Jeder kennt ihn – diesen einen Tag, der alles erschüttert. Der Tag, der alles aus der Bahn wirft und dabei dein Leben komplett auf den Kopf stellt. Für manche ist es der Moment, in dem man sich das erste Mal Hals über Kopf in den unerreichbaren Jungen aus der Parallelklasse verliebt. Der erste Liebesbrief, den man von ihm bekommt und das erste Mal, wenn er einem das Herz bricht. In dieser Zeit fühlt es sich an, als würde das Leben keinen Sinn mehr machen, als sei alles vorbei und alles Schöne in einem wäre komplett zerstört worden. Für einige ist es der Moment, in dem man das erste Mal in die Augen seines eigenen Kindes blicken kann – all das sind Augenblicke, die einen vollkommen einnehmen. Puzzleteile, die nur zusammengefügt etwas Ganzes und Großartiges ergeben. Es sind Situationen und Erinnerungen, die alles im Leben verändern. Wenn man an diesem Zeitpunkt angelangt ist, wird nichts mehr sein, wie es noch vor einer Sekunde war. Nach dem nächsten Augenaufschlag wird man alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten.
Und für mich – für mich hat sich nicht nur etwas verändert, nein. Ich musste es auf die harte Tour lernen. Für mich ist es diese eine Nacht, die ich für immer verfluchen werde, weil sie mich immer wieder daran erinnert, wie ungerecht das Leben sein kann. Mich daran erinnert, wie lächerlich der Schmerz eines gebrochenen Herzens gegen diese Folter ist. Wie sinnlos es ist, das beliebteste und begehrteste Mädchen in der Schule sein zu wollen. Alles ist egal. Denn wenn ich an all die schrecklichen Stunden zurückdenke, dann läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Meine persönliche Kehrtwende hat mir in dieser Nacht ihr wahres, grässliches Gesicht gezeigt. In der Nacht, in der meine Eltern in den Himmel gegangen sind.
Du öffnest deine Augen und von der Welt, die du kennen und lieben gelernt hast, ist nichts mehr übrig – von einer Sekunde zur nächsten. Jetzt gibt es nur noch einen Satz, der mich beschreiben kann: Ich bin zerrissen. Zersprungen wie eine Porzellantasse, die man mit voller Wucht auf den harten Beton hat knallen lassen. Jeder Mensch hat Eigenschaften, die ihn auszeichnen und jeden von uns zu einem Individuum machen. Früher dachte ich ernsthaft, ich wäre etwas Besonderes – dass niemand auf dieser Welt so wäre wie ich. Und jetzt? Jetzt bin ich nur noch ein Mädchen, das seine Eltern viel zu früh ziehenlassen musste, auch wenn es selbst noch keinen einzigen Schritt in ein eigenes, selbstständiges Leben gehen konnte. Ich bin der Schatten meines früheren Ichs, weil ich alles, was ich einst liebte, verloren habe.
Wenn Eltern ihre Kinder alleinlassen, nehmen sie ein riesiges Stück von ihnen mit sich in den Himmel. Meine Eltern haben alles von mir mit sich genommen, als sie mich in dieser Nacht im Stich ließen.
Es gibt viele erste Male, die man in seiner Lebensspanne durchleben kann. Der erste Kuss, das erste Mal Sex, der erste Streit mit der besten Freundin, die erste schlechte Zensur. Manche Dinge werden beim zweiten Mal schwieriger, manche werden leichter. Doch die Nacht, in der einen die eigenen Eltern verlassen, ist und bleibt ein einmaliges, einschneidendes Ereignis. Und auch, wenn man diese Folter nur einmal über sich ergehen lassen muss, bleibt dennoch der Schmerz, den man immer und immer wieder durchlebt. Wenn man Bilder von ihnen sieht, sich an schöne Momente erinnert. Es ist, als würde man selbst innerlich mit jeder Erinnerung Stück für Stück sterben.
***
»Judy ist schon wieder mit Marc unterwegs«, murmle ich in mein Handy und drücke den flauschigsten Teddybären aller Zeiten eng an mich. Ich kann mich noch lebhaft an den Tag auf dem Jahrmarkt erinnern, als mein Dad alles darangesetzt hat, diesen Bären für mich zu gewinnen – und verdammt, ich bin ihm unendlich dankbar, weil Mr Flauschi mir seitdem jeden Abend versüßt.
»Also ich beneide deine Schwester, Ley«, sagt Caroline und seufzt theatralisch in das Mikrofon ihres neuen Smartphones. Caroline ist meine beste Freundin, seit ich denken kann, aber manchmal frage ich mich, was in ihrem Kopf vorgeht. Judy ist nun wirklich nicht zu beneiden. Ich zähle die wichtigsten Fakten einmal auf: 1. Sie schwänzt ständig den Unterricht, um sich dann auf irgendeiner Party komplett volllaufen zu lassen. 2. Sie kümmert sich weder um unsere Eltern, noch um unseren kleinen Bruder Lucas, welcher der mit Abstand beste kleine Bruder der ganzen Welt ist. 3. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, mich tagein tagaus zu schikanieren. Wow. Super Schwester! Egal wie viel Mühe ich mir gebe, ich kann mir einfach nicht erklären, was ich ihr angetan haben soll. Schon seitdem ich denken kann, hasst sie mich. Aber auch, wenn ich sie deshalb ebenfalls ignorieren sollte, bringe ich es nicht übers Herz. Wie kann man nur seine eigene Schwester derart verabscheuen? Als ich noch kleiner war, habe ich immer zu ihr aufgeblickt. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sie angefangen hat sich wie eine verzogene Göre zu benehmen.
Caroline redet am anderen Ende der Leitung, ohne auch nur eine winzige Pause zu machen. Es ist also kein Wunder, dass ich von dem, was sie mir eigentlich sagen will, nur Bruchstücke wirklich verstehen und in meinem Gehirn verarbeiten kann. Kein Mensch ist dafür ausgelegt, solch einen Schwall an Worten in seinen Gehörgang zu lassen – keiner!
»Warte mal, Caro. Ich glaube, unser blöder Nachbar verbrennt schon wieder seinen Müll auf dem Hof. Es riecht, als würden wir in der Hölle schmoren.«
»Dieser Idiot. Weiß der Typ immer noch nicht, dass das verboten ist?«, zischt sie wütend und ich muss an den Tag denken, an dem Caro vollkommen wutentbrannt zu Mr Brians gestürmt ist, um ihm gehörig ihre Meinung zu geigen. Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar – nicht jeder Erwachsene wird von einer dreizehnjährigen Rotzgöre zur Sau gemacht. Caro ist das schlagfertigste Mädchen, das ich kenne, und genau dafür liebe ich sie.
