Fatigue-Syndrom, auch Erschöpfungssyndrom genannt – dieser Begriff wird den meisten Menschen nichts sagen.
Ich habe dieses Buch geschrieben, um auf eine Erkrankung aufmerksam zu machen, die Menschen häufig aufgrund einer Krebsbehandlung, erleiden. Viele davon finden wieder in ihren normalen Alltag zurück, die Erschöpfung entwickelt sich zurück und vergeht schließlich. Doch bei Anderen, entwickelt sich das Fatigue-Syndrom zu einem chronischen Zustand, ihr Alltag wird von einer nicht enden wollenden Erschöpfung bestimmt. Mein Ziel ist es, genau diesen Betroffenen Mut zu machen, das Gefühl zu vermitteln, nicht allein mit dieser Krankheit zu sein. Ein paar meiner eigenen Strategien habe ich mit einfließen lassen, aber ich bin sicher, Sie werden Ihre finden.
Das Buch ist absichtlich etwas dünner gehalten, da ich weiß, wie schwer den meisten der Erkrankten, das Lesen von Büchern, ganz besonders von sehr ausführlichen Werken, fällt.
Dieses Buch ist für Torsten, Susi, meine Eltern, Klara, Paula und alle Menschen, die mich bis hierher begleitet, mich bestärkt und mir immer wieder Mut gemacht haben. Ich bin Euch allen unendlich dankbar.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2016 Name des Autors/Rechteinhabers Evelyn Kühne
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-743147454
Stell dir vor, du willst morgens aufstehen – doch es fällt dir unendlich schwer.
Stell dir vor, du gehst spazieren, kannst aber plötzlich vor lauter Erschöpfung nicht mehr weiter - nicht mehr einen Schritt.
Stell dir vor, du liest ein Buch, einen Satz, immer und immer wieder – doch du begreifst ihn nicht. In deinem Kopf ist nur noch Leere.
Stell dir vor, du fühlst dich fast jeden Tag, als ob eine schwere Grippe vor der Tür steht und du willst nur noch ins Bett, einfach deine Ruhe haben, liegen bleiben.
Stell dir vor, dieser Zustand geht nicht mehr vorbei, nie mehr. Er wird dich dein ganzes restliches Leben begleiten.
Du kannst es dir nicht vorstellen?
Etwas verkrampft saß ich im Wartezimmer meiner neuen Frauenärztin. Wie immer herrschte eine angespannte Atmosphäre, egal bei welchem Gynäkologen ich war, spürte ich das immer wieder. Zwar gab es Frauen, die miteinander plauderten, doch die meisten schwiegen und waren mit sich selbst beschäftigt. An den Wänden hingen nichtssagende Landschaftsaquarelle und die Broschüren auf dem Tisch, stärkten mein Unwohlsein eher noch.
Da schaute ich dann doch lieber zum Fenster hinaus, der Blick ging in einen Hinterhof, das war also auch nichts. Ich war nervös, nervöser als sonst, denn heute war ich zum ersten Mal hier, wie würde die neue Ärztin wohl sein.
Und noch etwas war in meinem Hinterkopf, ich wusste dass etwas mit meinem Körper nicht stimmt. Vor einigen Monaten hatte ich in meiner Brust eine Verhärtung entdeckt. Ich war gerade beim Duschen und fuhr mit den Fingern darüber und da ertastete ich es. Etwas, was dort ganz einfach nicht hingehörte, so wie ein Knubbel. Immer und immer wieder fuhr ich mit den Fingern darüber, doch die Verhärtung blieb wo sie war. Für mich war es ein Déjà-vus, ich fühlte mich wieder in eine Zeit vor vielen Jahren zurückversetzt.
