Roman
Aus dem Amerikanischen
von
Milena Schilasky
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage September 2021
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Copyright © 2020 by Jenny Holiday Titel der englischen Originalausgabe:
Paradise Cove (Forever 2020)
This edition published by arrangement with Grand Central Publishing New York, New York, USA.
All rights reserved.
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Kate Stasyna
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ISBN 978-3-95818-632-3
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Für Estelle, mit Liebe und Leuchten.
Ich hatte ein wundervolles Dreigespann an Lektorinnen, die mir bei diesem Buch geholfen haben. Lexi Smail hat mich in der Planung unterstützt, Leah Hultenschmidt hat redigiert, und Junessa Viloria hat sich um die Produktion gekümmert. Ihr Ladys seid die Besten! Danke auch an Elizabeth Stokes, dafür, dass du die Reihe glänzen lässt (Kanada sah noch nie so schön aus), und an Estelle Hallick, für die Flut an Wortwitzen, damit die Leute das Buch auch lesen. Wie immer habe ich auch Courtney Miller-Callihan und Sandra Owens viel zu verdanken. Vor allem aber geht ein riesiges Dankeschön an all meine Leser (hallo, Northern Heat!).
Als Nora Walsh ihn zum ersten Mal sah, wurden Jake Ramsey gerade die Haare geflochten.
Er saß im Curl Up and Dye und las eine Ausgabe vom Jagd- und Angelmagazin Field & Stream, während die Friseurin seine langen braunen Haare zu einer aufwendigen Flechtfrisur zusammensteckte. Der Anblick hatte etwas Absurdes: der riesige, kräftige Mann auf dem Stuhl, der unter ihm wie ein Puppenstuhl wirkte. Als wäre Jason Momoas blasser Zwilling hergekommen, um Friseur zu spielen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Nora löste ihren Blick von Aquaman und schaute stattdessen zu der älteren Dame am Empfang. »Ja. Hi. Ich habe keinen Termin, aber würde gern meinen Ansatz nachfärben lassen. Ich kann auch für später einen Termin machen, wenn es gerade nicht passt.«
»Kommen Sie ruhig rein.« Die Frau führte sie zu dem freien Stuhl – in dem kleinen Raum war nur Platz für zwei Stühle. »Carol junior kümmert sich um Sie, wenn sie mit Jake durch ist.«
»Fast fertig.« Die jüngere Frau sah wie eine Kopie der älteren aus, nur ohne Falten. »Ich probiere mich etwas aus.« Sie nahm ein Haargummi vom Wagen, band den Zopf zusammen und lehnte sich dann zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Also das bringt mir sicherlich keine Preise ein.«
Der Mann senkte seine Zeitschrift und beugte sich vor, um sich im Spiegel zu betrachten. Dann zuckte er mit den Schultern: »Sieht doch gut aus.«
Die Friseurin klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist lieb, Jake. Mach das einfach wieder raus, und dann wasche ich dir schnell die Haare.« Sie drehte sich zu Nora und kreischte auf. »Oh, mein Gott! Ich liebe Ihre Frisur!«
Nora hatte einen Pixie-Cut. Einen sehr kurzen, sehr blonden Pixie-Cut. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie damit in Moonflower Bay herausstechen würde, und das tat sie. So ziemlich alle Frauen, die sie hier bisher gesehen hatte – obwohl sie zugegebenermaßen erst einen Tag in der Stadt war –, hatten lange Haare. Sie hatte Angst, wie das eingebildete Stadtmädchen rüberzukommen, aber sie lief jetzt auch nicht gerade mit Piercings und Tattoos rum. Sie hatte einfach sehr, sehr kurze Haare.
Ganz im Gegensatz zu dem großen Mann neben ihr, der sich gerade mit den Fingern durch die Haare fuhr, um die Flechtfrisur zu lösen. Aber wieso ließ er sich so eine aufwendige Frisur machen, wenn er sie sowieso gleich wieder rausmachen wollte?
Mit einem Mal schaute er von seinem eigenen Spiegelbild rüber zu dem von Nora, und als sich ihre Blicke im Spiegel trafen, blieb plötzlich alles stehen. Es war, als würden schlagartig alle Geräusche des Lebens um sie herum anhalten. Wie durch einen Kratzer in einer Schallplatte.
Sie fragte sich, ob er es auch spürte, denn er blinzelte ein paar Mal und hörte auf, sich um seine Haare zu kümmern.
Seine Augen waren grün. Ein so intensives Grün, dass es zusammen mit seinen langen dunklen Haaren etwas fast schon Übernatürliches hatte. Hätte er ihr erzählt, dass er ein Werwolf sei, hätte sie ihm vielleicht sogar geglaubt.
Oder war er etwa Aquaman? Irgendeine Art Wassergott? Immerhin lag einer der Großen Seen quasi direkt vor der Tür.
Sie musterte ihn genauer, versuchte, herauszufinden, ob er nun sterblich war oder nicht. Im Kontrast zu seinen dichten, glänzenden Haaren hatte er seinen Bart komplett rasiert. Er hatte volle hellrosa Lippen, wobei auf einer Seite eine Narbe verlief, die so tief war, dass sie die Oberlippe leicht nach oben zog.
Dann lachte die Friseurin, und die Hintergrundgeräusche liefen weiter. Der Mann widmete sich wieder seinen Haaren, während Nora ihren plötzlich glühend heißen Wangen befahl, sich zu beruhigen.
