Wie intelligent sind Pflanzen?
Der in Meran geborene österreichische Botaniker Prof. Dr. phil. Adolf Wagner (1869 – 1940) veröffentlichte im Laufe seiner Innsbrucker Wirkungszeit zahlreiche gemeinverständliche Bücher zur Tier- und Pflanzenkunde. Dabei stellte er sich gegen die streng materialistisch-kausalistische Einstellung des 19. Jahrhunderts und vertrat im Wesentlichen einen systemtheoretischen Standpunkt, nach dem die Vorgänge in Organismen auf intelligente Weise einem Ziel zustreben.
Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, studierte in Stuttgart neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach fünfundzwanzig Jahren Berufspraxis in der eigenen Firma widmet er sich nun seinen privaten Forschungsvorhaben und veröffentlicht die Ergebnisse in allgemein verständlicher Form. Darüber hinaus ist er der Herausgeber mehrerer Buchreihen unter anderem der Reihen „Wissenschaftliche Bibliothek “ und „Wissenschaft gemeinverständlich“.
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Neubearbeitung
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7431-8430-5
In der Tagespresse tauchen in neuerer Zeit häufig Berichte mit der Titelfrage auf, ob Pflanzen intelligent sind.1 Dabei hat die Wissenschaft diese Frage bereits seit Jahrzehnten positiv beantwortet. Wichtiger wäre nicht die Frage nach dem „ob“ zu stellen, sondern nach dem „wie“.
Eine gute Frage ist jedoch diejenige, die das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) veröffentlicht hat: „Sind Pflanzen intelligenter als gedacht?“2. Wie kommt das UFZ dazu, so eine Frage zu stellen?
Die Gewöhnliche Berberitze (Berberis vulgaris), auch Sauerdorn genannt, ist eine in weiten Teilen Europas vorkommende Strauchart. Ihre nordamerikanische Verwandte, die Mahonie (Mahonia aquifolium), breitet sich seit einigen Jahren auch in Europa aus. Die Wissenschaftler hatten beide Arten miteinander verglichen und dabei festgestellt, dass sich der Befall mit Parasiten deutlich unterscheidet: „Eine hoch spezialisierte Fliegenart, deren Larven sich eigentlich von den Samen der heimischen Berberitze ernähren, erreicht auf ihrer neuen Wirtspflanze, der Mahonie eine zehnfach höhere Populationsdichte“, berichtet Dr. Harald Auge, Biologe am UFZ.
Also nahmen die Wissenschaftler die Samen der Berberitze genauer unter die Lupe. Rund 2000 Beeren sammelten sie aus verschiedenen Regionen Deutschlands, untersuchten sie auf Einstichspuren und schnitten die Beeren auf, um den Befall durch die Larve der Sauerdorn-Bohrfliege (Rhagoletis meigenii) zu untersuchen. Dieser Parasit sticht die Beeren an, um seine Eier darin abzulegen. Wenn die Larve es schafft, sich zu entwickeln, frisst sie oft alle Samen in der Beere auf. Eine Besonderheit der Berberitze ist, dass deren Beeren in der Regel über je zwei Samen verfügen und die Pflanze in der Lage ist, die Entwicklung ihrer Samen zu stoppen, um Energie zu sparen. Dieser Mechanismus wird auch zur Bekämpfung der Sauerdornfliege eingesetzt. Ist nämlich ein Samen mit dem Parasiten befallen, dann wird die sich entwickelnde Larve später beide Samen auffressen. Lässt die Pflanze dagegen den einen Samen absterben, dann stirbt auch der Parasit in diesem Samen und sie kann so den zweiten Samen in der Beere retten.
Bei der Auswertung der Samen stießen die Wissenschaftler auf eine überraschende Entdeckung: „Die Samen in den von Parasiten befallenen Früchten werden nicht immer abgetötet, sondern je nachdem wie viele Samen in den Beeren vorhanden sind“, schildert Dr. Katrin M. Meyer, die die Daten am UFZ ausgewertet hat und inzwischen an der Universität Göttingen arbeitet. Enthielt die befallene Frucht zwei Samen, dann töteten die Pflanzen in 75 Prozent der Fälle den befallenen Samen ab, wodurch der zweite gerettet wurde. Enthielt die befallene Frucht dagegen nur einen Samen, dann töteten die Pflanzen nur in 5 Prozent der Fälle den befallenen Samen ab. Ergebnisse aus dem Freiland, die erst durch ein Computermodel ein schlüssiges Bild ergaben. Per Modellrechnung konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die durch Parasitenbefall gestressten Pflanzen komplett anders reagieren als die ungestressten. „Würde die Berberitze ihre Frucht mit nur einem, aber befallenen Samen abtöten, dann hätte sie die gesamte Frucht umsonst angelegt. Stattdessen ‘spekuliert‘ sie offenbar darauf, dass die Larve von selbst abstirbt, was auch vorkommen kann. Minimale Chancen sind besser als gar keine“, erläutert Dr. Hans-Hermann Thulke vom UFZ. „Dieses Handeln mit Vorausschau, in dem erwartete Verluste und äußere Bedingungen abgewogen werden, hat uns sehr überrascht. Pflanzliche Intelligenz rückt damit in den Bereich des ökologisch Möglichen, lautet die Botschaft unserer Studie .“
Aber woher weiß die Berberitze, was ihr nach dem Einstich der Sauerdorn-Bohrfliege droht? Wie die Informationsverarbeitung in der Pflanze funktioniert und wie sich dieses komplexe Verhalten im Laufe der Evolution entwickeln konnte, ist nach wie vor unklar. Die nahe Verwandte der Berberitze, die Mahonie, lebt zwar bereits seit rund 200 Jahren in Europa mit dem Risiko, von der Sauerdorn-Bohrfliege gestochen zu werden, hat aber keine vergleichbare Schutzstrategie entwickelt. Die neuen Erkenntnisse werfen ein überraschendes Licht auf die unterschätzten Fähigkeiten von Pflanzen, eröffnen aber zugleich viele neue Fragen.
