Lombardo’s Steakhouse auf der schicken Upper East Side von Manhattan konnte sich mit Recht zweier Dinge rühmen. Das erste war die Spezialität des Hauses, das doppelt dicke, Arterien verstopfende, fast eineinhalb Kilo schwere Porterhouse-Steak, bei dessen bloßem Anblick ein Veganer einen Schlaganfall bekommen könnte.
Und zweitens war das Lombardo’s berühmt für seine Gäste.
Einfach ausgedrückt, war Lombardo’s Steakhouse das Paradies der Paparazzi. Von angesagten Schauspielern bis zu den Publikumsmagneten unter den Profisportlern, vom Wirtschaftsboss zum Supermodel, vom Rapstar bis zum preisgekrönten Dichter – jeder, der jemand war, ob er gerade ein Geschäft abschloss oder einfach nur göttlich aussah, tauchte irgendwann im Lombardo’s auf.
Der Zagat, die allgegenwärtige rote Bibel der Restaurantbesucher, wusste nur Gutes zu berichten: »Sehen und gesehen werden – in dieser vertrauten Atmosphäre kommt jeder auf seine Kosten.«
Sofern man nicht Bruno Torenzi hieß.
Er war der Mann, der Lombardo’s Steakhouse für etwas ganz anderes berühmt machen sollte. Für etwas Furchtbares, etwas unglaublich Schreckliches.
Und niemand schien ihn zu bemerken … bis es zu spät und die Tat fast vollbracht war.
Natürlich war das die Idee dahinter. In seinem schwarzen Ermenegildo-Zegna-Anzug und mit der dunklen Sonnenbrille wäre Bruno Torenzi für jemand x-Beliebigen durchgegangen. Für einen Niemand.
Zudem war Mittagszeit. Es war taghell.
Man hätte doch erwartet, dass diese grausige Geschichte irgendwann nachts passiert wäre. Ach, und warum nicht gleich bei Vollmond, begleitet von in der Ferne heulenden Wölfen?
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte Tiffany, die Empfangsdame, die Torenzi nur wahrnahm, weil es zu ihren Aufgaben gehörte. Sie war jung und betörend blond und stammte aus dem Mittleren Westen. Ihre Haut, die so glatt war wie Porzellan, sorgte dafür, dass sich die Leute reihenweise nach ihr umdrehten.
Doch Torenzi benahm sich, als wäre sie Luft. Er blieb weder stehen, noch würdigte er sie eines Blickes, als sie ihn ansprach, sondern schritt einfach an ihr vorbei.
Scheiß drauf, dachte die beschäftigte Empfangsdame und ließ ihn ziehen. Das Restaurant war voll wie immer, und der Kerl sah aus, als gehörte er hierher. Weitere Gäste trafen ein und bedrängten sie, wie es nur New Yorker draufhatten. Mit Sicherheit traf dieser Kerl hier einen Gast, der bereits Platz genommen hatte.
Damit hatte sie wohl recht.
Geschnatter an den Tischen, klapperndes Besteck, kultiger Jazz, der aus den in die Decke eingelassenen Lautsprechern rieselte – all das verband sich in dem mit Mahagoni vertäfelten Speisesaal des Lombardo’s zu einem durchaus angenehmen Rauschen.
Doch all das hörte Torenzi nicht.
Er war wegen seiner Disziplin, wegen seiner unerschütterlichen Konzentrationsfähigkeit engagiert worden. Seine Gedanken waren nur auf eine Person in dem belebten Restaurant gerichtet. Nur auf eine.
Noch zehn Meter …
Torenzi hatte den Tisch in der Ecke rechts hinten entdeckt. Ohne Zweifel ein spezieller Tisch. Für einen sehr speziellen Gast.
Sieben Meter …
Die Absätze seiner schwarzen Schuhe klapperten auf dem glänzenden Holzboden wie ein Metronom im Dreivierteltakt, als er zwischen den Tischen hindurch seinem Ziel zustrebte.
Drei Meter …
Torenzi richtete seinen Blick auf den kahlköpfigen, übergewichtigen Mann, der, mit dem Rücken zur Wand, allein am Tisch saß. Das Foto, das er erhalten hatte, konnte er getrost in seiner Tasche stecken lassen. Er brauchte es nicht mehr mit dem Mann abzugleichen.
Weil dieser Mann eindeutig derjenige war, den er suchte. Vincent Marcozza.
Der Mann, der nur noch weniger als eine Minute leben würde.
Vincent Marcozza – Kampfgewicht von mindestens hundertfünfzig Kilo – blickte von den Resten seines englisch gebratenen Porterhouse-Steaks mit gefüllten Ofenkartoffeln und einer riesigen Menge Zwiebelringe auf. Selbst im Sitzen wirkte der Kerl bedauernswert kurzatmig und einem Herzinfarkt erschreckend nahe.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Marcozza nur scheinbar höflich. Sein Tonfall, der an den eines Straßenjungen aus Brooklyn erinnerte, hätte eher zu einem »He, Alter, was glotzt’n so? Siehste nich, dass ich am Futtern bin?« gepasst.
Torenzi blieb regungslos stehen und ließ sich gebührend Zeit mit der Antwort, während er den wichtigen Mann vor sich musterte. »Ich habe eine Nachricht von Eddie«, verkündete er schließlich mit starkem italienischem Akzent.
Diese Worte amüsierten Marcozza aus irgendeinem Grund. Sein käsiges Gesicht wurde rot, als er lachte, sein Fett am Hals schwabbelte wie Wackelpudding. »Eine Nachricht von Eddie? Mann, das hätte ich mir denken können. Du siehst auch aus wie einer von Eddies Jungs.«
Er nahm die Serviette von seinem Schoß und wischte sich die fettige Rindersoße aus den Mundwinkeln. »Also, was ist los, Kleiner? Spuck’s schon aus.«
Torenzi blickte nach rechts und links, als wollte er darauf hinweisen, wie nah die Nachbartische standen. Zu nahe. Capisce?
Marcozza nickte und winkte den uneingeladenen Gast näher zu sich heran. »Etwas, das nur für meine Ohren bestimmt ist?«, fragte er, bevor er wieder in ein schwabbelndes Kichern ausbrach. »Das muss aber was Lustiges sein. Etwa ein Witz? Lass hören.«
An der gegenüberliegenden Wand stand ein Kellner auf Zehenspitzen auf einem Stuhl und wischte den chilenischen Seebarsch von der Kreidetafel. Ein Hilfskellner huschte mit einem grauen Eimer und den Resten eines Vierertisches an ihm vorbei. An der Bar stellte eine Kellnerin ein Glas Pinot noir, einen Wodka Tonic und zwei trockene Martini mit mandelgefüllten Oliven auf ihr Tablett.
