund gespritzt war, bedeckte sein Gesicht wie eine Maske. Was zum Teufel ist hier passiert?, fragte sie sich.
Vorsichtig ging sie weiter und achtete darauf, nichts zu berühren. Hinter der ersten Leiche folgte ein junger Mann mit offenem Hemd und enger, weißer Hose, die mit Exkrementen besudelt war. Er lag quer im Gang, und an dem Weinglas, das ihm vors Gesicht gerollt war, klebte Blut aus seiner Nase.
Zu seiner Linken saß ein alter Mann, der an seinen Platz fixiert war, weil ihm jemand seinen eigenen Spazierstock mit der Metallspitze voran in den Mund gerammt hatte. Sein Gebiss lag in einer Lache aus Blut und Erbrochenem in seinem Schoß. Zwei Männer asiatischer Herkunft in Kellnerkluft lagen auf dem Servierwagen beziehungsweise auf einer – ebenfalls toten – Frau in Kostüm und High Heels mit Zwölf-Zentimeter-Absätzen.
Colomba spürte, dass sich ihre Lunge zusammenzog, und atmete tief ein. Jetzt, da sie sich langsam an die Szenerie gewöhnte, registrierte sie in all dem Gestank einen merkwürdigen süßlichen Unterton, den sie nicht zuordnen konnte. Er erinnerte sie an die Backversuche ihrer Mutter, die unweigerlich damit geendet hatten, dass der Kuchen im Ofen verbrannt war.
Sie ging bis zum Ende des Waggons, wo ein Fahrgast um die vierzig in Supermanpose dalag, die rechte Faust vorgereckt, den linken Arm an den Körper gepresst. Colomba trat an ihm vorbei und warf einen Blick in die Toilette: Ein Mann und eine Frau, Ersterer in der orangefarbenen Uniform der Reinigungskräfte, waren auf dem Boden zusammengesackt, die Beine ineinander verschlungen. Die Frau war mit dem Kopf gegen das Waschbecken geknallt, sodass Blut und Haare am Beckenrand klebten. In diesem Moment meldete sich Colombas Funkgerät zu Wort. »Ihr Fahrer will wissen, ob er in den Zug einsteigen kann«, krächzte die Zentrale.
»Nein, ich melde mich selbst bei ihm. Ende«, sagte sie mit fast normaler Stimme und rief Alberti dann auf dem Handy an. »Was ist?«
»Dottoressa … hier sind Leute, die auf irgendwelche Personen warten … Angeblich sollen sie in diesem Zug gewesen sein.«
»Warte.« Colomba öffnete die Tür zum nächsten Waggon und warf einen Blick in die Businessclass. Sie war leer, ebenso wie die nächsten Wagen. Sicherheitshalber ging sie bis zum Ende durch und kehrte dann zurück. »Sollten sie in der Executive Class sitzen?«
»Ja, Dottoressa.«
»Wenn du in ihrer Nähe stehst, geh ein Stück weg. Sie sollen dich nicht hören.«
Alberti gehorchte und stellte sich neben den Führerstand. »Was ist los?«
»Sie sind alle tot. Alle Fahrgäste im ersten Waggon.«
»Verdammt. Wie sind sie gestorben?«
Colomba spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Bislang hatte sie sich wie in Trance bewegt, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass die Unglückseligen um sie herum keine sichtbaren Wunden aufwiesen, von dem aufgespießten Alten mal abgesehen. Ich hätte schon beim Anblick des Zugführers das Weite suchen sollen.
Vermutlich wäre es da ohnehin schon zu spät gewesen.
»Dottoressa … sind Sie noch da?«, fragte Alberti besorgt.
Colomba riss sich zusammen. »Ich weiß nicht, woran sie gestorben sind, Alberti. Aber es muss sich um etwas handeln, das sie gegessen oder eingeatmet haben.«
»Um Gottes willen …« Alberti wirkte fast panisch.
»Bleib ganz ruhig, denn du hast jetzt eine wichtige Aufgabe. Du darfst niemanden an den Zug heranlassen, weder Spurensicherung noch Staatsanwaltschaft, bis die Leute vom ABC-Schutz da waren. Sollte sich jemand widersetzen, verhafte ihn, oder schieß auf ihn, aber lass ihn nicht in den Zug.« Colomba lief eiskalter Schweiß den Rücken hinab. Wenn es Anthrax ist, bin ich geliefert, dachte sie. Bei Nervengas habe ich vielleicht noch eine Chance. »Noch etwas. Du musst den Polizisten ausfindig machen, der in den Zug gestiegen ist. Lass dir von seinen Kollegen die Adresse geben. Er muss unter Quarantäne gestellt werden. Die anderen dürfen auch nicht gehen, vor allem wenn sie sich die Hand gegeben oder sich gegenseitig Zigaretten angeboten haben, egal was. Dasselbe gilt für die Angehörigen und Bekannten auf dem Bahnsteig. Wenn sie Körperkontakt mit euch hatten, müsst ihr sie dabehalten.«
»Soll ich ihnen die Wahrheit sagen?«
»Um Gottes willen, nein. Sag in der Zentrale Bescheid, dass man sämtliche Reisende aufspüren soll, alle, die mit den Fahrgästen in Berührung gekommen sein könnten. Aber als Erstes lass den Dekontaminationstrupp schicken. Nimm das Handy dafür, nicht das Funkgerät, sonst bricht Panik aus. Hast du mich verstanden?«
»Und Sie, Dottoressa?«
»Ich habe die verdammte Dummheit begangen, in den Zug zu steigen. Wenn das Gift noch wirksam ist, könnte ich eine Übertragungsquelle sein. Ich darf nicht aussteigen, weil das Risiko für andere zu groß wäre. Hast du alles verstanden?«
»Ja.« Albertis Stimme zitterte bedenklich.