Mit diesem Buch möchte ich einige Antworten auf die vielen neuen Fragen geben. Es sind Antworten, die der Wissenschaft eigentlich bekannt waren, die aber offensichtlich in Vergessenheit gerieten. Der Biologe Prof. Dr. phil. Adolf Wagner hat neben weiteren Biologen seiner Wirkungszeit bereits grundlegende Erkenntnisse über die Intelligenz der Pflanzen veröffentlicht, und das in gemeinverständlicher Form. Seine Erkenntnisse habe ich neu bearbeitet und kann sie nun einem breiten Leserkreis präsentieren. Die zahlreichen von mir überarbeiteten Abbildungen gestatten dem Leser, tief gehende Einblicke in die geheimnisvolle Wesensseite der Pflanzen zu nehmen. Darüber hinaus habe ich ein Kapitel mit meinen eigenen Forschungsergebnissen angefügt, um die Frage zu beantworten, ob Pflanzen womöglich eine Art Bewusstsein haben. Ingesamt ist hiermit ein aktuelles Werk entstanden, das eines der spannendsten Fragen unserer Zeit nicht nur berührt, sondern auch zahlreiche Antworten gibt.
Stuttgart, im Herbst 2016
Klaus-Dieter Sedlacek
1 http://www.tagesspiegel.de/wissen/botanik-sind-pflanzen-intelligent/14569572.html
2 https://idw-online.de/de/news575754
Der Gedanke der Beseeltheit alles Lebendigen ist nichts weniger als neu. Aber auch im Rahmen des engeren naturwissenschaftlichen Denkens war er schon aufgetaucht. Fechners „Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen“ war in dieser Hinsicht ein erster und schon weitgehender Versuch.3 Damals nahm man das nicht „ernst“. Man betrachtete es bloß als poetische Schrulle eines sonst hochverdienten Gelehrten.
Heute ist uns die Vorstellung von der Beseeltheit der ganzen Organismenwelt, also auch der Pflanze, schon viel, viel mehr als eine poetische Schrulle oder ein poetisches „Gleichnis“, – sie ist für viele, welche an den Dingen der Natur mehr zu sehen verstehen als bloß äußere Hüllen, eine Erkenntnis, ein tiefes Erfassen des dem Leben Wesentlichen geworden.
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Das übliche Denken stutzt natürlich bei dieser ungewöhnlichen Gedankenverbindung. Man denkt ja bei dem Worte „Seele“ sogleich an sein eigenes Erleben, an Schmerz und Lust, an Leid und Freude, an Gedankenwelt und laienreiche Willenskraft. Das kann es doch bei der Pflanze nicht geben! Allerdings, – das alles gerade nicht, besonders Gedanken werden wir der Pflanze wohl noch weniger zumuten dürfen, als schon dem Tier. Wenn aber der Mensch so nur an sich denkt, an sein eigenes inneres Erleben, so fragt er dabei um das eine nicht: woher denn die Grundlagen dessen kommen, was ihm überhaupt erst die Möglichkeit innerer Erlebnisse gibt. Tausende und Tausende schwören auf den Gedanken einer Entwicklung der Organismenwelt, – dass aber dasjenige, was auf dem Höhepunkte der organischen Entwicklung (beim Menschen) bis zum Selbstbewusstwerden vorgeschritten ist (nämlich das innere Wesen des Lebendigen, das „Vitalseelische“), auch sich entwickelt haben und seine „Vorstufen" aufweisen müsse, davon wollen sie nichts hören, das heißt: Sie geben die Voraussetzungen zu und leugnen die damit verbundenen Folgerungen. Wenn heute noch sogar Naturkundige den Entwicklungsgedanken, so aufdringlich er auch ist, von vornherein ablehnen, so geschieht es gewiss hauptsächlich aus dem Grund, weil er eben diese Folgerung unerbittlich in sich schließt.
Eine andere Schwierigkeit, die sich der Vorstellung einer „Beseeltheit“ der Pflanze entgegenstellt, ist die Gewohnheit des üblichen Denkens, die Begriffe „Seele“ und „Ich“ gleichzustellen, und zwar sogleich mit der willkürlichen Beschränkung, dass man nur dort von Seele sprechen dürfe, wo ein Ichbewusstsein angenommen werden kann. Deshalb mag es dem üblichen Denken zunächst als etwas ganz Unerhörtes, als eine ganz verdrehte Irrenhaus-Idee erscheinen, bei der Pflanze von einer Seele zu reden, da man dann ja auch an ein „Ich“ der Pflanze zu denken genötigt ist. Kann denn davon überhaupt die Rede sein, wo doch sehr viele Menschen schon dem höheren Tier kein „Ich“ mehr zuerkennen wollen? Dies Letztere geschieht allerdings deshalb vor allem, weil sich das Tier nicht vor seinen menschlichen Peiniger hinstellen und ihm zurufen kann: Du, lass das! Ich bin genau so eine empfindende Einheit, wie es Dein viel geliebtes Ich ist! Diese Sprache hat das Tier nicht, zu seinem Unglück, denn seine stumme Sprache verstehen die meisten Menschen nicht, oder es ist ihrem rohen Egoismus bequemer, sie nicht zu verstehen. Wenn einem gequälten Tier die natürliche oder durch Dressur aufgezwungene Geduld reißt und es seinem Peiniger in die Fratze springt, da mag diesem doch vielleicht der Schimmer einer Ahnung kommen, dass er da einem „Ich“ etwas allzu rücksichtslos entgegengetreten war. Ist aber bei Tieren, welche entweder von Natur aus dem Menschen gegenüber nicht genügend wehrhaft sind oder denen die Brutalität des Herrn der Schöpfung alle Widerstandskraft gebrochen hat, der angstvolle, scheue, um Schonung bettelnde Blick usw. keine Sprache? Natürlich nicht, – obwohl der stumme Mensch auch keine andere Sprache hat. Der Hund, der sich, um sein bedrohtes „Ich“ zu retten, verkriecht, statt dem gefahrdrohenden Ruf seines Herrn zu folgen, bekommt dafür wohl noch einen besonderen Fußtritt, – die „dumme Bestie"! Ja freilich, – dem Tier gegenüber, nämlich dem schwächeren oder von ihm „gezähmten“ Lebewesen, wo er dies ungestraft tun kann, beweist der Mensch seine „ethische Überlegenheit“. Verdient nicht vielmehr diese ganze aufgeblasene und verlogene Ethik einen kräftigen Fußtritt?
Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird! In diesem Sprichwort liegt eine stillschweigende Anerkennung der Tierpsyche. Die Pflanze aber schlägt nicht aus, wenn man sie berührt, und beißt auch nicht die Hand, die sie abknickt. Und vor allem: Sie schreit nicht, wenn man ihr ein Glied abreißt oder sie sonst wie verletzt! Widerspruchslos lässt sie alles mit sich machen, also kann sie doch keine Empfindung haben? Ohne solche verliert aber scheinbar der Begriff der Psyche allen Sinn, und wo keine Psyche ist, da kann es auch kein „Ich“ geben. Oder ist es anders? Zeigt die Pflanze vielleicht vielfach, dass sie doch Empfindung hat, aber eine Empfindungsfähigkeit, die noch nicht jene Höhe erreicht hat, dass sie der Abwehrbewegung bedürfte und sich in dem nach Hilfe rufenden und höhere vitalseelische Spannung auslösenden Schmerzensschrei entlade? Fühlt es die Pflanze vielleicht doch irgendwie, wenn wir ihr einen Zweig oder eine Blume abreißen, die doch zu ihrer Ganzheit, ihrem „Ich“ gehört? Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Der Mensch aber macht sich solche Dinge leicht: Wenn wir etwas nicht wissen, dann stellen wir fest: Es ist nicht! Wenn es aber am Ende doch ist?
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Was ist das „Ich“, von dem zunächst alles bewusste Denken und Handeln seinen Ausgangspunkt nimmt? Es ist doch eine recht merkwürdige Sache: Ununterbrochen treten Stoffe in das Innere meines Körpers ein, erfahren die mannigfaltigsten Umwandlungen und treten wieder aus; Empfindungen tauchen auf und verschwinden, Vorstellungen und Gedanken wechseln in buntem Spiel, Teile meines Körpers nützen sich ab und werden neu hergestellt, Taten gehen von mir aus, kleine und große Leidenschaften wühlen in mir und können sich bis zur Selbstvernichtung steigern; dazwischen wieder Pausen, wie im tiefen Schlaf und in der Ohnmacht, in denen alles Seinsbewusstsein erlischt. Und von alldem weiß, oder besser gesagt, „fühle“ ich, dass es an „mir“, das heißt, an etwas unveränderlich Bestehendem, an einem „Etwas“ geschieht, das hinter und über all dem Wechsel steht und beharrt. Das ist die „Seele“, das „Ich“.
Ist dieses Ich begrenzt oder ewig? Ist es gebunden an den Körper, durch den es seiner selbst „bewusst“ wird oder durch den es sich „fühlt“, oder kann es diesen verlassen und trotz alledem als dasselbe „Ich“ weiter sein?
Schwer zu denken. Ganz unmöglich zu denken ist es aber, dass ein Unzerstörbares, Beharrendes dies nur nach der Zukunftsrichtung, nicht auch nach der Vergangenheitsrichtung sein solle.
Was unzerstörbar ist, kann auch nicht „geworden“ sein. Ist mein „Ich“ unvergänglich, dann besteht es auch von jeher. Das heißt: Jenes „Ich“, dessen ich mir in meinem Erleben bewusst werde, muss dann schon in einem Menschen gewesen sein, der zur Zeit Cäsars gelebt hat; das Ich dieses Menschen (das auch das meinige und zahlreiche dazwischen liegende „Ichs“ einschloss) muss wiederum schon in einem Menschen gewesen sein, der zur Zeit der ältesten ägyptischen Dynastie lebte, und dieses Ich wiederum in einem Individuum vom Typus des primitiven Urmenschen und dieses weiterhin – ja, wohin führt das eigentlich? Hinunter durch alle Lebensstufen bis zum ersten primitiven Protoplasmaklümpchen und darüber hinaus in das Grundwesen des Weltalls. Mein „Ich", mein individuelles Ich schon vorhanden beim Urknall oder im Urnebel, dem in Milliarden von Jahrhunderten unser Erdball entspross? Was für Gedanken! Und doch unabweisbar, wenn andererseits eben dieses Ich als solches in alle Ewigkeit weiter dauern soll.
Wo steckte aber dieses Ich, als welches ich mich fühle, bevor es mein fühlendes und wirkendes Ich wurde? Wir können (und müssen wahrscheinlich) noch so weit gehen, dieses „Ich“ (nämlich das reale Ich, nicht die Ich-Vorstellung!) schon in der Eizelle vorauszusetzen, denn mit der Eizelle beginnt die Selbstständigkeit des neuen Individuums, mit ihr ist eine neue Persönlichkeit geboren. Aber vorher? Das Ei entsteht doch aus dem „Zellverband“ des mütterlichen Organismus durch fortschreitende Teilungen, und in diesem vorbereitenden Entwicklungsstadium ist das künftige Ei noch etwas gänzlich Unselbstständiges. Und gar im Ei des mütterlichen Organismus ist dieses Ei des künftigen „neuen Individuums“ überhaupt noch nicht vorhanden. Wie könnte da von einem „Schon-vorhanden-Sein“ des „Ichs“ des kommenden Individuums die Rede sein? Und was geschieht mit den zahllosen „künftigen Ichs“ der Keimzellen, die ungekeimt und unentwickelt zugrunde gehen? Leben auch sie ewig weiter als Ei- und Embryonal-,,Iche“?
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Das ist nun das Ich, das ich fühle, mein eigenes Ich, das mir als mysteriöses Zentrum (nicht im örtlichen, wohl aber im wirkenden Sinne) meines Wesens erscheint. Wie steht es aber mit dem fremden Ich, das ich nicht fühle, das ich bloß erschließe? Ich nehme von dem Menschen, der neben mir sitzt und mit mir spricht, ohne Bedenken an, dass dieser ebenso ein „Ich“ habe, wie ich es in mir fühle. Habe ich ein Recht dazu? Das übliche Denken wird unbedingt mit Ja antworten, und ich schließe mich diesem üblichen Denken an. Aber rein gedanklich müsste man eigentlich Nein sagen, denn wie kann ich von dem fremden Ich irgendetwas wissen? Den Ich-Begriff kann doch jeder nur an sich selbst erleben. Wie komme ich dazu, von irgendeinem Körper außer dem meinige zu sagen, er habe ein „Ich“? Wenn ich mir aber das nun einmal herausnehme, – warum sage ich das wohl von dem Menschen neben mir, aber nicht von dem Stein, an dem ich mich stoße? Dass der Mensch, mit dem ich zu tun habe, abgesehen von kleinen Änderungen, der gleiche bleibt, sooft und solange ich ihn sehe, – das allein kann nicht entscheidend sein. Denn diese Beharrlichkeit der Form ist anderen und gerade unbelebten Körpern auf viel längere Zeit beschieden. Eine Marmorstatue, die doch schon sehr „individualisierte“ Form hat, kann Jahrtausende überdauern. Was ist demgegenüber die kurze Spanne Zeit, während welcher ein Mensch „seine Form bewahrt“?