Langsam trat Torenzi neben Marcozza, stützte seine linke Hand auf den Tisch und öffnete seine rechte Faust, die er geschickt hinter seinem Rücken verbarg. Im selben Moment rutschte der kalte Stahlgriff eines Skalpells ziemlich elegant aus seinem Ärmel.
Torenzi beugte sich vor und flüsterte drei Worte. Nur drei. »Justitia ist blind.«
Marcozza kniff die Augen zusammen, runzelte die Stirn und wollte fragen, was die Worte bedeuteten.
Doch dazu bekam er keine Gelegenheit.
Schneller, als das Auge wahrnahm, holte Bruno Torenzi mit dem Arm aus und versenkte das Skalpell tief in die aufgedunsene Falte über Marcozzas linkem Auge. Mit der Präzision und Geschwindigkeit eines Fleischers durchschnitt er im Uhrzeigersinn die Augenhöhle. Die Klinge bewegte sich so schnell, dass das Blut keine Zeit hatte zu fließen.
»Argh!« war eine ziemlich gute Annäherung an das Geräusch, das Marcozza machte.
Alle Gäste wandten sich ihm zu, als er in Todesangst schrie. Jetzt erst bemerkten sie Bruno Torenzi. Er war derjenige, der das Auge aus dem Gesicht des fetten Mannes wie aus einem Kürbis schnitt.
»Argh!«
Torenzi war mehr als fünfzig Kilo leichter als sein Gegner, was aber keine Rolle spielte. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden und hielt Marcozzas Kopf im Schwitzkasten, während Marcozza heftig zuckte und um sich schlug. Vorsätzlicher Mord war hier gleichbedeutend mit gezielter Hebelwirkung.
Platsch!
Wie eine Melonenkugel fiel Marcozzas Auge auf die weiße Leinentischdecke und rollte weiter, bis es liegen blieb.
Dann das andere Auge. Ritsch, ratsch … erstklassige Handarbeit.
Doch das rechte Auge fiel nicht wie das linke heraus, sondern blieb an einem widerspenstigen roten Sehnerv hängen.
Torenzi lächelte und vollführte eine Drehung mit dem Handgelenk. Er war fast fertig mit seiner Vorstellung. Also haltet euch mit dem Applaus noch etwas zurück.
Schnipp!
Marcozzas rechtes Auge rutschte mit einem schmierigen Schwanz aus Fleisch und Venen vom Brotteller auf den Boden.
Schließlich hatte auch das Blut seinen Auftritt und quoll aus den leeren Augenhöhlen. Medizinisch ausgedrückt, war die Augenarterie von der inneren Carotisarterie, der unter Hochdruck laufenden Halsschlagader zum Hirn, abgetrennt worden. Laienhaft ausgedrückt, war dies hier eine gottlose, schreckliche, widerliche Sauerei.
Ein paar Tische weiter fiel eine in Chanel gekleidete Frau in Ohnmacht, während sich eine andere auf ihr Tiramisu übergab.
Und Torenzi? Der steckte sein Skalpell einfach in die Brusttasche seines Zegna-Anzugs, bevor er sich zur Küche wandte, um den Hinterausgang zu benutzen – zurück ins helle Tageslicht.
Doch bevor er dies tat, beugte er sich erneut vor, um Marcozza, der, über dem Tisch hängend, einen qualvollen, schäbigen Tod starb, seine Botschaft ins fleischige Ohr zu wiederholen.
»Justitia ist blind.«
»Halt dich fest, das wird eine Höllenfahrt.« Diese Worte werde ich nie wieder vergessen. Sie beschrieben nicht nur die nächsten Minuten, sondern die nächsten Tage meines Lebens.
Ich hatte tief schlafend unter den leuchtenden Sternen am afrikanischen Nachthimmel gelegen, vor dem ärmlichsten Dreck der Erde nur durch eine mottenzerfressene Decke geschützt, als ich die Augen aufriss und mein Herz einen Takt aussetzte. Vielleicht auch mehrere.
Heiliger Strohsack! Ist es das, wofür ich es halte? Schüsse?
Die Antwort auf meine Frage erhielt ich in den nächsten Sekunden, als Dr. Alan Cole in der Dunkelheit auf mich zuraste und mich kräftig am Arm rüttelte. Wir hatten im Freien geschlafen, weil unsere Zwergenzelte eher einer Sauna glichen.
»Wach auf, Nick. Steh auf! Sofort!«, drängte er. »Wir werden angegriffen. Das ist kein Witz. Los!«
Ich schoss wie ein Pfeil nach oben, als der Lärm weiterer Schüsse in der Luft hallte. Peng! Peng! Peng!
Die Schüsse kamen näher.
Aber auch diejenigen, die sie abfeuerten. Und das ziemlich schnell.
»Dschandschawid – das sind Dschandschawid, oder?«, fragte ich.
»Ja«, bestätigte Alan. »Ich hatte so was befürchtet. Es hat sich rumgesprochen, dass wir hier sind.«
»Was machen wir jetzt?«
»Komm mit«, forderte er mich mit einem Wink seiner Taschenlampe auf. »Schnell, Nick. Beweg dich.«
Ich schnappte mein Kissen – auch bekannt unter dem Namen Rucksack. Aus dem Augenwinkel erblickte ich eins meiner Notizbücher neben dem Stapel Kisten, der mir als Schreibtisch gedient hatte. Ich trat einen Schritt darauf zu, als mich Alan wieder am Arm packte, diesmal aber, um mich zurückzuhalten.
»Dafür ist keine Zeit, Nick. Wir müssen so schnell wie möglich weg hier«, warnte er mich. »Sonst sind wir beide tot. Und zwar, nachdem sie uns gefoltert haben.«
Wie ein geölter Blitz rannte ich hinter Alan her, vorbei an den Sperrholz- und Metallplatten, die ihm in diesem provisorischen Krankenhaus am Rande des Zalingei-Distrikts im Sudan als OP-Saal gedient hatten. Mir wurde bewusst, wie sehr sich dieser Arzt selbst in einer solchen Situation unter Kontrolle hatte. Weder kreischte noch schrie er.
Ich hätte am liebsten beides getan.
Um Gottes willen, Nick, denk mal über diesen Todeswunsch in dir nach. Musstest du den Auftrag wirklich annehmen? Du wusstest von vornherein, dass dieser Teil von Darfur für Journalisten noch immer viel zu gefährlich ist! Courtney hat dich sogar darauf hingewiesen, als sie dir den Auftrag angeboten hat.