»Wie lustig, ein Mann mit langen Haaren und eine Frau mit kurzen Haaren.« Nora wollte gerade einen Kommentar zurückgeben – sie hatte schon damit gerechnet, dass die Leute hier ihre Probleme mit ihr hätten –, als die Frau hinzufügte: »Nicht dass daran irgendetwas falsch wäre.« Sie stand zwischen den beiden Stühlen, stemmte die Hände in die Hüften und begutachtete ihre beiden Kunden im Spiegel. »Ihr habt nämlich beide unglaublich tolle Haare.«
Nora wusste nicht, was sie sagen sollte. Vielleicht war die Stadt gar nicht so spießig, wie sie befürchtet hatte?
Die Friseurin wischte sich kurz die Hände an einem Tuch ab, bevor sie Nora eine Hand hinstreckte. »Carol Dyson junior, aber alle nennen mich CJ, um mich von meiner Mutter zu unterscheiden.« Sie zeigte mit einem Daumen in den vorderen Teil des Ladens, wo die ältere Frau sich hinter den Tresen zurückgezogen hatte. »Sie waren noch nie bei uns, oder?«
»Nora Walsh. Ich bin gerade erst hergezogen.«
CJs Mutter – Carol senior, vermutlich – tauchte wieder auf. »Oh! Sie sind die neue Ärztin!«
»Genau.« So was sprach sich rum. Noch vor vier Wochen hatte sie in der Notaufnahme vom St. Michael’s Hospital in Toronto gearbeitet, wo sie von ihrer Wohnung im zwanzigsten Stock ein paar Straßen weiter zu Fuß hingehen konnte. Und jetzt war sie Ärztin in Moonflower Bay, einer Kleinstadt am Lake Huron, und wohnte in einem Haus, das doppelt so groß wie ihre alte Wohnung war, während die Miete nur einen Bruchteil dessen betrug, was sie vorher gezahlt hatte.
Außerdem: Vor vier Wochen hatte sie noch einen Freund, Rufus. Jetzt war sie Single.
»Wir sind alle so froh, dass Sie hier sind«, sagte die ältere Frau. »Seit Doc Baker in Rente gegangen ist, musste man immer nach Grand View oder noch weiter fahren, um zum Arzt zu kommen.« Sie beugte sich vor. »Haben Sie Ed die Praxis abgekauft?«
Nora hatte die Praxis nicht von Dr. Edward Baker gekauft. Aus reiner Neugierde hatte sie sich auf die Anzeige im Ontario Medical Review gemeldet, als sie anfing, mit dem Gedanken eines kompletten Neuanfangs zu spielen. Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte Dr. Baker mit einem mehr als fairen Kaufangebot reagiert. Allerdings gab es schon einen Unterschied zwischen einem Neuanfang und Wahnsinn.
Und sie war noch nicht ganz in den Wahnsinn abgedriftet.
Also hatte sie daraufhin vorgeschlagen, die Praxis erst mal für zwei Jahre zu übernehmen. Dr. Baker hatte zugestimmt, und nun stand sie hier. Neue Stadt, neue Fachrichtung, neues Leben. Aber vor allem bekam man seine Studienschulden vom Medizinstudium erlassen, wenn man eine Weile in Gebieten arbeitete, in denen es einen Ärztemangel gab. Im schlimmsten Fall musste sie also eine Weile lang Mittelohrentzündungen behandeln und Überweisungen für Endoprothesen ausstellen, aber sie würde Geld verdienen und in ein paar Jahren zurück nach Toronto gehen – bereit für das große Hauskauf-Abenteuer mit ihrer Schwester.
Eigentlich war Moonflower Bay für sie so etwas wie ein kurzes Detox. Danach würde sie dann mit einem heilen Herzen, einem freien Kopf und etwas Geld wieder verschwinden.
Als Frau, die ihr eigenes Schicksal in die Hand nahm.
»Dr. Baker und ich haben einen Mietvertrag über zwei Jahre abgeschlossen«, erklärte sie den beiden Carols.
»Wieso nur zwei Jahre?«, fragte Carol senior.
»Meine Schwester und ich wollen eigentlich zusammen ein Haus kaufen, aber die Immobilienpreise in Toronto sind absurd hoch.«
»Das hört man. Was sind das nur für Zeiten, wenn sich nicht mal ein Arzt ein Haus leisten kann?«
»Noch nicht einmal annähernd. Heutzutage muss man wohl ein russischer Oligarch sein, um sich ein Haus in Toronto kaufen zu können.« Dann erzählte sie von dem Erlass der Studienschulden. »Also sparen meine Schwester und ich jetzt radikal und fangen in zwei Jahren an zu suchen. In der Zwischenzeit werde ich mich ein bisschen als Kleinstadtärztin versuchen.« Moment. Klang das arrogant? Ich beehre euch ein paar Jahre mit meiner kultivierten, erhabenen Großstadtpersönlichkeit.
Aber keiner wirkte gekränkt. Carol junior zeigte stattdessen auf Aquaman. »Das ist übrigens Jake Ramsey.«
»Ich mag Ihre Haare, Jake Ramsey.« Offen fielen sie sogar bis über seine Schultern. Es war genau die Art von Haaren, um die ihn jede Frau beneidete. Sogar Nora würde ihre wachsen lassen, würden sie am Ende so aussehen. Aber ihre dünnen Haare vertrugen sich nicht mit den langen Schichten im Krankenhaus, deswegen hatte Nora sich für einen kurzen, pflegeleichten Haarschnitt entschieden. Gerade waren sie sogar noch kürzer als sonst, weil sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester vor fünf Monaten alle Haare abrasiert hatte – aus Solidarität zu ihrer Oma, die ihre Haare durch die Behandlung ihres Brustkrebses verloren hatte.