Colomba beendete die Verbindung. Sie kehrte zu der Stelle zurück, wo sie eingestiegen war, und schloss mithilfe des Nothebels die Schiebetür zum ersten Wagen. Dann suchte sie sich einen Platz in der Businessclass, die verglichen mit der Executive Class ein Arme-Leute-Abteil war, und wartete auf das Urteil, ob sie die Sache überleben würde.
4 Die Einsatzkommandos der Feuerwehr mit ihren weißen Schutzanzügen und den Sauerstoffflaschen spulten das gesamte Maßnahmenprogramm zur Abwendung atomarer, biologischer und chemischer Gefahren ab. Sie riegelten das Areal um den Zug herum ab, hüllten die Waggons in undurchlässige Plastikplanen und errichteten am Eingang des ersten Wagens ein kleines Sauerstoffzelt.
Im Innern saß Colomba und lauerte auf jede Regung ihres Körpers, um Symptome für eine Kontaminierung festzustellen. Die Drüsen schienen zu funktionieren; sie schwitzte nicht mehr als sonst und zitterte auch nicht. Andererseits wusste sie natürlich nicht, wie lange das Virus oder das Gift brauchen würde, um seine Wirkung zu entfalten. Nach zwei Stunden der Paranoia, als Gestank und Hitze schier unerträglich wurden, stiegen zwei Soldaten in Schutzanzügen ein. Der erste hielt einen weiteren Schutzanzug in der Hand, der zweite richtete sein Sturmgewehr auf Colomba. »Legen Sie die Hände in den Nacken«, befahl er, die Stimme vom Sauerstoffgerät gedämpft.
Colomba gehorchte. »Ich bin Vicequestore Caselli«, sagte sie. »Ich war es, die den Alarm ausgelöst hat.«
»Keine Bewegung«, sagte der Soldat mit dem Gewehr, während sein Kollege sie trotz der plumpen Handschuhe mit geschickten Bewegungen durchsuchte. Er nahm ihr die Dienstwaffe und das Schnappmesser ab, steckte sie in eine Plastiktüte mit hermetischem Verschluss und übergab sie einem dritten Soldaten, der draußen auf den Eingangsstufen stehen geblieben war. Der wiederum reichte ihm einen größeren Beutel, den der Soldat an Colomba weitergab. »Ziehen Sie sich komplett aus, und stecken Sie Ihre Kleider in den Beutel«, sagte er. »Dann ziehen Sie den Overall an.«
»Vor Ihnen?«, sagte Colomba. »Bestimmt nicht.«
»Wenn Sie sich weigern, sind wir befugt, Sie zu erschießen. Zwingen Sie uns nicht dazu.«
Colomba schloss die Augen und dachte, dass es Schlimmeres gab, als sich vor anderen auszuziehen. Blut zu spucken und zu sterben zum Beispiel oder mit einer Kugel im Nacken zu enden. Sie zeigte auf die Kamera, die der Mann mit dem Gewehr am Helm trug. »In Ordnung. Aber die da machst du aus. Ich möchte nicht nackt im Internet landen, weder tot noch lebendig.«
Der Soldat hielt die Hand vors Objektiv. »Beeilen Sie sich.«
Colomba zog sich schnell aus, wohl wissend, dass die Blicke der Männer auf ihr ruhten. In Kleidung wirkte sie durch die Oberschenkelmuskulatur und die breiten Schultern kräftiger, als sie es tatsächlich war. Im nackten Zustand sah man die perfekten Proportionen einer Frau, die sich immer fit gehalten hatte. Sie zog den dicken Overall an, und die beiden Soldaten halfen ihr, das Sauerstoffgerät anzuschnallen.
Obwohl Colomba eine gute Taucherin war, flößten ihr die Maske und der Klang ihres eigenen Atems in den Ohren ein Gefühl der Beklemmung ein. Erneut krampfte sich ihre Lunge zusammen, aber auch dieses Mal konnte sie das Gespenst schnell wieder vertreiben. Die Soldaten schoben sie hinaus und geleiteten sie durch die abgesperrten Gänge vor dem Zug, der wie ein Kunstwerk von Christo verpackt war.
Ringsherum herrschte die reinste Apokalypse.
Es war vier Uhr morgens, und der von den Scheinwerfern der Armee taghell erleuchtete Bahnhof wimmelte von Soldaten, Carabinieri, Polizisten, Feuerwehrleuten und Polizeibeamten in Zivil. Kein Geräusch ankommender und abfahrender Züge, keine Lautsprecherdurchsagen, keine Fahrgäste, die am Handy hingen, nur der dumpfe Klang der Kampfstiefel, der vom Deckengewölbe widerhallte und von gebrüllten Kommandos und den Sirenen der Streifenwagen durchbrochen wurde.