Aber genau darin lag der Sinn des Artikels, an dem ich schrieb – der Grund, warum ich hier war und alles mit eigenen Augen sehen musste. Dieser Teil von Darfur war auch für Ärzte viel zu gefährlich. Ganz offenkundig. Aber das hatte Dr. Alan Cole nicht davon abgehalten herzukommen. Der anerkannte Thoraxchirurg hatte in Maryland Frau und Kinder zurückgelassen, um hier vier Monate für ein Hilfswerk zu arbeiten und das Leben der sudanesischen Bürger zu schützen, die andernfalls leiden und ohne medizinische Versorgung vielleicht sterben würden.
Jetzt legte auch ich mein Leben in Alan Coles Hände.
Peng! Peng-peng-peng! Peng-peng-peng!
Ich rannte hinter ihm und dem tanzenden Schein seiner Taschenlampe her, ohne auf die kantigen Steine und dornigen Zweige zu achten, mit denen der Weg übersät war.
Vor uns bemerkte ich zwei Menschen – die beiden sudanesischen Krankenschwestern, die Vollzeit im Krankenhaus arbeiteten. Eine startete einen klapprigen alten Jeep, auf den Alan mich hingewiesen hatte, als wir ein paar Tage zuvor eingetroffen waren.
Er hatte ihn »Fluchtwagen« genannt. Ich hatte gedacht, es wäre ein Witz.
Ha, ha, ha! Hast die Pointe nicht verstanden, Nick.
»Steig ein!«, forderte Alan mich auf, als wir den Jeep erreichten. Die Krankenschwester auf dem Fahrersitz sprang hinaus, damit er das Steuer übernehmen konnte.
Ich warf mich auf den Beifahrersitz und erwartete, dass die beiden Krankenschwestern hinten einstiegen. Das taten sie aber nicht. Stattdessen flüsterten sie beide dasselbe: »Salam aleikum.«
Ich wusste bereits, was diese Worte bedeuteten: Friede sei mit euch. Doch ich war verwirrt. »Kommen sie nicht mit?«, fragte ich Alan.
»Nein.« Er riss den knirschenden Schalthebel in die Fahrposition. »Auf sie haben es die Dschandschawid nicht abgesehen. Sie wollen uns. Amerikaner. Ausländer. Weil wir ihnen hier ins Handwerk pfuschen.«
Rasch dankte er den Krankenschwestern und sagte, er hoffe, sie bald wiederzusehen. »Wa aleikum salam«, fügte er hinzu. Und Friede sei mit euch.
Ich wurde gegen die Rückenlehne gedrückt, als Alan mit voller Wucht aufs Gaspedal trat.
»Halt dich fest«, rief er über das Rumpeln und Rattern des Motors hinweg. »Das wird eine Höllenfahrt.«
Heiße Wüstenluft schlug uns entgegen und verbrannte mir beinahe das Gesicht, als wir die Straße oder zumindest das erreichten, was in diesem gottverlassenen Teil der Welt als Straße galt – eine holprige Fahrspur. Der Sand spritzte von unseren Reifen, als wir schlingernd dem Zitrusbaum auswichen, der es geschafft hatte, die erbärmliche Hitze und die Dürre zu überleben.
Habe ich schon erwähnt, dass die Scheinwerfer nicht eingeschaltet waren? Willkommen beim Ray Charles Grand Prix.
»Wie schlagen wir uns?«, rief Alan zu mir herüber. »Haben sie uns entdeckt? Oder kannst du sie sehen?«
Wir saßen zwar dicht nebeneinander, mussten aber trotzdem schreien, um uns zu verständigen. Ein Jagdflugzeug, das die Schallmauer durchbrach, war bestimmt leiser als der Motor dieses Jeeps.
»Selbst wenn sie uns nicht sehen, zu überhören sind wir jedenfalls nicht«, rief ich zurück. »Ich sehe noch niemanden.«
Ich hatte meine Hausaufgaben über die Dschandschawid gemacht, bevor ich aus den Staaten hierherkam. Sie waren die Miliz der arabischen Muslime in Khartum, der sudanesischen Hauptstadt, und bekämpften und töteten seit langem die afrikanischen Muslime, unter anderem wegen der Landverteilung. Das Blutvergießen war unbarmherzig und vor allem einseitig, weshalb es bei uns unter dem Stichwort Völkermord gehandelt wird.
Doch auf meinem bequemen Sofa in Manhattan Artikel und ein paar Bücher über die Dschandschawid zu lesen war eine Sache. Das hier vor Ort war etwas ganz anderes.
Ich drehte mich nach hinten, wo der aufgewirbelte Dreck die Sicht noch mehr vernebelte. In dem Moment spürte ich, wie die Luft um mich herum explodierte, als eine Kugel an meinem Ohr vorbeisauste. Gütiger Himmel, das war knapp.
»Schneller, Alan!«, flehte ich. »Wir müssen schneller fahren! Oder geht das nicht?«
Alan nickte mir zu, die Augenlider zu Schlitzen gepresst, um in der Dunkelheit und den Staubwolken etwas erkennen zu können.
Ich hingegen dachte über meinen vorzeitigen Tod nach, indem ich die nicht abgehakten Punkte auf meiner Aufgabenliste zählte: einen Pulitzer-Preis erringen; Saxophonspielen lernen; mit einem Enzo Ferrari über den Pacific Coast Highway fahren.
Ach ja, und endlich den Mut aufbringen, einer bestimmten Frau in meiner Heimat zu sagen, dass ich sie mehr liebte, als ich je hatte zugeben wollen – auch mir selbst gegenüber.
Was könnte ich sagen, was nicht einer meiner sechs Lieblingsautoren, John Steinbeck, bereits herausgefunden hatte? Vielleicht, dass auch die besten Von Mäusen und Menschen ausgearbeiteten Pläne scheitern?
Moment mal!
Apropos Pläne. Alan, der Arzt am Lenkrad, verfolgte offensichtlich einen solchen Plan.
»Wir brauchen etwas Schweres!«, erklärte er.
Etwas Schweres? »Zum Beispiel?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht. Schau hinten nach, auf der Ladefläche«, wies er mich an und reichte mir seine Taschenlampe. »Aber bleib unten! Ich will nicht schuld sein, wenn du dabei draufgehst.«
»Keine Sorge, das will ich auch nicht, Alan!«
Als hätte noch ein Ausrufezeichen gefehlt, prallte eine Kugel vom metallenen Überrollbügel ab. Pling!
