Jan-Werner Müller
Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit
Wie schafft man Demokratie?
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Suhrkamp
Demokratie? Es wäre eine Illusion, wenn wir annähmen, wir hätten sie bereits, um dann entweder mit ihr zufrieden zu sein oder sie als mangelhaft zu kritisieren. Sie ist jenes Spiel der Möglichkeiten, das in noch naher Vergangenheit entstand und das wir in seiner Gänze erst noch zu entdecken haben.
Claude Lefort
Es ist ein Gemeinplatz geworden: Die Demokratie steckt in der Krise. Was genau eine Krise ausmacht, darüber wird gestritten; die Sorge ist berechtigt, dass es sich bei Krisendiagnosen um das handelt, was Saul Bellow einmal als crisis chatter, als Krisengeschwätz, abqualifizierte. Doch so oder so wäre es wichtig, erst einmal eine noch grundsätzlichere Frage zu stellen: Was macht Demokratie eigentlich aus?
Die Gründe für das verbreitete Krisengefühl scheinen auf der Hand zu liegen: Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert finden sich unter den Ländern mit über einer Million Einwohnern mehr Nicht-Demokratien als Demokratien. Und jenseits abstrakter Zahlen arbeitet da noch immer in vielen das doppelte Trauma von 2016, der Brexit und die Wahl eines Reality-TV-Stars zum Präsidenten der ältesten und mächtigsten Demokratie der Welt.
Beweist jedoch die Wahl eines offensichtlich ungeeigneten Kandidaten ins höchste Amt des Landes bereits, dass die Demokratie sich in einer Krise befindet? Oder bestand der Beweis erst darin, dass dieser Mann seine Anhänger in den allerletzten Tagen seiner Amtszeit zum Sturm auf die Legislative aufhetzte? Oder zeigte die amerikanische Demokratie da nicht gerade ihre Widerstands- und grundsätzliche Fähigkeit, einen Schock für das System zu absorbieren?
Nicht jeder Schock signalisiert schon eine Krise. In der ursprünglichen altgriechischen Bedeutung bezeichnet krisis einen Augenblick, in dem Entscheidendes geschieht: Ein Patient stirbt oder erholt sich, ein Angeklagter wird verurteilt oder freigesprochen (tatsächlich war »Urteil« die zweite Bedeutung des Ausdrucks in der Antike).1 Wenn das zutrifft, war Trumps Wahlsieg 2016 dann vielleicht ein Augenblick, in dem in Wirklichkeit die Wähler beurteilt wurden – nämlich als ungeeignet für die Demokratie? Wie wir inzwischen wissen, kann es durchaus zu einer Frage von Leben oder Tod werden, wenn ein Präsident unwahre Behauptungen twittert oder auf Pressekonferenzen herausposaunt – nämlich falls Teile des Publikums ihn während einer Pandemie beim Wort nehmen. Aber untergräbt es die Demokratie schon, wenn jemand Lügen über das Desinfektionsmittel Lysol verbreitet, zusammen mit allerhand anderem Postfaktischen? Und ist es wirklich ein tödlicher Schlag für die Demokratie, wenn ein Land entscheidet, eine supranationale Organisation zu verlassen – und das nach einem Referendum, das die älteste politische Partei der Welt, die Tories in Großbritannien, initiiert hatte? Es gibt alle möglichen Ergebnisse demokratischer politischer Prozesse, die man für verabscheuenswürdig oder irrational halten mag. Doch was sind die Kriterien, mit denen sich ein Augenblick, in dem es wirklich um Leben oder Tod geht, bestimmen ließe? Und gibt es eine Möglichkeit, dies so zu tun, dass diese Kriterien nicht von vorneherein als einseitig parteipolitisch motiviert erscheinen?
All diese Fragen lassen sich nicht beantworten, solange man nicht geklärt hat, was Demokratie eigentlich sein und leisten soll. Gewiss, wir glauben, wir erkennen sie mehr oder weniger deutlich, wenn wir eine vor uns sehen (gemäß der berühmten, von einem US-Richter stammenden Definition von Pornografie: I know it when I see it). Viele Politiker, die entschlossen sind, die Demokratie zu unterminieren, haben allerdings ein beträchtliches Geschick entwickelt, uns glauben zu machen, da sei etwas, obwohl es längst schon verschwunden ist. Was ist wirklich entscheidend für die Demokratie? Sind es primär Wahlen oder verschiedene Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, oder geht es um etwas schwerer zu Fassendes wie kollektive Einstellungen, zum Beispiel dass die Bürger bereit sind, einander zivilisiert und mit Respekt zu begegnen?