In der Schalterhalle schoben die Soldaten Colomba in einen Campingwagen, der zum mobilen Labor umfunktioniert worden war. Ein Militärarzt nahm ihr Blut ab, indem er durch einen Gummiflicken an ihrem Ärmel hindurchstach. Auf dieselbe Weise injizierte er ihr etwas, das ihr sofort einen säuerlichen Geschmack in den Mund steigen ließ.
Niemand redete mit ihr, und niemand reagierte auf ihre Fragen, nicht einmal auf die elementarsten. Nach einer halben Stunde platzte Colomba der Kragen, und sie stieß den Arzt gegen die Wand des Campingwagens. »Ich will jetzt wissen, wie es um mich steht, kapiert? Und ich will wissen, was ich eingeatmet habe!« Ihre Augen waren zwei funkelnde Jadesteine.
Zwei Soldaten packten Colomba, warfen sie zu Boden und bogen ihr die Arme auf den Rücken. »Ich will Antworten!«, schrie sie weiter. »Ich bin keine Gefangene, sondern Polizeibeamtin, verdammte Scheiße.«
Der Arzt stand auf. Unter der Schutzhaube war ihm die Brille von der Nase gerutscht. »Alles gut, alles gut«, murmelte er. »Sie können ja gleich gehen.«
»Und das hätten Sie mir nicht einfach sagen können, verdammt!« Die Soldaten ließen Colomba los. Sie erhob sich und stieß dem, der neben ihr stand, den Ellbogen in den Bauch. »Was ist mit meinen Kollegen?«
Der Arzt wollte sich, ohne die Handschuhe auszuziehen, die Brille auf die Nase schieben und rammte sich fast den Bügel ins Auge. »Alles in Ordnung. Machen Sie sich mal keine Sorgen.«
Colomba nahm den Helm ab. Himmel, war es schön, Luft einzuatmen, die nicht nach ihrem eigenen Schweiß stank. Fünf Minuten später bekam sie ihre Kleider zurück und konnte sich wieder wie ein normaler Mensch fühlen, nicht wie ein Stück Vieh bei der Fleischbeschau. Nach den Stunden der Angst hatte sie Kopfschmerzen, aber sie lebte, womit sie fast nicht mehr gerechnet hätte. Die Scheinwerfer waren mittlerweile ausgeschaltet, aber im Bahnhof herrschte immer noch eine surreale Besatzungsatmosphäre. Die Leichen steckten in hermetisch verschlossenen weißen Säcken, die neben dem Zug aufgereiht lagen. Ein paar fehlten, weil man sie in einen der Campingwagen geschafft hatte, um sie dort zu untersuchen.
Colombas Chef Marco Santini löste sich aus der Gruppe der Polizisten, die neben dem Eingang zur U-Bahn standen, und kam auf sie zu. Er war groß und hinkte auf dem linken Bein. Über seinem drahtigen Schnäuzer hatte er eine Adlernase. Mit seinem verschlissenen Trenchcoat und der Tweedkappe hätte man ihn für einen Rentner halten können, aber wenn man ihm direkt in die Augen sah, merkte man, dass er ein gemeingefährlicher Hurensohn war. »Wie geht’s, Caselli?«
»Nach Auskunft des Arztes gut. Ich selbst muss noch ein wenig darüber nachdenken.«
»Das hier soll ich dir geben.« Santini reichte ihr die Tüte mit den Waffen, die man ihr abgenommen hatte. »Mir war gar nicht bewusst, dass du mit einem Schnappmesser herumläufst.«
»Das ist mein Glücksbringer«, sagte sie, als sie es in die Jackentasche steckte. »Außerdem ist es nützlicher als ein vierblättriges Kleeblatt, wenn dir mal jemand auf die Nerven geht.«
»Ziemlich ungewöhnlich für eine Dienstwaffe.«
»Hast du ein Problem damit?«
»Nein, solange du mir das Ding nicht in den Rücken jagst.«
Colomba befestigte das Holster der Beretta an ihrem Gürtel. In ruhigen Phasen steckte sie die Waffe hinten in den Bund ihrer Hose, damit sie nicht so auffiel – was sich im Sommer regelmäßig als Drama erwies. »Besteht die Möglichkeit, dass es sich um einen Unfall handelt? Dass irgendwelche Chemikalien ausgetreten sind oder so?«
»Nein.« Santini schaute sie an. »Es hat sich bereits jemand zu der Tat bekannt. Der IS.«
5 In dem Film, der vermutlich mit einem Handy aufgenommen worden war, sah man zwei Männer mittlerer Statur in Jeans, dunklen T-Shirts und schwarzen Sturmhauben. Außerdem trugen sie Sonnenbrillen. Der Farbe der Haut an den Armen nach zu urteilen, ließ sich ihre Herkunft im Nahen Osten verorten. Sie waren jung, unter dreißig, und hatten keine Tätowierungen oder Narben an den sichtbaren Körperstellen.