»Ich meinte, du sollst weit unten bleiben!«, ermahnte mich Alan.
Ich umfasste den dicken Gummigriff der Taschenlampe und schlängelte mich zum voll beladenen Rücksitz durch. Von dort aus spähte ich in den Ladebereich, sah aber nur ein paar leere Wasserflaschen, die wie Springbohnen umherhüpften.
Ich wollte Alan gerade die schlechte Nachricht überbringen, als ich etwas Schimmern sah, das in der Nähe des Ersatzrades hing: ein Kreuzschlüssel. Ja!
Aber war er schwer genug? Ich hatte keine Ahnung, da ich nicht wusste, wozu Alan ihn brauchte.
Ich reichte ihn nach vorne, wo Alan ihn prüfend in der Hand wog. »Der reicht«, stellte er fest und schaltete die Scheinwerfer ein. »Jetzt halte das Lenkrad fest. Sehr fest, Nick!«
Ich kletterte auf den Beifahrersitz zurück und griff zum Lenkrad hinüber, während Alan seinen linken Fuß hob und sich den Turnschuh herunterriss. Ich konnte gerade noch das Nike-Logo erkennen.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
Gleich wieder da? Wohin willst du, Doc? Was hast du vor? Lass mich nicht allein, Kumpel.
Alan umklammerte den Kreuzschlüssel wie einen Schlagstock, als er unters Lenkrad tauchte. In der anderen Hand hielt er seinen Turnschuh. Ich versuchte zu erkennen, was er dort unten trieb, hätte allerdings eher darauf achten sollen, worum er mich gebeten hatte – das Lenkrad ruhig zu halten.
Oh, Mist! Pass auf! Pass auf!
Der Jeep schwenkte plötzlich aus und kippte beinahe um, als die beiden linken Reifen vom Boden abhoben. Aua! Alans Kopf knallte gegen die Fahrertür, während ich versuchte, das Lenkrad wieder unter Kontrolle zu bekommen.
»Tut mir leid, Alan!«, rief ich. »Alles in Ordnung da unten?«
»Ja, aber leuchte mal hier runter, ich habe den blöden Kreuzschlüssel fallen lassen.«
»Tut mir leid.«
»Nein, du machst deine Sache gut. Halt nur das Lenkrad ruhig!«
Ich schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete nach unten. Der Kreuzschlüssel war hinters Bremspedal gefallen. Während Alan mit seinem rechten Fuß immer noch das Gaspedal durchdrückte, griff er zum Kreuzschlüssel und schob ihn in seinen Schuh. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was er im Schilde führte.
Dann war mir alles klar.
Alan drückte das Gaspedal mit einem Gewicht nach unten!
Ja, klar! Als ich nämlich meinen Blick zwischen ihm und der Straße hin- und herschwenken ließ, tauschte Alan seinen Fuß gegen den beschwerten Schuh aus, den er – unter den gegebenen Umständen so rasch wie möglich – mit dem Schnürsenkel am Pedal festband.
Genauso schnell tauchte er wieder auf, zog seinen Gürtel aus der Hose und sicherte das Lenkrad an einer Stahlstange unter seinem Sitz.
Das war jetzt offiziell eine tempomatgesteuerte Fortsetzung von Speed.
Und jetzt?
Eigentlich wollte ich diese Frage weder stellen noch eine Antwort darauf erhalten. Ich wollte einfach nicht glauben, was hier geschah.
»Bist du bereit?«, fragte Alan. »Besser wär’s. Wir steigen nämlich aus!«
»Willst du mich verarschen?«
»Nein, das meine ich todernst. Siehst du rechts vorne den Felsbrocken? Gleich dahinter befindet sich ein Damm«, erklärte er.
»Woher weißt du das?«
»Ich war Pfadfinder, Nick. Man muss immer vorbereitet sein. Wir brauchen nur die Beine anzuziehen und wegzurollen, dann sehen sie uns nicht! Vertrau mir.«
Ich leuchtete mit der Taschenlampe auf den Tachometer. Die Nadel zeigte fast hundertvierzig Stundenkilometer. Wie meinst du das, Doc? Beine anziehen und wegrollen?
Doch es war keine Zeit, um zu diskutieren oder zu streiten. Der Felsbrocken und der Damm waren nur noch ein paar Sekunden entfernt. Als eine weitere Kugel an uns vorbeizischte, holte ich tief Luft und sagte Alan, was er hören wollte.
»Scheiß drauf, dann mal los!«
Ich schnappte mir meinen Rucksack und umfasste den Überrollbügel. Pling!, traf wieder eine Kugel auf Metall. Und gleich darauf die nächste. Und dann waren ein Dutzend Plings und Plongs zu hören.
Mit den Zähnen knirschend nahm ich all meinen Mut zusammen. Im Mund schmeckte ich den Staub. In meinen vier Jahren als Journalistikstudent hatte ich keinen einzigen Kurs besucht, der sich »Beine anziehen und wegrollen« nannte. Schade. Der wäre viel sinnvoller gewesen als all das, was ich über Grammatik und Ethos gelernt hatte.
Glück ab!
Ich sprang in die Dunkelheit und knallte auf den Wüstenboden. Nur fühlte er sich nicht wie Wüstenboden an, sondern wie Beton. Der Schmerz durchfuhr mich wie eine explodierende Bombe.
Ich wollte schreien. Nicht schreien, Nick! Sonst hören sie dich!
So weit zu meinen Fähigkeiten, die Beine anzuziehen. Das Rollen hatte ich gleich drauf – was so viel hieß wie: immer weiter den Damm hinunter. Als ich schließlich, vor Benommenheit beinahe kotzend, liegen blieb, drehte ich mich um und blickte auf.
Unserem Jeep folgte in kurzem Abstand der Jeep mit den schießwütigen Dschandschawid, die sicher dachten, sie seien näher denn je daran, zwei Unruhe stiftende Amerikaner zu töten. Bald würden sie den Wagen eingeholt haben – vielleicht nach weiteren drei oder vier Kilometern, doch bis dahin würden Alan und ich in der dunklen Nacht wie zwei Stecknadeln im Heuhaufen verschwunden sein. Sie würden uns niemals finden. Zumindest hoffte ich das. »Alles in Ordnung?«, fragte Alan. Er lag vielleicht drei Meter von mir entfernt.
»Ja«, antwortete ich. »Und bei dir?«
»Oh, Mann, ging mir nie besser.«
Ich bemerkte einen vertrauten Schein in Alans Hand. Es war ein Iridium-Satellitentelefon. In irgendeiner Tasche steckte auch meins.
