Rafael Laguna de la Vera

Thomas Ramge

Sprunginnovation

Wie wir mit

Wissenschaft und Technik

die Welt wieder

in Balance bekommen

Econ

03

Inhalt

Auftakt: Der groSSe Sprung 04

I. Innovationstheater 16

Leben wir eigentlich in

innovativen Zeiten?

II. Maslows Innovationspyramide 48

Welche Sprunginnovationen brauchen wir?

III. Die Besessenen 76

Wer treibt Sprunginnovation voran?

IV. Der unternehmerische Staat 106

Wie kann innovative Politik Innovation fördern?

V. Finanzsprunginnovation 138

Wie überleben Technologien das Tal des Todes?

VI. Open Source, Open Data, Open Innovation 168

Können wir die Welt nicht gemeinsam neu erfinden?

VII. Technikoptimismus 200

Wie wir die Welt mit Wissenschaft und Technik wieder in die Balance bekommen

Quellen und weiterführende Literatur 228

Dank 237

04

04

05

Auftakt

Der grosse Sprung

06

»Innovare« heißt »erneuern«. Es heißt nicht »ein bisschen besser machen«. Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer. Sprung-innovatoren finden mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik eine neue Lösung für ein relevantes Problem. Eine Sprunginnovation zerstört oft alte Märkte und schafft neue. Sie wirkt wirtschaftlich dis-ruptiv und gefährdet jene, die in Pfadabhängigkeiten nur inkremen-tell innovieren, also erfolgreiche Technologien in kleinen Schritten verbessern. Manchmal durchlaufen Sprunginnovationen schmutzige Phasen, bevor sie viel nützen und nicht mehr schaden. Gelingt ein großer wissenschaftlicher und technischer Sprung, zeigt er sich in Bildern und Statistiken, in Sprache und Kunst. Die Welt sieht nach ihm anders aus, und wir nehmen sie anders wahr. Manchmal haben Sprunginnovationen sogar die Kraft, politische Systeme zu Fall zu bringen und neue zu erschaffen.

Die erste Kulturpflanze war eine Sprunginnovation, das Einkorn vor mehr als 10 000 Jahren. Die Erfindung des Segelboots vor 6000 Jahren hat die Welt verändert, wie später der Nagel, der Zement und das Papier. Der Buchdruck und optische Linsen waren Sprung-innovationen und natürlich Dampfmaschine, elektrischer Strom, Foto-apparat und Flugzeug. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kamen viele Innovationssprünge aus Deutschland, die unser Leben bis heute stark prägen: Röntgenapparat, Automobil, Kunstdünger, Aspirin. Doppelte Buchführung, industrielle Stahlproduktion und das Fließband sprunginnovierten weltweit die Wertschöpfung. War Penicillin die größte Sprunginnovation der Medizingeschichte? Oder das Wasserklosett? Oder doch die Anti-babypille? Die Digitalcomputer der 1940er-Jahre lösten die digitale Revolution und eine

Eine Sprung-innovation verändert unser Leben grund-legend zum Besseren und macht es nicht nur ein wenig bequemer.

07

Auftakt

Der grosse Sprung

Reihe von Sprunginnovationen aus, darunter Mikrochip, den PC und natürlich das Internet, das unser Leben in den letzten drei Jahrzehnten so stark verändert hat wie keine andere neue Technologie.

Mit dem echten Internet-Smartphone, 2007 von Steve Jobs in die Welt gebracht, tragen wir eine Sprunginnovation in der Tasche und können die Finger nicht mehr von ihr lassen. Die Sprunginnovation der mRNA-Impfstoffe hilft uns, mit Wissenschaft und Technik aus Mainz und Tübingen die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, die Corona-Pandemie, zu bewältigen und uns gegen neue Epidemien zu wappnen. Was kommt als Nächstes? Niemand kann es sicher wissen, denn die Unberechenbarkeit liegt im Wesen der Sprung-innovation. Wohl aber kann man ihr auf die Sprünge helfen. Die Bundesagentur für Sprunginnovation (SPRIND) sucht seit Sommer 2021 in einem offenen Ideenwettbewerb nach einer radikal besseren Lösung, mit der Pharmakologinnen* künftig sehr viel schneller Medikamente gegen Viren entwickeln können. Wissenschaft und Technik sind bei der antiviralen Wirkstoffentwicklung erstaun-lich erfolglos. Trotz steigender Gefahr werden beschämend wenige neue Wirkstoffe zugelassen. Hier braucht es endlich einen großen Sprung mit einem Medikament mit Breitbandwirkung ähnlich wie bei Antibiotika, nur eben nicht gegen bakterielle Krankheitserreger, sondern gegen Viren.