Hinter ihnen war ein Laken aufgespannt, das den Blick ins Zimmer verdeckte. Sie dankten nacheinander ihrem Gott und entrichteten einen unterwürfigen Gruß an Kalif Abu Bakr al-Baghdadi, den irakischen Führer des IS. Beide hielten ein Blatt in der Hand, von dem sie ablasen, und richteten gelegentlich den Blick in die Kamera. Sie sprachen italienisch.
»Wir sind Soldaten des Islamischen Staats«, sagte der Mann auf der linken Bildschirmseite. »Wir sind es, die den Anschlag auf den Zug verübt haben, der unseren flüchtenden Brüdern verwehrt bleibt und nur von den Reichen benutzt wird, die den Kreuzzug gegen die wahre Religion finanzieren.«
Nun übernahm der Rechte, der eine tiefere Stimme mit einem unüberhörbar römischen Akzent hatte. »Wir werden nie aufhören, euch zu bekämpfen – an den Stätten des Tourismus, auf dem Weg zur Arbeit und während ihr in euren Häusern schlaft. Was wir tun, steht in Einklang mit den Gesetzen des Korans. Ihr kämpft gegen die wahren Gläubigen, steckt sie ins Gefängnis, lasst Bomben auf sie herabhageln, und wir kämpfen gegen euch.«
Jetzt wieder der Linke. »Wir werden Rom erobern, eure Kreuze zerstören und eure Frauen versklaven, alles mit Allahs Segen. Nicht einmal in euren Schlafzimmern werdet ihr euch noch sicher fühlen.«
»Deshalb verhüllen wir unser Gesicht, damit wir noch bis zu unserem Märtyrertod weiterkämpfen können«, schloss der Mann zur Rechten.
Der Film endete in Grabesstille. Das Spezialeinsatzkommando der Carabinieri – vermummte Männer mit Sturmgewehren – hatte ihn auf dem LCD-Bildschirm der Frequent-Traveller-Lounge der Stazione Termini gezeigt. Auf den Designersofas im Raum verteilten sich etwa fünfzig Angehörige der verschiedenen Polizeikräfte und des Militärs. Als das Licht wieder anging, redeten alle gleichzeitig drauflos, und der Carabinierigeneral, der die Sitzung leitete, musste erst für Ruhe sorgen. »Einer nach dem anderen, bitte.«
»Glauben Sie, dass eine größere Gruppe dahintersteckt oder dass die beiden auf eigene Faust handeln?«, fragte einer der Polizisten.
»Im Moment kann man nichts ausschließen«, antwortete der General. »Wie Sie alle wissen, erklärt sich mittlerweile jeder Verrückte, der Wut ablassen will, zum Soldaten des Kalifats. Andererseits steht fest, dass ein solcher Anschlag ein enormes Maß an Vorbereitung verlangt und die eingesetzten Mittel nicht leicht zu beschaffen sind. Eine Verbindung zum engeren Kreis des IS ist also durchaus denkbar.«
Colomba, die etwas abseits an einer Milchglaswand lehnte, hob die Hand. »Befanden sich sensible Ziele an Bord des Zugs?«
Einige stießen sich mit dem Ellbogen an, als sie Colomba entdeckten, aber der General zuckte nicht mit der Wimper. »Nein, Signora, soweit wir wissen, nicht. Aber die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.« Er schaute in die Runde. »In diesem Moment kommt der Krisenstab des Innenministeriums mit dem Ratspräsidenten und dem Innenminister zusammen. Ich setze Sie davon in Kenntnis, dass der Alarmzustand auf Alpha 1 angehoben wurde, was bedeutet, dass man von der Möglichkeit weiterer Terroranschläge ausgeht. Sämtliche Einsatzkräfte der Polizei und der anderen Sicherheitskräfte wurden mobilisiert. Über Rom wurde eine Flugverbotszone eingerichtet, und auch im Rest des Landes ruht der Flugverkehr. Die Stazione Termini bleibt bis auf Weiteres geschlossen, und die U-Bahn steht still, bis die Kampfmittelbeseitigung ihre Arbeit abgeschlossen hat.«
Schweigen senkte sich herab, als den Anwesenden der Ernst der Lage bewusst wurde. Italien hatte sich in ein Kriegsgebiet verwandelt.
»Was für eine Substanz haben die Terroristen denn benutzt?«, fragte der Polizist von zuvor.
Der General gab einer Frau in einem dunklen Kostüm ein Zeichen. Es war Roberta Bartone vom forensischen Speziallabor Labanof in Mailand – Bart für ihre Freunde. Colomba wusste, dass sie eine Kapazität war, aber hier hätte sie die Frau nicht erwartet. »Dottoressa, bitte«, sagte der General. »Dottoressa Bartone vom Labanof koordiniert die Untersuchungen der Opfer.«
Bart trat hinter die Theke, die als Pult diente, und schloss ihren Laptop an den LCD-Bildschirm an. »Ich muss Sie vorwarnen, manche Bilder sind ziemlich drastisch.« Sie klickte auf die Leertaste. Auf dem Bildschirm erschien das Foto von etwas, das eine große, mit Paketband umwickelte Spraydose zu sein schien. Aus der Düse ragten zwei elektrische Drähte, die mit einer batteriebetriebenen Zeitschaltuhr verbunden waren.