»Wen rufst du an?«, fragte ich.
»Domino’s Pizza«, witzelte er. »Magst du Peperoni?«
Ich lachte. Noch nie hatte Lachen so gut getan.
»Nein, ich rufe Verstärkung«, erklärte er. »Es wird Zeit, dass wir beide von hier verschwinden. Ein toter Arzt und ein toter Reporter haben keinen großen Einfluss mehr auf den Weltfrieden und auf all das Gute, das uns wichtig ist.«
Geschunden und völlig durch den Wind – doch, was am wichtigsten war, lebendig – wurden Alan und ich bei Tagesanbruch von einem Flugzeug des UN-Welternährungsprogramms nach Khartum ausgeflogen. Alan beschloss, noch ein paar Tage in der sudanesischen Hauptstadt zu bleiben, um in einem anderen Krankenhaus auszuhelfen. Was für ein Kerl!
»Du kannst gerne mitkommen«, bot er halb im Spaß an. »Ich brauche eine Muse.«
Ich lächelte. »Nee, ich glaube, ich habe für eine Weile genug Abenteuer in der Wildnis erlebt. Ich denke, ich habe mehr als genug Material für meinen Artikel, Alan.«
»Aber stell mich nicht als Helden hin«, warnte er mich. »Ich bin keiner.«
»Ich beschreibe nur, was ich sehe, Alan. Wenn das dem einen oder anderen heldenhaft erscheint, dann ist das eben so.«
Mit diesen Worten dankte ich ihm zum zwanzigsten Mal dafür, dass er mir das Leben gerettet hatte. »Salam aleikum«, wünschte ich ihm.
Er schüttelte meine Hand. »Und Friede sei mit dir«, wünschte er auch mir.
Schade nur, dass dies nicht der Fall sein würde. Ganz und gar nicht.
Am Nachmittag flog ich vier Stunden lang über das Rote Meer und den Persischen Golf in die Vereinigten Arabischen Emirate nach Dubai, der Heimat des ersten geklonten Kamels der Welt. Diese Stadt hat für diejenigen, die noch nie dort waren, etwas Unwirkliches. Wer schon dort gewesen ist, wird verstehen, wovon ich rede. Ein paar Jahre zuvor hatte ich innerhalb einer Woche alle »Touristenattraktionen« für einen Artikel mit der Überschrift »Disneyland unter Drogen« abgeklappert. Klar, das Touristenbüro von Dubai war nicht scharf auf diese Überschrift, aber was erwarteten sie? Ski Dubai, ihr Space Mountain, ist ein überdachter Skihang. Und das künstliche, in Form einer Weltkarte angelegte Archipel aus dreihundert Inseln mit einer Ausdehnung von sechzig Kilometern ist für sich genommen schon eine eigene Welt.
Doch diesmal befand ich mich nur auf der Durchreise. Nach einem kurzen Nickerchen im angrenzenden Dubai International Hotel – bei weitem das sauberste Hotel, das nach Stunden abrechnet – wollte ich gleich wieder ins Flugzeug steigen, diesmal in Richtung Paris, um einen der europäischen Direktoren eines humanitären Hilfswerks zu interviewen. Damit wollte ich meinen Artikel, an dem ich schrieb, abschließen.
Während ich in der Schlange stand, um ins Flugzeug zu steigen, spürte ich das Vibrieren meines Iridiumtelefons. Courtney, meine Redakteurin, rief aus New York an.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie.
»Ich lebe«, antwortete ich. Das war eindeutig der Satz des Tages. Rasch erzählte ich ihr die Geschichte meiner Mad-Max-Flucht vor der Dschandschawid-Miliz. Sie konnte es kaum glauben. Ging mir ja genauso.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, wollte sie wissen. »Du klingst für deine Verhältnisse ein bisschen verwirrt.«
»Alles in allem, ja, es geht mir gut. Ich habe sogar etwas sehr Wichtiges gelernt – ich bin sterblich. Richtig sterblich.«
»Und wohin willst du jetzt?«
»Nach Paris«, antwortete ich.
»Paris?«
»Oui.«
»Je crois que non«, widersprach Courtney.
Nun ja, ich hatte auf der St. Patrick’s High School in Newburgh im Staat New York nur ein Jahr Französisch gelernt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie »Ich glaube nicht« gesagt hatte.
»Warum nicht?«, wollte ich wissen.
Das war eine gute Frage, die ich zudem im allerletzten Moment stellte, da nur noch zwei Personen vor mir waren, bevor ich meinen Bordpass für den Flug nach Paris, wahrscheinlich meiner Lieblingsstadt, vorzeigen müsste. Das mit der Lieblingsstadt gilt natürlich nicht für die Menschen. Jedenfalls nicht für die Arschlöcher unter ihnen.
»Du solltest nach Hause kommen«, antwortete Courtney.
»Warum? Was ist los?«
»Etwas Gutes, Nick. Etwas wirklich Gutes. Es wird dir gefallen.«
Das reichte, damit ich einen halben Schritt aus der Warteschlange trat. Courtney Sheppard verkörpert einige wenige bemerkenswerte Unarten, doch Übertreibung gehört nicht dazu.
»Okay«, gab ich nach. »Dann sorg dafür, dass es mich umhaut.«
Und genau das tat Courtney. Sie fegte mich fast aus meinen Schuhen.
Also gut, jetzt kann ich es nicht mehr geheim halten. Ich weiß, es klingt schon fast lächerlich, aber ich bin ein großer Baseball-Fan. Das war ich schon damals im Hudson Valley, wo ich zur Übung mit Äpfeln auf Baumstämme warf.
Aber ich will lieber weitererzählen. Ich drückte das Telefon mit gewölbter Hand fest an mein Ohr, damit mir kein Wort entging. Im Flughafen herrschte reges Treiben, und der größte Lärm dröhnte vom Nachbar-Gate herüber, wo sich einhundert Männer mit sauber gestutzten Bärten und in Dishdashas, den strahlend weißen, fließenden Gewändern, versammelt hatten.
Und dann war da noch ich.
Ein Meter fünfundachtzig mit strubbeligem braunem Haar, ausgebleichten Jeans und einem noch ausgebleichteren Polohemd. Gene Simmons mit vollem Kiss-Make-up und laut aus dem Koran lesend wäre auch nicht mehr aufgefallen.
Courtney holte tief Luft. »Erinnerst du dich an Dwayne Robinson?«, fragte sie. Natürlich erinnerte ich mich, das wusste sie ganz genau.