Das Entscheidende scheint darin zu liegen, dass uns ein Körper, also ein räumlich begrenztes Gebilde, als geschlossene „Ganzheit“ bei ständigem Wechsel von Stoff und Kraft erscheinen und zugleich zeigen muss, dass diese „Ganzheit“ sich in „Aktivität“ (Eigentätigkeit) gegenüber den Umgebungseinwirkungen behauptet oder doch zu behaupten sucht. Einem solchen Körper können und dürfen wir auch ein „Ich“ oder eigentlich richtiger, weil objektiv gesprochen, eine „Identität“ zuschreiben. Die Frage nach dem gleichzeitigen Vorhandensein eines Ich-Bewusstseins oder gar einer Ich-Vorstellung ist, wie schon hervorgehoben, nebensächlich, weil auch wir selbst, die wir eine solche Identität darstellen, zeitweise des Bewusstseins dieser Identität ermangeln. Dass sich dieses Bewusstwerden nach solchen Pausen wieder unverändert einstellt, beweist, dass die reale „Identität“ weiter reicht, bzw. tiefer liegt, als die „Bewusstheit“ von eben dieser „Identität“. Sogar im wachen Zustand ist sich der Mensch nicht immer seiner Identität bewusst. Auch im wachen Zustand handelt der Mensch manchmal „wie im Schlaf“, – erst das Ergebnis solch vorübergehenden Handelns tritt uns „ins Bewusstsein“.
Trotzdem kann die Handlung zielstrebig, „intelligent“ gewesen sein. Ebenso ist es bei scharfer Denktätigkeit: Wenn wir ganz und gar in einen Gedankengang vertieft sind, verlieren wir nicht nur das Bewusstsein für unsere Umgebung, sondern auch das unserer Identität; wir verhalten uns nur rein denkend, ohne Bezugnahme auf ein „Ich“4; erst wenn der Gedankengang zu Ende ist oder eine wirksame Störung von außen herantritt, komme ich zu dem Bewusstsein, dass „ich“ jetzt gedacht hatte. Auch solche, und gerade solche, nicht vom Ich-Bewusstsein begleitete Denktätigkeit ist die schärfste, zielstrebigste, ergebnisreichste. In all diesen Fällen ist die „Identität“ wirksam; dass und wieweit sie bewusst wird, sind nur Zustände dieser Identität, Zustände, welche kommen und gehen wie in einem Kaleidoskop. Es ist eine Täuschung, welcher das übliche Denken unterliegt, dass die Ich-Vorstellung, oder auch nur das Ich-Bewusstsein etwas Ununterbrochenes sei. Schon die Unterbrechung des Ichbewusstseins im tiefen Schlaf oder in der Ohnmacht beweist das Gegenteil, ebenso die vorhin genannten Beispiele.
Das Bewusstsein selbst ist gleichfalls kein ununterbrochener Zustand (auch nicht während vollbewusster Tätigkeit), sondern es blitzt sozusagen in schnellster Folge immerfort wieder auf. Besinnen wir uns nur darauf, dass wir eigentlich in einem gegebenen Moment nur eine Wahrnehmung, nur eine Empfindung, einen Gedanken im Bewusstsein haben, – je konzentrierter die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Art von Eindrücken, Tätigkeiten usw. ist, das heißt, je mehr sie bloß auf eines gerichtet ist, desto mehr verblassen die anderen, werden sie vom Bewusstsein ausgeschaltet. Nur weil unser Gehirn und Nervensystem die Sammelstelle für eine geradezu ungeheure Zahl von Eindrücken ist, die sich bei voller Einwirkung der Umgebung (die anderen Teile des eigenen Körpers mit eingerechnet) in schnellster Folge ablösen, wird die Täuschung einer ununterbrochenen Bewusstseinstätigkeit hervorgerufen.
Wenn ich einen Stein an einem Faden befestige und nun rasch im Kreis wirbeln lasse, dann sehe ich den Stein nicht mehr an den einzelnen Stellen des Raumes, die er nacheinander einnimmt, – der Stein beschreibt für meine Wahrnehmung, für mein „Bewusstsein“, eine zusammenhängende Kreislinie. Die einzelnen Stellungen des Steines wechseln zu rasch, als dass unsere Sinnesapparate diese und damit auch zugleich das „Bewusstwerden“ dieser verschiedenen Eindrücke als solche aufnehmen könnte. Oder vielleicht ein noch besseres Beispiel: Wenn ein aus einzelnen Speichen bestehendes Rad in schnellste Drehung um seine Achse gebracht wird, dann können wir die einzelnen Speichen nicht mehr von den sie trennenden Zwischenräumen unterscheiden; ist das Rad rot angestrichen, so verzeichnet unsere Wahrnehmung während der raschen Drehung nur mehr eine rote Fläche, etwas Zusammenhängendes, das hier doch nachweisbar aus getrennten Einzeleindrücken zustande kommt.