Dies ist ein Buch von zwei Technikoptimisten. Wir sind davon überzeugt, dass Wissenschaft und Technik in den kommenden Jahr-zehnten viele Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit finden werden. Sie werden uns grüne Energie aus Wind und Sonne, Wasserkraft und Kernfusion im Überfluss bringen. Diese könnte so günstig sein, dass es sich kaum noch lohnt, sie abzurech-nen. Durch CO2-freie Energie für weniger als zwei Cent pro Kilo-wattstunde lassen sich Armut und Hunger weltweit radikal senken. Mit ihr können wir der Atmosphäre in großen Mengen Kohlendioxid

*In unserer Wahrnehmung gibt es noch keine gute Lösung für geschlechter-faire Sprache. Wir werden in diesem Buch deshalb

immer wieder,

konsequent inkonsequent, das gene-

rische Femini-num sowie das Gerundium einstreuen.

08

entziehen und den Klimawandel aufhalten. Die Welt wird dadurch deutlich friedlicher werden. Weniger Menschen müssen dann aus ihrer Heimat fliehen.

Forschende der Biomedizin verstehen derweil den Bauplan des Lebens immer besser. Mithilfe von Gentechnologie und Gesund-heitsdatenrevolution stehen wir an der wissenschaftlichen Schwelle, die großen Krankheiten kleinzukriegen: Krebs und Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten, psychische Erkrankungen und Lähmungen, Blindheit und schwere Hörschäden. Wir hoffen, dass es gelingt, den Alterungsprozess der Zellen deut-lich zu verlangsamen, damit wir gesünder älter werden können. Und vielleicht sogar Zeit mit Ururenkeln verbringen können.

Durch Wissenschaft und Technik werden wir Biodiversität erhal-ten und Tierschutz stärken. Denn ultraintensive Landwirtschaft, gerne vertikal und mit resistenten Züchtungen, kann Flächenverbrauch für Nahrungsmittelproduktion reduzieren. Fleisch kommt hoffentlich alsbald nicht mehr aus dem Mastbetrieb, sondern naturidentisch aus einer riesigen Petrischale. Wir werden elektrisch fliegen, in autono-men Drohnen, die keine Straßen brauchen. Für die Langstrecke gibt es CO2-neutrale Kraftstoffe, und vielleicht nehmen wir beim Flug nach Australien alsbald eine (zeitliche) Abkürzung durchs All. Digital sprunginnovierte Bildung wird so viel Spaß machen wie ein gutes Computerspiel, mit Robolehrern und menschlichen Pädagogen, die Peer Learning in Kleingruppen coachen. Vielleicht macht diese Art Bildung dann sogar ein wenig süchtig.

Wir wagen die Prognose: In zehn Jahren werden wir alle KI-Assistenten benutzen, die uns bei unseren Entscheidungen unterstützen und dabei unsere Interessen vertreten, und nicht jene von Amazon, Google oder Apple. Wir werden in den kommenden zwanzig Jahren ein System entwickeln, um große Asteroiden umzulenken, die auf die Erde zusteuern. Und obwohl zumindest einer von uns beiden

09

Auftakt

Der grosse Sprung

Autoren nicht bereit wäre mitzufliegen: Wir hoffen, dass wir bis 2050 eine dauerhafte Kolo-nie auf dem Mars gründen. Warum? Weil das uns Menschen helfen wird, unseren alten Ent-deckergeist neu zu entdecken und wieder den Mut zu entwickeln, wirklich große Sprünge zu wagen. Dieser Entdeckergeist ist so dringend nötig wie zu Zeiten von Christoph Kolumbus und Marco Polo.

Neue Technologie muss die Fehler alter Technologie wieder ausbügeln. Nur durch Inno-vationssprünge werden wir wirtschaftlich und ökologisch aus Pfadabhängigkeiten wieder herausfinden, in die wir uns seit der Industrialisierung begeben haben und in denen wir fest-zuhängen scheinen wie die Nadel eines Plattenspielers in der Rille einer Schallplatte mit tiefem Kratzer. Für Deutschland, das Land des Automobils und der Spaltmaße, gilt dies ganz besonders. Global gese-hen kann uns nur radikal bessere Technologie helfen, die wachsende Weltbevölkerung ressourcenschonend zu versorgen, den Weltfrieden zu wahren und regionale Kriege zu vermeiden. Dazu müssen wir uns jedoch zunächst von einem Gegenwartsmythos verabschieden: Wir leben in weniger innovativen Zeiten, als wir oft glauben.

Zu Beginn dieses Buches werden wir zeigen: In den letzten fünf-zehn Jahren kam der Fortschritt allenfalls in Trippelschritten voran. Die angeblich so disruptiven Plattformen aus dem Silicon Valley lösen Probleme, die wir eigentlich nie hatten. Auch vor Amazon konnten wir schon ganz gut einkaufen, vor Airbnb in Urlaub fahren und vor Uber ein Taxi telefonisch bestellen. Auch wir Autoren, Rafael und Thomas, hängen ständig auf Twitter und wollen die Bequemlichkeit einiger digitaler Dienste nicht mehr missen. Und ja, ein selbstfahrendes Auto wäre schon eine feine Sache. Aber selbst dieser Innovations-

Nur durch Innovations-sprünge werden wir wirtschaft-lich und ökologisch aus Pfad-abhängigkei-ten wieder herausfin-den, in die wir uns seit der Industri-alisierung begeben haben.