Bei der Beantwortung dieser Fragen wird man nicht weit kommen, wenn man nicht zunächst auf Grundprinzipien zurückgeht – eine Art back to basics. Wobei das Verständnis dieser Prinzipien nicht vom Himmel gefallen, sondern bekanntlich in der Geschichte auch immer umkämpft gewesen ist. Dieses Buch will für dieses back to basics eine Route anbieten. Es ist unvermeidlich, dass wir rückwärts in die Zukunft gehen. Doch ein Gefühl dafür zu haben, woher wir kommen und wie der Weg bisher beschaffen war, kann uns helfen herauszufinden, ob wir von unserem Weg abgekommen sind (was allerdings nicht heißt, dass es nur einen einzigen politisch seligmachenden Weg gäbe).
Es wäre falsch, anzunehmen, jegliches Nachdenken über die Demokratie müsste sich heute als Antwort auf die neuen Autoritären verstehen. Man kann aber auch nicht so tun, als wäre gar nichts passiert. Deshalb wird das erste Kapitel dieses Buchs die Frage aufnehmen, die Hillary Clinton nach der Niederlage gegen Trump in ihren Sofortmemoiren stellte: Was ist geschehen? Und warum geschieht es noch immer, obwohl so viele selbsterklärte Verteidiger der Demokratie Alarm geschlagen haben?
Es gibt zwei bequeme, aber letztlich verfehlte Reaktionen. Die eine sieht die Schuld bei den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Man findet diese Position insbesondere bei Liberalen (im weitesten Sinne), die individuellen Rechten den Vorrang geben, mit dem Kapitalismus mehr oder weniger zufrieden sind und Vielfalt schlechthin als wertvoll empfinden – aber sich auch fast obsessiv darum sorgen, die Demokratie könne sich in eine Tyrannei der Mehrheit verwandeln. Viele dieser Liberalen nehmen den oft zitierten »weltweiten Aufstieg des Rechtspopulismus« zum Anlass, endlich einmal wieder ungeniert in den Klischees aus der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts zu schwelgen. Für sie ist immer schon klar, dass die Massen alle erdenklichen Katastrophen über sich selbst gebracht haben und einfache Menschen (falsch informiert, und selbst wenn einigermaßen informiert, vollkommen irrational) stets danach lechzten, sich von Demagogen verführen zu lassen. Die offenkundige Lehre daraus lautet, die Macht wieder den beschönigend so genannten »Gatekeepern« zu geben. Und das heißt im Klartext vielfach: den traditionellen Eliten.2 Kritiker dieser Haltung sahen bereits in der Personalauswahl sowie der Amtseinführungszeremonie Joe Bidens etwas leicht Selbstzufriedenes nach dem Motto: »Wir, die Erwachsenen (und Gatekeeper), übernehmen wieder.«
Konkreter lautet das Argument für liberale »Türsteher« an den Institutionen: Lasst uns den Prozess der amerikanischen Vorwahlen umgestalten, um die Entscheidungsmacht derer zu minimieren, die in den USA oft seltsamerweise everyday citizens, »Alltagsbürger«, genannt werden.3 Lasst uns Schluss machen mit Referenden und anderen unverantwortlichen Übungen in direkter Demokratie. Lasst uns einfach anerkennen, dass Politik ein Beruf (und nichts für Amateure) ist.4 Man darf schließlich nicht vergessen, dass zwei Drittel aller US-Amerikaner mindestens ein Jurymitglied der Fernsehshow American Idol namentlich benennen können, aber nur 15 Prozent wissen, wie der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs heißt.5 Laien mögen eine besonders kunstvolle Politikdarstellung in einer TV-Debatte beklatschen, doch während und insbesondere nach der Sendung sollte man sie auf die Zuschauerbänke verbannen. Wer so denkt – und dabei nicht gerade von der guten alten Demophobie befallen ist, also der Angst vor dem gemeinen Volk –, begründet sein Misstrauen gegenüber den Massen meist gerne mit zeitlosen Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie: Die Menschen neigten eben zu Tribalismus. Konflikte, Polarisierung, Feindseligkeit zwischen Gruppen – das sei der Normalzustand aller Politik. Und wir sollten psychologische Übungen wie »Achtsamkeit«, so der Journalist Ezra Klein, ersinnen, damit gewöhnliche Menschen sich in allem ein wenig mäßigen.6 Wer an den Massen verzweifelt, verweist zudem gerne auf Umfragen, die angeblich zeigen, dass die Menschen weltweit immer mehr dazu tendierten, »starke Führer« oder gar Herrschaft des Militärs zu unterstützen.