Gleichsinnig scheint es sich mit dem Bewusstsein zu verhalten: Die zahllosen Einzelwahrnehmungen und Vorstellungen hängen ja in Wirklichkeit gar nicht lückenlos zusammen; es sind, sozusagen, Lichtblitze, die im Gehirn auftauchen, einmal hier, einmal dort, Depeschen, die von den Sinnesorganen als Folge ebenso vieler Einzelwirkungen aus der Umwelt an die Zentrale geleitet werden, aber in solcher Fülle und in so rascher Aufeinanderfolge, dass das „Bewusstwerden“ dieser Einzeleindrücke und der dazwischenliegenden Pausen der Unbewusstheit, nicht mehr registriert werden kann. Als Folge davon stellt sich die Täuschung ein (wie bei dem drehenden Rad), das Ich-Bewusstsein sei etwas Ununterbrochenes. Der tiefe Schlaf oder die Ohnmacht, während der aller Depeschenverkehr zum Gehirn ruht, lassen die Unterbrechbarkeit und tatsächliche Unterbrochenheit „ersichtlich“ werden; die blitzartigen Unterbrechungen zwischen den wachen Bewusstseinsmomenten sind nicht mehr erfassbar, aber wir können und müssen sie in ihrer Tatsächlichkeit auf dem Weg des Denkens und Vergleichens erschließen.
Dass wir aber die Einzelerlebnisse, die in den Zustand des Bewusstwerdens eintreten, trotz der dazwischenliegenden Pausen (seien es die großen Pausen des Schlafes oder die blitzartigen der wachen Gehirntätigkeit) auf etwas Einheitliches und unverändert Beharrendes, auf das „Ich“ beziehen können, – das ist das große Naturmysterium der Identität, das der Mensch schon deshalb nicht ergründen kann, weil diese Identität bereits allen Gedanken, die er sich darüber machen kann, zugrunde liegt. Dieses Ich ist das „Denkende“, „Empfindende“, „Wollende“. Es ist ebenso das passiv Empfindende, wie es das aktiv Handelnde ist, und eine seiner Tätigkeiten ist das „Bewusstmachen“ von Empfindungsund Willensmomenten. Dass diese „Identität“ auch im Unterbewussten tätig ist, wird bewiesen durch die Verbindung der einzelnen Bewusstseinsmomente, durch den Fortgang der der Erhaltung des Ganzen dienenden Körperfunktionen, durch das Bestehen der „Identitäts-Empfindung“ über Zustände der Bewusstlosigkeit hinaus und durch sogar während der Unbewusstheit fortgehende Denktätigkeit. Jeder Mensch mit einigermaßen reicherem Geistesleben wird diese Erfahrung gemacht haben.
Die besten und entscheidendsten Gedankenverbindungen bereiten sich im Unterbewusstsein vor und „fallen“ dann ins Bewusstsein (daher der treffende Ausdruck „Einfall“). Wie oft kommt es vor: Wir ringen des Abends vergeblich um die Lösung eines Problems oder um eine klare Ausdrucksweise für eine schon vollzogene Gedankenverbindung, – am nächsten Morgen – ohne unser „bewusstes“ Dazutun steht das Gesuchte vor uns. Die Lebensweisheit, „eine Sache oder Entscheidung zu überschlafen“, ist tief begründet. Nicht das Ausruhenlassen des Gehirns ist dabei das Maßgebende; das ist eine etwas kindliche Auffassung. Die Ungestörtheit der Gehirnarbeit ist der Punkt, um den es sich dreht, die Fernhaltung verwirrender Masseneindrücke usw.
Vielleicht arbeitet das Gehirn gerade im Zustand der Unbewusstheit besonders intensiv, das heißt, die Intelligenz, die Zwecktätigkeit des Individuums, die ja auch diejenigen Funktionen des lebenden Körpers regelt, welche der bewussten Willenstätigkeit überhaupt entzogen sind, führt während dieses, von neuen störenden Außeneindrücken freien Zustandes zu einer zweckmäßigen Sichtung und Ordnung des im wachen Zustand von Sinnesorganen und Gehirn gelieferten Orientierungsmaterials und stellt dieses geordnete und umgruppierte Material dem Bewusstsein „zur Verfügung“. Derartiges muss natürlich nicht eintreten, aber dass es eintreten kann, rechtfertigt den ganzen Gedankengang zur Genüge.
Für mich persönlich, für mein eigenes Denken, ist diese Tatsache der unbewusst sich ordnenden Denkvorgänge ein weiterer Beweis, dass die „Intelligenz“, das heißt, die zweckhafte Einordnung der Außenwelteindrücke, an und für sich gar nichts mit der bewussten Gehirntätigkeit zu tun hat. Die Intelligenz ist eben viel universeller, nicht an Bewusstsein und auch nicht an die individuelle „Identität“ gebunden, sondern nur auch durch eine solche sich auswirkend, wo eben eine derartige Identität vorhanden ist.
Zugleich ergibt sich daraus auch die Erkenntnis, dass die Frage nach einer Identität, als real und einheitlich Wirkendem, nichts mit der Frage nach einem Ich-Bewusstsein zu tun haben kann, dass man daher eine „Identität“ auch dann einem anderen Lebewesen zusprechen darf oder sogar muss, wenn man nicht „wissen“ kann, ob ihr auch ein Ich-Bewusstsein zukomme, sofern nur andere notwendige Voraussetzungen für eine solche Annahme gegeben sind. Das ist aber nicht nur beim Tier, sondern auch bei der Pflanze der Fall.
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Was ist es nun aber mit dieser „Identität“? Mit diesem realen Ich, dessen ich als Mensch mir bewusst werde, das aber dieses Bewusstwerdens nicht bedarf, um zu sein, das im Gegenteil erst dieses Bewusstwerden, als eine seiner Auswirkungen erzeugt? Was ist diese Identität, die nicht ohne den Körper zu denken ist, der doch wiederum ihre Tat sein muss, denn die Identität des Eies muss schon dieselbe sein wie die des ausgewachsenen Körpers? Diese Identität, die zum unzähligsten Male neu auftaucht und sich in neuen Identitäten wiederholt, während sie selbst noch im fortlebenden Eltern-Organismus weiterwirkt? Diese Identität, die überall im Körper wirkt und nirgends zu finden ist? Diese Identität, die sich nur entfalten, nur „sein“ kann, wenn der Körper ist, und sich doch diesen Körper selbst baut nach einem gesetzmäßig festgelegten Plan, den das geringfügigste Ereignis vereiteln kann?
Diese, seit dem Bestehen des organischen Lebens auf der Erde in unzählbaren Billionen durch alle Stufen des Lebens gewesenen „Identitäten“, – was ist mit ihnen, was war mit ihnen und was wird mit ihnen? – Schwindelnde Fragen, tiefstes Naturmysterium. Und noch immer nicht das Tiefste. Wir werden noch überwältigendere Fragen kennenlernen.