10

sprung erschiene uns deutlich kleiner als jener bei der Erfindung des Fahrrads. Das Fahrrad machte das Reisen nicht bequemer, es vervielfachte den Bewegungsradius eines großen Teils der Bevöl-kerung. Es war eine Ermächtigungsinnovation. Das selbstfahrende Auto macht uns zu Beifahrern. Was wir zurzeit allenthalben sehen, ist die Simulation von Innovation. Innovationstheater. Rasenden Technologiestillstand.

Eine Kernbotschaft dieses Buches lautet: Wir brauchen keine weiteren Apps, Gadgets, Plattformen und digitalen Geschäftsmodelle, die unser Leben angeblich einfacher machen, aber uns de facto infan-tilisieren und überwachen. Wir brauchen also genau nicht jene Art von Scheininnovation, für die weltweit nahezu unbegrenzt Risikokapital zur Verfügung steht. Wir brauchen sprunghafte Innovationen, die das Leben einer größtmöglichen Anzahl von Menschen in größtmöglichem Umfang besser macht. Sinnvollen und sinnstiftenden Nutzen finden wir, wenn wir den Fokus bei der Suche nach neuen Anwendungen auf menschliche Bedürfnisse richten, von basalen Lebensgrundlagen bis zur Möglichkeit zu individueller Selbstverwirklichung. Hierzu entwickeln wir in Kapitel 2 ein Modell, das wir maslowsche Innova-tionspyramide nennen. Diese Innovationspyramide fußt auf der Ethik des britischen Philosophen und Sozialreformers Jeremy Bentham: auf der Maximierung des Glücks und Minimierung des Unglücks. Wenn wir das Ziel kennen, ergibt sich die Anschlussfrage für das dritte Kapitel: Wer bringt eigentlich Technologie in die Welt, die das Glück möglichst vieler Menschen maximiert und nicht den Gewinn weniger Big-Tech-Unternehmen? In der Sprache der Bundesagentur für Sprunginnovationen heißt die Antwort HiPos, High Potentials.

Sprunginnovatorinnnen und -innovatoren sind Nerds mit Mis-sion. Sie haben ein für andere schwer nachvollziehbares Interesse an einem Spezialgebiet, gerne an der Grenze zu manischer Besessen-

Wer bringt eigentlich Techno-logie in die Welt, die das Glück möglichst vieler Menschen maximiert?

11

Auftakt

Der grosse Sprung

heit. HiPos sind ungewöhnlich resilient gegen Rückschläge. Und sie haben den tief verankerten Wunsch, mit ihrem Wirken auch Wirkung zu erzielen. Sie werden auf den folgenden Seiten eine Reihe dieser Menschen kennenlernen. Sie werden nach der Lektüre von Kapitel 3 besser verstehen, welche Rahmenbedingungen diese HiPos mit gelegentlich komplexer Persönlichkeitsstruktur brauchen, sodass die »Nerds die Welt retten können«, wie die Schriftstellerin Sybille Berg hofft. Mit den notwendigen und hinreichenden Rahmenbedin-gungen für Sprunginnovationen befassen wir uns dann im mittleren Teil des Buches.

Wie kann der Staat zugunsten der Sprunginnovationen sinn-voll unternehmerisch tätig werden? Die USA und China machen in zwei unterschiedlichen Modellen vor, wie ein »Entrepreneural State« (Mariana Mazzucato) erfolgreich Technologieentwicklung beschleunigt, Wertschöpfung im eigenen Land hält und natürlich auch geopolitische Interessen verfolgt oft auf Kosten der technolo-gischen Souveränität in Europa. An dieser Stelle werden wir genauer hinschauen, wie die US-amerikanische Innovationsagentur DARPA arbeitet und warum sie Sprunginnovationen in Serie hervorbringt. Spoiler Alert: Das Internet, GPS und Rettungsroboter gehören dazu. Und auch bei der mRNA-Technologie hat die DARPA übrigens maß-geblich mitgemischt.

Deutschland und die Europäische Union können von Unterneh-merstaaten lernen, im »Tal des Todes der Innovation« als risikofreu-dige Akteure aufzutreten. Das Tal beginnt, wo die Förderung von Grundlagenforschung endet, aber die Technologie noch nicht reif für einen Markt ist. Wagniskapitalgeber sind keineswegs so wage-mutig, wie der Begriff vermuten lässt. Der Staat muss hier zum einen viel stärker seine Einkaufsmacht nutzen, indem er hochinnovative Produkte bestellt, bevor sie kommerziell ausentwickelt sind. Das müssen nicht zwingend Impfstoffe oder Quantencomputer sein.

12

Auch 1000 Kilometer rissfester Straßenbelag (bei kalten Wintern) oder 100 000 Wohnungen in gutem Ökostandard für 1500 Euro pro Quadratmeter wirken gesellschaftlich sprunginnovativ. Zwei-tens coinvestieren erfolgreiche Unternehmerstaaten wie die USA, Taiwan, Südkorea, Singapur und natürlich auch China massiv in Innovationen und machen dabei volkswirtschaftlich gerechnet einen sehr guten Schnitt. Staat und Gesellschaft haben ein anderes Rück-flussmodell als Wagniskapitalfonds. Bei Letzteren zählt nur das Geld, in Gesellschaften auch bessere Gesundheit, gute Arbeit, saubere Umwelt, höhere Steuereinnahmen, erfolgreicher Strukturwandel und geopolitischer Anspruch.