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, um diesen wohlfeilen Polit-Pessimismus zu kritisieren. Zunächst einmal sind die meisten Umfragen nicht eindeutig, und noch praktisch nie wurde der Untergang oder das Überleben einer Demokratie durch Volksbefragungen korrekt vorhergesagt. Auch beweisen sie keineswegs abschließend, dass die Menschen tief enttäuscht von demokratischen Idealen wären.7 Es hat schon seine Gründe, wenn die Initiatoren von Staatsstreichen – ob in Thailand oder in Ägypten – die Demokratie nicht offen ablehnen. Sie täuschen Demokratie vor wie General Sisi in Ägypten oder versprechen wie in Thailand eine rasche Rückkehr zur Herrschaft des Volkes, sobald die Verhältnisse dies zuließen (wobei sich bequemerweise stets Gründe finden, warum diese Rückkehr gerade nicht möglich sei).8 Es wäre falsch anzunehmen, wir erlebten derzeit eine unaufhaltsame Welle des autoritären Populismus – oder gar einen »Tsunami«, wie es der englische Brexiteer Nigel Farage formulierte, der offenbar meinte, das Bild einer einfachen Welle werde seiner eigenen weltgeschichtlichen Rolle nicht gerecht. Gewiss haben in vielen Ländern Parteien, die man zu Recht als populistisch bezeichnen kann – und ich werde diesen hochgradig umstrittenen Begriff in Kürze präzisieren –, ihre Wahlergebnisse verbessert. Die Vorstellung, dass allenthalben Mehrheiten unausweichlich nach autoritären Führern riefen, verfehlt jedoch die schlichte Tatsache, dass bis heute noch in keinem westlichen Land eine Partei oder ein Politiker rechtspopulistisch-autoritärer Ausprägung ohne die Hilfe etablierter konservativer Eliten an die Macht gelangt ist.9 Und die Wählerinnen und Wähler dieser Eliten haben nach eigenem Bekunden keineswegs die Absicht, die Demokratie abzuschaffen, wenn sie ihre Stimme konservativen Parteien oder solchen der rechten Mitte geben.
Wie schon ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt (und natürlich sollte man nicht nur kurz in die Geschichte schauen), gibt es nur wenige – und möglicherweise gar keine – Beispiele dafür, dass demokratische Mehrheiten eindeutig mit der Demokratie Schluss machen wollten. Faschistische Schläger marschierten auf Rom, Mussolini jedoch geruhte per Schlafwagen aus Mailand anzureisen, da liberale Eliten und nicht zuletzt der König beschlossen hatten, der zukünftige Duce solle versuchen, das Chaos des Parlamentarismus zu beseitigen. Zweifellos hatte seine Faschistische Partei hoch motivierte Unterstützer, und dasselbe galt für die Nationalsozialisten in Deutschland. Doch auch dort fasste den entscheidenden Beschluss, Hitler an die Macht zu bringen, was man heute wohl das konservative Establishment nennen würde. Wer meint, Lehren aus der Geschichte ziehen zu müssen, die sich in einem Satz zusammenfassen lassen, der halte fest: Offenbar entscheiden nicht die irrationalen Massen, die Demokratie abzuschaffen, sondern bestimmte Eliten.10
Natürlich scheint diese auf ihre Art etwas simple Feststellung genau jenen in die Hände zu spielen, die den Mächtigen die Schuld an den politischen Turbulenzen unserer Zeit geben. Zweifellos gibt es viel zu kritisieren an der, wie man sagen könnte, »Sezession« der privilegiertesten Kreise von bestimmten politischen Gemeinwesen. Man wird der Komplexität unserer Zeit jedoch nicht gerecht, wenn man – ob auf der Linken oder der Rechten – einfach behauptet, alle Probleme hätten ihre Ursache im schlechten und korrupten Charakter der Wohlhabenden und Mächtigen. Um es noch einmal schlicht zu sagen: Die Mächtigen tun, was sie tun, weil sie die Macht dazu haben. Und die Macht geben ihnen letztlich die Institutionen unserer Demokratien. Diese Institutionen müsste man auf Schwachstellen abklopfen, statt immer nur einzelne Personen an den Pranger zu stellen (selbst wenn das oft durchaus gerechtfertigt ist – und durchaus amüsant sein kann: Man denke an den Milliardär, dem im US-amerikanischen Fernsehen die Tränen kamen beim Gedanken an das Schreckgespenst einer tatsächlich nur geringfügigen Steuererhöhung). Mit anderen Worten, den Fokus auf Personen zu legen führt in die Irre – ganz gleich ob man nun die Vielen hervorhebt, wie im Fall der saloppen liberalen Verachtung für die angeblich irrationalen und protoautoritären Massen, oder die Wenigen bei emotional wohltuenden, aber letztlich wohlfeilen Angriffen auf selbstsüchtige Eliten.
