Sandspiele

Mein Leben im Beachvolleyball-Sportinternat

Tanja Korf

Books on Demand

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Abschied ohne Tränen

Kapitel 2: Überraschungen und andere Katastrophen

Kapitel 3: Supertalente

Kapitel 4: Ein Spitzen-Beachvolleyballer

Kapitel 5: Das Internat

Kapitel 6: Mama reloaded

Kapitel 7: Meine kleine Welt

Kapitel 8: Kleine Schwester

Kapitel 9: Spiel ohne Sieger

Kapitel 10: Großer Meister

SANDSPIELE

Kapitel 1

Abschied ohne Tränen

Er hasst mich seit dem Tag meiner Geburt, das hat er mir immer wieder bewiesen und mehr als einmal gesagt. Aber nun kann er mir nichts mehr anhaben, denn dort liegt er in seinem Pflegebett und sieht nicht mehr wie der Mensch aus, vor dem ich mein Leben lang Angst hatte. An unzählige Geräte angeschlossen wirkt er wie ein Versuchsobjekt aus Draculas Horrorwerkstatt. Fasziniert verfolge ich die Drähte und Schläuche mit den Augen, die von seinem Körper weg zu piepsenden und glucksenden Maschinen führen. Er sieht aus wie ein Toter und für mich ist er es auch. Nein, vor diesem Mann muss ich mich wirklich nicht mehr fürchten.

„Möchtest du nicht lieber draußen warten, Dominik?“, fragt die Schwester, aber mich fesselt dieser Anblick auf eine grausame Weise und ich schüttele nur stumm den Kopf.

„Dominik ist nur hier, um von seinem Großvater Abschied zu nehmen“, sagt meine Oma leise und lächelt mir zu. „Wir möchten ihm diese trostlosen Besuche nicht länger zumuten und Clemens, mein Mann, hat dafür sicher Verständnis.“

Diese Lüge geht ihr so glatt über die Lippen, dass sogar ich sie für einen Augenblick glaube. Mein Großvater hat nämlich für viele Menschen Verständnis, aber ganz bestimmt nicht für mich. Schließlich bin ich derjenige, der seinen Lebenstraum zerstört hat.

Ich sehe zu meiner Mutter herüber, die mit ihren einunddreißig Jahren unnatürlich verbraucht und müde aussieht. Seit ich zwei Jahre alt bin, arbeitet sie nämlich als Bedienung in einer billigen Kneipe. Damals war sie neunzehn.

Wilhelm ist ein Ekel! Zwar haben wir nicht sonderlich viel miteinander zu tun, aber jedes einzelne unserer bisherigen Treffen war mir unangenehm und hat mir Bauchschmerzen verursacht. Seit zwölf Jahren arbeitet sie nun für diesen Idioten und hat niemals eine Gehaltserhöhung bekommen, aber als ungelernte Kraft findet sie keine andere Arbeit und schließlich bringt sie täglich warmes Essen mit nach Hause, gelegentlich bekommt sie sogar Trinkgeld von den Gästen. Leider arbeitet sie hauptsächlich abends und nachts, sieben Tage in der Woche. Tagsüber schläft sie, so dass ich oft allein bin.

Meinen Vater kenne ich nicht, aber ich bin sicher, er würde mich vor diesen beiden Männern beschützen, vor Opa und Wilhelm. Irgendwann werde ich ihn finden, da bin ich mir ganz sicher.

Vor fünfzehn Jahren, also als sie selbst gerade erst sechzehn war, lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Er war drei Jahre älter als sie und als Austauschstudent in der Stadt. Sie lernte ihn im Schwimmbad kennen und war sofort verliebt. Er war nicht nur ein sehr guter Schwimmer, sondern vor allem ein erfolgreicher Volleyballspieler und in jenem Jahr spielte er im Volleyballteam der Uni in Hamburg, an der er studierte.

Von meinem Großvater wurde Mama streng erzogen und, wenn er auf Geschäftsreise war, von Oma nach Strich und Faden verwöhnt. Das war natürlich alles andere als konsequent und mit Sicherheit der Grund dafür, dass sie sich ohne großartige Überlegungen in das Abenteuer mit meinem Vater gestürzt hat.