Von Jake kam eine Art belustigtes Grunzen. Vielleicht also eher halb Schwein als halb Wolf? Aquapig? Sie lächelte. Das klang wie ein Spin-off von Peppa Pig, dieser britischen Serie über eine Familie von Schweinen, nach der ihr jüngster Neffe komplett verrückt war.
Carol senior entschuldigte sich kurz, um zu telefonieren, während CJ anfing, Jakes Haare durchzubürsten. »Ich versuche, mehr Flechtfrisuren und Hochsteckfrisuren zu lernen. Früher wollte die kaum jemand, aber Moonflower Bay wird immer beliebter bei den Touristen und vor allem für Hochzeiten. Es kommen mehr und mehr Bräute her.« Sie klopfte Jake auf die Schulter. »Jake ist so lieb und lässt mich an ihm üben. Dafür bekommt er einmal die Woche eine Haarwäsche, und ab und zu schneide ich die Spitzen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Die machen da irgendetwas rein, dass sie nicht so zerzausen.«
»Deep Conditioning.« Leise lachend legte CJ Nora den Umhang um und reichte ihr eine Zeitschrift. »Ich wasche Jakes Haare noch schnell, mache den Conditioner rein, und dann fange ich mit Ihnen an. In Ordnung?«
Nora nickte. Sie traute sich nicht, den Mund aufzumachen, denn der Ausblick im Spiegel war irgendwie falsch. In Toronto ging sie seit Jahren zum selben Friseur. Saß im selben Stuhl. Weil sie so kurze Haare hatte, hatte sie oft im gewohnten Stuhl mit dem gewohnten Ausblick gesessen. Es war nichts Besonderes – in dem immer vollen Großstadtsalon standen zwei Reihen an Stühlen parallel zueinander, also hatte sie im Spiegel eigentlich nur die sich ändernden Frisuren der anderen Leute gesehen. Hier konnte sie im Spiegel allerdings durch das große Fenster schauen und einen Teil der Hauptstraße sehen. Die wundervollen alten roten Backsteinbauten hoben sich von dem blauen Himmel deutlich ab.
Objektiv gesehen war der Anblick definitiv schöner. Aber eben anders.
Plötzlich traf sie der Gedanke, dass es das jetzt war. Für die nächsten zwei Jahre war das der Ausblick ihres neuen Friseurs.
Sie hatte es tatsächlich getan. Sie war hier. Tag eins vom Neuanfang.
Im letzten Monat hatte sie sich um so viel Zeug kümmern müssen: erst die Kündigung ihres Jobs, dann der ganze Kram bei der Bank, um die gemeinsamen Rechnungen wieder aufzuteilen, sich von dem Mann loszulösen, von dem sie dachte, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen würde. Ihr war gar keine Zeit zum Durchatmen und Nachdenken geblieben. Zum Fühlen.
Doch jetzt, hier, fiel ihr auf, wie allein sie war. Nicht nur ohne Partner oder Kollegen, sondern ohne Freunde. Hundert Prozent allein.
Aber das war in Ordnung, erinnerte sie sich. Genau das war der Sinn der Sache. Sie war viel zu abhängig von Rufus geworden, hatte sich untergeordnet. Irgendwann hatte sie sich selbst verloren.
Sie wurde aus ihren gefühlsduseligen Gedanken gerissen, als die Tür aufschlug und zwei Frauen hereinstürmten.
»Das ging schnell«, kommentierte Carol senior.
Die beiden Frauen waren schon älter, und nach einer etwas wirren Begrüßung erfuhr Nora, dass es Pearl Brunetta, die Besitzerin einer Bäckerei, und Eiko Anzai von der Lokalzeitung waren. Pearl, die mit den grellen blauen Haaren – kein ausgewaschenes Alte-Frauen-Blau –, wollte sofort wissen, wann Nora die Praxis öffnete. Und Eiko fragte direkt nach einem Interview für die Zeitung.
Sie bombardierten sie mit Fragen, bis CJ sich dazwischendrängte. »Ladys, überfordert die Arme doch nicht. Sie ist gerade erst angekommen. Und ich muss jetzt ihre Haare machen, also Abmarsch.«
»Entschuldigung«, antwortete Pearl. »Kommen Sie aber bald unbedingt mal auf einen Kuchen bei mir vorbei, Dr. Walsh. Geht aufs Haus.«
»Und melden Sie sich wegen des Interviews, okay, Schätzchen?«, hakte Eiko nach.
Nora stimmte beidem zu und lächelte, als sie hörte, wie die beiden zankend den Salon verließen.
»Nenn sie nicht ›Schätzchen‹«, schimpfte Pearl.
»Ich nenne jeden ›Schätzchen‹.«
»Ja, aber sie ist Ärztin. Du musst Respekt zeigen, wir wollen doch, dass sie bleibt, Eiko!«
»Okay, dann nenne ich sie Dr. Schätzchen.«
CJ zwinkerte Nora im Spiegel zu. »Na gut, Dr. Schätzchen, fangen wir an.«
Während Jake mit seinen dick eingeschmierten und in Plastik eingewickelten Haaren unter der Trockenhaube saß, hörte er die beiden Frauen über den Haarschnitt der neuen Ärztin reden. Anscheinend nannte man das einen »Pixie-Haarschnitt«.
Ziemlich passend, immerhin könnte Dr. Nora Walsh selbst glatt als Elfe durchgehen. Sie war klein, aber das allein war es gar nicht – alles an ihr wirkte klein. Die winzige, leicht nach oben zeigende Nase, die fein geschwungenen Lippen und die zierlichen Hände. Ihre graublauen Augen und die fast weißen Haare gaben ihr noch einen kühlen, beinahe übernatürlichen Look – sonst wäre sie einfach nur niedlich gewesen.