Unruhe entstand, als alle Anwesenden auf ihren Stühlen herumrutschten, um besser sehen zu können. In den hinteren Reihen protestierte jemand, weil man ihm die Sicht versperrte.
»Bei der Tatortbegehung«, begann Bart, »haben die Kollegen von der Kampfmittelbeseitigung diese Ein-Liter-Druckluftdose gefunden. Sie war an die Belüftungsanlage angeschlossen.« Auf das Bild von der Dose folgte ein Foto von einer geöffneten Klappe in der Zugwand; im Hohlraum dahinter waren elektrische Kabel und Gummischläuche zu sehen. »Um 23:35 Uhr ist ein Magnetventil aufgeschnappt, wodurch das Gas aus der in der Executive Class deponierten Dose strömen konnte. Das Ventil war mit einem Wegwerfhandy verbunden, einem Nokia 105 aus Frankreich, das höchstwahrscheinlich von einem anderen Wegwerfhandy aus angerufen wurde. Die Polizei ermittelt noch.«
Bart klickte. Der Bildschirm zeigte nun eine Gesamtansicht des Waggons, aufgenommen von der Tür, durch die auch Colomba eingestiegen war. Die ersten Leichen sah man deutlich. Bart klickte weiter und ließ die Bilder sämtlicher Opfer vor ihnen ablaufen. Gemurmel war zu hören. »Einmal eingeatmet, hat das Gas fast sofort seine Wirkung entfaltet und Krämpfe, Erschlaffung der Schließmuskeln und innere Blutungen ausgelöst.«
Noch ein Klick. Der Alte mit dem Stock erschien auf dem Bildschirm.
»Obwohl es wie ein Übergriff aussieht, hat sich der Mann die Verletzung selbst beigebracht, durch Zuckungen im Todeskampf. Aufgrund des Aussehens der Leichen und wegen des unmittelbaren Eintritts des Todes hat das ABC-Team zunächst an ein Nervengas gedacht, VX oder Sarin. Deshalb hat man Vorkehrungen getroffen, die eine vollständige Isolierung des betroffenen Gebiets vorsahen. Nach meiner Ankunft am Tatort, wo ich einen ersten Blick auf die Leichen werfen konnte, fiel mir aber auf, dass ein vorzeitiges Absacken hellroter Körperflüssigkeiten zu beobachten war.«
Klick. Der rötliche Fleck am nackten Rücken einer Leiche, die auf dem Obduktionstisch lag.
»Und auch die leuchtend rote Farbe des Bluts fiel mir auf.«
Klick. Ein Blutfleck auf einem der Sitze.
Ein Polizist eilte zur automatischen Schiebetür hinaus, die Hand vor den Mund gepresst.
»Das hat mich an etwas anderes als Nervengas denken lassen«, fuhr Bart fort. »Etwas Klassischeres, wenn man so will – was sich bei der Untersuchung der Blutproben schließlich bestätigt hat.« Sie machte eine Pause. »Cyanid«, sagte sie dann mit einem leichten Zittern in der Stimme.
Klick. Das Bild von einem Molekül.
»Blausäure in gasförmigem Zustand«, fuhr sie fort, jetzt wieder gefasst. »Wie viele von Ihnen wissen werden, reagiert Cyanid mit dem Eisen in den Zellen und hemmt die Atmungskette. Die Opfer sterben unter Krämpfen, weil der Sauerstoff nicht mehr von den roten Blutkörperchen ins Gewebe transportiert wird. Man erstickt, obwohl man noch atmet. Der Sauerstoff bleibt im Blut, das daher eine schon fürs bloße Auge erkennbare leuchtend rote Färbung annimmt.«
Klick. Das Bild eines Fensters der Executive Class.
»Das Gas ist durch die Abteiltür und die Fensterschlitze entwichen, ein Prozess, der durch die Bewegung des Zugs und den Druckausgleich in den Tunneln noch befördert wurde.«
Klick. Der tote Zugführer.
»Als der Zugführer die Tür öffnete, war die Konzentration des Gases noch ziemlich hoch, sodass er leider einer tödlichen Dosis ausgesetzt war. Glücklicherweise aber hat sich in diesem Moment das Cyanid endgültig in der Luft verteilt, auch wenn Ihr Kollege Polfer, der als Erster am Tatort war, noch hinreichend viel eingeatmet hat, um weiterhin unter Atemproblemen zu leiden. Er ist auf dem Heimweg zusammengebrochen, wurde aber sofort versorgt und befindet sich außer Lebensgefahr.«
Wieder erhob sich Gemurmel unter den Anwesenden. Bart machte eine Pause, während der Carabinierigeneral erneut um Ruhe bat. Colomba konnte nicht anders, als zu denken, dass es mit dem Drückeberger von der Bahnpolizei nicht den Falschen getroffen hatte.
»Jedenfalls«, fuhr Bart fort, »wurden alle Personen, die mit den Leichen und dem Waggon in Kontakt gekommen sind, prophylaktisch mit Cyanokit behandelt. Abgesehen von einer leichten Übelkeit und Kopfschmerzen werden sie keinerlei Probleme haben.«
»Warum hat sich das Gas nur im ersten Waggon verteilt?«, erkundigte sich der General.