Nach und nach lernte Oma meinen Vater besser kennen und schließlich war sie beruhigt, denn er machte wohl einen guten Eindruck auf sie. Immer wieder spricht sie mit mir darüber, wie sanft, einfühlsam und freundlich er damals war, als sie ihn kennenlernte. Doch es kam, wie es kommen musste, als meine Mutter nach drei Monaten feststellte, dass sie schwanger war, explodierte mein Großvater vor Wut und Enttäuschung. Er sperrte sie in ihr Zimmer und machte ihr und meiner Oma die größten Vorwürfe. Mein Vater hatte keine Chance, Mama zu treffen. Fortan legte mein Großvater seine Termine so, dass er seine Tochter zur Schule bringen und hinterher wieder abholen konnte. Den Rest des Tages musste sie im Haus verbringen. Er schlug sie sogar, wie meine Oma mir einmal erzählte. Das hatte mich damals überrascht, denn so gemein und niederträchtig mein Opa mir gegenüber auch war, geschlagen hat er mich nie, aber seine Worte waren schon verletzend genug.

Sandra, die beste Freundin meiner Mutter, versuchte, meinen Vater ausfindig zu machen, um Nachrichten auszutauschen, aber sie fand ihn erst nach mehreren Tagen. Es gab ein langes Gespräch. Sandra berichtete, dass er mehrfach bei uns zu Hause geklingelt, mein Opa ihn aber jedes Mal weggeschickt und behauptet habe, dass meine Mutter ihn nicht sehen wollte. Das war natürlich gelogen und mit dieser Lüge hat mein Großvater nicht nur das Leben meiner Mutter zerstört, sondern auch meins, Monate, bevor ich überhaupt geboren worden war.

Sandra erzählte meinem Vater von der Schwangerschaft, er soll regelrecht aus dem Häuschen gewesen sein und wunderte sich, dass es meiner Mutter nicht irgendwie gelungen war, Kontakt mit ihm zu halten, aber Mama hatte damals keine Kraft. Sie war erst sechzehn, schwanger, ängstlich und allein.

Mehrfach hat mein Vater einen Versuch unternommen, Mama zu treffen, aber immer wieder ist er an der Haustür abgeblitzt. Auch Oma ließ ihn nicht herein und das wirft sie sich noch heute manchmal vor.

„Sie haben sich geliebt“, sagte sie einmal traurig zu mir. „Und ich hätte ihnen helfen müssen.“

Etwa ein halbes Jahr später kam ich auf die Welt. Meine Mutter nannte mich Dominik und gab mir als zweiten Vornamen den Namen meines Vaters: Jonas. Ich kenne den Vornamen meines Vaters, ich weiß, dass er aus einem anderen Land kommt, drei Jahre älter ist als meine Mutter, die gleichen Augen und ein identisches Muttermal am Hals hat wie ich und dass er Volleyball spielt. Das ist alles. Mehr weiß ich nicht über ihn. Mein Vater ist mir fremd und das ist die Schuld des Mannes, der hier vor meinen Augen in diesem Krankenhausbett liegt und für den ich überhaupt nichts fühle.

„Lasst uns gehen“, weckt Oma mich aus meinen Gedanken und wir verlassen das Privatzimmer. Oma lädt uns zum Abendessen ein und als wir uns anschließend aufmachen wollen, in unsere trostlose, enge Wohnung zurückzukehren, hat Oma eine Idee: „Wartet! Ich will euch noch etwas zeigen.“ Sie steigt die Treppe zum Obergeschoss hinauf und wir folgen ihr. An der Tür zu Mamas altem Zimmer angekommen, öffnet sie diese und fragt: „Kannst du dir vorstellen, hier wieder zu wohnen?“

Tränen erscheinen im Mamas Augen und sie fragt leise: „Ohne Papa?“

„Ohne Papa.“

„Ja, ich kann es mir sehr gut vorstellen.“

Mama betritt ihr altes Zimmer, das unverändert ist, und Oma öffnet die dem Zimmer gegenüber liegende Tür. „Und du?“, fragt sie mich. „Kannst du dir vorstellen, in diesem Zimmer hier zu wohnen?“

Verblüfft schnappe ich nach Luft. Die Tür führt zu dem größten Zimmer im Obergeschoss, das mit alten Kisten und Kartons vollgestopft ist und einen Wahnsinnsausblick auf die Elbe hat.

„Ist das dein Ernst?“, frage ich aufgeregt.