»Ich geh mal nachsehen. Bleib dran«, sage ich, während ich Mr Flauschi behutsam auf mein Kissen bette und aufstehe.
Mit dem Gedanken daran, dass ich jetzt in Carolines Fußstapfen treten sollte, mache ich mich auf den Weg zu dem Fenster, von dem aus man den perfekten Blick auf seinen Garten erhaschen kann. Ich will mich nur vergewissern, ob dieser Typ wirklich so dreist ist, um diese Uhrzeit noch ein Feuer zu entfachen.
Als ich meine Zimmertür öffne, empfängt mich sofort der Geruch von verbranntem Holz und auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wieso diese dichte Rauchwolke in unserem Flur steht, setze ich einen Fuß vor die Tür meiner heiligen Hallen. Der Ort, der mir Sicherheit gibt, wenn ich abends allein mit Lucas zu Hause bin, weil meine Eltern bei Freunden sind und Judy mal wieder betrunken in irgendeiner Ecke liegt.
Sobald ich die Tür zu meinem Zimmer jedoch geschlossen habe, wird mir heiß. Mir wird so heiß, wie ich mich selbst mit 41 Grad Fieber noch nicht gefühlt habe. Es ist, als würde die Luft in diesem Raum brennen und als ich mich endlich aus meiner Schockstarre gelöst habe, sehe ich etwas. Ein Licht am anderen Ende des Flures. Eigentlich gäbe es tausend wichtigere Gedanken, die sich bei diesem Anblick in meinen Kopf krallen müssten, aber ich fixiere nur dieses Licht und frage mich, woher es kommt. Alle Alarmglocken sollten sich in Bewegung setzen, aber ich kann nichts anderes tun, als festgewurzelt vor meinem Zimmer zu stehen.
Feuer. Feuer. Feuer. Überall.
Egal, wohin ich meinen Blick richte, ich sehe, wie sich das orangefarbene Licht immer weiter und schneller ausbreitet. Lucas. Mein kleiner Bruder kommt mir in den Sinn und bevor ich meine Beine in Bewegung setzen kann, höre ich sein entsetztes Schluchzen am anderen Ende des Flures. Das Feuer ist direkt vor seinem Zimmer. Als ich versuche, meinen wild umherschießenden Blick auf sein Zimmer zu richten, sehe ich ihn. Mit einem Mal sehe ich nur noch ihn. Mein Bruder steht schreiend und weinend hinter den Flammen, seine Gestalt ist verzerrt durch das flackernde Licht. In meinen Gedanken ist nur noch Platz für ihn und diesen einzigen Wunsch: ihn zu retten. Sofort reiße ich mich los und einen Augenblick später trennen uns nur noch wenige Schritte – und eine Flamme, die so hoch ist, dass ich nicht weiß, wie ich es schaffen soll, diese brennende Barriere zu überbrücken.
»Lucas, ich hol dich da raus! Hab keine Angst, mein Engel«, wimmere ich, obwohl ich mir allergrößte Mühe gebe, stark zu bleiben. Ich darf jetzt nicht anfangen zu weinen – ich muss stark sein, meinen Bruder aus seinem Zimmer holen und meine Eltern wecken. Das ist alles, was ich tun muss. So schnell wie möglich. Ohne zu zögern, nähere ich mich den Flammen ein weiteres Stück und alles, woran ich denken kann, ist mein verängstigter Bruder, der wie ein Häufchen Elend dort drüben steht und schreckliche Angst haben muss.
Ich setze zum Sprung an und lande mit einem Satz auf der anderen Seite. Prompt lege ich meine Arme um ihn, um ihm Sicherheit zu geben. Er soll sich sicher fühlen, er soll mir vertrauen können. Niemals würde ich ihm etwas zustoßen lassen. Nachdem ich ihm über die Flammen geholfen und ihn auf der anderen Seite abgesetzt habe, werde ich wieder vom flackernden Licht gefangen genommen. Alles, was ich mit diesem Haus und meinem Leben verbinde, bricht in dieser Sekunde wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Unsicher mache ich einen Schritt auf das Feuer zu, aber die Angst vor dem, was mich dahinter erwarten wird, schlingt sich um mein Herz. Meine Atmung beschleunigt sich so sehr, dass es schmerzt. Meine Beine verlieren augenblicklich jeglichen Halt. Die verweinten Augen meines Bruders holen mich zurück in die Realität. Er braucht mich. Unbeholfen setze ich erneut zum Sprung an, aber schon Sekunden später legt sich das Feuer wie eine zweite Haut um meine nackten Beine. Es schmerzt, es brennt, es treibt mir Tränen in die Augen. Der Schmerz durchzuckt mich wie ein Stromschlag. Aber auch, wenn ich am liebsten schreien würde, bleibe ich stumm.
»Mommy, Daddy«, wimmert Lucas und starrt auf die Holztür des Schlafzimmers unserer Eltern. Eine Holztür, die in den letzten Sekunden vom Feuer verschluckt wurde. Ich sehe nichts als Flammen. Verdammt, ich bin zu spät. Ohne auf dieses heiße Gefühl auf meiner Haut oder den Schmerz in meiner Lunge zu achten, stoße ich die Tür zum Schlafzimmer auf. Sobald sie mit der Gardine des Fensters in Berührung kommt, verfängt sich das Feuer in ihr und schlängelt sich wie in einem Zeitraffer durch den gesamten Raum.
»Mom! Dad!«, schreie ich ins Innere des Zimmers, das einzig und allein von den Flammen erleuchtet wird. Wieso antwortet keiner? Verdammt, jetzt antwortet doch endlich!
»Moooom! Daaad!«, schreie ich erneut, lauter als je zuvor, doch als ich noch immer keine Antwort bekomme, mache ich einen Schritt über die beinahe brennende Türschwelle. Lucas krallt sich so fest in mein Handgelenk, dass es sich anfühlt, als würde er seine Finger in mein Fleisch bohren. Gerade als ich über die Schwelle trete, bricht der Holzbalken über unseren Köpfen in sich zusammen und schlägt krachend am Boden auf. Sofort weiche ich ein Stück zurück und schiebe meinen Bruder aus dem Schlafzimmer unserer Eltern heraus. Immer wieder sehe ich panisch zwischen ihm und meinen Eltern hin und her. Die Tränen, die über meine Haut rinnen, zeigen mir, dass ich mich entscheiden muss. Eine Entscheidung, die mich für den Rest meines Lebens begleiten wird. Ein Schluchzen entfährt meiner Kehle, als ich mich umdrehe und Lucas hinter mir her in mein Zimmer zerre. Mit zittrigen Fingern greife ich nach meinem Handy. Es ist zu spät. Es wird zu spät sein. Ich werde schuld sein. All das wird meine Schuld sein.