»Reines Glück.«
Klick. Eine Zeichnung von ein paar Schläuchen. Auf Colomba wirkte sie, als habe man sie nur schnell mit einem Kuli auf ein Blatt Papier gekritzelt, was vermutlich den Tatsachen entsprach. »Sehen Sie den roten Kreis? Dort befindet sich die Vorrichtung, die den Luftaustausch zwischen der Executive Class und den anderen Wagenklassen regelt.« Bart zeigte mit einem Stift auf einen anderen, kleineren Kreis. »Die Spraydose war an dieser Stelle eingebaut, fünf Zentimeter vor dem Knotenpunkt des Belüftungssystems. Wenn die Attentäter die Dose hinter dem Regler angeschlossen hätten, wäre das Gas in sämtliche Hohlräume des Zuges geströmt, einschließlich der Fahrerkabine. Die Zahl der Opfer wäre ungleich höher gewesen.«
Es gab noch weitere Fragen, aber Colomba hatte so starke Kopfschmerzen, dass sie den Raum verlassen und Luft schnappen musste.
Wenige Sekunden später gesellte sich Maurizio Curcio zu ihr und zündete sich eine Zigarette an. Er war der Chef der Squadra Mobile, der mobilen Kriminalpolizei von Rom. Seit Colomba vor sieben Monaten in den Dienst zurückgekehrt war, hatten sie immer einen freundlichen Umgang miteinander gepflegt. »Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. Er hatte sich kürzlich den Schnäuzer abrasiert, und Colomba hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Der Schwung seiner Oberlippe verlieh ihm einen ironischen, fast hinterlistigen Ausdruck.
»Ich bin nur ein bisschen matt im Kopf. Besteht Aussicht, die Herkunft des Cyanids zu bestimmen?«
»Der Dottoressa zufolge dürfte das schwer werden. Es ist kein industrielles Produkt, sondern selbst gemacht – aus Pflanzen, die überall wachsen, wie diesem Kirschdingsbums.«
»Kirschlorbeer«, sagte Colomba, die in ihren Dienstjahren in Palermo einen im Garten gehabt hatte – die einzige Pflanze, die ihr nicht innerhalb kürzester Zeit eingegangen war. »Der IS hat also ein Labor in Italien.«
»Vielleicht auch nur ein gut bestücktes Arsenal. Oder beides. Oder von beidem ganz viele. Faktisch wissen wir einen Scheißdreck.« Er warf seine Kippe in einen überfüllten Mülleimer. »Außer dass so etwas früher oder später passieren musste.«
»Es hätte schlimmer kommen können.«
»Aber wir wissen nicht, was diese Hurensöhne noch alles vorhaben. Wir müssen sie finden, bevor sie ein weiteres Mal zuschlagen. Gehen Sie nach Hause, und ruhen Sie sich aus, los. Sie sehen aus, als würden Sie gleich umkippen.«
»Das scheint mir nicht der richtige Moment zu sein, Dottore.«
»Dann gehen Sie wenigstens unter die Dusche, Colomba. Ich weiß, dass man so etwas nicht sagt, aber Sie stinken wie eine ganze Umkleidekabine.«
Sie wurde rot. »Wir sehen uns im Büro.«
Nachdem sie noch kurz zu Bart gegangen war, die sie herzlich an sich gedrückt hatte (»Warum meldest du dich nie?« und so weiter und so fort), ließ sie sich von einem Kollegen, der kurz vor der Pensionierung stand und nun Angst vor dem Dritten Weltkrieg hatte, nach Hause bringen. Sie hielt den Blick starr auf die am Wagenfenster vorbeigleitende Stadt gerichtet, aber sobald ihr die Augen zufielen, tauchten die verzerrten Gesichter der vergifteten Fahrgäste wieder vor ihr auf. Der Geruch des Desinfektionsmittels, der noch an ihrer Kleidung haftete, verwandelte sich in den von Blut und Fäkalien in dem Waggon. Und dann in den noch älteren in einem Pariser Restaurant: den Gestank der verbrannten und in Fetzen gerissenen Menschen, die einer C4-Bombe zum Opfer gefallen waren, so wie sie selbst beinahe auch. Die große Katastrophe, pflegte sie dieses Ereignis zu nennen.
Wieder sah sie die alte Frau in die Luft gehen und ihre Tischnachbarn mitreißen, sah den jungen Ehemann, der brennend zum Fenster hinausgeschleudert wurde. Irgendwann nickte Colomba ein und wachte mit dem Klang ihrer eigenen Stimme in den Ohren und einem Kratzen im Hals, als habe sie unter großen Mühen gesprochen, wieder auf. Offenbar hatte sie es tatsächlich getan, denn der Polizist musterte sie verängstigt aus dem Augenwinkel.