Über Institutionen nachzudenken, heißt nicht, Politik auf Prozesse und Verfahren zu reduzieren. Entscheidend ist die Prüfung der Prinzipien, die die Regeln des demokratischen Spiels und dessen informelle Normen eigentlich erst beseelen und rechtfertigen.11 Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Politikwissenschaft in den vergangenen Jahren lautet, dass nichtkodifizierte Regeln mindestens ebenso bedeutsam sein können wie Gesetze. Sie halten das demokratische Spiel am Laufen (und vor allem erlegen sie den Spielern Beschränkungen auf, die im Regelwerk gar nicht zu finden sind).12 Weder Regeln noch Normen sind indessen aus sich heraus eine gute Sache. Vor allem dann nicht, wenn sie dafür sorgen, dass ein Spiel, das auf ausgesprochenen oder unausgesprochenen Ungerechtigkeiten basiert, immer munter weitergehen kann. Im 20. Jahrhundert hielten sich Kongressabgeordnete aus den Südstaaten der USA zweifellos formvollendet an die Etikette-Regeln (und sogar an das Gebot, in einer Reihe von Fragen Kompromisse zu schließen – insgesamt eine Bonhomie, die als Schmiermittel für pragmatische Politik diente). Doch das von ihnen verteidigte System der Rassendiskriminierung war grundsätzlich unvereinbar mit demokratischen Prinzipien. Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Jedediah Britton-Purdy schrieb einmal: »Normen sind wie die Statuen toter Führer: Man kann unmöglich wissen, ob man für oder gegen sie ist, solange man nicht weiß, für welche Werte sie stehen.«13 Wir müssen über Regeln und Normen hinausgehen und nach den Prinzipien fragen, die ihnen Halt geben – oder wie Politikwissenschaftler in einer längst vergangenen Zeit gesagt hätten: nach deren Geist. Wenn mehr oder weniger autoritäre Führer einen Prozess (oder ein Spiel) blockieren, reicht es nicht aus, die Befolgung der Regeln zu fordern, um den Prozess wieder in Gang zu setzen. Schließlich ist der demokratische Prozess nicht nur eine Art Staffellauf, bei dem sich Eliten der linken und rechten Mitte immer schön geregelt ablösen.14
Aber worum geht es dann? Eine konventionelle Antwort lautet, Demokratie lasse sich nur durch die Berufung auf die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit rechtfertigen. Eine Regel wie »Die Mehrheit entscheidet« ist nicht deshalb gut, weil sie zu den besten Ergebnissen führte oder am effizientesten wäre. Sie ist richtig, weil sie Ausdruck der Achtung vor der Gleichheit der Bürger ist, und deshalb nimmt sie auch eine Verfahrensform an, bei der jede einzelne Stimme gezählt wird (was im alten demokratischen Athen beispielsweise nicht getan wurde – der ungefähre Eindruck einer Mehrheit reichte). Diese Regel steht somit im Gegensatz zur Akklamation durch die Menge, da sie betont, dass es wirklich auf jeden Einzelnen ankommt (und sie unterstellt bei jedem Einzelnen die Fähigkeit zu politischem Urteil).15
Demokratie erschöpft sich bekanntlich auch nicht im allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Es gibt noch weitere, für die Demokratie konstitutive Rechte: die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und (nicht zuletzt) die Vereinigungsfreiheit. Vereinigungen verstärken das individuelle Recht, sich politisch zu artikulieren und Ansprüche zu stellen. Aber die politischen Grundfreiheiten untergraben ihrerseits – das ist weniger offensichtlich – die Gleichheit, denn wer über die größeren Mittel oder die eloquenteren Argumente verfügt, hat auch größeren Einfluss auf kollektive Entscheidungen. Demokratie ist nicht einfach nur irenische Gleichheit, sie ist Reibung zwischen Menschen, die ihre Freiheiten nutzen. Doch ohne Vereinigungen – vor allem politische Parteien – gibt es wiederum keine Möglichkeit, Ungleichheit zu korrigieren.