***
Die Feuerwehr kam bereits nach einigen Minuten, Nachbarn haben sie auf das Feuer aufmerksam gemacht. Menschen, die einfach zugesehen haben, wie unser Haus bis auf seine Grundmauern abbrannte. Zugesehen haben, wie meine gesamte Familie in einzelne Stücke gerissen wurde. Sie haben zugesehen, wie meine Eltern in dieser Nacht ihr letztes Licht verloren haben. Und immer wieder halte ich mir vor Augen, dass ich sie nicht retten konnte.
»Keine Sorge, Pete. Ich pass auf mich auf«, sage ich und kann mir ein Lächeln einfach nicht verkneifen. Obwohl er keinen Grund hat, sich Sorgen um mich zu machen. Pete wäre nicht Pete, wenn er keinen finden würde. Es ist, als wäre er geboren worden, um mich zu beschützen.
»Wenn Dex dich auch nur einmal dumm von der Seite anmachen sollte, kannst du ihm sagen, dass er seine kostbaren Eier bald los ist«, presst er hervor und auch wenn ich es süß von ihm finde, kann ich bestens auf mich allein aufpassen. Es kotzt mich an, dass alle denken, ich müsse beschützt werden. Warum? Nur, weil ich ein menschliches Wesen bin, das Brüste anstatt Muskeln hat?
»Schätzchen, ich krieg das auch allein auf die Reihe. Wenn er mir etwas zu sagen hat, dann soll er all seiner Wut freien Lauf lassen. Dann habe ich wenigstens einen triftigen Grund, um ihn ebenso an meiner Gefühlswelt teilhaben zu lassen. Mein Fuß wollte schon länger Bekanntschaft mit seinem Schritt machen«, gebe ich lachend zurück und lasse meinen Blick durch die Frontscheibe meines Peugeots schweifen, der kaum größer ist als ein Rattenkäfig. »Was? Willst du mir sagen, dass du darauf stehst, deinem Freund zwischen die Beine zu treten? Ich glaube, zum Geburtstag bekommst du von mir einen Flogger geschenkt. Dann kannst du deiner Vorliebe freien Lauf lassen.«
»Exfreund!«, korrigiere ich ihn, ohne auf diese masochistische Anmerkung einzugehen. Immer wieder lasse ich meinen Arm klopfend auf die Schaltung fallen – im Takt der Musik.
»Und ja, ich habe schon oft daran gedacht. Dex hätte es wirklich verdient, dass man ihn in seinem monströsen Testosteronnebel mal in seine Schranken weist. Hör zu, Pete, ich muss rein. Meine erste Stunde fängt gleich an«, flüstere ich in mein Smartphone, als würde mir diese Tatsache Schmerzen bereiten.
»Ich kann es gar nicht fassen, dass schon wieder ein neues Schuljahr anfängt. Dein Letztes.«
»Ich auch nicht, glaub mir. Aber ich muss jetzt wirklich. Wir sehen uns heute Abend. Was gibt es zum Abendessen?« Das liebe ich am meisten an meiner derzeitigen Wohnsituation – mit Pete gemeinsam das Abendessen vorzubereiten und mir währenddessen mit ihm eine Folge The Vampire Diaries reinzuziehen. Ja, ich weiß, was ihr jetzt denkt: Kein Kerl dieser Welt guckt sich freiwillig diesen Twilight-Abklatsch an. Außer, er steht auf ein Mädchen und will es damit beeindrucken. Aber so ist es nicht zwischen Pete und mir und so war es noch nie. So begeistert, wie er von dieser Serie ist, kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass er sich jeden Abend eine Folge anschaut, nur um mich ins Bett zu kriegen. Ich meine – hey er müsste nur nachts in mein Zimmer kommen, um es auszuprobieren. Natürlich würde ich ihm eins überzimmern, aber ich weiß, dass ich zu dieser Notwehr nicht greifen muss.
»Bolognese, Baby.« Grinsend beende ich das Gespräch und lasse meinen Blick erneut nach vorn schweifen, beobachte die zahlreichen Schüler, die wie verrückt gestikulieren, weil sie sich sechs Wochen lang nicht gesehen haben. Hallo? Es waren nur sechs Wochen – was kann in dieser Zeit schon so Spektakuläres passiert sein, dass man am Ende eines Gesprächs beinahe eine Sauerstoffflasche umklammern muss? Ich kapier's nicht.
Prüfend schaue ich ein letztes Mal in den Rückspiegel. Nicht, weil ich mein Make-up überprüfen muss. Nicht, weil es mich juckt, was andere über mich denken. Und auch nicht, um irgendeinem Kerl zu gefallen, damit Dex vor Eifersucht platzt. Es ist mir nämlich vollkommen egal, was dieser Typ macht. Es ist mir egal, was er morgen machen wird und vor allem ist es mir egal, wie sein Leben in zehn Jahren aussieht. Ich muss einfach nur wissen, ob ich es schaffe, meine Fassade aufrechtzuerhalten. In den letzten sechs Wochen konnte ich sein, wie ich bin. Vor Pete muss ich mich nicht verstellen. Vor ihm muss ich kein Lächeln aufsetzen, wenn es mir beschissen geht. Hier fühle ich mich beinahe dazu verpflichtet.
Nach weiteren fünf Sekunden, in denen ich in meine leeren Augen starre, gebe ich mir selbst das Gütesiegel, das Du-wirkst-auf-jeden-glücklich-Siegel. Ich binde mir meine blonden Haare zu einem hohen Zopf zusammen. Wenn ich sie offen trage, könnten manche Freaks aus meiner Highschool wieder behaupten, ich wäre deprimiert wegen Dex. Weil ICH ihn verlassen habe. Deshalb müsse ich mich hinter einem Vorhang aus Haaren verstecken. Glaubt mir – das ist kein Witz. Solche kuriosen Feststellungen sind in meiner Stadt gang und gäbe und ich denke, dass ihr euch ausmalen könnt, wie nervtötend das sein kann. Ich schalte das Radio aus und gerade als ich die Hand zum Türgriff gleiten lasse, ist es, als würde die Erde unter mir beben. Verdammt, was ist hier los? Ist jetzt der Tag gekommen, an dem die Welt untergehen wird? Doch bevor ich mich an das kleine Erdbeben gewöhnen kann, das mich durchzuckt, ist es auch schon vorüber. Unsicher sehe ich mich um, aber niemand scheint es überhaupt bemerkt zu haben. Mein Blick bleibt schließlich am Rückspiegel hängen und – mein Gott eben dachte ich noch, dass ich mich in einem Film wie Krieg der Welten befinden würde, aber jetzt frage ich mich, ob ich nicht eventuell noch sabbernd in meinem Bett liege und träume.