Damals war ich 18, abends beim Waschen spürte ich plötzlich etwas, da war ein Knoten. Auf einmal war er da, er ließ sich hin- und herschieben, verschwand aber nicht. Gleich am nächsten Tag ging ich zum Arzt, der schickte mich weiter zur Mammographie, die aber bei meinem festen jungen Brustgewebe nicht möglich war. Die Aufnahmen zeigten keine eindeutigen Bilder. Also wurde gleich operiert um festzustellen ob gut- oder bösartig, eine andere Alternative gab es letzten Endes nicht. Ambulant, das bedeutete früh kommen und danach wieder nach Hause zu dürfen. In der DDR wurden Operationen dieser Art immer so ausgeführt, belehrte man mich und ich dachte mir nichts dabei. Die ganze OP lief unglaublich ab, es ging mir furchtbar und ich muss auch furchtbar ausgesehen haben, zumindest sah ich das Erschrecken im Gesicht meines Freundes ganz deutlich. Gleich nach dem Erwachen, wurde ich nach draußen auf den Gang verfrachtet und lag auf einer Pritsche, zwischen anderen Wartenden. Man brauchte den Aufwachraum für den nächsten Patienten. Später, wollte und wollte die Wunde nicht heilen und die entstandene Narbe sah alles andere als diskret aus. Ich litt unter ziemlichen Schmerzen, die nur langsam abklangen. Alles ganz normal, erklärten mir die Ärzte ständig. Später sollte ich erfahren, dass die Heilung nicht optimal verlaufen war, doch damals nahm ich alles hin.
Und dann, nach quälend langen 3 Wochen, kam endlich ein Lichtblick, nämlich der Befund – der Tumor war gutartig. Der Rest war mir eigentlich egal, ich war gesund.
Und dann, nach so vielen Jahren, die gleiche Geschichte. Wieder ging ich gleich zu meiner Ärztin, ich wohnte damals noch in der Nähe von Dresden. Sie beruhigte mich, die Verhärtung hing ganz sicher mit der alten OP zusammen, irgendwelche Veränderungen im Narbenbereich. Eine Mammographie war nicht nötig, im Gegenteil sogar völlig überzogen. Ich muss sagen, ich fand die Erklärung oberflächlich beruhigend, ich fand sie irgendwie erleichternd oder praktisch, aber irgendwo tief drinnen in mir gab es einen Punkt, der skeptisch war, der ihren Worten nicht glaubte.
Dennoch vertraute ich ihr, ich unternahm nichts, holte mir keine zweite Meinung ein. Warum – ich kann es nicht sagen, vielleicht wollte ich gar nicht wissen, was ich da eigentlich in mir trug. Der kleine Knubbel aber blieb, hartnäckig. Beim Duschen fiel er mir immer mal wieder auf, er erinnerte mich, vielleicht mahnte er mich sogar ein wenig. Ich sprach mit niemandem darüber, nicht mit meinem damaligen Mann und nicht mit meiner Tochter, ich behielt es einfach für mich.
Und nun 1 Jahr später, ich war vor kurzem zu meinem neuen Lebensgefährten gezogen, hatte ich mir eine neue Ärztin gesucht, hier vor Ort, in meiner neuen Heimat. Es stand die alljährliche Kontrolluntersuchung an. Die Ärztin entpuppte sich als eine sehr sympathische bodenständige Frau. Sie führte mit mir ein kurzes Vorgespräch und ließ sich meine Geschichte schildern.
Anfangs war alles okay, vaginale Untersuchung - gut, Krebsabstrich – naja, da wusste man nie was rauskommt. Dann sagte sie die Worte, die mich in Panik versetzten: „So, nun würde ich am Schluss noch einmal die Brust untersuchen.“ Mein Herz schlug bis zum Hals, ich streifte das T-Shirt nach oben, legte den BH ab und stellte mich mit nacktem Oberkörper hin. Zuerst die eine Brust und dann die andere. Die Ärztin betrachtete meine Narbe und fragte noch einmal nach der Vorgeschichte. Sanft strich sie darüber und begann abzutasten. Ängstlich sah ich in ihr Gesicht, ich sah die Stirnfalten kommen und wieder gehen. Ich bemerkte, dass sie immer wieder über die gleiche Stelle tastete, eine Stelle, die mir wohl bekannt war.
„Gut, ziehen Sie sich wieder an.“ Gottseidank, Erleichterung machte sich in mir breit. Anscheinend sah sie die Sache ähnlich undramatisch, wie die andere Frauenärztin. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und ließ mich dann Platz nehmen. Sie schrieb und schrieb und nahm dann schließlich aus dem Schubkasten ein gelbes Überweisungsformular. „Ich würde Sie gern mal zur Mammographie schicken, in ihrer operierten Brust, ist eine Veränderung. Das klären wir mal lieber ab. Haben Sie die Verhärtung nicht schon selbst bemerkt?“ Mit einem Ruck sah sie mich an, schaute mir ernst in die Augen.