Irgendwie hatte sie etwas.
»Und, wie läuft der Umzug?«, fragte CJ.
»Gut. Ich habe nicht viel mitgenommen, also … Joa.«
Das klang, als steckte da mehr dahinter.
»Wo wohnen Sie denn, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe in Southbank Pines ein Haus gemietet. Eigentlich wollte ich weiter ins Zentrum, damit ich zu Fuß zur Arbeit kann, aber das alles war ehrlich gesagt ziemlich kurzfristig, deswegen hatte ich kaum Zeit und musste nehmen, was ich kriegen konnte.«
»Oh, Harold Burgess‘ Haus?« CJ schaute im Spiegel zu Jake.
»Ja. Harold ist mein Vermieter. Ich habe ihn allerdings noch nicht persönlich getroffen.«
Harold Burgess gehörten ein paar Gebäude in der Stadt, und das waren alles ziemliche Dreckslöcher. Aber vielleicht war sein eigenes Haus die Ausnahme. Harold war vor Kurzem nach Florida gezogen, wo er schon die letzten zwanzig Jahre lang immer überwintert hatte.
Jetzt fingen CJ und Dr. Walsh an, über die geplante Haarfarbe zu reden. Dr. Walsh ratterte irgendeine Art Code runter, und kurz darauf faltete CJ kleine Quadrate aus Alufolie und wickelte Dr. Walshs Haare darin ein. Er musste leise lachen. Er hatte Frischhaltefolie auf dem Kopf, und sie Alufolie.
Nach einem kurzen Schweigen fragte CJ plötzlich: »Und das Haus macht einen guten Eindruck?«
Dr. Walsh runzelte die Stirn. »Wieso? Sollte es nicht?«
»Doch, doch!«, warf CJ schnell hinterher, aber wahrscheinlich zu schnell, denn Dr. Walshs Augenbrauen schossen noch weiter hoch.
»Ein bisschen muffig vielleicht, aber ich dachte, das kommt, weil es so lange leer stand. Anscheinend hat sechs Monate lang niemand darin gewohnt. Jedenfalls wird schon alles in Ordnung sein. Ich muss nur ein paar Möbel besorgen. Und Geschirr. Und alles andere.« Sie lachte, aber irgendwie kam es Jake künstlich vor.
»Haben Sie gar nichts mitgenommen?«
Ihr Seufzen klang halb selbstironisch. »Nope.«
»Wieso, wenn ich fragen darf?« ›Wenn ich fragen darf‹ war so was wie CJs Lieblingsphrase.
Eine ganze Weile lang schwieg Dr. Walsh, bevor sie antwortete. »Haben Sie sich jemals umgesehen und plötzlich gedacht: ›Was mache ich hier eigentlich? Was soll der ganze Scheiß? So habe ich mir mein Leben nie vorgestellt‹?«
Oh ja.
CJ überlegte einen Moment, die Alufolie noch in der Hand und den Kopf leicht schräg. Jake konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass CJ sich das nie gefragt hatte. Wenn man Carol Dyson junior war und die Arbeit als Friseurin liebte, was CJ wirklich tat, und Carol Dyson senior auch noch der Friseursalon der Stadt gehörte, dann verlief das Leben wahrscheinlich von Anfang an nach Plan.
CJ legte der Ärztin eine Hand auf die Schulter. »Ehrlich gesagt hatte ich das noch nie, Dr. Schätzchen.«
Aber Jake schon. Und wie.
Leichter, als sie sich seit Langem gefühlt hatte, verließ Nora den Friseursalon. Frisch frisierte Haare schafften das immer wieder, und CJ hatte einen großartigen Job gemacht. Noras anfängliche Skepsis hatte sich schnell gelegt, da CJ die gleichen Produkte benutzte wie ihr deutlich teurerer Friseur in Toronto.
Sie blieb einen Moment auf dem Gehweg stehen, um tief einzuatmen. Toronto lag zwar auch an einem der Großen Seen, aber es roch nicht so. Nicht nach Pflanzen und Erde. Das ergab allerdings keinen Sinn, es war immerhin ein See. Wasser. Sie musste über sich selbst lachen – das Stadtmädchen, das es nicht einmal schaffte, den Geruch von Natur zu beschreiben.
Okay, es war Sonntag. Morgen würde sie in die Praxis gehen und anfangen, dort alles zu regeln, deswegen sollte sie sich heute erst mal der Einrichtung ihres Hauses widmen.
Zumindest das Allernötigste wollte sie besorgen. Ein Bett, einen Tisch, ein paar Stühle. Geschirr. Sie grinste. Das typische Junggesellenleben. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke. Sie brauchte keine KitchenAid-Küchenmaschine, die sie nie benutzte, kein Regal voller Kunstbände, die sie nie ansah, und auch kein ungemütliches Sofa, das mehr kostete, als sie im Monat verdiente.
Nein, Rufus brauchte all das. Immer ganz spezielle Dinge, die richtigen Dinge. Ständig hatte er einwandfrei funktionierende Sachen weggeworfen. Wie ihren uralten Handmixer, der für die zwei Mal im Jahr, wenn sie etwas backten, mehr als ausreichend war. Oder ihr Sofa. Ja, es war schon etwas abgenutzt, aber ein neuer Bezug hätte völlig ausgereicht. Er dagegen wollte immer alles mit neuen, glänzenden Dingen ersetzen. »Aufwerten«, hatte er es genannt, und weil ihr Mixer und Sofas eigentlich ziemlich egal waren, hatte es sie auch nicht gestört.