Der hellblaue Lack sticht mir sofort ins Auge und auch wenn es albern klingt, hat diese Farbe eine beruhigende Wirkung auf mich. Womit habe ich das verdient? Ich stecke meinen Kopf durch die beiden Sitze und schaue nach hinten.
Es muss ein Traum sein, denn egal wie oft ich blinzle, das Bild vor meinen Augen ist und bleibt dasselbe: ein 1969 Chevy Camaro Convertible. Fragt mich nicht, woher ich das so genau weiß. Ich gehöre ganz sicher nicht zu den Mädchen, die auf Autos abfahren, aber dieses hier – das ist der Traum jedes The-Vampire-Diaries-Fangirls.
Innerlich bereite ich mich darauf vor, dass er jeden Moment aussteigt. Damon. Hach, was würde ich dafür geben, um einmal in seinem Wagen zu sitzen, um ein Time-out mit ihm zu erleben. Ich glaube, dass jedes Mädchen heimlich diesen Traum hat. Und ich gehöre schließlich ebenfalls zu der Spezies. Damon Salvatore ist der perfekteste perfekte Bad Boy, den ein Autor in der Geschichte der Menschheit erschaffen konnte. Er ist unberechenbar, frech und arrogant, dennoch hat er es geschafft, sich in den letzten Staffeln in etwas viel Größeres zu verwandeln. In einen Mann, der eine weiche Seite an sich hat, wenn er verliebt ist. Ein Mann, der um seine große Liebe kämpft und der jeder sofort den Kopf verdreht. Mir jedenfalls schon – seit ich denken kann. Jetzt mal ehrlich: Will nicht jede Frau diejenige sein, die einen Badboy umpolt? Diejenige, die nicht wie Dreck behandelt wird, sondern wie eine Göttin? Durch die er ein besserer Mensch, ähm – Vampir wird? JA! Mein Gott, zum Glück kann niemand Gedanken lesen, denn dann wäre ich jetzt vollkommen aufgeschmissen.
Ungeduldig warte ich darauf, dass sich der Chevy vor meinen Augen in Luft auflöst. Ich warte darauf, dass mein Traum zerplatzt, aber ich warte vergeblich, denn das Auto rührt sich nicht vom Fleck. Als meine hormongesteuerten Gedanken endlich wieder in die Gänge kommen und ich an das Erdbeben von eben denke, trifft es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Fuck. Mein Auto.
Ich reiße die Fahrertür auf, steige aus, gehe um mein Auto herum und mache mich darauf gefasst, dass ich gleich ins Leere starren werde. Doch stattdessen strahlt mich das Blau des Chevys noch immer freudig an. Im nächsten Moment öffnet sich die Tür und auch, wenn der Typ, der aussteigt, optisch mindestens genauso anziehend ist, weiß ich es. Nennt es weibliche Intuition. Dieser Kerl würde auch in 20 Staffeln keine weiche Seite in sich finden. Dieser Kerl könnte nicht ansatzweise so charmant sein wie Damon und dennoch kann ich meinen Blick nicht von ihm lassen. Es ist nicht so, dass ich bei seinem Anblick weiche Knie bekomme und meine Augen sich in rosa Herzchen verwandeln – auf keinen Fall. Aber irgendetwas an ihm hält mich gefangen. Wie in einem Bann.
»Kannst du nicht aufpassen, verdammt?« Mit diesen Worten begrüßt mich Mister Gott in Person und mein kurzweiliges Interesse löst sich wieder in Luft auf. Ich sehe zu meinem kleinen Rattenkäfig und sofort sticht mir der hellblaue Lack an meinem sonst weißen Wagen ins Auge. Verziert wird dieser kleine Farbtupfer durch eine gut ausgeprägte Delle im Blech.
»Spinnst du? Du bist mir doch reingefahren!«, brülle ich ihn beinahe an, weil ich es einfach nicht fassen kann, wie dreist dieser Typ ist. Um uns herum scharen sich bereits sämtliche Schüler und zwischen den ganzen Köpfen kann ich Dex ausmachen, wie er mich amüsiert und spöttisch mustert. Pff.
»Was? Ich glaube, du solltest mal die Augen aufmachen. Guck dir an, was du angerichtet hast. Shit!«, donnert der Fremde und ich kann nichts anderes tun, als ihn fassungslos anzustarren.
»Mein Motor war nicht mal an!«, verteidige ich mich und gehe einen Schritt auf ihn zu, weil es mir trotz allem leidtut. Dieses Schmuckstück sollte niemals einen Kratzer tragen. Immer wieder starre ich auf die blauen Schrammen an meinem Baby. Vielleicht ist mein Rattenkäfig ja jetzt sogar mehr wert – schließlich klebt ein wenig Camaro an ihm. Ich könnte ihn sogar bei eBay reinstellen. Irgendwelche verrückten Mädels würden sicher ihr ganzes Taschengeld in einen Topf schmeißen, um ihn zu bezahlen.
»Was meinst du, wie hoch ist der Schaden?«, frage ich den Typen, der sich gerade hinkniet, um die Delle an MEINEM Traumwagen zu inspizieren. Wieso ist die Welt eigentlich so ungerecht? Ich war immer ein braves Mädchen, habe im Gegensatz zu meiner Schwester nicht einmal unentschuldigt gefehlt und habe immer alles darangesetzt, mein Leben zu perfektionieren. Und dieser Typ da vor mir? Ich bin mir sicher, dass er nicht einmal weiß, was harte Arbeit wirklich bedeutet, und trotzdem ist er derjenige, der diesen Traumwagen fahren darf – und nicht ich. Allein schon deshalb habe ich das Gefühl, ihn hassen zu müssen.
»Egal wie teuer die Reparatur wird ich bin mir sicher, dass es dein Budget locker sprengt«, entgegnet er bissig, richtet sich auf und kommt mir im nächsten Moment verboten nahe. Mein Gefühl rät mir, mich ein Stück nach hinten fallen zu lassen, aber mein Selbstbewusstsein befindet sich gerade im Kampfmodus. Was habe ich vorhin gesagt? Ich kann mich selbst verteidigen, auch wenn ich keinen 40er Bizeps habe. Ein gut ausgeprägtes B-Körbchen tut's auch.
»Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich kann auch nichts dafür, dass du zu blöd zum Einparken bist! Ich kann verstehen, dass es echt scheiße ist, aber pack dein Testosteron ein und benimm dich wie ein normaler Mensch und nicht wie ein Neandertaler.«
Als ich auf seine Reaktion warte, habe ich endlich die Gelegenheit, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Nicht weil ich es heiß finde, wenn ein Kerl meint den Obermacho raushängen zu lassen, sondern einfach, weil ich nicht anders kann. Eigentlich will ich mich augenblicklich umdrehen und diesen Volltrottel hier stehenlassen. Doch auf der anderen Seite schaffe ich es nicht, mich von seinem Blick zu lösen. Was zur Hölle ist aus meinem selbst ernannten Killerselbstbewusstsein geworden? Hallo? Bist du noch da?
Wenn er so dicht vor mir steht, könnte man durchaus meinen, er wäre der Dritte im Bunde der Salvatore-Brüder. Seine rabenschwarzen Haare lassen sein Gesicht kalt und unnahbar wirken. Seine Lippen sind zu einer schmalen Linie verzogen und ich frage mich, wie sein Lächeln aussehen muss – sicher zum Kotzen. Ich kenne das Lächeln von solchen Typen. Das Ich-kriege-jede-ins-Bett-Strahlen, das diese Typen aufsetzen, weil sie denken, dass sie unwiderstehlich sind. Seine Augen haben eine so seltsame Farbe, dass ich sie nicht einmal genau definieren kann. Sind sie grau? Oder doch eher grün? Ich habe keine Ahnung, aber wenn ich diesem Mann in die Augen sehe, sehe ich nichts als Ärger. Es ist, als würde in ihnen ein Sturm wüten, der augenblicklich die gesamte Stadt in Schutt und Asche legen kann.
»Ich soll mein Testosteron einpacken? Pack du mal lieber deinen Führerschein aus und zeig mir, dass du überhaupt fahren darfst! Wie kann man, ohne in den Rückspiegel zu schauen, einfach aus einer Parklücke rausfahren«, presst er zwischen den Zähnen hervor und kommt mir dabei noch ein Stück näher. Ob bewusst oder unbewusst, weiß ich nicht. Wie kann er es wagen, mich vor der gesamten Schule so bloßzustellen? Als würde ich in eine Parklücke fahren, um zwei Minuten später wieder abzuhauen. Der Typ muss Drogen nehmen, anders kann ich mir sein albernes Verhalten nicht erklären. Er ist sicherlich auf LSD und denkt deshalb, dass er etwas gesehen hat, was gar nicht da war. Fehlt nur noch, dass er gleich rosafarbenen Einhörnern hinterherjagt.
»Hailey, komm, lass uns reingehen.« Mit diesen Worten werde ich aus meiner Schockstarre gerissen und auch, wenn ich keine Ahnung habe, wer sich gerade an meinem Arm zu schaffen macht, wehre ich mich nicht. Als mein Gehirn wieder in die Gänge kommt, drehe ich mich erneut um, bis ich nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt bin.
»Das wird Konsequenzen haben! Und glaub mir, ich bestehe darauf, dass du mir die Reparatur bezahlst!«, donnere ich so laut, dass sicher alle auf dem Parkplatz zusammenzucken.
»Hailey, ich glaube, er hat Recht. Du bist aus der Lücke rausgefahren und kurz nach dem Aufprall bist du einfach wieder reingefahren. Komm, lass uns jetzt erst einmal reingehen. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment hyperventilieren«, sagt Miriam, ein Mädchen aus meiner Klasse. Sie packt mich jetzt noch stärker am Ärmel. Wo bin ich hier? In der Truman-Show? Beobachtet mich gerade jemand, um sich über mich lustig zu machen? Ungläubig schüttele ich den Kopf und lasse mich von Miriam wegschieben. Weg von meinem Traumwagen, weg von dieser verqueren Situation und weg von diesem Arschloch, das mich noch immer wütend anfunkelt.
»Du hast Recht, das wird Konsequenzen haben. Wir sehen uns noch«, ruft er mir hinterher und ich feuere ihm meinen Mittelfinger entgegen.
»Und was ist, hilfst du mir noch mal?«
Sofia schaut mich an, flüchtig, dann lehnt sie sich ohne ein Wort zu sagen über die Bande der Eisbahn, schnappt sich die Wasserflasche und trinkt einen großen Schluck daraus.
Ich schaue meiner Freundin zu, wie sie gierig den Inhalt aus der Flasche saugt, während ich an meinen Fingernägeln knibbele, wie immer, wenn ich fast vor Ungeduld platze. Dann lehne ich den Kopf an die Wand und rolle leicht genervt die Augen, weil immer noch keine Antwort kommt.
Ich warte.
Wir sind alleine in der Halle und Sofia nimmt sich für ihr Training alle Zeit der Welt. Ich bin nur froh, dass Dienstag ist, also freies Training. Auf die Schnepfe von Trainerin – der Name Isolde sagt eigentlich schon alles – kann ich liebend gerne verzichten.
Dass ich und Natascha ganz oben auf ihrer Abschussliste stehen, ist kein Geheimnis. Ich frag mich nur, wieso? Wir sind weder unhöflich noch undiszipliniert. Trotzdem kann sie uns nicht ausstehen. Vielleicht weil wir im Doppelpack auftreten? Überdosis eines Menschen sozusagen?
Wie dem auch sei, sie lässt es uns spüren. Egal, ob sie an der Körperhaltung, den Drehungen oder der Kleidung herummeckert: Die gute Frau mobbt uns, wo sie nur kann. Nicht nur deshalb werde ich das ungute Gefühl nicht los, dass Isolde mehr weiß, als sie vorgibt – ja, vielleicht sogar in die ganze Sache mit meiner Zwillingsschwester verwickelt ist?
Spinn nicht gleich so rum!, ermahne ich mich zum hundertsten Mal. Langsam sehe ich wirklich Gespenster.
Isolde ist mir unsympathisch – und wie! Auch suspekt und zwar sehr! Aber nur weil wir sie vor wenigen Wochen mit ihrem Liebhaber ertappt haben, als sie eng umschlungen aneinanderklebten, muss das noch lange nicht heißen, dass sie zu so einer Tat fähig wäre. Natascha verschwinden zu lassen – oder etwa doch?
Endlich sieht Sofia mich an, lässt die Flasche sinken. »Warte, ich muss diese eine Drehung noch mal wiederholen. Die Pirouette sitzt einfach immer noch nicht, wie sie sollte.« Sie reibt sich erschöpft über die Stirn und seufzt.
Ich ringe mir ein verständnisvolles Grinsen ab und hoffe, dass es nicht zu gekünstelt rüberkommt.