»Du meinst den Dwayne Robinson, der die Yankees – meine Yankees – die World Series gekostet hat? Dieses wahnsinnige Schwein? Dieses unergründliche Rätsel?«
»Nach zehn Jahren hegst du immer noch einen solchen Groll? Du bist tatsächlich ein Baseball-Narr.«
»Absolut. Auch in hundert Jahren könnte ich nicht vergessen … oder verzeihen«, schnaubte ich.
Was soll ich sagen? Seit meinem fünften Lebensjahr, als mich mein Vater in Newburgh zu meinem ersten Spiel mitgenommen hatte, war ich begeisterter Fan der Bronx Bombers. Wir saßen ganz oben auf der Tribüne, etwa fünf Kilometer vom Spielfeld entfernt, so dass ich die typischen weißen Trikots mit den Nadelstreifen gar nicht erkennen konnte, aber das war mir egal. Seitdem kamen Yankee-Nadelstreifen aus meinen Adern, wenn ich blutete. Ja, ja, ich weiß, das ist idiotisch.
»Wenn ich’s mir recht überlege, ist es vielleicht doch eine schlechte Idee«, räumte Courtney ein. »Flieg nach Paris, Nick.«
»Was willst du damit sagen? Worauf willst du hinaus? Warum schiebst du mich jetzt nach Paris ab?«
Sie hielt mich mit der Antwort eine Weile hin. »Er will mit dir ein Interview machen.«
Ich hatte das abstruse Gefühl gehabt, dass sie genau das sagen würde, war aber trotzdem überrascht, als sie es tat. Sehr überrascht. Dwayne Robinson war der J. D. Salinger der Baseball-Welt, seit er auf spektakuläre Weise für alle Spiele gesperrt worden war. In seiner letzten Stellungnahme an die Presse hatte er verkündet: »Ich werde nie wieder mit einem von euch reden.« Die letzten zehn Jahre hatte er Wort gehalten.
Zu meinem Glück ändern sich die Dinge. Das war toll. Das würde die bisher beste Geschichte meiner Karriere werden. Und ein Traum würde wahr werden.
»Courtney, du vollbringst echt Wunder. Wie hast du ihn zu einem Interview überredet?«, wollte ich wissen.
»Ich wünschte, es wäre mein Verdienst«, gestand sie ein. »Aber ich habe gestern nur den Anruf von Robinsons Agent entgegengenommen.«
»Der Typ hat noch einen Agenten? Das ist für sich gesehen schon verwunderlich.«
»Ja, da soll sich mal einer einen Reim drauf machen. Vielleicht hoffen sie, dass er sich wieder als Sportler etabliert. Vielleicht ist das der Grund, warum er mit dir reden will.«
»Ich würde nicht zu viel erwarten«, erwiderte ich. »Er ist mittlerweile weit über dreißig. Hat seit Jahren nicht gespielt.«
»Aber genau das könnte seinen Wunsch nach einem Interview erklären, oder? Er rückt mit der Sprache heraus, rückt die Sache gerade … es wäre ein erster Schritt in Richtung eines Comebacks«, überlegte sie. »Vielleicht nicht auf dem Spielfeld, aber zumindest in der Öffentlichkeit.«
»Aber wenn das der Fall ist«, witzelte ich, »hätte er sich dann nicht für ein Fernsehinterview entschieden?«
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wusste ich auch schon die Antwort. Dwayne Robinson, die »große, schwarze Hoffnung aus Harlem« und einstiges Linkshänder-Ass der Yankee-Werfer, litt unter anderem unter akuter Sozialphobie. Während er das Spielfeld unter den Blicken von fünfundfünfzigtausend schreienden Fans auf geniale Weise beherrschte, brachte er bei einem Zweiergespräch kaum ein Wort heraus. Besonders nicht vor laufender Kamera.
»Das hatte ich fast vergessen«, fügte ich hinzu. »Der Typ war ja wie eine wandelnde Litfaßsäule für Antidepressiva.«
»Bingo«, stimmte Courtney zu. »Robinsons Agent hat mir nämlich erzählt, er habe Angst, sein Klient könnte seine Meinung ändern. Deswegen hat er bereits einen Termin für euch beide zum Mittagessen vereinbart. Du und Dwayne, Dwayne und du. Kuschelig, hm?«
Langsam wurde die Sache spannend. »Wann?«, fragte ich.
»Morgen«, antwortete sie. »Im Lombardo’s, halb eins.«
»Courtney, ich bin in Dubai.«
»Hoffentlich nicht mehr lange, Nick. Du bist morgen zu einem wichtigen Mittagessen verabredet. In New York.«
Wie auf Kommando kam ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft auf mich zu. »Entschuldigen Sie, Sir, wollen Sie nun mit uns nach Paris fliegen?«, fragte er mit leichtem Grinsen. »Der Flugsteig schließt gleich.«
Ich blickte mich um. Alle waren bereits eingestiegen. Das heißt, alle außer mir.
»Nick, bist du noch da?«, fragte Courtney. »Ich muss wissen, ob ich weitermachen kann. Sag mir, ob du dabei bist.«
Diesmal hielt ich sie mit der Antwort hin.
»Nick? Nick? Bist du noch da? Nick! Verdammt, hör auf mit diesen Spielchen.«
»Okay, ich bin dabei«, sagte ich schließlich. »Ich bin dabei.«
Und war der Sache bei weitem nicht gewachsen, wie ich herausfinden würde.
»Das hatte ich eigentlich auch nicht bezweifelt«, sagte Courtney. »Schließlich fließen bei dir Yankee-Nadelstreifen aus den Adern, wenn du blutest.«
Zwei Flüge, acht Zeitzonen und zwanzig unerträglich lange Stunden später setzten wir endlich kurz vor elf am nächsten Morgen auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen auf. Beim Aussteigen kam ich mir nicht nur wie ein Zombie vor, wahrscheinlich entsprachen auch mein Aussehen und mein Geruch diesem Gefühl.
Als ich das Satellitentelefon gegen mein iPhone tauschte, erwartete mich nur eine Nachricht. Natürlich von Courtney.
»Im Lombardo’s, um halb eins«, erinnerte sie mich. »Komm ja nicht zu spät! Das ist eine große Sache, Nick. Vielleicht springt ein Buchvertrag dabei heraus. Und ein Filmvertrag. Also keine Patzer!«
Danke, Chefin …
Es gibt einige Dinge, die man über Courtney Sheppard wissen sollte. Zunächst, dass sie im relativ zarten Alter von vierunddreißig Jahren Chefredakteurin der Zeitschrift Citizen war – genau der Zeitschrift, die nach nur zwei Jahren ihres Bestehens das Unmögliche vollbracht hatte, was so viele andere Neulinge nicht schaffen – in die Gewinnzone zu rutschen.