Wer diesen ungezählten Identitäten aller Lebewesen Unzerstörbarkeit und Ewigkeitswert zusprechen will (aber dann allen ohne Ausnahme, nicht bloß den „menschlichen“!), den kann man nicht widerlegen, denn weiter, als die „Identität“ in ihrer Erscheinung zu kennzeichnen, kann kein Menschenverstand gehen. Die Schwierigkeiten aber, die sich der Annahme solcher Unvergänglichkeit der einzelnen Identitäten entgegenstellen, habe ich anzudeuten versucht.
Wir wollen nicht das Vergebliche unternehmen, an die tief verborgenen unauffindbaren Quellen des Lebensstromes zu gehen, der vor unseren Augen dahinfließt. Wir wollen nur versuchen, etwas von den Schätzen zu schauen, die er zutage fördert. Das Leben selbst ist ein Mysterium. Die Lebensgesetze, die Abertausend Formen, in denen diese Gesetze sich spiegeln, zu erforschen, ist das Einzige, was der Mensch zu unternehmen wagen kann. Aber auch bei diesem Wagen wappne sich der Mensch mit Bescheidenheit. Wollte er sich unterfangen, seine eigene Einordnung in das Weltganze zu erfassen, so wäre dies so viel, als wollte eine einzelne Zelle meines Körpers ergründen, nicht bloß, was sie im Getriebe meiner „Identität“, nein, was sie im Getriebe der ganzen Menschheit, ja, des ganzen Lebens auf der Erde bedeute. Arme Zelle!
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Wie sieht eigentlich der Nichtfachmann die Pflanze an? Ich meine hier natürlich nicht, mit welchen ästhetischen Empfindungen, sondern intellektuell mit dem verstandesmäßig urteilenden Geist? Er denkt meist geringschätzig von ihr: ein armseliges Ding, so eine Pflanze! In ihr soll Lebensweisheit stecken, eine Quelle der Erkenntnis dessen, was unser eigenes Selbst ist? Und doch ist es so. Beim Nachdenken über die Natur und besonders über die geheimnisvollen Grundlagen des Lebens treffen sich zwei Linien, eine von unten herauf, die andere von oben herabkommend; in ihrem Treffpunkt blitzt ein Schimmer von Erkenntnis der Wesensgleichheit alles Lebendigen auf: Der Mensch ist der Ausgangspunkt für die eine, die Pflanze für die andere Linie. Das Einfache, Ursprüngliche der Pflanze kann uns das Hohe und Entwickelte im Menschen erhellen; dieses Letztere aber wirkt wie ein Scheinwerfer zurück und beleuchtet unserem Verständnis das scheinbar in berührungsloser Ferne stehende Ursprüngliche der Pflanze. Die Natur ist ein Ganzes. Nur der Mensch bringt „Distinktionen“ in sie hinein, zerstückelt das Ganze in schematisierte Einheiten und hält sich dann für eine ganz besondere Einzelheit, wenn nicht gar für überhaupt etwas Besonderes.
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Man darf es keinem Menschen, der zum ersten Mal von einer „Pflanzenseele“ reden hört, verargen, wenn er diesen Gedanken zunächst verständnislos und eben deshalb auch entrüstet von sich weist. Es ist ja so unendlich wenig, was der Nichtfachmann von der Pflanze weiß. Die Pflanze drängt ihre Lebenstätigkeit und ihre Lebensgesetze dem Blick des Menschen so wenig auf, dass dieser erst mit Nachdruck aufmerksam gemacht werden muss, dass dieselben Grundgesetze und Grundkräfte, die hinter den auffälligen Lebensäußerungen der Tierwelt als entscheidende Ursache der „Lebendigkeit“ stecken, auch bei der Pflanze im selben Sinn und in derselben Wirksamkeit tätig sind. Wachsen und blühen, – das sind die einzigen Lebenstätigkeiten der Pflanze, die der Nichtfachmann kennt; diese scheinen ihm denn doch zu wenig zu sein, um die Pflanze auch nur grundsätzlich der übrigen Lebewelt gleichzustellen. Als ob die übrigen Lebewesen, die Tiere und auch der Mensch, im Grunde etwas anderes täten, als gleichfalls zu wachsen und zu blühen und – zugrunde zu gehen! Als ob der Lebenslauf des Tieres und auch des Menschen etwas anderes wäre als: Entfaltung des Individuums aus dem Keim, Lebensbehauptung dieses Individuums auf kurz gemessene Frist und Erhaltung des Typus (der Art) durch Erzeugung von Nachkommen, die den Kreislauf wiederholen und fortsetzen!
Das hohe Mysterium der Menschwerdung aus der befruchteten Eizelle wird gern anerkannt; verständig Denkende werden dasselbe Mysterium auch noch im Zeugungsakt des Tieres finden, – aber wie viele sind sich dessen bewusst, dass das gleiche Mysterium auch im Werden des Samens einer Pflanze steckt, jenes Samens, der ja ebenso schon das „werdende Kind“, das neue Individuum, in seinem Inneren birgt, wie der Schoß der Menschenmutter?! Ist wirklich der Zeugungsstrom, der mit dem Eindringen der tierischen Samenzelle das weibliche Ei zur Weiterentwicklung, zur Entfaltung eines neuen Individuums veranlasst, in höherem Grade geheimnisvoll als der Zeugungsstrom, der mit dem Befruchtungskern des Blütenstaubkorns der pflanzlichen Eizelle in der Samenanlage die gleiche Wunderkraft verleiht? Ist es denn ein weniger wunderbares, weniger schleierbedecktes Geschehnis, wenn aus der winzig kleinen gestaltlosen Eizelle im Rosenfruchtknoten der ganze Rosenbusch mit seinem Blütenflor und seinen himmlischen Düften neu ersteht, als wenn aus der ebenso kleinen und gestaltlosen Kugel des menschlichen Eies der „gottähnliche“ Mensch hervorgeht?