Ob es einem gefällt oder nicht, demokratische Konflikte werden immer noch vornehmlich von vermittelnden, »intermediären« Institutionen strukturiert, vor allem von politischen Parteien und professionellen Medien. Seit dem 19. Jahrhundert galten sie weithin als unabdingbar für das Funktionieren der repräsentativen Demokratie. Es ist ein weiterer Gemeinplatz, dass beide sich heute in einer tiefen Krise befänden – und mit »Krise« ist hier wirklich Krise gemeint, denn viele Medien und Parteien (vor allem Volksparteien) sterben schlicht weg. Um diese konventionellen Krisendiagnosen zu beurteilen, sollte man einen Schritt zurücktreten und fragen, auf welche Weise genau diese Institutionen eine kritische Infrastruktur für die Demokratie bereitstellen (oder zumindest früher einmal bereitstellten): eine Möglichkeit für Bürger, andere zu erreichen und von ihnen erreicht zu werden, in gewissem Sinne vergleichbar mit dem US Postal Service, den Trump zu zerstören versuchte, weil er glaubte, in einer freien Gesellschaft mit der für Briefwahl nötigen Infrastruktur könne er nur verlieren (eine korrekte Einschätzung, wie sich gezeigt hat). Wenn man die hinter solcher Infrastruktur und ganz allgemein den demokratischen Institutionen stehenden Prinzipien erkennt, hat man auch weniger Angst davor, Teile der Infrastruktur bzw. Institutionen zu ersetzen. Die Rekonstruktion der Demokratie nach einer Phase des autoritären Populismus sollte nicht einfach eine vermeintliche Normalität wiederherstellen. »Keine Experimente!« war noch nie ein sonderlich demokratischer Slogan.16
Es wäre allerdings naiver politischer Solutionismus zu glauben, ein einzelnes Produkt der inzwischen globalen Demokratieerneuerungsindustrie – ob nun Internetwahlen, zufällig zusammengestellte Bürgerräte oder was auch immer – könnte mir nichts dir nichts die Dinge in Ordnung bringen. Die Erneuerung der kritischen Infrastruktur der Demokratie ist ein entscheidender Schritt. Doch anders, als die Demophoben glauben mögen, muss eine solche Erneuerung keineswegs auf eine Wiedereinsetzung traditioneller Gatekeeper hinauslaufen. Wie ich im letzten Kapitel zeigen werde, können und sollten Bürgerinnen und Bürger selbst bestimmen, wie die vermittelnden Institutionen – vor allem Parteien und Medien – umgestaltet werden. Auf den ersten Blick eine basisdemokratische Illusion, auf den zweiten, wie ich zu zeigen versuchen werde, ein durchaus praktikables Vorhaben.