Er hatte sie sogar dazu überredet, sich von der Allgemeinmedizin, ihrer eigentlichen Wunschfachrichtung, zur Notfallmedizin »aufzuwerten«. Das hatte ein weiteres Jahr für sie an der Uni bedeutet, nur damit sie gemeinsam in der Notaufnahme des Krankenhauses arbeiten konnten, in dem er schon fest angestellt war.
Und dann hatte er sie »aufgewertet«.
Also, im Sinne von »er hat eine Assistenzärztin gefickt, auf dem hässlichen und ungemütlichen Sofa, das mehr kostete, als sie im Monat verdiente«.
Tränen schossen ihr in die Augen, aber die drängte sie zurück. Sie hatte genug geweint. Er war die Tränen nicht wert.
Wenn sie sich das oft genug einredete, würde sie es vielleicht irgendwann sogar glauben.
Er war es außerdem nicht wert, das tolle Gefühl, das sie dank der neuen Haarfarbe hatte, zu verlieren – das musste sie sich auch gar nicht erst einreden –, also stieg sie in ihr Auto und fuhr Möbel shoppen.
Drei Stunden darauf besaß sie ein Bett, ein Sofa, einen Küchentisch und Stühle, was alles später noch geliefert werden sollte, und schleppte Tüten voller Geschirr und Lebensmittel zu ihrem Haus, als ein Pick-up-Truck die Straße runtergerast kam.
Er fuhr viel zu schnell durch die ruhige Wohngegend. Das entsprach schon eher dem Kleinstadtstereotyp: Typen in Trucks, die irgendjemandem etwas beweisen müssen. Vermutlich stand die Größe vom Truck im direkten Verhältnis zur Größe von etwas anderem.
Zu ihrem Erstaunen kam der Truck mit quietschenden Reifen genau vor ihrer Einfahrt zum Stehen, und Aquaman sprang heraus. Seine Haare hatte er inzwischen zu einem unordentlichen Man Bun zusammengebunden.
»Dr. Walsh, es gibt einen Notfall. Auf dem Marktplatz ist eine Frau in den Wehen, und sie sagt, es sei noch viel zu früh!«
Nora blinzelte. »Wehen-Wehen?« Wehen-Wehen ist natürlich ganz klar der medizinische Fachausdruck.
»Sieht so aus. Sie schreit wie am Spieß. Es hat schon jemand den Notruf gewählt, aber ich wusste noch, dass Sie in Harolds altem Haus wohnen.«
Sie ließ ihre Tüten in der Einfahrt stehen. »Dann los.«
»Gibt es noch mehr Informationen?«, wollte Dr. Walsh wissen, als sie in Jakes Truck kletterte. »Wer ist die Frau? Wie weit ist sie? Ist es eine Risikoschwangerschaft?«
»Nein. Ich glaube, sie ist nicht von hier.« Jake hatte sie nicht erkannt, allerdings gab er auch gern zu, dass er nicht wirklich der geselligste Mensch war, daher hieß das erst mal nicht viel. »Ich bin gerade aus einem Laden gekommen, da hat sie sich auf der großen Wiese auf dem Boden gekrümmt. Sie hat irgendetwas von ›zu früh‹ gerufen. Es standen auch schon einige Leute wenig hilfreich um sie herum.«
»Und ich dachte noch, Ärztin in Moonflower Bay zu sein wäre langweilig.«
»Haben Sie ein Handy?«, wollte er wissen, während er weiter die Straße entlangraste.
»Ja.«
»Ich sage Ihnen gleich die Nummer von Dennis an, der die Hebebrücke steuert. Um in den Stadtkern zu kommen, müssen wir über den Fluss, deswegen müssen wir ihm sagen, dass die Brücke unten bleiben soll.« In den letzten Wochen war Jake so oft für Dennis eingesprungen, dass er dessen Nummer auswendig wusste.
Dr. Walsh stellte sich am Telefon kurz vor, und die beiden redeten, während Jake so schnell, wie es ihm erlaubt war, weiterraste. Bei einer scharfen Rechtskurve quietschten die Reifen. Dann legte sie auf. »Er meinte, er hat schon davon gehört und die Brücke bleibt unten. Außerdem hat er gesagt, dass irgendjemand, der Sawyer heißt, den unteren Teil der Hauptstraße abgesperrt hat, wir haben also freie Bahn, und Sie können – ich zitiere – ›so schnell fahren, als wäre Pearl hinter dir her, weil du gesagt hast, Torte wäre besser als Kuchen‹.«
»Das heißt, ich soll schnell fahren.«
»Das dachte ich mir.«
Noch bevor er neben der Wiese vollständig zum Stehen gekommen war, sprang Dr. Walsh schon aus der Beifahrertür. In der Ferne konnte er Sirenen hören. Er hatte gedacht, dass er Dr. Walsh herbringen könnte, bevor der Krankenwagen aus Grand View eintreffen würde, und das stimmte zwar auch, aber nur knapp, so wie es sich anhörte.
Dr. Walsh lief zum Ort des Geschehens, und obwohl sie so klein war, übernahm sie mühelos das Kommando. Sie zeigte auf einzelne Leute und rief Sachen wie: »Sie. Bringen Sie mir saubere Handtücher oder Decken. So viele Sie finden«, oder: »Sie da, ich brauche Händedesinfektionsmittel.«
Er wusste zwar nicht, wieso, aber Jake eilte ihr nach. Dabei war seine Aufgabe – die Ärztin holen – bereits erledigt. Dennoch hatte er das seltsame Bedürfnis, zu bleiben. Am Rand zu stehen und alles im Auge zu behalten. Wie ein Türsteher. Ein Notfall-Geburts-Türsteher.