»Wenn du meinst …«, sage ich und zucke betont lässig mit den Schultern.
Sie fährt bereits davon, als sie sich plötzlich umdreht. »Fang!«, ruft sie und im selben Moment fliegt mir auch schon die Wasserflasche in hohem Bogen entgegen.
Meinen Seufzer hört sie bereits nicht mehr.
Zum x-ten Mal schaue ich auf das Handy: Sofia studiert jetzt schon beinahe eine Stunde ihre Kür ein. Echt lange für jemanden wie mich, der im Moment nur als Zuschauer hier rumsitzt. Obwohl ich meine Trainingseinheit hinter mir habe, bin ich geblieben – wie sich das gehört als beste Freundin. Laura hingegen ist längst abgehauen, um draußen auf die Eishockeyjungs zu warten. Besser gesagt auf einen. Nico.
Am liebsten hätte ich meinen beiden Freundinnen an den Kopf geworfen, wie egoistisch ich ihr Verhalten finde. Sie wissen doch, wie immens wichtig mir die Sache mit Natascha ist.
Ich verschränke die Arme vor der Brust, lehne mich mit der Schulter an die Plexiglaswand, während ich Sofias Bewegungen verfolge. Leicht wie eine Feder schwebt sie übers Eis. Kein Wunder bei ihren Voraussetzungen, sie ist praktisch auf Schlittschuhen zur Welt gekommen. Ihr Vater, Victor, ist seit Jahren Trainer der Eishockeymannschaft und ihre Mutter, Isolde – ja genau, DIE Isolde –, trainiert die Eiskunstläufer. Also auch mich.
Ich sehe Sofia zu, wie sie die Pirouette in Perfektion vollführt. Ihre Motivation scheint grenzenlos.
Dann, nach weiteren zehn Minuten, kommt sie unsanft an meiner Seite zum Stehen. Eis spritzt hoch. Ein feiner Glanz ziert ihre Stirn und sie atmet schwer.
»So, nun bin ich ganz Ohr«, keucht sie und stützt sich mit beiden Armen auf der Bande ab. Nur kurz, dann schnappt sie sich das Handtuch und tupft sich übers Gesicht. Danach streicht sie sich sorgfältig die wirren, schwarzbraunen Haare zurück, die sich beim Eislaufen aus dem Pferdeschwanz gelöst haben. Selbst so verschwitzt und mit geröteten Wangen sieht sie beneidenswert gut aus.
Das Schlimmste daran: Sie weiß es. Und sogar ihr Timing ist perfekt – Zeit für die Eishockeymannschaft. Schritte und Gegröle hallen bereits durch den Korridor und wenig später tauchen die Köpfe von Tim, Nico – Laura inklusive und dem Rest der Truppe auf.
»Uff, ich bin fix und fertig. Ich hüpf schnell unter die Dusche.« Sofia spielt mit einer Haarsträhne, schielt unauffällig zu Tim und ich verkneife mir einen genervten Kommentar. Nun lacht sie Laura und mich an. »Kommt ihr mit, Aurelia? Laura?«
Ich lächle zurück. Endlich.
Ich habe gehofft, dass Sofia diesen Vorschlag macht. Wenn wir uns in die Umkleide zurückziehen, so kann das nur eines bedeuten: Sofia will reden. Über etwas, das wir nicht vor den Jungs besprechen können. Also bekomme ich wohl endlich meine Antwort.
Ich nicke.
»Geht ihr ruhig schon mal vor«, meint Laura mit einem verschmitzten Lächeln.
Alles klar. Sie will bei Nico bleiben.
»Ich muss leider eh bald heim«, erklärt sie. »Wegen meiner kleinen Schwester.«
»Oh, Mann, bin ich froh, dass ich ein Einzelkind bin«, stöhnt Sofia. »Das ständige Babysitten würde mir echt tierisch auf die Nerven gehen.«
»Ach Quatsch«, winkt Laura ab. »Ich mag Patrizia sehr.«
Ich kann Laura verstehen. Von ihrer Familie ist ihr niemand geblieben außer Patrizia und ihre Oma. Es schüttelt mich. Echt schrecklich!
»Wir sehen uns«, sage ich zu Laura, löse mich von der Plexiglaswand und schnappe mir meine Sporttasche.
Im Gang sind Schritte zu hören. Ein Schatten huscht auf uns zu und wird von einer Stimme begleitet.
»Hallo, ihr beiden.«
»Hallo Victor«, begrüße ich Sofias Vater.
Feine Lachfalten zieren seine grünen Augen. Kurz drückt er mit seiner kräftigen Hand meine Schulter, dann nimmt er liebevoll seine Tochter in die Arme.
»Hallo, Paps.«
»Na, war das Training erfolgreich?«
»Es geht.« Sofia verzieht ihren Mund und schaut ihn zerknirscht an. »Diese blöde Pirouette will einfach nicht so, wie ich will. Ach, ich krieg das nie im Leben hin!«
Victor knufft sie in die Seite. Dann wendet er sich mir zu. »Sie übertreibt wieder maßlos, stimmt's?« Zwar flüstert er, aber gerade noch laut genug, damit Sofia es verstehen kann.
Ich nicke und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Nur nicht aufgeben, mein Spatz«, sagt er augenzwinkernd. »So gerne ich mit euch Hübschen noch etwas plaudern würde, ich muss los. Die Jungs warten.« Victor winkt uns noch einmal zu, springt davon und ich höre noch, wie er seine Mannschaft auf dem Eis zusammentrommelt.
Kaum sind wir in der Umkleide, schließt Sofia die Tür hinter uns. Wartend, was sie zu berichten hat, lehne ich mich gegen einen der metallenen Spinde und beobachte, wie sie den Wasserhahn aufdreht, erst die Hände benetzt und sich schließlich kaltes Wasser an die erhitzten Wangen spritzt. Jetzt mustert sie ihr Spiegelbild, fährt sich mit den Fingern über die Brauen, dann schaut sie zu mir. Der Blickkontakt baut sich über den Spiegel auf. Ich spüre, wie die Anspannung in mir ansteigt, als sie immer noch schweigt.
»Hast du den Neuen gesehen?«, grinst sie jetzt und ihre glattgestrichenen Brauen tanzen verheißungsvoll. »Er soll angeblich ab morgen bei uns auf die Schule gehen. Ich sag dir, der ist vielleicht süß!«
Was interessiert mich der Neue!
»Sag schon«, platze ich heraus. »Was ist, hilfst du mir noch einmal?«
Das Lachen in Sofias Gesicht verschwindet schlagartig. Sie lässt die Schultern hängen, atmet tief durch. Langsam wendet sie sich vom Spiegel ab, lehnt sich mit den Hüften ans Waschbecken und schaut mir in die Augen.