Bemerkenswert dabei ist: Kapital ist nicht die knappe Ressource. Allein das Geldvermögen der Privathaushalte in Deutschland beträgt rund 7 Billionen Euro. Die knappe Ressource ist Risikointelligenz. Wir müssen endlich verstehen: In Zeiten technologischer Paradigmenwech-sel besteht das größte Risiko darin, keine Risiken einzugehen und auf die lineare Fortschreibung der Gegenwart zu setzen. Doch genau das tun wir mit unserem volkswirtschaftlichen Fimmel für »mündelsichere Anlagen« und unserer Skepsis gegenüber Wagniskapital, besonders wenn es in der Wachstums- und Exitphase ums Klotzen geht und nicht ums Kleckern bei den Frühphasen-Investitionen von Start-ups. Wie profitabel Klotzen auch für Staatshaushalte sein kann, hat jüngst die Bundesbeteiligung an CureVac gezeigt und dies sogar trotz der Rückschläge bei der Zulassung des Impfstoffs. Umso bedenklicher ist, dass die wenigen Rosinen hochinnovativer Start-ups aus Deutschland von nichteuropäischen Investoren gepickt werden, sobald sich ihr Erfolg abzeichnet und dreistellige Millionenbeträge für den letzten Sprung zum Weltunternehmen mit Technologieführerschaft nötig sind. Fünf Prozent von 7 Billionen Euro sind 350 Milliarden Euro. Dies wäre eine sinnvolle Risikostreuung einer Gesellschaft, die technologische Zukunft mitgestalten und an dieser mitverdienen möchte.

13

Auftakt

Der grosse Sprung

Mindestens genauso wichtig erscheint uns allerdings ein dritter Punkt: der ganz formale Wahnsinn in Forschung- und Technologie-entwicklung. Wenn es Deutschland und Europa nicht endlich gelingt, Förderbürokratie und Beihilferecht radikal zu entrümpeln, die des-truktive Absicherungsmentalität in den Entscheidungsprozessen zu reduzieren und den Innovierenden weniger Steine in den Weg zu legen, wird das nichts mit der viel beschworenen technologischen Souveränität Europas. Dann können wir direkt den hehren Plan wie-der vergessen, Technologie auf Grundlage humanistischer Werte zu entwickeln und ein attraktives Gegenmodell zum amerikanischen Turbo-Tech-Kapitalismus und zur digitalen Diktatur Chinas zu bauen. Im Gegenzug ist für uns Autoren als rationale Optimisten auch voll-kommen offenkundig: Europa hat heute die große Chance, sich als innovativer Kontinent neu zu erfinden und die Welt mit Wissenschaft und Technik besser auszubalancieren.

Wir haben die Forscherinnen. Wir haben die Ingenieure. Wir haben das Kapital. Europa muss seine Sprunginnovierenden endlich machen lassen. Der deutsche Staat kann mit innovativer Förderpolitik dabei helfen, eine neue Kultur offener Innovation zu schaffen. Diese Kultur des kooperativen Wettbewerbs um die besten technischen Lösungen für soziale Probleme wird auf den Prinzipien der Open-Source-Entwicklung aufbauen. Die EU kann mit einer Erweiterung der Datenschutzgrundverordnung zur Datennutzgrundverordnung allen Innovierenden Zugang zu Daten verschaffen, die Fortschritt im Sinne Benthams fördern. Und Brüssel kann auch das Patentrecht in eine sinnvolle Balance bringen. Hierbei muss der Anreiz gewahrt bleiben, in Innovation zu investieren. Im Gegenzug muss Lizensie-rung mit sogenannten Fair-Use-Modellen vereinfacht werden, um die Verbreitung von Technologie zu beschleunigen. Wie das möglich ist, lesen Sie im sechsten Kapitel.

14

Wir wagen noch eine Prognose: Einige von Ihnen, liebe Lese-rinnen und Leser, werden unser Zukunftsbild in diesem Buch als zu technikbestimmt und technikoptimistisch wahrnehmen. Einige werden diesen Optimismus gar als naiv empfinden. Das können wir nachvollziehen, zumindest teilweise. Und auch wir haben Odo Marquards klugen Essay »Zukunft braucht Herkunft« zum Fetisch der Innovation gelesen. Und seinen Hinweis: Das Neue muss bewei-sen, dass es besser ist als das Alte. Nicht umgekehrt. Das stimmt. Doch allein das Alte und Erprobte erscheint uns in Anbetracht von mehreren existenziellen Bedrohungen der Menschheit nicht mehr so wirklich zukunftsfähig.