Nachdem Courtney sowohl für die Vanity Fair als auch für The Atlantic als Redakteurin gearbeitet hatte, hatte sie das Erfolgsrezept für den Citizen parat, indem sie die unterschiedlichen Ausrichtungen der beiden Zeitschriften miteinander vereinte. Schlauer Schachzug. Allerdings ist sie auch eine schlaue Frau.
Und eine hübsche dazu, ohne dass sie von ihrem Äußeren besonders eingenommen war.
Das bringt mich auf eine andere Sache, die man über Courtney Sheppard wissen muss. Obwohl, wenn ich darüber nachdenke, kommen wir lieber später darauf zu sprechen.
Vom Kennedy-Flughafen fuhr ich mit dem Taxi nach Hause in die Upper East Side von Manhattan. Ich lebe meistens aus dem Koffer, was ganz praktisch ist, weil meine Wohnung nicht sehr viel größer ist.
Ganz offenkundig bin ich nicht des Geldes wegen Journalist. Wer wäre das auch – abgesehen von Thomas Friedman von der Times? Ich will damit nicht sagen, Friedman liebe seine Arbeit nicht, sondern nur, dass er einen Haufen Schotter damit verdient.
Na, jedenfalls sah ich als Elfjähriger mit meinen Eltern den Film Die Unbestechlichen. Mein Vater liebte ihn, weil er Richard Nixon verabscheute. Abgerichtet wie Pawlows Hund, blökte er jedes Mal »dieser Gauner!«, wenn Nixons Name fiel.
Auch meine Mutter war begeistert von dem Film, aber nur, wie ich mir ziemlich sicher bin, weil sie in Robert Redford verknallt war. Und vielleicht auch in Dustin Hoffman.
Meine Eltern hatten nicht die Absicht gehabt, mich mitzuschleppen. Ich sollte zu Hause bleiben, bewacht von dem strengen Blick meiner älteren Schwester Kate. Doch ich überredete sie, mich mitzunehmen. »Wer weiß, vielleicht werde ich mal ein berühmter Reporter, wenn ich erwachsen bin«, führte ich als Argument an. »Ich könnte der nächste große Enthüllungsjournalist sein.«
Natürlich war das ein Haufen gequirlter Mist. Ich hatte es nur auf die Riesenportion Popcorn und eine Limo abgesehen. Und wenn mein Vater gute Laune hatte, würde vielleicht auch noch eine Tüte Schokorosinen herausspringen.
Doch während ich im Kino vor mich hinmampfte, passierte etwas Überraschendes. Fast schon etwas Magisches. Vorn auf der Leinwand jagten zwei junge Kerle dem größten Schatz ihres Lebens hinterher, der aber viel wertvoller war als Gold oder Diamanten oder gar die Bundeslade. Ich war erst elf, aber ich kapierte es bereits – und will bis zum heutigen Tag nicht davon ablassen.
Sie suchten nach der Wahrheit.
So konnte ich es auch nach zwei Flügen, acht Zeitzonen und zwanzig unerträglich langen Stunden kaum abwarten, noch ein paar weitere Kilometer zurückzulegen. Rasch nahm ich eine heiße, dann eine kalte Dusche und zog mir saubere Kleider an.
Gleich darauf huschte ich zur Tür hinaus und sprang wieder in ein Taxi, das mich zur Ecke 67th Street und Third Avenue brachte.
Um Punkt halb eins betrat ich Lombardo’s Steakhouse, bereit, einen der besten Werfer und den rätselhaftesten Menschen zu treffen, der je Baseball gespielt hatte.
Und wenn ich alles richtig machte, würde ich die Geschichte haben, für die hundert andere Autoren rund um New York einen Mord begehen würden.
Dwayne Robinson, was passierte tatsächlich am Abend vor dem siebten Spiel der World Series? Warum sind Sie nicht im Stadion erschienen?
Wie konnten Sie so viele Herzen brechen, einschließlich dem meinen?
»Einen kleinen Moment, Sir«, sagte die Empfangsdame des Lombardo’s, nachdem ich ihr meinen Namen genannt hatte. »Ich bin gleich wieder da. Einen kleinen Moment.« Als sie im Speisesaal verschwand, beugte ich mich über das Pult, um einen Blick auf das Reservierungsbuch zu erhaschen. Wenn man so viel auswärts essen geht wie ich, wird man richtig gut darin, seinen Namen auf dem Kopf zu lesen.
Klar, dort stand »Robinson/Daniels« in der Zeile für zwölf Uhr dreißig, gefolgt von einem Sternchen.
Die bevorzugte Behandlung eines Stars vielleicht? Das galt natürlich nicht für mich. Vielleicht aber für den Citizen?
Wenige Sekunden später kehrte die Empfangsdame zurück. »Wir haben einen hübschen, ruhigen Tisch für Sie reserviert, Mr. Daniels. Folgen Sie mir.«
Wenn Sie darauf bestehen.
Zufällig war sie eine hübsche Blondine. Charles Daniels, der Vater meines Vaters, pflegte bis ans Ende seiner Tage zu sagen: »Wenn es eine Sache gibt, für die ich eine Schwäche habe, dann für hübsche Blonde, dicht gefolgt von hübschen Brünetten und hübschen Rothaarigen.«
Wir gingen zu einem Tisch im hinteren Bereich. »Wie heißen Sie?«, fragte ich, als ich mich setzte.
»Tiffany«, antwortete sie.
»Wie die hübsche aquamarinblaue Box?«
Sie lächelte, ihre Augen funkelten wie Edelsteine. »Genau.«
Das war für dich, Großvater Charles. Ich hoffe, du hast zugeschaut und ordentlich gelacht.
Tiffany drehte sich um und ließ mich allein. Das blieb ich auch in den nächsten zehn Minuten. Und den nächsten zwanzig. Und der nächsten halben Stunde. Was hatte das zu bedeuten?
Wenn man in einem Restaurant auf jemanden warten muss, gehört Lombardo’s Steakhouse zum Glück zu den besten, weil man hier die krassesten Menschen beobachten kann. Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man die Botoxgesichter zählt oder angesichts der ebenfalls anwesenden Filmstars als wahrer Zyniker Hollywood-Hamlet spielt.
Entziehungskur oder nicht Entziehungskur? Das ist hier die Frage.
Aus diesem Grund war ich jedoch auch überrascht gewesen, dass mich Dwayne Robinson hier treffen wollte, und noch mehr, dass er selbst derjenige gewesen war, der diesen Ort ausgesucht hatte.