Vermittlungsinstanzen müssen einem nicht verhandelbaren Prinzip verpflichtet bleiben: Sie dürfen den Status der Bürger als freie und gleiche Mitglieder des politischen Gemeinwesens nicht untergraben oder gar direkt verneinen. Wenn dieser Status nicht mehr gilt, dann ist das Spiel vorbei – das Spiel, in dem alles Übrige, von materiellen Interessen bis hin zu sexuellen Identitäten, zum Gegenstand von auch ganz harten Konflikten gemacht werden kann, ohne dass dadurch das die Bürger einende Band zerrissen würde. In der politischen Auseinandersetzung darf man anderen Bürgern unfreundlich kommen, ohne dass dies als Missachtung verstanden wird – aber man darf nicht sagen: »Du bist an sich ein Bürger zweiter Klasse.« Oder auch: »Du gehörst hier gar nicht hin« (wie Trump es zum Beispiel tat, als er eine Gruppe progressiver nichtweißer weiblicher Mitglieder des US-Kongresses aufforderte, dorthin »zurückzugehen«, woher sie gekommen seien). Manche Staaten bestrafen oder verbieten sogar Parteien, die versuchen, den demos de facto zu verkleinern, oder die auf andere Weise systematisch gegen Grundrechte verstoßen. Die Idee, Akteure ganz aus dem politischen Spiel zu nehmen, reicht zurück bis in die antike griechische Demokratie; man denke an den Ostrazismus. Es fragt sich allerdings, ob solche Maßnahmen demokratischen Selbstschutzes jemals gerechtfertigt sein können, bergen sie doch die Gefahr, ebenjene Demokratie zu beschädigen, die sie eigentlich retten sollen. Ein Land, in dem das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit stark eingeschränkt wird oder in dem Politiker mit unpopulären, aber nicht per se undemokratischen Meinungen vom demokratischen Spielfeld gestellt werden, all das im Namen des Schutzes der Demokratie – solch ein Land kann vielleicht gar nicht mehr den Anspruch erheben, eine echte Demokratie zu sein. Auch hier ist es wichtig, eine grundsätzliche, das heißt auf Prinzipien beruhende Position zu entwickeln.
Wenn Regeln das demokratische Spiel sowohl ermöglichen als auch einschränken, kann Regelbruch nur etwas Schlechtes sein. Oder vielleicht doch nicht? Demokratische Politik erschöpft sich niemals in der Befolgung von Regeln, und manchmal kann es gar geboten sein, das Spielbrett umzustürzen. Es ist kein Zufall, dass die alten Athener ihr Gemeinwesen gerade wegen seiner dezidierten Innovationsfähigkeit priesen, während die Kritiker Athens stets behaupteten, dort sei man kapriziös.17
Nicht alle Norm- und Regelverletzungen sind gleich demokratiegefährdend. Man kann gegen Regeln verstoßen und dabei dennoch den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien treu bleiben. Manchmal beteiligen sich Bürgerinnen und Bürger an Formen von Ungehorsam, die der Demokratie dienen oder sie sogar vertiefen sollen, um so den eigentlichen Sinn des Spiels zu erhalten. In den Augen von Skeptikern ebnet solcher Ungehorsam den Weg zur Anarchie – oder zu autoritärer Herrschaft, da noch keine Bürgerschaft Anarchie lange ertragen hat (und Kritiker der Demokratie warnen bekanntlich seit Platon, dass »zu viel Freiheit« in die Tyrannei führe). Anderseits fragen sich viele von denen, die entsetzt sind über die Eskapaden heutiger Feinde der Demokratie, irgendwann einmal, warum wir denn nicht viel mehr auf die Straße gehen und die Autoritären herausfordern. Gibt es eine Schwelle, jenseits derer demokratischer Ungehorsam legitim wird, statt dass man wie ein schlechter Verlierer einer Wahl aussähe (oder im schlimmsten Fall beim Kampf für die eigenen parteiischen Überzeugungen einen Bürgerkrieg riskierte)?
Dieses Buch ist kein politisches Handbuch. Es beruht auf der vielleicht gewagten Annahme, dass wir immer noch Zeit haben – oder uns die Zeit nehmen sollten –, über Grundprinzipien nachzudenken. Diese Grundprinzipien diktieren keine hochspezifischen Institutionen oder detaillierten politischen Regeln. Demokratie lässt sich nicht auf eine einzige Form reduzieren, und es gibt mehr als eine Möglichkeit, sie zu leben (wie es auch mehr als eine Möglichkeit gibt, sie vorzutäuschen). Wie der große französische politische Philosoph Claude Lefort bemerkte, sind einige dieser Möglichkeiten uns bislang wahrscheinlich noch gar nicht in den Sinn gekommen (was allerdings zugleich bedeutet, dass auch den Gegnern der Demokratie möglicherweise einige Strategien zu deren Unterminierung noch nicht in den Sinn gekommen sind). Eine weitere vielleicht gewagte Annahme lautet, dass die Demokratie immer noch herrscht – und zwar in dem Sinne, dass viele Menschen in aller Welt sie für erstrebenswert halten. Sie sehen in ihr weiterhin ein politisches System, das zwar gewaltige Schwierigkeiten hat, aber immer noch am ehesten geeignet ist, Unterdrückung zu vermeiden und den Menschen die Chance auf ein anständiges Leben in Gemeinschaft zu geben.