Wankend betrat sie schließlich ihre Zweizimmerwohnung, die in einem alten Mietshaus am Tiber lag, nicht weit vom Vatikan entfernt. Ein Teil der Einrichtungsgegenstände stammte vom Flohmarkt, der weitaus größere von Ikea. Colomba lebte seit fast vier Jahren hier, aber ihre Wohnung wirkte immer noch ziemlich unpersönlich, fast unbewohnt. Ein roter Ledersessel, der inmitten von Bücherstapeln stand, bildete eine Ausnahme. Die Bücher kaufte sie gleich beutelweise an irgendwelchen Ständen, eine wilde Mischung aus preisgünstigen Klassikerausgaben und unbedeutenden Romanen längst vergessener Autoren. Sie liebte die Überraschung und die Vielfalt, und in Anbetracht des günstigen Preises konnte sie ein Buch gleich in die Altpapiertonne wandern lassen, wenn es ihren Erwartungen nicht entsprach. Im Moment las sie im Schneckentempo Bel-Ami von Maupassant, in einer derart zerlesenen Ausgabe, dass die Seiten beim Umblättern manchmal rissen.
Als sie geduscht hatte und sich gerade in einen japanisch angehauchten Bademantel hüllte, bekam sie einen Anruf von Enrico Malatesta. Enrico war Finanzberater. Einst war er auch Colombas Freund gewesen, bevor sie nach der Bombenexplosion in Paris im Krankenhaus gelandet war, zerrüttet von Schuldgefühlen und Panikattacken, und er Reißaus genommen hatte. Vor ein paar Monaten hatte er sich dann plötzlich wieder gemeldet – er habe ein altes Foto in der Schublade gefunden, wie in dem Song der Pretenders.
Die nostalgische Anwandlung hatte als Vorwand herhalten müssen, aber vermutlich war der eigentliche Grund für seine Rückkehr, dass seine neuen Beziehungen allesamt scheiterten. Colomba hatte es trotzdem nicht geschafft, ihn zum Teufel zu schicken. Sie hatte ihn gemocht und hatte es noch lieber gemocht, mit ihm zu vögeln, was sie regelmäßig davon abhielt, einfach aufzulegen, wenn er anrief.
»Ich habe von dem Anschlag gehört«, sagte er. Den Hintergrundgeräuschen nach zu schließen, war er bereits im Park, vermutlich in dem der Villa Pamphilj. Wie Colomba ging er gerne frühmorgens joggen. »Im Internet stand, dass du auch dort warst.«
»Dann wird es wohl stimmen.«
»Nun komm schon. Warst du nun da, oder warst du es nicht?«
Colomba verließ das Bad und setzte sich auf ihr Bett, das sie wie ein Magnet anzog. »Ich war da.«
»Ich dachte, dass ein Blitz nie an derselben Stelle einschlägt.«
»Wie einfühlsam … Außerdem ist das Unfug. In meinem Job wird man zum Blitzableiter.« Der eine mehr, der andere weniger.
»Wie war es dort?«
»Rufst du an, um pikante Details zu erfahren?«
»Du weißt doch, dass ich ein Faible für so etwas habe«, bekannte er heiter.
Machst du etwa gerade zweideutige Bemerkungen?, fragte sich Colomba in dem Tonfall, den ihre Mutter jetzt anschlagen würde. Was fällt dir ein? »Mit so etwas kann ich nicht aufwarten«, sagte sie knapp. »Unschöne Leichen, das ist alles.«
»Es heißt, es hat sich schon jemand zu dem Anschlag bekannt.«
»Heißt es das?«
»Und dass Gas im Spiel war.«
»Ja.« Dann sagte sie aus einem Impuls heraus: »Ich hätte es auch fast eingeatmet. Ich habe es eingeatmet vielmehr, allerdings nur eine winzige Dosis.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein.«
»Und wie geht es dir?« Sein Tonfall war plötzlich ernst und teilnahmsvoll. Colomba fragte sich, ob das echt war oder ob er nur wieder eines seiner Spielchen spielte. Sie beschloss, ihm diesmal zu glauben, und ließ sich aufs Bett zurücksinken. Ihr Bademantel fiel an den Oberschenkeln auseinander. Plötzlich verspürte sie ein solches Verlangen nach Enrico, dass sie die Hand zwischen die Beine schob. »Mir geht es gut, keine Sorge«, sagte sie. Was machst du da, verdammt? Erinnerst du dich nicht, dass dieser Idiot dich verlassen hat, als du im Krankenhaus warst? Sie erinnerte sich, aber sie erinnerte sich auch noch an ganz andere Dinge.
»Wie kannst du verlangen, dass ich mir keine Sorgen mache? Natürlich mache ich mir Sorgen. Bist du zu Hause? Kann ich auf dem Weg ins Büro vorbeikommen?«
Ja, komm vorbei. »Nein, ich bin auf dem Sprung. Ein andermal.« Hör nicht auf mich, und komm einfach.
»Ich könnte in fünf Minuten da sein«, sagte Enrico, der wohl spürte, dass Colombas Widerstand dahinschmolz.
Ja. Komm. Jetzt sofort, dachte Colomba. »Nein, ich muss gehen.« Sie legte auf. Du bist wirklich eine elende Hure, schalt sie sich. Musste das jetzt sein? Bett und Begehren hatten sie entspannt, und so schloss sie wider Willen die Augen. Sanft glitt sie in ein schwarzes Loch.
Eine Stunde später wurde sie vom Klingeln ihres Festnetztelefons geweckt. Fast hätte sie es gar nicht erkannt, weil sie den Anschluss kaum noch benutzte. Sie griff nach dem kabellosen Hörer, der ihr beinahe aus der Hand fiel, weil sie sich wie unter Narkose fühlte. Es war Curcios Sekretär, der sie aufforderte, so schnell wie möglich zu kommen: Die Fahndung hatte begonnen.