Ich holte Luft, „Ja, ich hab es bemerkt, aber meine alte Ärztin meinte, es würde mit der damaligen Geschichte zusammenhängen.“ Ich merkte selbst, wie lahm diese Erklärung plötzlich klang und doch hatte sie es genauso gesagt und ich hatte mich darauf verlassen.
Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Hm, das wäre möglich, natürlich könnte es genauso sein, aber wie gesagt, wir klären das mal lieber ab. Dann haben wir Gewissheit, sie sind beruhigt und alles ist gut.“
Mit dem gelben Schein in der Hand verließ ich die Praxis, nichts war gut. Zu Hause musste ich mich erst einmal setzen. Das Unwohlsein in mir hatte sich wieder verstärkt. Sofort waren die alten Ängste da, ich war in die Zeit von damals zurückversetzt, die lange Dauer des Wartens, bis endlich der positive Befund gekommen war, die Probleme mit der Wundheilung, die Schmerzen. Am Abend kam mein Lebensgefährte Torsten nach Hause.
Wir kannten uns noch nicht lange, genauer gesagt, eigentlich erst seit drei Monaten. Ich war vor einem Jahren 40 geworden und an einem Punkt in meinem Leben angekommen, wo ich vieles in Frage stellte, meine Lebensziele überprüfte. Nach fast 23 Jahren, hatte ich mich schließlich von meinem Mann getrennt.
Vorher war ich ins Internet gegangen und meldete mich auf einem dieser Kennenlern-Neue Liebe-Portale an. Meinen ganzen Mut hatte ich dafür gebraucht, aber ich wollte noch einmal mein Glück finden. Einen neuen Partner kennenlernen – einfacher gesagt wie getan. Eine Zuschrift gefiel mir, sogar sehr. Wir hatten uns schließlich verabredet, wollten zusammen ins Kino gehen.
Und dann stand er vor mir – Torsten und ich wusste vom ersten Augenblick an, er ist es.
Ich hatte eine neue Liebe gefunden, war überglücklich und nun das. Wir wollten das Gleiche im Leben, verstanden uns blind, ohne große Worte. Er machte mir Mut und nahm mich einfach in den Arm, „Wir machen uns nicht verrückt. Wir lassen es testen und dann sehen wir weiter. Ganz sicher ist alles gut. Du weißt doch, wir beiden sind Glückskinder, hätten wir uns sonst gefunden?“ Das klang vernünftig, doch mir war einfach nur jämmerlich zu Mute. Was, wenn ich doch etwas Ernsthaftes hatte, würde er zu mir halten? Wie viele Männer ließen ihre Frauen sitzen, weil sie mit so einer Krankheit nicht umgehen konnten. Es wäre auf jeden Fall ein schwerer Start für uns beide.
Gleich am nächsten Tag setzte ich mich ans Telefon und machte mich auf die Suche nach einem Termin. Das gestaltete sich schwieriger als ich gedacht hatte. Die Wartezeiten erschreckten mich, teilweise drei Monate und länger, das hielt ich nervlich nicht aus. Jetzt wollte ich möglichst schnell Gewissheit haben. In einer Praxis, ganz in der Nähe meiner Arbeitsstelle, hatte ich schließlich Glück, eine Patientin war krank geworden, schon nächste Woche konnte ich kommen.
Am Nachmittag hatte ich einen Außer-Haus-Termin. Ich arbeitete im Büro einer Bestattung, eine Arbeit, die mir riesengroßen Spaß machte. Jeder zuckte zurück, wenn ich sagte, was ich machte, doch mich bestärkten die Anerkennung und das Lob der Angehörigen jeden Tag aufs Neue. Wenn die Menschen hinterher zu mir kamen und sich für meine Arbeit bedankten, das war eine tolle Bestätigung. Wenn die Urne schön geschmückt war, die Musik gut passte und die Rede nicht nur Tränen, sondern auch schöne Erinnerungen hervorholten – was gab es Schöneres.