„Natürlich!“

„Aber sicher. Das Zimmer ist riesig. Es ist klasse. Danke, Oma.“

„Dann sollten wir Pläne machen. Natürlich braucht ihr neue Möbel, Gardinen, Tapeten und Teppiche, darum kümmern wir uns in den nächsten Tagen. Ich besorge Möbelkataloge.“

Ein neues Zimmer, ich kann es kaum glauben. Jetzt muss Mama nur noch ihren Job bei Wilhelm, diesem Ausbeuter, kündigen und das Leben kann endlich beginnen.

Ich kann es kaum erwarten, meinem Kumpel Ben in der Schule von den Veränderungen in meinem Leben zu erzählen. Heute haben wir Volleyballtraining mit der Schulmannschaft, aber für morgen verabreden wir uns und gehen direkt nach dem Unterricht in die Villa, in der Oma schon wartet. Mama ist nicht da, sie hat eine anstrengende Schicht in der Gaststätte hinter sich und schläft wahrscheinlich noch, aber Oma ist schon dabei, durch die Kataloge zu stöbern. Zuerst bereitet sie uns Mittagessen zu, aber weil wir ungeduldig sind, essen wir schnell, greifen anschließend zu den Katalogen und gehen damit nach oben in das riesige Zimmer.

Die Villa ist sehr geräumig, früher kam sie mir dunkel und bedrückend vor, aber seit mein Großvater im Krankenhaus liegt, liebe ich dieses Haus. Niemals wollte er etwas renovieren oder verändern, aber nun darf ich mir Farbe und neue Möbel für mein Zimmer aussuchen und außerdem bekomme ich ein eigenes Badezimmer, das auch noch renoviert werden soll.

„Übermorgen kommen ein paar Leute, die die Kisten und Kartons auf den Dachboden schleppen. Für Montag habe ich die Maler bestellt, sie werden erst die Tapeten entfernen und hinterher alles neu streichen oder tapezieren.“

„Die Tapeten können wir auch selbst abreißen, oder, Domi?“, fragt Ben und zieht an einem losen Ende. Ich fasse mit an und auch Mama, die von unserem Lärm aufgewacht ist, hilft uns. Oma holt Müllsäcke aus der Küche, aber bald sind alle aufgebraucht und wir müssen die Restarbeit auf einen der nächsten Tage verschieben. Dafür nehmen wir jetzt die Gardinen ab und rollen den alten Flickenteppich zusammen, der ordentlich staubt.

Nachdem ich einen ganzen Nachmittag in meinem neuen Zimmer verbracht habe, kommt mir unsere Wohnung wie eine Besenkammer vor. Mit wenigen Schritten habe ich das kleine Schlafzimmer durchquert, aber das Wohnzimmer ist noch viel kleiner. Mama erscheint mit ein paar Kisten und Tüten und fragt: „Willst du schon mal ein paar Sachen zusammenpacken? Ich will hier so schnell wie möglich raus und ich denke, wir können genauso gut bei Oma in den Gästezimmern schlafen, während unsere Zimmer renoviert werden. Was meinst du?“

„Was ich meine? Bloß raus aus dieser Wohnung!“

Sofort beginne ich, mein Eigentum zu verpacken. Mama hilft mir. Ich besitze nicht viel, ein wenig Kleidung und ein paar Bücher. Die Kisten sind schnell gepackt, ich stapele sie in einer Ecke des Wohnzimmers und auch Mama türmt ihre übersichtlichen Besitztümer dort auf.

„Was ist mit den Möbeln?“, frage ich.

„Die werden jetzt endlich das, wonach sie aussehen“, sagt Mama kichernd. „Sperrmüll!“

„Perfekt!“, stimme ich lachend zu.

Wann haben wir das letzte Mal zusammen gelacht, meine Mutter und ich? Es muss eine Ewigkeit her sein, aber heute sind wir glücklich, allerdings nur bis zu dem Moment, als es an der Tür klingelt.

„Was macht ihr?“, fragt Wilhelm. Was will der denn hier? Muss er uns jetzt unbedingt stören? Wir hatten gerade so viel Spaß! Natürlich verziehe ich mich sofort in mein Zimmer, denn diesem Kerl geht man am besten aus dem Weg. Allerdings bin ich neugierig, was er hier will, deshalb lausche ich an der Tür.

„Wir ziehen in die Villa“, sagt Mama verlegen und auf einmal ist von ihrem Lachen und ihrer Fröhlichkeit nichts mehr zu spüren.