6 Die Fahndungsabteilung des Polizeipräsidiums hatte ihren Sitz im fünften Stock eines ehemaligen Dominikanerkonvents in der Via Vitale, ein paar Schritte von den Kaiserforen entfernt. Colomba ging zu Fuß, um richtig wach zu werden, und überquerte auf dem Weg auch die Piazza di Trevi. Um halb elf Uhr vormittags wimmelte es vor dem Brunnenbecken normalerweise von Touristenmassen, aber an diesem Tag sah sie nur ein kleines Grüppchen von Personen, die sich nicht zu amüsieren schienen. Bombentrauma – Vermeidung öffentlicher Plätze, dachte Colomba, obwohl gar keine Bombe im Spiel gewesen war. Im Moment zumindest noch nicht. Nach einem Marsch von weiteren fünf Minuten schritt sie durch das Portal mit der Aufschrift SUB LEGE LIBERTAS und stieg nach oben, wo sich die neun Abteilungen der Squadra Mobile mit ihren neunzig Mitarbeitern neunzehn Büros, zwei Toiletten, einen Sitzungsraum, einen Kopierer und zwei Drucker – einer davon seit Ewigkeiten defekt – teilten. Außerdem gab es noch eine provisorische Zelle und für Besucher ein Wartezimmer. Wegen des Notfalls waren Schicht- und Urlaubspläne obsolet, und es eilten noch mehr Menschen durch die Gänge als sonst. Man sah nur wenige lächelnde, aber viele finstere Gesichter. Überall liefen Fernseher und Radios.
Einige Kollegen hatten von Colombas Pech gehört und wollten alles darüber wissen, aber sie ließ sie einfach stehen und ging in den total überfüllten, heißen Sitzungsraum, um mit dreißig Polizisten in verschiedenen Stadien der Müdigkeit den Anweisungen des Innenministeriums zu lauschen. Es war noch nicht gelungen, die Attentäter zu identifizieren, und so hatte man begonnen, Informationen über die islamistischen Extremisten auf italienischem Staatsgebiet und über mutmaßliche Sympathisanten einzuholen. Grob gesagt drehte man jeden Stein um und hoffte, dass etwas Nützliches darunter hervorsprang.
»Die Operation trägt den Namen ›Sieb‹«, sagte Curcio und wandte sich zu der alten Romkarte um, die neben einer noch älteren, nur noch mithilfe von Klebeband zusammengehaltenen Karte von ganz Italien an der Wand hing. »Sie findet in den größten italienischen Städten statt oder wird zumindest in den nächsten Stunden dort eingeleitet. Rom teilen wir uns mit unseren Cousins von den Carabinieri und den Spezialtruppen der Finanzpolizei. Auf uns warten heute Centocelle, Ostia, Casilina und Torre Angela.«
Alles Bezirke in der Peripherie mit einem hohen Anteil an Kleinkriminalität und Drogenhandel. Hinter Colomba jammerte jemand leise: »Schade, dass wir nie die Via del Corso abbekommen …«
»In jeder Mannschaft«, fuhr Curcio fort, »wird an verantwortlicher Position ein leitender Polizeibeamter stehen, der drei seiner Mitarbeiter mitbringt. Sie werden unterstützt von der Squadra Volante, dem Spezialeinsatzkommando und jeweils einem interkulturellen Mediator. Das Kommando über die Mannschaften wird jeweils einem Mitglied der Taskforce übertragen, die vom Innenministerium gebildet wurde, um die Einsätze zu koordinieren. Scheren Sie sich nicht um Alter und Dienstgrad, denn die Verantwortung für die Operation liegt bei diesen Herren, die auch sämtliche geheimdienstlichen Befugnisse haben. Noch Fragen?«
Nein, jedenfalls keine sinnvollen. Colomba sah voraus, dass ihr Centocelle im Osten der Stadt zugewiesen werden würde, weil sie das Islamische Zentrum dort kannte. Ein Mann, der in dem Zentrum verkehrte, hatte seine Frau erwürgt, und ausgerechnet sie, Colomba, hatte ihn am ersten Tag ihrer Rückkehr in den Dienst in Handschellen abgeführt.
»Wir nehmen alles mit, was wir finden können – falls wir etwas finden«, sagte Santini, als Colomba in sein Büro trat, um die letzten Anweisungen entgegenzunehmen. Er saß am Schreibtisch, das linke Bein auf die Tischplatte gelegt. Vor einem Jahr hatte er sich eine Arterie durch ein Stück Plastik ersetzen lassen, das erst halb so gut funktionierte, wie es sollte, ihm dafür aber doppelt so viele Schmerzen bereitete. Dreimal so viele. »Selbst wenn du nur eine abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung findest, verhafte sie alle, und schließ die Einrichtung.«
»Wir gießen nur Öl ins Feuer«, sagte Colomba. »Heilige Scheiße.«
»So läuft das eben, Caselli. Möchtest du denen da oben ans Bein pinkeln?«, fragte er.
Colomba schnaubte. »Sonst noch Anweisungen, Chef?«