Wir werden die notwendigen Veränderungen für Wirtschaft und Umwelt, körperliche und seelische Gesundheit, Partizipation und Fair-ness in einer Weltgesellschaft mit Innovationssprüngen schaffen. Pes-simismus ist Zeitverschwendung und macht schlechte Laune. Schlim-meres verhindern, die Gegenwart konservieren, keine Experimente wagen sind keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Zum Abschluss dieses Buches zeichnen wir deshalb ein Wimmelbild einer Zukunft, in der Sprunginnovationen unser Leben noch besser machen, als es heute bereits ist, in all seiner bunten Vielfalt, mit all seinen Chancen und Freuden. In diesem Bild einer wünschenswerten Zukunft löst Technologie echte Probleme wie Übergewicht und Menstruationsschmerzen. Waffenproduktion lohnt sich finanziell nicht mehr, und Politikerinnen und Bürger reflektieren evidenzbasiert auf einer Super-Wikipedia, nicht aggressionsbasiert auf Twitter. Gesetze und Verordnungen haben in dieser Zukunft Ablaufdaten. Was die Dinge unnötig verkompliziert, fällt dann irgendwann automatisch weg. Und wir spe-kulieren über mögliche Abkürzungen zum nächsten

Wir haben die Forsche-rinnen. Wir haben die Ingenieure. Wir haben das Kapital. Europa muss seine Sprung-innovieren-den endlich machen lassen.

15

Auftakt

Der grosse Sprung

Exoplaneten. Letzteres ist freilich als gedankliche Übung gedacht. Denn bevor unsere Roboternachfahren interstellar reisen werden, müssen wir innerhalb unserer planetaren Grenzen große Sprünge wagen. Die Startrampe hierfür hat in den 1940er-Jahren der Philosoph Ernst Bloch gebaut. Den lesen wir noch lieber als Marquard.

Bloch hat die konstruktive Kraft der konkreten Utopie erkannt, und die Rolle der Wünsche und Sehnsüchte auf dem Weg dorthin. Wünschen wir uns eine gute Zukunft. Dann können wir diese gute Zukunft auch entwickeln, mit Erfindergeist und technischer Expertise, auf Grundlage humanistischer Werte und mit Freude am Fortschritt.

16

16

17

Innovationstheater

Leben wir eigentlich in innovativen Zeiten?

18

Das beste Ding der Welt

Vor ungefähr 11 500 Jahren kam ein Genie in Vorderasien, vermut-lich am Südrand des Taurusgebirges, auf eine interessante Idee. Die Frau oder der Mann steckte einen Samen in die Erde und wartete, bis die Pflanze keimte, wuchs und schließlich Früchte trug. Wir wissen heute nicht, wie das Genie auf diese Idee kam und welche Beobach-tungen dem Experiment vorausgingen. Wir wissen nicht, um welche Pflanze es sich handelte, vielleicht eine Wildgetreidesorte oder ein Beerenstrauch, und ob die Innovatorin oder der Innovator die erste Kulturpflanze der Menschheitsgeschichte bereits goss oder sonst wie pflegte. Das ist wohl eher unwahrscheinlich, Gießkanne und Gartenschere ließen noch viele Jahrtausende auf sich warten. Aber gesichert ist: Die Idee, ihre Umsetzung und Skalierung veränderten die Welt radikal.

Die Fähigkeit, Pflanzen anzubauen, ermöglichte es den Menschen der Jungsteinzeit, sesshaft zu werden und Ackerbau und systema-tisch Viehzucht zu betreiben. Vor rund 700 000 Jahren lernten unsere Urahnen, Feuer zu machen. Doch erst das geglückte Experiment mit dem Samen ermöglichte den Sprung vom nomadischen Jäger und Sammler zum Bauern. Die neolithische Revolution hatte begonnen, und das Feld für technischen und sozialen Fortschritt war bestellt.

Was war die wichtigste Innovation der Menschheitsgeschichte? Die Fähigkeit, Pflanzen zu züchten, oder doch das Rad, das übrigens deutlich jünger ist als die Zuchtpflanze, nämlich rund 6000 Jahre. Oder war es die erste Rechenmaschine, der Abakus, erfunden vor weniger als 5000 Jahren? Das Papiergeld, die Dampfmaschine oder die Pasteurisierung? Die weltliche Zeitmessung mit Uhren, erfunden im 15. Jahrhundert, der Buchdruck oder der elektrische Strom? Das Radio, das Flugzeug oder der Stahlbeton? Könnte es das Fließband in die Top Ten schaffen? Oder das Penizillin, die Antibabypille oder

19

Innovationstheater

Leben wir eigentlich in innovativen Zeiten?

das Arpanet als Vorläufer des Internets oder die ikonische Innovation unserer Zeit, das iPhone, in die Welt gebracht von einem Mann, des-sen Ziel es war, »eine Delle ins Universum zu schlagen«? Und sind die Schrift und die Demokratie eigentlich auch Innovationen und gehören sie in diese Aufzählung?