Dr. Walsh ging weiter auf die Frau zu und sagte laut: »Machen Sie bitte Platz.« Aber die Leute kannten sie noch nicht, deswegen machten sie auch nicht den Weg frei.
»Sie ist Ärztin! Aus dem Weg!«, rief er laut. Sofort drehten sich einige Leute überrascht zu ihm um und fingen an, sich zurückzuziehen. Er sprach generell nicht viel, was den willkommenen Nebeneffekt hatte, dass die Leute sofort hinhörten, wenn er mal etwas sagte – und erst recht, wenn er brüllte.
Sobald der Weg für Dr. Walsh frei war, blieb er stehen, aber nach nur zwei Schritten ohne ihn drehte sie sich um. »Bleiben Sie hier? Halten die Leute auf Abstand?«
Also brauchte sie einen Geburts-Türsteher. »Ja.«
Dann ging sie zu der Frau, die auf dem Rasen auf dem Rücken lag, und Dr. Walshs komplette Haltung schlug um. Sie brüllte keine Befehle mehr, sondern sprach ruhig und sanft. »Hi, ich bin Nora Walsh. Ich bin Ärztin für Allgemein- und Notfallmedizin. Alles wird gut. Können Sie mir Ihren Namen sagen?«
»Ich bin erst in der siebenunddreißigsten Woche! Es ist zu früh! Es fühlt sich an, als bricht mein Rücken!«
»Ungewöhnlicher Name, aber schön, Sie kennenzulernen ›Erst siebenunddreißigste Woche‹.« Dr. Walsh griff nach dem Saum des Kleides der Frau. »Darf ich?«
»Colleen«, keuchte die Frau und nickte, musste aber über Dr. Walshs Witz lachen.
»Okay, Colleen, siebenunddreißigste Woche ist ein kleines bisschen früh, aber kein Grund zur Sorge. Manche Babys haben es einfach etwas eilig. Ich muss Ihnen aber ein paar Fragen …«
Die Frau schrie, als sie eine weitere Wehe spürte.
»Lassen Sie sie einfach kommen, wir reden in den Pausen.« Dr. Walsh nahm Colleens Hand, schaute aber zu Jake und deutete mit dem Kopf zu den Gaffern. »Können Sie die Leute loswerden? Und es klingt, als wäre der Krankenwagen da. Schicken Sie die Sanitäter zu mir rüber.«
Er schluckte den Kloß runter, der sich langsam in seinem Hals formte, und nickte – jetzt, wo Dr. Walsh alles unter Kontrolle hatte, drangen langsam andere Emotionen zu ihm durch. Als er mit den Rettungssanitätern zu ihr zurückkam, redete sie ruhig mit Colleen. Bei der nächsten Wehe drehte sie sich zu den Sanitätern um. »Dr. Nora Walsh. Der Gebärmutterhals ist schon verkürzt, und der Muttermund etwa neun Zentimeter geöffnet. Wir haben keine Zeit, sie ins Krankenhaus zu bringen. Ihr erstes Kind, die Fruchtblase ist vor einer Stunde geplatzt. Keine Komplikationen bisher. Sie ist in der siebenunddreißigsten Woche. Habt ihr Handschuhe, sterile Unterlagen und Tücher? Eine Nabelschnurklemme?«
Einer der Sanitäter nickte, und sie machten sich sofort daran, alles vorzubereiten. Colleen wirkte nicht mehr ganz so panisch wie vorher, aber immer noch ziemlich unruhig.
Jake hatte die Gaffer Sawyer überlassen, dem Chief, lief jetzt aber zu ihm. »Gib mir dein Handy und zeig mir, wie man dieses Videoanrufding benutzt.« Kurze Zeit später hastete er zurück und kniete sich neben Colleens Kopf. Er wartete noch kurz ab, während sie eine weitere, grausam klingende Wehe überkam.
»Einundachtzig Sekunden«, sagte einer der Sanitäter.
»Colleen, ich bin Jake. Ich wollte fragen, ob es irgendjemanden gibt, den ich anrufen soll, oder …« Ihm fiel der Name der App nicht mehr ein, die Sawyer ihm eben noch erklärt hatte. »Facetalk?«
»Ja! Mein Mann! Ruf meinen Mann bei FaceTime an! Danke!«
»Gute Idee«, sagte auch Dr. Walsh.
»Nimm mein Handy! Das ist da drin.« Colleen deutete auf ihre Tasche, die offen auf dem Rasen lag. Er wühlte nach ihrem Handy und gab den Code ein, den sie ihm sagte. »Er ist unter ›Ehemann‹ gespeichert – nicht sehr originell.« Sie musste lächeln, aber das wurde ganz schnell durch die nächste Wehe unterbrochen.
»Unter ›Ehemann‹.« Sawyer hatte ihm gerade erst gezeigt, wie man FaceTime benutzte, aber er wusste nicht wirklich viel mit »Er ist unter ›Ehemann‹ gespeichert« anzufangen.
»Da müsste ein graues Appsymbol sein, die Kontakte«, erklärte Dr. Walsh, die scheinbar seine Gedanken lesen konnte. »Klicken Sie da drauf, dann sollte eine alphabetische Liste mit den Kontakten auftauchen. Wenn Sie ihn gefunden haben, müsste irgendwo ein Kamerasymbol sein. Da klicken Sie dann drauf.«
»Danke. Handys sind nicht so mein Ding.«
Nach etwas Rumgeklicke hatte er den Anruf gestartet, und kurz darauf tauchte ein fremder Mann auf dem Bildschirm auf. »Dale!« Colleen fing an zu schluchzen.