Oh, ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Das kann nur eines bedeuten. Ich ahne, dass ich die kommenden Worte gar nicht erst hören möchte.
»Du Aurelia, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …«, beginnt sie mit einem halbherzigen Lächeln und bestätigt meine Befürchtung. Ihre Stimme hat sich verändert.
»Sag es einfach«, antworte ich möglichst unbeteiligt, dabei bin ich total nervös.
»Hör mal, Süße, es ist jetzt schon einen Monat her, seit Natascha verschwunden ist. Es fehlt jede Spur von ihr. Die Polizei tappt auch im Dunkeln.« Kurz schließt sie die Augen, scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »Alle wurden wir befragt, immer und immer wieder. Vermisstenanzeigen wurden überall aufgehängt, sogar über Facebook veröffentlicht. Und wir haben tage-, nein, wochenlang überall nach ihr gesucht, den Wald durchkämmt, sind den Heimweg unzählige Male abgelaufen. Alles mit demselben Ergebnis: nicht ein winziger, brauchbarer Hinweis. Und genauso ist auch bei der Polizei nichts Brauchbares eingegangen.«
Ja, das muss sie mir nicht erzählen. Niemand weiß das besser als ich. Wie oft hieß es zunächst, jemand habe Natascha gesehen. Und wie oft wurde dann meine leise Hoffnung zerstört, weil sich jedes Mal herausgestellt hat, dass nur ich es war, ihr Zwilling, den sie gesehen hatten.
»Die Ermittler sind ratlos«, spricht Sofia weiter. »Und dennoch geben sie die Suche nicht auf. Aber ich befürchte …«
»Was?« Das Wort schießt wie eine Pfeilspitze aus meinem Mund. Ich muss sie unterbrechen, denn ich könnte das, was unweigerlich folgen würde, nicht ertragen. Die Angst, es bräche mir das Herz, ist zu groß.
Unausgesprochen schwebt es über unseren Köpfen.
Natascha ist tot.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich sie an, sehe, wie sie abermals den Mund aufmacht und wage es kaum, hinzuhören.
»… und ich befürchte, selbst wenn wir beide noch einmal gemeinsam nach ihr suchen würden, alles Erdenkliche anstellen, um endlich etwas in Erfahrung zu bringen, könnten wir Natascha doch nicht finden.«
Sie hat das Schlimmste nicht ausgesprochen. Und dennoch schwingt genau dieselbe Aussage leise zwischen den Zeilen mit.
Ich starre meine Freundin an. Ihre Worte fühlen sich an wie ein verbaler Faustschlag.
Nicht finden?!
Wenn Sofia gesagt hätte, dass sie es nicht verkraftet, weiter nach ihr zu suchen, es ihr zu nahe geht oder vielleicht alles zu viel wird, das hätte ich ja noch irgendwie verstehen können. Aber das? Verdammt noch mal! Natascha ist auch ihre beste Freundin! Seit Kindertagen!
Aus reiner Verzweiflung ringe ich mir ein Lächeln ab. Es scheint, als ob ich mich durch eine Schicht Watte kämpfen muss, die es mir unmöglich macht, mich frei zu bewegen. Gerade wird mir wieder allzu schmerzlich bewusst, wie sehr mir Natascha fehlt. Sie hätte die richtige Antwort parat. Würde das Gesagte nicht so unausgesprochen in der Luft hängenlassen und vor allem nicht nur so belämmert vor sich hin grinsen.
»Alles klar?«, will Sofia wissen.
Ich torkle rückwärts auf die Tür zu.
Sofia macht einen Schritt, ohne ein Wort zu sagen. Dann streckt sie die Hand nach mir aus. »Tut mir leid«, flüstert sie. »Ich weiß, das ist hart. Und es ist mir nicht leicht gefallen, das auszusprechen. Das musst du mir glauben. Ich habe sogar mit Laura darüber gesprochen. Sie meinte leider ebenfalls, dass es sinnlos wäre. Wenn schon die Polizei im Dunkeln tappt, was sollen wir dann ausrichten? D-du …« Sie verhaspelt sich beim Sprechen.
Ich beiße die Zähne zusammen. »Verstehe«, bringe ich hervor, obwohl ich kein Verständnis aufbringen kann. Es klingt kläglich.
Zaghaft gehe ich zurück, Tränen schießen mir in die Augen und meine Hand tastet blindlings nach dem Türgriff.
Sofias Gesichtsausdruck spricht Bände und sie bricht den Blickkontakt ab. Ihre Augen wandern zum Leder der weißen Schlittschuhe und ich kann nur erahnen, wie entgeistert ich sie anstarren muss.
»Aurelia …« Noch einmal streckt sie den Arm nach mir aus. »Ich will nur ehrlich zu dir sein.«
Ehrlich?! Freudlos lache ich auf. Vom Ehrlichsein kehrt Natascha nicht wieder zurück! Ich höre Sofia nicht mehr zu, weiche weiter zurück und in mir hämmern die Worte.
Nicht finden … Natascha … nicht finden …
Schon umklammern meine Finger den Türgriff.
»Wir sehen uns in der Schule.« Sofia bemüht sich um einen lockeren Tonfall. »Okay?«
Es misslingt ihr gründlich.
Mit unsicheren Schritten kommt sie auf mich zu. Obwohl sie klein und zierlich ist, überragt sie mich auf den Schlittschuhen um einen halben Kopf.
Die Worte »Nichts ist okay!«, liegen mir auf der Zunge. Ich würge sie hinunter, weil ich Sofia sonst anschreien müsste. Mir fällt keine andere passende Antwort ein, also schweige ich, verwehre ihr jedoch das Abschiedsküsschen auf die Wange. Stattdessen zwänge ich mich mit hastigen Schritten durch den Türspalt.
Auf dem Korridor überrenne ich einen der Eishockeyspieler und falle hin.
»Du hast es aber eilig«, sagt er, als er mir wieder auf die Beine hilft. Er grinst mich an. Doch ich stoße seine stützenden Hände von mir weg. Noch immer höre ich Sofias Stimme. »Aurelia, ich habe es …«
Ohne mich noch einmal umzudrehen, hetze ich den Korridor entlang. Flüchte hinaus. Ich erreiche die Tür der Eishalle und Sofias Stimme erreicht nun nicht einmal mehr meinen Rücken. Soll sie doch ein schlechtes Gewissen haben. Ich werde ihr beweisen, dass Natascha noch lebt. Ich werde es allen beweisen!
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.
Alles verstummt.