Die Frage nach einer Rangfolge der besten Erfindungen aller Zei-ten ist ein spaßiges Spiel, besonders mit Kindern und Jugendlichen. Die Suche nach der Antwort gibt uns ein Gefühl dafür, wie Wis-sen und Technologie, oft in Verbindung mit Sozialtechniken, immer wieder Gesellschaften durchdrungen, sich regional verbreitet, zuneh-mend weltweit und mit größerer Geschwindigkeit, und dann zu Fort-schrittsschüben geführt haben. Wissenschaftlich sauber begründen ließe sich die Allzeit-Innovationsbestenliste allerdings nur, wenn wir konsistente Fortschrittskriterien über die Jahrtausende technischer Entwicklung definieren und dann diesen Fortschritt auch noch mit sinnvollen, ebenfalls konsistenten Maßeinheiten quantifizieren könn-ten. Das ist ein schwieriges, ja sogar vermutlich unmögliches Unter-fangen. Die Kriterien müssten normativ gesetzt werden, wären also selbst aus subjektiven Werten und Präferenzen abgeleitet. Die Daten-grundlage über den Lauf der Jahrtausende würde ohnehin fehlen. Die amerikanische Technikhistorikerin Leslie Berlin hat sich vor einigen Jahren dennoch an eine systematische Annäherung der fünfzig wich-tigsten Durchbruchsinnovationen der Menschheitsgeschichte gewagt; unterstützt von einer Gruppe von zwölf Innovationsexpertinnen und -experten, Wissenschaftlerinnen und Unternehmern, Philosophin-nen, Managern und Autoren.

Berlins erster Schritt der Objektivierung war es, eine Taxono-mie der großen Innovationen zu finden, also eine systematisch sinn-volle Unterteilung in Anwendungsfelder, in denen Wissenschaft und Technologie im Sinne von Fortschritt wirkt. Daraus ergaben sich ins-gesamt sieben Kategorien wie Innovationen, die »unsere geistigen

20

1. DIE DRUCKERPRESSE, 1430ER JAHRE

2. ELEKTRIZITÄT, ENDE DES 19.Jhs.

3. PENICILLIN, 1928

4. HALBLEITERELEKTRONIK, MITTE DES 20.Jhs.

5. OPTISCHE LINSEN, 13.JH.

6. PAPIER, 2.JH. N. CHR.

7. DER VERBRENNUNGSMOTOR, ENDE DES 19.Jhs.

8. SCHUTZIMPFUNG, 1796

9. DAS INTERNET, 1960ER JAHRE

10. DIE DAMPFMASCHINE, 1712

11. STICKSTOFFFIXIERUNG, 1918

12. ABWASSERSYSTEME, MITTE DES 19.Jhs.

13. KÄLTETECHNIK, 1850ER JAHRE

14. SCHIESSPULVER, 10.Jh.

15. DAS FLUGZEUG, 1903

16. DER ›PERSONAL COMPUTER‹, 1970ER JAHRE

17. DER KOMPASS, 12.JH.

18. DAS AUTOMOBIL, ENDE DES 19.Jhs.

19. INDUSTRIELLE STAHLERZEUGUNG, 1850ER JAHRE

20. DIE ANTIBABYPILLE, 1960

21. KERNSPALTUNG, 1939

22. DIE GRÜNE REVOLUTION, MITTE DES 20.Jhs.

23. DER SEXTANT, 1757

24. DAS TELEFON, 1876

25. ALPHABETISIERUNG, ERSTES JT. V.CHR.

26. DER TELEGRAF, 1837

27. DIE MECHANISIERTE UHR, 15.Jhs.

28. DAS RADIO, 1906

29. FOTOGRAFIE, FRÜHES 19.Jhs.

30. DER SCHARPFLUG, 18.Jhs.

31. ARCHIMEDISCHE SCHRAUBE, 3.JH. V. CHR.

32. DIE BAUMWOLLENTKÖRNUNGSMASCHINE, 1793

33. PASTEURISIERUNG, 1863

34. DER GREGORIANISCHE KALENDER, 1582

35. ÖLRAFFINATION, MITTE DES 19.Jhs.

36. DIE DAMPFTURBINE, 1884

37. ZEMENT, 1.JT. V.CHR.

38. WISSENSCHAFTL. PFLANZENZÜCHTUNG, 1920ER JAHRE

39. ÖLBOHRUNG, 1859

40. DAS SEGELBOOT, 4.JT. V. CHR.

41. RAKETENTECHNIK, 1926

42. PAPIERGELD, 11.Jh.

43. DER ABAKUS, 3.JT. V.CHR.

44. KLIMATISIERUNG, 1902

45. FERNSEHEN, ANFANG 20.Jh.

46. ANÄSTHESIE, 1846

47. DER NAGEL, 2.JT. V. CHR.

48. DER HEBEL, 3.JT. V. CHR.

49. DAS FLIESSBAND, 1913

50. DER MÄHDRESCHER, 1930ER JAHRE

21

Innovationstheater

Leben wir eigentlich in innovativen Zeiten?

Fähigkeiten erweitern«, »physische Infrastrukturen ermöglichen«, »das Leben verlängern«, »Menschen und physische Güter bewegen«, »Echtzeitkommunikation ermöglichen« oder »organisationale Durch-brüche«. Die Mitglieder der Expertengruppe konnten dann an diesen Kategorien entlang ihre Favoriten an Durchbruchsinnovationen ein-reichen, und es wurde abgestimmt.