»Drehen Sie das Handy kurz zu mir«, sagte Dr. Walsh. Sie stellte sich vor und erklärte die Situation. »Keine Sorge, es ist alles gut, und das wird eine tolle Geschichte für das Kind, wenn es größer ist«, fügte sie am Ende hinzu.
»Für sie«, antwortete Dale, die Stimme voller Emotionen. »Es ist ein Mädchen.«
Es ist ein Junge. Jake wurde abrupt aus seinen Erinnerungen gerissen, als die nächste Wehe Colleen traf. »Oh, mein Gott, mein Rücken!«, stöhnte Colleen.
»Das sind Rückenwehen«, erklärte Dr. Walsh, als die Wehe abebbte. »Können Sie sich auf die Seite drehen? Das kann den Schmerz verringern. Und wenn es für Sie in Ordnung ist, kann einer der Sanitäter Druck auf Ihren Rücken ausüben. Manchen Frauen hilft das.«
Nickend rollte Colleen sich auf die Seite. »Aber kann der da das nicht machen?«
Moment. Jake schaute sich um. War er etwa »der da«?
Dr. Walsh schaute ihn fragend an. »Ist das okay für Sie?«
»Äh, klar.« Seltsam, dass Colleen genau ihn dafür wollte. Er hatte nicht wirklich Lust, den Rücken einer Fremden anzufassen, aber er konnte auch schlecht Nein sagen. Er konnte sich sogar grob daran erinnern. Die Massage während der Wehen. Kerrie und er hatten es beim Geburtsvorbereitungskurs gelernt.
Er gab das Handy einem der Sanitäter, und alle rückten etwas zusammen. Bei jeder Wehe drückte er gegen Colleens unteren Rücken. Es schien zu helfen, und auch ihr Mann konnte sie noch etwas beruhigen, sogar durch das Handy. Die Wehen kamen jetzt in immer kürzer werdenden Abständen.
Schon bald sollte sie anfangen zu pressen. Das alles war genauso überwältigend wie die andere Geburt, die Jake miterlebt hatte. Jake wusste natürlich, dass jeden Tag Kinder auf die Welt kamen, Tausende wahrscheinlich, aber die pure Kraft zu sehen, die diese Frau aufbrachte, um einen kleinen Menschen aus ihrem Körper zu drücken … das überwältigte ihn.
»Ich sehe den Kopf!«, rief Dr. Walsh. »Sie machen das super.« Bei der nächsten Wehe rief sie: »Pressen, pressen, pressen!« Ohne dabei laut zu werden, schaffte sie es, die Kontrolle zu übernehmen. Sie gab definitiv den Ton an, blieb aber völlig ruhig. »Hier kommt sie!«
Jake war nicht nah am Wasser gebaut, aber selbst er musste sich Tränen verkneifen. Da war das Baby. Ein schleimiger, schrumpeliger, winziger Mensch, der vor fünf Sekunden noch nicht da war und jetzt schon.
Komisch, wie kleine Menschen auf die Welt kamen, als wäre es keine große Sache, aber gleichzeitig war es für alle um sie herum eine verdammt große Sache.
Das Gleiche könnte man darüber sagen, wie Menschen die Welt verließen.
Dr. Walsh untersuchte das Baby zunächst mit einem Stethoskop und ein paar Geräten, die ihr die Sanitäter reichten. »Es sieht alles gut aus. Apgar-Score ist Neun.« Sie klemmte die Nabelschnur ab und schnitt sie durch. »Bringen wir sie auf die Trage, bevor die Plazenta kommt.« Sie legte das Baby auf Colleens Brust und deckte beide zu. »Colleen«, fing sie an, wobei ein Lächeln ihre silbrig blauen Augen zum Strahlen brachte. »Sie haben ein wunderschönes, gesundes kleines Mädchen auf die Welt gebracht. Das haben Sie großartig gemacht.«
Kurz darauf lag Colleen mit ihrem Baby auf der Trage und bedankte sich weinend bei Dr. Walsh und den Zuschauern, die sich wieder versammelt hatten und jetzt klatschten und jubelten.
Sawyer war erneut zur Stelle, um die Gruppe aufzulösen. Dabei warf er Jake noch einen eindringlichen Blick zu, den dieser jedoch kopfschüttelnd abwies. Das war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Zum Glück drehte Sawyer sich dann zu Dr. Walsh um. »Sawyer Collins, Polizeichef. Willkommen in Moonflower Bay, Dr. Walsh. Ich denke, ich spreche für alle, wenn ich sage: Wir sind so froh, Sie hierzuhaben.«
Okay, wow.
Das war weit entfernt von einem richtigen Notfall. Etwas früh, aber ansonsten eine komplikationslose Geburt. Dennoch rauschte Adrenalin durch Noras Körper. Diesmal war sie allein gewesen, ganz anders als im Krankenhaus, und hatte kaum Ausrüstung gehabt. Das alles mitten auf der Wiese!
Sie winkte Colleen noch zu und atmete erst mal tief durch, als die Türen des Krankenwagens sich schlossen. Sie brauchte jetzt … was genau? Zunächst musste sie herausfinden, wie sie nach Hause kommen sollte.
»Hey, Dr. Walsh.« Jake tauchte auf. Sie war froh, ihn zu sehen. Er strahlte etwas unheimlich Beruhigendes aus. Er zeigte die Straße runter zu einer Bar – Lawson’s Lager House. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht einen Drink vertragen?«
Ja. Sehr gute Idee. Das war genau, was sie jetzt brauchte.