Ich arbeitete hier seit etwa zwei Jahren. Vorher war ich selbstständig, ich hatte ein eigenes Geschäft und verkaufte Erzgebirgische Sachen, also Pyramiden und Räuchermänner. Ich liebte diese Dinge einfach und dieser Laden war mein Baby. Wie sehr hatte ich ihn mir gewünscht und nun war mein Traum in Erfüllung gegangen. Das Konzept stimmte, die Leute kamen gern, auch von weiter her und immer wieder. Doch der Sommer war lang und die Weihnachtszeit so furchtbar kurz. Irgendwann ging es nicht mehr, eine Baustelle vor meinem Laden, gab mir den Rest.
Die finanzielle Situation war verheerend, jeden Monat steckten wir Geld rein und doch reichte es nicht. Wir rechneten alles durch, hoch und runter – es gab keine Lösung. Mein damaliger Mann unterstützte mich so gut es ging, aber jetzt war Schluss, es musste einfach Schluss sein. Ich heulte, war verzweifelt, ich wollte nicht aufgeben, ich war doch eine Kämpferin. Und tat es dann doch, ich setzte mich hin, kündigte meinen Mietvertrag und schlief zum ersten Mal seit Monaten wieder eine ganze Nacht durch. Da war Sommer, ich machte einen allmählichen Ausverkauf, senkte langsam die Preise und am 31. Dezember war es vorbei. Der Laden war leer, die Regale weg, die Ware verkauft.
Noch einmal drehte ich eine Runde durch die leeren Räume und verabschiedete mich. Die Vermieterin kam zur Übergabe und ich überreichte meine Schlüssel. Wie hatte mir vor diesem Moment gegraut, doch ich drehte mich nur um und ging, es war ganz leicht. Ich war einfach befreit und mir sicher, es war die richtige Entscheidung gewesen.
Nun musste ich mir also wieder eine Arbeit suchen. Ich schaute in der Zeitung und im Internet. Die Suche war schwerer als anfangs gedacht. Niemand wollte jemanden einstellen, der selbständig gewesen war. Man befürchtete vermutlich, dass ich mich nicht unterordnen könne. Und dort im Internet, war mir dann doch die Stellenanzeige einer Bestattung aufgefallen, sie sprang mir geradezu ins Auge. Dennoch traute ich mir die Arbeit anfangs nicht zu. Ich sensible, die bei jedem Film in Tränen ausbrach oder bei berührenden Liedern feuchte Augen bekam. Wie sollte ich mit Trauernden umgehen, mit Leichen – unvorstellbar.
Trotzdem rief ich an und durfte zum Vorstellungsgespräch vorbeikommen. Aufgeregt fuhr ich hin, mir war furchtbar schlecht.
Das Gespräch war sehr nett, wir fanden gleich die richtige Wellenlänge und schließlich sprach ich über meine Ängste und Befürchtungen. Der Inhaber sah das ganz pragmatisch, er vereinbarte mit mir eine Probearbeitswoche, während der ich in meinen neuen Job reinschnuppern sollte. Am Ende würden wir uns zusammensetzen und entscheiden ob Ja oder Nein.
Und so stand ich aufgeregt am Montag in der Bestattung, in meinem dunklen Hosenanzug und durfte mit einem der Mitarbeiter gleich erst einmal zwei Tote in der Pathologie des Krankenhauses abholen, das würde sozusagen mein Einstand sein. Mein Kollege war ein jüngerer sehr lustiger Mann, wir verstanden uns auf Anhieb. Wir hatten denselben Humor und er führte mich einfühlsam an die Materie heran. Im Keller standen wir schließlich vor einer Bahre, der Tote war mit einem Tuch abgedeckt und ich hielt den Atem an.
„Angst?“, fragend sah er mich an und ich nickte.
„Der erste richtige Tote?“, wieder nickte ich.
„Okay, pass auf, ich guck drunter und wenn der Anblick in Ordnung ist, dann schaust du. Wenn nicht, wir haben ja noch einen.“
Mit der Hand wies er zu der zweiten Bahre, die genau daneben stand.
Ich nickte, er schlug das Laken zurück und ich sah meinen ersten Toten. Er lag friedlich da, es war ein alter Mann. Wäre die Blässe und die etwas ungewöhnliche Färbung der Haut nicht gewesen, würde man denken, er schlief einfach nur.