Klar, in der Welt des Sports war auch er ziemlich berühmt. Oder vielleicht war berühmt-berüchtigt der bessere Ausdruck. Doch selbst damals, als er der Star von New York – oder sagen wir, von Amerika – gewesen war, hätte er nie im Lombardo’s gegessen. So schlimm stand es mit seiner Sozialphobie.
Vielleicht war er geheilt. Vielleicht war dies einer der Aufhänger für dieses Interview – er trat wieder in die Öffentlichkeit, und zwar gründlich.
Vielleicht auch nicht.
Als ich erneut auf meine Uhr blickte, fragte ich mich, ob meine hastige Reise um die halbe Welt völlig für die Katz gewesen und er doch noch immer der Alte war. Dwayne Robinson hatte mittlerweile eine Stunde Verspätung.
Was soll das? Wo, zum Teufel, steckt er? Was ist der Kerl doch für ein Arschloch!
Ich rief Courtney an, die mich sogleich zurückrief, nachdem sie sich mit Robinsons Agent kurzgeschlossen hatte. Dieser war ebenso verblüfft, besonders nachdem Dwayne den Termin bei ihm am Vormittag noch bestätigt hatte. Jetzt konnte er ihn nicht erreichen.
»Es tut mir so leid, Nick«, tröstete mich Courtney.
»Mir auch. Na ja, zumindest ist bei Robinson nach all den Jahren immer noch alles beim Alten – er bleibt einfach weg. Was für ein Trottel.«
Nach einer weiteren Viertelstunde gab ich schließlich auf. Dwayne Robinson wurde offiziell vermisst – genau wie damals, als er zum siebten und entscheidenden Spiel der World Series einfach nicht erschienen war.
Plötzlich fühlte ich mich wie der Junge, der während des Black-Sox-Bestechungsskandals von 1919 auf der Treppe zum Gericht von Chicago den Baseballspieler Shoeless Joe Jackson anflehte.
Sag, dass das nicht wahr ist, Dwayne. Sag, dass das nicht wahr ist …
Doch … es war wahr.
Aber nicht Robinson war der Trottel, sondern ich.
Keller sah aus wie ein verschwommener Fleck in einem Zeichentrickfilm, als er auf mich zurannte.
»Ich hab den Zünder!«, rief ich und hielt ihn hoch. Mit der anderen Hand deutete ich auf die Tür des Zuges. »Lassen Sie ihn nicht entwischen!«
Doch Keller ging nirgendwo hin, sondern sank gleich neben mir auf ein Knie. »Verdächtiger, bewaffnet und zu Fuß«, meldete er in sein Funkgerät. »Alles in Ordnung?«, fragte er mich.
Mein Brustkorb fühlte sich an, als hätte ich gerade mit einer Abrissbirne Polka getanzt, doch ich war noch am Leben: »Ja, mir geht’s gut.« Ich reichte ihm den Zünder.
Dann hob ich mein Hemd. Gemeinsam begutachteten wir die Kugel in der Kevlar-Weste, die ich auf Kellers Drängen hin trug.
Er lächelte. »Voll ins Schwarze.«
»Oh, wie lustig. Sie hätten mich töten können!«
»Ja, schon möglich«, erwiderte Keller. »Aber Torenzi hätte es mit Sicherheit getan.«
»Onkel Nick?«
Wir drehten uns zu Elizabeth, die immer noch zwei Meter entfernt auf dem Boden lag. Und immer noch Sprengstoff am Leib trug.
Keller ging zu ihr und half ihr beim Aufstehen.
»Schatz, das ist Agent Keller vom FBI«, sagte ich. »Er wird dir die Bombe abnehmen.«
Ich blickte Keller an, der mir irgendwo zwischen Hoffnung und Vertrauen zunickte. Ich werde mein Bestes tun.
Dann hielt er den Zünder wie ein Fabergé-Ei nach oben und begutachtete ihn von allen Seiten. Es war tatsächlich ein Klapphandy ohne Klappe.
»Dann wählt er also eine Nummer, und wir fliegen alle in die Luft – funktioniert das so?«, fragte ich.
»Nur eine einzige Zahl … Kurzwahltaste«, erklärte Keller und deutete auf Elizabeth. »Irgendwo an ihr ist die Klingel eines anderen Telefons, die mit einer Zündkapsel verbunden ist. Ganz einfach. Die ETA hat dieses System erfunden, bevor es von den Dschihadisten und jetzt offenbar von italienischen Killern übernommen wurde.«
Keller vermutete, dass ich aufgrund meines Berufs wusste, was ETA bedeutete.
Er hatte recht, und er meinte nicht die Abkürzung für »Elektronischer Triebwagen mit Akkumulatorenbatterie«, nur weil wir uns in einem Zug befanden. ETA war die baskisch-nationale Untergrundorganisation.
»Oh, entschuldigen Sie, aber sollten wir nicht die Bombenspezialisten rufen?«, fragte der Zugführer. Er saß immer noch ein bisschen benommen auf dem Boden, überblickte aber die Situation durchaus.
»Sie sind schon auf dem Weg«, antwortete Keller. »Das Problem ist nur, so lange haben wir nicht Zeit.«
Das war nicht unbedingt die Antwort, die der Fahrer erwartet hatte. »Warum nicht?«, kam er meiner Frage zuvor.
»Weil im Moment jedes Telefon diese Bombe hochgehen lassen kann«, erklärte Keller. »Torenzi braucht nur eins in die Finger zu kriegen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Wir tun gar nichts«, antwortete Keller. »Ihr beide macht euch sofort vom Acker. Mindestens hundert Meter weit weg. Also los, haut ab.«
»Ich gehe nirgendwo hin«, protestierte ich. »Ich bleibe hier. Basta.«
Es war die leichteste Entscheidung, die ich je getroffen hatte, und sie schien Keller nicht sehr zu überraschen. Er widersprach mir nicht, sondern wandte sich nur an den Fahrer.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte er ihn.
Der Typ war nicht unbedingt auf ein Frage-und-Antwort-Spiel eingestellt, auch wenn es nicht schwer zu werden drohte. Er schaukelte immer noch beunruhigt hin und her.
»Ich habe gefragt, ob Sie verheiratet sind«, wiederholte Keller.
»Ja«, antwortete der Fahrer.
»Kinder?«
Mehr sagte Keller nicht.
Das war nicht nötig.
»Ich bin dann mal weg hier. Viel Glück«, wünschte uns der Fahrer. »Ich bete für euch.«