Allerdings … ihre Klamotten waren voller Fruchtwasser, Blut und Käseschmiere. Sie zeigte an sich herunter.
Sein Blick wanderte nach unten, dann tauchte ein schiefes Lächeln in seinem Gesicht auf. »Also, Law erlaubt Tigers-Fans in seiner Bar, auch wenn ich es nicht gutheiße.«
Direkt auf dem »s« des Tigers-Logos auf ihrem Oberteil war ein dicker Blutfleck. »Auch Tigers-Fans, die wandelnde Biowaffen sind?«
»Los. Ich bringe Sie nach Hause.«
»Ich saue alles ein«, meinte sie, als er ihr die Beifahrertür öffnete. »Ich hätte die Sanitäter noch nach einer sauberen Unterlage fragen sollen.«
»Alles gut, der Truck ist sowieso ein Schrotthaufen.«
»Und ich dachte eigentlich«, fing sie an, als er auf der Fahrerseite eingestiegen war, »dass Männer mit Trucks unheimlich penibel sind, wenn es um ihre Autos geht.«
»Nee.«
Sie schaute sich um. Die Polster der Sitze hatten Löcher und ein paar Flecken, außerdem lag jede Menge Zeug herum. Kein Müll, hauptsächlich Werkzeug, aber auch zusammengefaltete Landkarten und CDs – also wirklich kein Smartphone-Typ. Von außen sah man hier und da Rost oder die eine oder andere Delle. »Also auch kein klassischer Truck-Typ?«, scherzte sie.
»Nope. Nur ein Mittel, um von A nach B zu kommen oder Sachen zu transportieren.«
Dann breitete sich Schweigen aus. Sie versuchte, sich irgendetwas einfallen zu lassen, worüber sie reden könnten. Normalerweise war es ihr unangenehm, schweigend neben Fremden zu sitzen. Wahrscheinlich weil in ihrer lauten Familie immer irgendwer redete. Und Rufus. Rufus hatte immer geredet. Auch in der Notaufnahme vom St. Mike’s hatte es keine ruhige Minute gegeben.
Gerede – der unaufhörliche Soundtrack ihres Lebens.
Jedenfalls früher. Vielleicht gehörte zu Moonflower Bay ein neuer Soundtrack, oder eben die Abwesenheit eines Soundtracks. Stille, wie sich herausstellte, konnte auch schön sein. Zumindest diese Stille war es. Es war angenehm. Jake wirkte nicht wie ein Mensch, dem es etwas ausmachte, zu schweigen.
Ironischerweise wollte sie genau deswegen mehr über ihn herausfinden. »Also, was machen Sie, Jake Ramsey? Was für Sachen bringen Sie in diesem Truck von A nach B?«
»Eigentlich bin ich Fischer.«
»Eigentlich?«
»Na ja, mein Dad war Fischer, bis er vor Kurzem in Rente gegangen ist. Direkt nach der Highschool habe ich angefangen, für ihn zu arbeiten, und später komplett übernommen. Ich habe auch noch das Boot und die Lizenz, ich fahre nur nicht mehr oft raus.«
»Wieso nicht?« Er schaute sie an. Es war kein genervter Blick, eher nichtssagend. »Sorry, geht mich nichts an.«
»Ich habe auch noch zusammen mit Sawyer Collins eine Tischlerei. Er ist der Chief hier, Sie haben ihn vorhin kennengelernt. Da ist ziemlich viel zu tun, also fahre ich nicht mehr so oft raus. Deswegen ist auch das meiste, was ich an Sachen rumfahre, Holz und Werkzeug.« Er bog in ihre Einfahrt und drehte sich zu ihr, während er den Motor abschaltete. »Sie waren, äh, echt beeindruckend eben.«
»Sie waren beeindruckend.« Das stimmte. Ruhig und aufmerksam. »Die Idee, ihren Mann anzurufen, war super. Und Sie sind so gelassen geblieben und gefasst. Die wenigsten reagieren so in Notfällen.« Ihrer Erfahrung nach waren die meisten Zuschauer bei so etwas panisch oder komplett nutzlos.
Als er sprach, schaute er aus dem Fenster, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Ich hatte einen Sohn. Er ist gestorben. Seine Mutter wollte unbedingt eine natürliche Geburt, deswegen haben wir eine Menge Vorbereitungskurse besucht, und ich habe vorher viel dazu gelesen.«
»Oh«, brachte sie nur heraus. »Das tut mir so leid.« Es war das Letzte, was sie von diesem eher grob wirkenden Mann erwartet hätte. »Wie hieß Ihr Sohn?«
Er drehte sich wieder zu ihr, seine Augen waren leicht aufgerissen. Fast als wäre er überrascht? Aber das konnte es nicht sein.
»Er hieß Jude.«
Für einen langen Augenblick starrten sie sich nur an. »Wollen Sie auf einen Drink mit reinkommen? Ich habe Bourbon da.« Sie sah aus dem Fenster zu ihren Einkaufstaschen von vorhin. »Glaube ich.«
Er schaute sie weiter an, aber es war unmöglich, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Ob er dachte, sie wollte sich an ihn ranmachen? Das war das Letzte, was sie während ihres Detox in Moonflower Bay gebrauchen konnte. Außerdem hatte er als Erstes einen Drink vorgeschlagen, sie schlug nur einen anderen Ort dafür vor.
Gerade als die vorher angenehme Stille kurz davor war, in unangenehmes Schweigen umzuschlagen, antwortete er endlich.
»Ich kann nicht.«