Wir packten ihn in den Abholsarg und brachten ihn mit dem Fahrstuhl nach oben. Am Nachmittag durfte ich eine ältere Frau für eine Abschiednahme mit vorbereiten. Wir zogen ihr die abgegebenen Kleider an und zum Schluss kämmte ich ihr noch die Haare. Mit gefalteten Händen und entspannten Gesichtszügen lag sie da. Dann kam ihre Familie, schweigend standen sie am Sarg.
Jeder verabschiedete sich auf seine Art. Hinterher drückte mir die Tochter meine Hand. „Ich danke ihnen, meine Mutter sieht so friedlich aus. Das haben sie schön gemacht.“ Dieser Dank berührte mich sehr, ich freute mich und merkte, wie viel Spaß mir dieser Tag trotz allem gemacht hatte. In der Nacht wartete ich darauf, von Toten zu träumen. Doch es geschah nichts, auch nicht in den anderen Nächten und am Ende der Woche hatte ich den Job. Da war ich dann schon mit auf Trauerfeiern gewesen, hatte Beratungsgesprächen gelauscht und den ganzen Behördenkram kennengelernt. Das war genau mein Ding, ich hatte mit Menschen zu tun, ich konnte helfen und ein kleinwenig verkaufen.
Natürlich starben nicht nur alte Leute, auch Kinder, dies ging mir schon sehr nahe, doch ich versuchte professionell zu sein und den Trauernden mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ich hatte das Gefühl, dass die ständige Konfrontation mit dem Tod, meine Sichtweise auf das Leben veränderte.
Und so vergingen die Monate, ein Trauerfall folgte auf den nächsten. Ich stellte Blumenschmuck und Musik zusammen, gab Ratschläge für den richtigen Sarg oder die passende Urne, gestaltete Traueranzeigen, wählte Redner aus und ging sooft es möglich war mit zur Trauerfeier auf den Friedhof. Für die Hinterbliebenen war es leichter, ein vertrautes Gesicht an diesem schweren Tag zu sehen. Mittlerweile hatte sich eine gewisse Routine eingestellt. In meine neue Aufgabe, hatte ich mich schnell und souverän eingearbeitet. Das war eine meiner Stärken, man erklärte mir gewisse Dinge und sehr schnell beherrschte ich sie, als hätte ich noch nie etwas anderes gemacht.
Doch plötzlich änderte sich alles. In kurzer Abfolge hatte ich drei Sterbefälle von Frauen, alle in meinem Alter. Alle litten an der gleichen Krankheit, sie hatten Krebs gehabt und waren daran gestorben. Das war an sich nichts ungewöhnliches, doch diesmal war alles irgendwie anders.
Die Angehörigen saßen vor meinem Schreibtisch und schilderten mir mehr oder weniger sachlich ihre Wünsche. Ich war unkonzentriert, betroffen, irgendwie berührter wie die Betroffenen selbst. Bei den Trauerfeiern saß ich oben auf der Empore und spielte die sorgfältig ausgesuchten Musikstücke ab. Ich lauschte den Reden, ich betrachtete die Toten im Sarg oder sah die Bilder, die neben der Urne standen. Alles war so wie immer, eigentlich.
Und doch bekam ich diesmal diese Bilder einfach nicht mehr aus meinem Kopf.
Besonders der letzte Trauerfall, blieb mir in Erinnerung und das bis heute. Die Frau war an Brustkrebs gestorben. Ihr Mann und die beiden Töchter wünschten, dass die Tote in einem bunten Sommerkleid beerdigt werden sollte, es war ihr Lieblingskleid. Sie hatten sich vorher zusammen mit der Verstorbenen viele Gedanken gemacht. Um ihren Kopf wickelten wir ein passendes Tuch und die nahen Angehörigen legten letzte Abschiedsgrüße in den Sarg. Ein selbst gemaltes Bild, ein besonders schöner Stein, eine Muschel vom letzten Urlaub. Lange stand ich da und schaute die Frau an. Sie war mir unbekannt und doch fragte ich mich, wie wohl ihr Leben gewesen war. Vor kurzem hatte sie noch gelacht, hatte sich um ihre Kinder gekümmert, ihren Mann geküsst. Ich verstand selbst nicht, warum es mich so beschäftigte.