Entweder wir verstehen den Vorgang in beiden Fällen, oder wir verstehen ihn in keinem von beiden. Nicht dass ein Mensch oder ein Rosenstrauch aus einer mikroskopisch kleinen „Zelle“ hervorgeht, ist das große Wunder und Rätsel des Lebens, sondern dass der Organismus, was immer für einer es auch sei, immer wieder aus solchen Anfängen sich neu gestaltet! Das Wunder ist nicht geringer, auch wenn es sich bloß um einen Schimmelpilz handelt, der aus einer „Spore“ neu hervorgeht, um wieder solche Sporen zu erzeugen. Die Wiedergeburt jeder einzelnen Lebensform, – das ist das große Naturmysterium, von dem wir allenfalls den äußersten Schleierzipfel ein wenig lösen, wenn wir dem Vorgang bis auf die Vereinigung der Fortpflanzungszellen, ihrer Kerne und „Chromosomen“ nachgehen.
Nur ein bisschen etwas von dem Weg, auf dem sich dies Mysterium immer wieder verwirklicht, erkennen wir dabei; nicht aber bekommen wir damit auch nur den Schimmer einer Erklärung dafür, dass es so ist, warum es so ist und wozu es so ist, und was denn den ganzen Mechanismus, der dabei beteiligt erscheint, so zielstrebig lenkt.
Mag es dem üblichen, „vorwissenschaftlichen“ Denken noch so paradox erscheinen: Es ist Tatsache, dass nicht einmal die Wunder des „bewussten“ Seelenlebens den Höhepunkt des Geheimnisvollen bilden; wir können diese immerhin, wenn damit auch weiter nichts gesagt ist, als Betätigungen der so und so beschaffenen Körper betrachten, – jedoch die Gestaltungskraft des Lebensstoffes ist für unser Verstehen in den mystischen Schleier gehüllt . Der kenntnislose und deshalb aufgeblasene Mensch nennt in pfauenartigem Stolz sich selbst das „Ebenbild Gottes“, – er ahnt nicht, dass jeder Lebensform solche Gottähnlichkeit zukommt, dass jede von ihnen ein „verkörperter Gedanke des Weltgeistes“ ist.
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Dehnen wir den Vergleich noch etwas weiter aus. Was muss nicht alles dem eigentlichen Zeugungsvorgang vorausgehen, sofern er nämlich ein „geschlechtlicher“ ist, das heißt, in der Vereinigung zweier verschiedener Keimzellen besteht. Wenn die beiden Arten von Keimzellen in verschiedenen Individuen entstehen, also Geschlechtertrennung (Gegensatz: Zwitter-Organismen) vorhanden ist, müssen zuerst Weibchen und Männchen zusammenkommen. In allen Fällen aber müssen sich dann auch die männlichen und weiblichen Keimzellen finden können. In dieser Hinsicht ist die Pflanze nicht weniger fein organisiert und mit nicht geringerer zweckstrebiger Handlungsfähigkeit ausgestattet als der tierische und auch der menschliche Organismus. Im Grunde ist es überall hübsch genau dasselbe.
Im Tierreich finden sich die Geschlechts-Individuen gegenseitig durch den Gesichts-, Geruchs- oder Gehörsinn. Diese Sinneseindrücke sind die „Signale“ für die zweckgerichtete Bewegungskette. Der unglaublich feine Geruchssinn, mit dem beispielsweise unter den Insekten die Schmetterlinge ausgestattet sind, indem die Männchen das Weibchen auf große Entfernung wittern, ist ja bekannt. Wir wollen aber bei diesem sich Finden der Individuen nicht verweilen, da hier keine unmittelbare Vergleichung möglich ist, insofern ja im Pflanzenreich das Individuum als solches nicht beweglich, das heißt nicht ortsveränderungsfähig ist. Es wird späterhin davon zu sprechen sein, welche spitzfindigen Einrichtungen der Lebenstrieb im Pflanzenreich geschaffen hat, um die zweckentsprechende Vereinigung der Geschlechter zu sichern.
Haben sich männliches und weibliches Individuum gefunden, so ist dies noch nicht für die Keimzellen der Fall. Diese müssen nun erst „zusammengebracht“ werden. Bei Tieren geschieht dies durch den Begattungsakt, den das Tier „von Natur aus“, das heißt, ohne die Notwendigkeit der Erfahrung oder Belehrung, zweckentsprechend auszuführen weiß. Es wird dabei vom „Gattungsgedächtnis“, das heißt der erblich gewordenen Erfahrung und Gewohnheit geleitet, wofür man das nichtssagende Wort „Instinkt“ geprägt hat. Heute vermeiden Psychologie und Verhaltensbiologie weitgehend die Bezeichnung Instinkt und ersetzen den Begriff zum Beispiel durch angeborenes Ver halten.
Durch den Begattungsakt werden die Keimzellen einander in die Nähe gebracht, gleichgültig, ob dies außerhalb des Körpers (im Wasser, wie zum Beispiel bei den Fischen und Lurchen) geschieht, oder ob die männlichen Keimzellen in den Körper des weiblichen Individuums gelangen. Das weitere aber bis zur tatsächlichen Berührung und Vereinigung ist Sache der Keimzellen selbst. Und das ist etwas sehr Merk - würdiges, etwas viel Merkwürdigeres, als die heutigen Biologen zugestehen wollen, die sich über die damit verbundenen Vorgänge mit dem bequemen, aber nur das Äußerliche bezeichnenden Begriff der „Reizbarkeit“ hinwegsetzen. Nämlich: Die Zweckhandlung, die zunächst in dem sich Aufsuchen der Individuen und dann in den Vorgängen der Begattung sich auswirkt, findet in dem sich Aufsuchen der nunmehr vom Individuum losgelösten Keimzellen ihre gleichsinnige Fortsetzung. Eine ganze Reihe von Unergründlichkeiten offenbart sich da.