Die Stille tropft mit dem Regen vom Himmel.
***
Über mir ein Nachthimmel ohne Mond und ohne Sterne, hinter mir die Eingangstür zur Eishalle und ich spüre den eisigen Nieselregen auf meiner Haut. Tropfen, die langsam über meine Wangen rinnen. Heiße Tränen mischen sich dazu. Rasch wische ich mir mit dem Ärmel über die Augen und ziehe die Kapuze tief ins Gesicht.
Ich bin alleine.
Mein ganzes Leben über war ich nie alleine und will es auch jetzt nicht sein. Mit Natascha an meiner Seite bin ich erst ein ganzer Mensch. Ich sehe die Welt anders, wenn wir zusammen sind. Alles ist leichter.
Ohne sie fühle ich mich so leer. Orientierungslos … Ich weiß, das mag wie ein billiger Abklatsch klingen, doch es ist nun mal so.
Wie sehr ich Natascha vermisse!
Kurz lehne ich meinen Körper an die Tür, suche Halt. Mein Atem ist unruhig. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ihre Stimme zu hören. Sehe, wie sie in diesem Moment um die Ecke biegt, mich an der Schulter berührt, mich anlacht und in die Arme schließt, so als wäre sie nie weg gewesen. Ich kann sie beinahe fühlen.
Mein Herz pocht. Einmal. Zweimal.
Doch sie kommt nicht. Sie kommt einfach nicht!
Dafür der Schmerz in meiner Brust. Er ist fast immerzu da, legt sich wie eine eiserne Faust um mein Herz. Ich schnappe nach Luft, doch der Schmerz verschwindet nicht.
Plötzlich ist mir alles zu eng. Mit zitternden Händen reiße ich den Reißverschluss auf, zerre mit klammen Fingern den Kragen des Shirts vom Hals weg und fächle mir kalte Luft zu. Ich muss mich zusammenreißen.
Was soll der Scheiß?! Ich will mich nicht zusammenreißen!
Ich schlage mit der Faust gegen das schwere Tor in meinem Rücken. Das dumpfe Geräusch des Aufschlags wird vom plätschernden Regen verschluckt.
Einen Moment bleibe ich einfach stehen und versuche mich zu beruhigen. Das beengende Gefühl verebbt allmählich, doch der Schmerz bleibt. Ich spürte ihn in den letzten Wochen so oft, dass ich mich beinahe daran gewöhnt habe.
Als der Regen bereits durch meine Sportjacke sickert, schlage ich endlich die Augen auf.
Mach schon!, scheint mir mein Fahrrad zuzurufen.
Kurz schaue ich zurück zur Eishalle, sehe, wie in der Umkleide das Licht angeht. Ich rede mir ein, Sofias Stimme zu hören, Wortfetzen zu verstehen. Offenbar bin ich Sofia so unwichtig, dass sie nicht mal nachschaut, ob es mir gut geht.
Ein anderes Gefühl breitet sich in mir aus. Zorn.
Ich reiße mich los, marschiere zum Fahrrad, stöpsle mir die Kopfhörer ins Ohr und drehe die Musik auf. Selbst jetzt kann ich Mamas ermahnende Worte fast hören: Aurelia, stell bitte die Lautstärke leiser und denke an deine Gesundheit.
Egal!
Fast von alleine treten meine Füße zu Silbermond in die Pedale. Nicht den direkten Weg nach Hause, nein, ich fahre einen Umweg.
Immer wieder unterbreche ich meine Fahrt, halte Ausschau, suche zum tausendsten Mal alles ab. Ich will nur einen Hinweis. Ein winziges Lebenszeichen von Natascha reicht vollkommen aus. Aber da ist nichts, einfach nichts! Und sofort kehren all die schmerzlichen Erinnerungen zurück.
Wie ich den 10. Oktober hasse!
Wieso bin ich an jenem Abend nur zu Hause geblieben? Wieso?! Wir gehen doch sonst immer zusammen ins Training. Zudem haben wir freitags nach dem Training die Eisfläche immer für uns und hängen da noch eine Weile rum – das Highlight jeder Woche.
Ich versuche mich krampfhaft auf meine Umgebung zu konzentrieren. Mittlerweile ist es Herbst geworden. Fast jeden Morgen verschleiert Nebel die Sonne und seit Tagen wird das Wetter von Nieselregen beherrscht. Durch die Gardinen der Häuser sickert Licht, während ich weiter zu Silbermond radle. Gib mir was, irgendwas, das bleibt …
Wasser spritzt an meine Hosen, doch das ist mir egal. Meine Stimmung sinkt weiter, hat den Gefrierpunkt längst überschritten.
Natascha hatte versprochen, nicht lange wegzubleiben. Versprochen, nach mir zu sehen. Die halbe Nacht lag ich wach und wartete. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Die Ungewissheit nagte an mir und gab mich nicht mehr frei. Als ich zu meinen Eltern rüberging, war es erst kurz nach zehn Uhr. Doch dieses nicht greifbare Wissen tief in mir drin, das Wissen, dass Natascha etwas passiert sein musste, drängte mich.
Meine Eltern stellten dieses Gefühl nicht in Frage und Papa fuhr sofort los. Ich flehte ihn an, mich mitzunehmen. Er wollte nein sagen, konnte es aber nicht.
Als Erstes stolperte ich über Nataschas Fahrrad, das vor dem Schuppen lag. Mein Herz hüpfte vor Erleichterung, nur um wenige Sekunden später jäh zu Boden geschmettert zu werden. Von Natascha fehlte jede Spur. Wir suchten sie, fanden sie jedoch nicht, obwohl sie sich von unseren Freunden in der Eishalle vor mehr als einer Stunde verabschiedet hatte.
Die Polizei beruhigte uns. »Das Mädchen wird schon wieder auftauchen, keine Panik.«
Natascha tauchte nicht auf. Die Panik blieb. Sie begleitet mich durch den Alltag, auch durch die Nacht. Und wenn ich, aus dem Traum gerissen, die Augen öffne, höre ich mich manchmal die Worte flüstern: »Natascha, wo bist du?«
Zwar haben wir an jenem Abend nicht mehr miteinander gesprochen, aber ihre SMS war eindeutig. Immer und immer wieder habe ich sie gelesen, sie hat sich tief in meine Gehirnwindungen eingebrannt. Weil es das Letzte ist, was ich von ihr habe.
Nachricht von: Natascha
10.10.14 21:11 Uhr
ist langweilig, komme bald heim … kuss
Es ist sinnlos, sich diese Nachricht zum tausendsten Mal durch den Kopf gehen zu lassen. Doch was ist mir sonst geblieben?