Dann kam die Trauerfeier. Die ältere Tochter hatte darauf bestanden die Rede für ihre Mutter zu halten. Egal was ich sagte, sie ließ sich davon nicht abbringen. Sie war genauso alt, wie meine Tochter. Ihre jüngere Schwester spielte dazu auf der Geige, die beiden Kinder gestalteten sozusagen die Trauerfeier. Das Mädchen erzählte von ihrer Mutti, wie gerne sie gekocht und wie sehr sie das Bügeln gehasst hatte. Wie viele Pläne sie noch in sich trug.
Es war das Emotionalste was ich jemals erlebt hatte. Ich saß allein dort oben und heulte, hinterher war ich nicht mal in der Lage, den Gang zum Grab mit anzutreten. Ich schlich mich nach draußen und in mein Büro. Dort ging ich an meine stillen Reserven und rauchte eine Zigarette. Dies tat ich vielleicht einmal im Jahr, aber heute musste es einfach sein.
Selbst am Abend ging es mir nicht besser. In dieser Nacht träumte ich von einem Sarg. Vor dem Altar war er aufgebahrt. Ich öffnete die Tür und kam langsam näher. Die Stuhlreihen waren leer, außer mir war niemand im Raum. Meine Schritte hallten durch die leere Kirche. Ich trat heran, blickte hinein und sah mich im Sarg liegen. Ich trug eines meiner Kleider und um meinen Kopf war ein Tuch geschlungen. Schweißgebadet wachte ich auf.
Am nächsten Tag ging alles seinen gewohnten Gang, aber das Erlebte steckte mir in den Knochen. Ich versuchte mit meinem Chef darüber zu sprechen, doch er verstand meine Gefühle nicht.
Auch mein Kollege war ratlos und meinte, dieser Zustand würde auf jeden Fall wieder vorbeigehen, ganz sicher sogar.
In den nächsten Wochen musste ich immer wieder an diese Frau denken. Ich besuchte einmal sogar ihr Grab und legte Blumen darauf. Auf dem Holzkreuz stand ihr Name und darunter Geburts- und Sterbedatum, schlichte Buchstaben und Zahlen – doch sie standen für einen Menschen. Warum ich mich ihr so nah fühlte, obwohl ich sie nie lebend gekannt hatte, ich verstand es einfach nicht.
Es war einer meiner letzten Sterbefälle, die ich begleiten durfte. Aber das wusste ich damals natürlich noch nicht.
Der Tag der Mammographie war gekommen. Ich fuhr nach Feierabend mit dem Auto hin. Torsten hatte mir am Morgen Glück gewünscht, mich in den Arm genommen und gesagt: „Wir sind Glückskinder, denk immer daran, was soll uns schon geschehen.“
Den ganzen Tag konnte ich an nichts anderes denken, vor lauter Verzweiflung hatte ich eine ganze Tafel Schokolade verdrückt.
Das half immer, aber heute leider nicht. Mit flatternden Nerven suchte ich vor dem großen Ärztehaus eine Parklücke. Im Inneren irrte ich kurz umher, ehe ich die Radiologie schließlich im Kellergeschoß entdeckte. Als ich die Stufen zur Praxis hinabstieg, war ich plötzlich ganz ruhig. In mir war eine Gewissheit, ich wusste, ich habe etwas und ich wusste, dass es schlimm war. Aber ein winziger Funken Hoffnung, das alles gut werden würde, war trotzdem noch da.
Das Wartezimmer war gut gefüllt, doch kaum hatte ich Platz genommen, rief mich eine Stimme auf. Finstere Blicke der anderen Patienten folgten mir, als ich in den Untersuchungsraum ging.
Beim Anblick der Schwester musste ich lächeln. „Mensch, das gibt`s nicht.“, sagte sie, „Sie haben doch meine Oma beerdigt.
Noch heute reden wir von der schönen Feier.“ Unser belangloses Gespräch nahm mir ein wenig die Angst. Wir plauderten einfach nur so drauflos. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie die Diagnose auf dem Überweisungsschein aufmerksam und mit leichten Stirnfalten las.