Betrachten wir zunächst das Tatsächliche. Das Wesentliche, das hierbei für unsere augenblickliche Erwägung in Betracht kommt, ist der Umstand, dass die meist um sehr vieles größere weibliche Keimzelle (Ei) unbeweglich ist und das Herankommen der äußerst kleinen, aber lebhaft beweglichen männlichen (Spermatozoen) abwarten muss, während diese Letzteren die Eizellen aufzusuchen haben, wozu sie eben durch ihre Beweglichkeit befähigt sind. Das Spiel des sich Findens dieser beiden Arten von Keimzellen ist nun aber durchaus nicht etwa bloß dem Zufall anheimgestellt, wenn diesem auch durch die meist ungeheuere Zahl der Spermatozoen gegenüber den Eizellen in gewissem Maß Rechnung getragen ist. Dies Letztere hat aber auch wieder nur den Sinn eines zweckmäßigen, also vernunftgemäßen Ausgleiches der an sich ungünstigen Zufallswahrscheinlichkeit. Dabei ist es jedoch interessant und gibt zu denken, dass die angeblich bewusstlose, seelenlose und willenlose, keine Zwecke kennende Natur den an und für sich geringen Wahrscheinlichkeitsgrad einer bloß zufälligen Begegnung durch solche Überproduktion gerade der männlichen, beweglichen, sich nach allen Richtungen zerstreuenden Keimzellen auszugleichen weiß! Es bleibt dies aber trotzdem sozusagen nur eine ganz grobe Sicherungsmaßregel; so stümperhaft, dass die Erreichung des Vereinigungszweckes bloß durch eine solche Verbesserung der Zufallswahrscheinlichkeit gefördert wäre, arbeitet die Naturintelligenz nicht. Im Gegenteil: Wie wenig sie mit dem Wahrscheinlichkeitsgrade einer Zufalls-Begegnung rechnet, bezeugt sie in vielen Fällen gerade durch Bau und Beschaffenheit der weiblichen Organe, in denen häufig die Eizellen so geborgen sind, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zufalls-Auffindung fast oder ganz gleich null wird. Nehmen wir hierfür ein sicherlich sehr lehrreiches Beispiel gerade aus der Pflanzenwelt, das uns zugleich den Beweis für die ganz tierähnliche Organisation der Pflanze liefern wird, – zunächst wenigstens, soweit es diese Fortpflanzungsvorgänge betrifft.
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Dass die Moose eine ausgeprägte geschlechtliche Fortpflanzung haben, dürfte Naturunkundigen ziemlich unbekannt sein. Die Organe sind eben sehr klein, nur mikroskopischer Betrachtung zugänglich und außerdem bei den Laubmoosen in dem Blätterschopf des Stämmchengipfels wohlverborgen (Abb. A.2 u. B.3). Da stehen zweierlei Erzeugungsstätten geschlechtlich getrennter Keimzellen. Die männlichen (Antheridien) sind längliche, keulenförmige Körperchen, von einer dünnen Wand umkleidet; das Innere dieses Körpers zerfällt zur Reifezeit in eine große Zahl männlicher Keimzellen, die bei Benetzung mit Wasser (Regen oder Tau) infolge Aufbrechens der Wand frei werden und sich jetzt munter in dem Wassertropfen herumtummeln. Dazu sind sie durch den Besitz sogenannter „Geißeln“ befähigt, mittelst deren rascher Bewegung sie sich wie mit Rudern im Wasser fortbewegen. – An anderer Stelle stehen die weiblichen Organe (Archegonien), – winzig kleine, langhalsigen Flaschen nicht unähnliche Gebilde, in deren Innerem (im Raum des Flaschenbauches) die Eizelle (in jedem Archegonium nur eine einzige!) geborgen liegt als unbehäutete, verhältnismäßig große Protoplasmakugel, zugänglich nur durch einen engen Kanal im Inneren des Flaschenhalses, der zur Zeit der Befruchtungsreife eine freie Mündung nach außen hat. Da harrt nun die Eizelle des Ritters, der durch diesen engen Flaschenhals den Weg in ihr Miniaturschlösschen finden mag. Schlechte Aussichten, wenn hier nur der Zufall helfen kann! Man berechne die Wahrscheinlichkeit, dass von den im Wassertropfen richtungslos (also „auf gut Glück“) hin und her schwimmenden Spermatozoen eines davon gerade durch Zufall eine solche Richtung der Bewegung habe, dass es nicht nur auf ein Archegonium treffe, sondern in seiner Bewegung so gerichtet sei, dass diese Richtung allein es in den Eingangskanal und bis zur Eizelle führe! Wie gesagt: schlechte Aussichten!
Wozu hat nun wohl ein solches Spermatozoon, das sich von der Sekunde seiner Geburt an wie ein selbstständiger Organismus benimmt, seine Ruderorgane, seine „Geißeln“, mittelst deren es sich sehr schnell bewegen, seine Bewegungsrichtung ändern und auch eine bestimmte Richtung einhalten kann? – Wer hat nicht schon beobachtet, wie rasch und zuverlässig bei schönem Flugwetter Bienen und Wespen aus weiter Nachbarschaft sich um eine Honigschale sammeln, die man an das offene Fenster stellt? Wenn solche Gäste in der Umgebung überhaupt vorhanden sind, werden sie sich sicherlich an der Tafel einstellen, auch wenn vorher nichts von ihnen zu sehen war. Sie wittern den Süßstoff auf weite Strecken. Nun, – auch unsere Moos-Spermatozoen haben solche „Witterung“, und die Lockspeise geht von den Archegonien aus.
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Die Spermatozoen sind wie alle anderen, in flüssiger Umgebung frei beweglichen Mikroorganismen (Schwärmzellen) mit verschiedenen „Reizbarkeiten“ ausgestattet, d. h., sie besitzen das Vermögen, bestimmte Umweltverhältnisse oder Änderungen solcher wahrzunehmen (wir haben kein anderes Wort dafür) und ihre Bewegungen danach einzurichten. Diese Umgebungsreize sind, wie die Wissenschaft sich ausdrückt, „repräsentativ“, d. h., sie zeigen eine günstige oder ungünstige Lebens - situation an und werden in diesem Sinne (durch Annäherungsoder Fluchtbewegung) vom Organismus benützt. Das bedeutet, dass es ein System im Organismus gibt, welches die aufgenommenen Reize bewertet und ihnen das Attribut „günstig“ oder „ungünstig“ zuordnet. Von solchen Reizen interessieren uns hier nur die chemischen, deren Wesen darin liegt, dass der betreffende Organismus einen Unterschied in der räumlichen Verteilung bestimmter Stoffe in seiner näheren oder weiteren Umgebung wahrzunehmen und sich darauf einzurichten vermag.