Auch dem Expertenpanel war klar: Diese Liste kann weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Objektivität erheben. Aber mit Bildern auf einen Zeitstrahl unterlegt, gibt sie einen guten Über-blick, wann Wissenschaft und Technik die Menschheit in welchen Bereichen vorangebracht und unser Leben verbessert haben. Sie zeigt deutlich die Beschleunigung des technischen Fortschritts ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre, als in Hochtaktfrequenz die großen Entdeckungen gemacht und in technische Lösungen und Produkte gewandelt hat, die unser Leben und unsere Wirtschaft, unsere Medizin und unsere gesellschaftliche Organisation bis heute so stark prägen.

Ein Blick auf dieses Schaubild lässt auch Technikoptimisten wie uns Autoren wegen der Innovationsleistung vergangener Generatio-nen ein wenig nachdenklich und demütig zurück. Die Grafik wirft die Frage auf: Haben wir Menschen »Peak Innovation«, den Höhepunkt technisch-kreativer Schaffenskraft, vielleicht längst überschritten, und werden Sprunginnovationen immer seltener? Es könnte ja sein, dass die niedrig hängenden Früchte des Fortschritts längst geerntet sind wie jene des jungsteinzeitlichen Genies, das einen Samen in den Boden steckte und wartete.

The Atlantic

The 50 Greatest Breakthroughs Since the Wheel

22

Hyperscaling und die Grosse Stagnation

Leben wir in besonders innovativen Zeiten? Oder leiden wir unter Gegenwartseitelkeit, wie der Trendforscher Matthias Horx es nennt? Kommt der technische Fortschritt de facto nur in Trippelschritten voran trotz allen Getöses um Innovation? Gegenwartseitelkeit wäre dann die Folge von rasendem Technologiestillstand.

Gedankenexperiment: Es kommen ein paar freundlich gesinnte außerirdische Innovationsforschende auf unseren Planeten. Sie füh-ren mit ihren hiesigen Kolleginnen und Kollegen, Sachkundigen und wirtschaftlichen Akteuren auf dem weiten Feld von Innovation und Technologie viele Tiefeninterviews über die innovative Gesamtlage der Erde. Vermutlich diagnostizierten diese freundlichen außerirdi-schen Beobachter der Menschheit insgesamt eine tiefe Spaltung und bei vielen Individuen eine tiefe innere Zerrissenheit. Denn stellen wir uns vor

die außerirdischen Innovationsforscher tummelten sich zunächst auf Start-up-Konferenzen in San Francisco, Lissabon und Shenzhen. Dort lauschten sie den auf TED-Talk-Format gebürsteten Präsentationen der Gründerinnen und Gründer mit ihren Narrativen rund um Disruption und Hyperscaling, die nicht nur extreme Profite für ihre Start-ups erzielen werden, sondern eine rundum bessere Welt ermöglichen. Die Außerirdischen folgten den mächtigen amerika-nischen und chinesischen Wagniskapitalgebern auf Twitter- und LinkedIn und zudem auch noch Ray Kurzweil (Singularity!), Brian Roemmele (consider!) und dem Corporate Account von Bits & Pretzels. Die Besucher besuchten Einweihungsfeiern von Innovationslaboren, Innovationshubs und Company Incubators großer europäischer Kon-zerne. Sie hörten KI-Forschenden, Blockchain-Entrepreneuren und Design-Thinking-Beratern zu und studierten »Roadmaps für digitale Transformation«. Die Außerirdischen probierten bei einem Dinner

23

Innovationstheater

Leben wir eigentlich in innovativen Zeiten?

in einem sehr teuren Restaurant im Silicon Valley Fleisch aus dem Labor, das wirklich wie Fleisch von der Kuh schmeckt. An ihrem Tisch säßen sie mit Menschen, die sagen, dass sie bald den Alterungs-prozess der Zellen aufhalten und damit auch den Tod besiegen kön-nen. Vielleicht tränken die Besucher auch noch konventionellen Kaf-fee in Brüssel, Washington und Peking mit Forschungspolitikerinnen und -bürokraten und studierten deren Förderpläne mit vielen Zahlen mit vielen Nullen, sauber hinterlegt mit zeitlichen Zielmarken für Quantencomputer und Kernfusion.

Auf dem Weg ins Hotel läsen die Gäste auf Techcrunch und Businessinsider, dass ein gewisser Elon Musk zu den drei reichs-ten Menschen der Erde zählt. Sie erfahren, dass dieser Musk nicht nur den Verbrennungsmotor ins Technikmuseum verabschiedet und das selbstfahrende Auto baut, sondern nebenher auch noch eine sehr erfolgreiche Raketenfirma betreibt und alsbald eine Kolonie auf dem Mars gründen möchte, mit Menschen, die mittels seines »Neura-link« zu Cyborgs aufgerüstet worden sind. Spätestens wenn sie auch noch mitbekämen, dass der (je nach aktuellem Aktienstand meistens) reichste Mensch der Welt, Jeff Bezos, der in den letzten beiden Jahr-zehnten das Einkaufen mit Empfehlungsalgorithmen und Logistik sowie Computeranwendungen mit Cloudangeboten revolutioniert hat, aus seinem Kerngeschäft aussteigt, um ebenfalls mit eigenen Rake-ten in den Weltraum fliegen zu können, spätestens dann hätte sich bei diesen freundlich gesinnten Innovationsforschenden von einem fernen Exoplaneten der Eindruck verfestigt: Die Menschen auf der Erde sind offenbar wirklich extrem innovativ. Sie könnten beein-druckt wieder abreisen, es sei denn, sie treffen zuvor auf kluge, aber skeptische Köpfe wie Tyler Cowen, Robert J. Gordon und Lee Vinsel.

Die drei Ökonomen mit Expertise in Technikgeschichte und Techniksoziologie drückten den externen Gästen womöglich ihre Bücher The Great Stagnation, The Rise and Fall of American Growth

24

und The Innovation Delusion in die Hand. Nach der Lektüre wären die Besucher hochgradig verunsichert, weil volkswirtschaftliche, his-torische und kulturelle Indikatoren auch den gegenteiligen Schluss zulassen: Die Menschheit durchschreitet gerade eine innovative Durststrecke, und niemand weiß, ob diese jemals endet.

Das wichtigste ökonomische Argument für eine aktuelle Phase mit gedämpfter Innovationswucht liefert der Zuwachs an Produkti-vität im historischen Vergleich. Cowen und Gordon beschreiben mit Beispielen und Zahlen, dass die großen Wohlstandszuwächse in den Jahren 1870 bis 1970 von den Produktivitätszuwächsen durch Tech-nologie gefüttert wurden. Die großen Erfindungen und ihre rasche Verbreitung im »Goldenen Zeitalter der Innovation« Strom und Telefon, Eisenbahn und Auto, Plastik und Beton, Wasserklosetts und Antibiotika, Fernseher und Kühlschränke hätten zu einem ein-maligen und in der Innovationsgeschichte auch auf absehbare Zeit nicht wiederholbaren Schub durch Technologie geführt. Die Einzig-artigkeit sehen die beiden Ökonomen durch den technisch geebne-ten Übergang von einer agrarisch geprägten Wirtschaft hin zu einer Industrie- und Dienstleistungsökonomie begründet. Der Sprung zur viel beschworenen Wissensökonomie, befördert vor allem durch Informationstechnologie, scheint im Vergleich eher klein. Zudem ist der Übergang offenkundig fließend, man könnte auch sagen zähflie-ßend, da die sogenannte Wissensökonomie nach wie vor sehr starke industrielle Züge trägt.

Weder Tyler Cowen noch Robert Gordon betrachten sich dabei als Feinde des technischen Fortschritts. Sie haben nichts gegen soziale Durchbrüche mithilfe technischer Lösungen und gehören auch nicht zu den Predigern des Verzichts. Sie schätzen nur die Innovationshöhe und Wirkung der technischen Entwicklungen seit dem Durchbruch des Internets durch das World Wide Web sehr viel niedriger ein, als dies euphorisierte Entwicklerinnen, Finanziers, Verkäuferinnen

25

Innovationstheater

Leben wir eigentlich in innovativen Zeiten?

und Nutzer oft machen. Nüchtern betrachtet, so die Ökonomen, sind Onlineshopping und soziale Medien, Carsharing-Apps und Video-konferenzen sowie das Smartphone im Vergleich inkrementell bes-sere Anwendungen. Entsprechend lassen sich mit ihnen auch nicht so hohe Wohlstandsgewinne erzielen wie mit echten technologischen Durchbrüchen vom Schlage des Fahrrads, das einst den Bewegungs-radius sehr vieler Menschen im Alltag von fünf Kilometern als Fuß-gänger auf zwanzig bis dreißig Kilometer erweiterte. Bezogen auf den volkswirtschaftlichen Nutzen dürfte das Fahrrad bis heute zu den unterschätztesten Sprunginnovationen gehören und, wie der aktu-elle Fahrradboom zeigt, auch zu den langlebigsten. Auch das wusste Steve Jobs, als er den Computer das »Fahrrad fürs Gehirn« nannte.

Im wissenschaftlichen Detail stützen die Skeptiker unter den Fortschrittsforschern ihre Einschätzung vor allem mit der histori-schen Zeitreihe der sogenannten Totalen Faktorproduktivität. Diese beschreibt jenen Teil der Entwicklung von Produktivität, den Öko-nomen nicht Veränderungen der klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital zuordnen können. Es ist plausibel, dass der »unerklärte Rest« von Auf- und Abschwung der Produktivität stark mit dem Nutzen neuer Technologien in Verbindung steht. Wer diesen Grundannahmen folgt, dem erscheint mit Blick auf diese Zeit-reihe auch plausibel, die den Innovationen 19. 20. vergleichsweise zu Innova-realisiert sind. ähnliche wäre wieder erwarten, durch eine sozio-Veränderung wird am von Jäger-und-Sammler-Gesellschaft Ackerbau Viehzucht von frühneuzeitlichen zur