„Warum?“

„Meine Mutter hat es heute angeboten.“

„Was ist mit dem Alten?“

„Mein Vater wird nicht wieder gesund. Die Ärzte haben es heute nochmal bestätigt. Er kommt nicht zurück.“

„Und du ziehst wieder zu Mutti, ja?“, fragt Wilhelm sarkastisch.

„Überall ist es besser als hier“, verteidigt sie sich.

„Ich wundere mich sowieso, warum du in diesem Loch wohnst, schließlich bist du eine Millionenerbin.“

„Du weißt, dass ich kein Geld habe“, erwidert sie leise.

Natürlich hat sie kein Geld, Wilhelm zahlt ihr schließlich nur einen Hungerlohn und von Opa hat sie schon lange nichts mehr bekommen. Ich bin sicher, das weiß er auch.

„Weil du es nicht richtig anpackst“, meckert er los. „Aber jetzt, wo dein Alter bald einen Abgang macht, ist es ja nur noch eine Frage der Zeit, bis dir dein Erbe ausgezahlt wird und dann legen wir endlich los!“

„Was hast du mit Mamas Erbe zu tun?“, frage ich wütend und stürme ins Wohnzimmer.

„Hast du uns belauscht?“, motzt Wilhelm.

„Das war gar nicht nötig, dafür hast du viel zu laut gebrüllt.“

„Ich helfe dir gleich. Sieh zu, dass du in dein Zimmer kommst. Wir haben hier etwas Wichtiges zu besprechen.“

„Das ist nicht mehr mein Zimmer. Hast du nicht gehört? Wir ziehen in die Villa und wenn Mama schlau ist, kündigt sie bei dir und wir sind dich endlich los.“

Wilhelm holt mit seiner riesigen Pranke aus, aber ich kann mich gerade noch ducken, laufe in mein Zimmer und schließe hinter mir ab. Er folgt mir und hämmert gegen die Tür. „Mach auf oder ich schlage die Tür ein!“, brüllt er.

„Wilhelm, nicht“, sagt Mama leise. „Er hat es nicht so gemeint.“

„Natürlich habe ich es so gemeint!“, rufe ich sauer, aber was diesen Typen angeht, verstehe ich Mama sowieso nicht. Normalerweise müsste sie ihn jetzt aus der Wohnung werfen, aber sie versucht, ihn zu besänftigen. Mit Engelszungen redet sie auf ihn ein, aber erst, als sie ihm einen Schnaps anbietet, beruhigt er sich. Als ich nach über einer Stunde das Zimmer verlasse, sitzen sie am Küchentisch, die Schnapsflasche ist fast leer.

„Hat die Kneipe heute zu, oder warum sitzt ihr hier noch herum?“

„Das geht dich nichts an!“, lallt Wilhelm. „Verzieh dich.“

„Geh lieber ins Zimmer“, sagt Mama leise und mir reicht es jetzt! Ich hasse es, dass sie ihn vor mit in Schutz nimmt, und ich bin sauer, dass er unsere Pläne durchkreuzt, schließlich wollten wir zu Oma ziehen, aber daraus wird heute anscheinend nichts mehr. Ich befürchte, dass dieser Mistkerl über Nacht bleibt und er mir morgen beim Frühstück gegenübersitzt. Dazu habe ich überhaupt keine Lust, deshalb stehe ich am nächsten Morgen schon um fünf Uhr auf und warte auf der Bank vor der Schule auf Ben.

Donnerstag sind die beiden Zimmer in der Villa leer geräumt und der Maler hat ein Tapetenmusterbuch abgegeben. Ich entscheide mich für schlichte weiße Wände und Mama sucht sich eine mit kleinen Rosen gemusterte Tapete aus. Mit den Möbeln ist es schon schwieriger, denn die, die mir am besten gefallen, sind leider ziemlich teuer. Ich zögere deshalb, aber Oma drängt mich: „Such dir aus was du willst, Dominik.“

„Egal was es kostet?“, frage ich schüchtern.

„Ja, ganz egal!“, sagt Oma. „Ich freue mich, dass ich dir endlich mal etwas spendieren darf.“

Ich suche mir ein großes, breites Bett aus, einen riesigen Schrank, einen wuchtigen Schreibtisch mit passendem Stuhl, Regale und Kommoden, Gardinen, Lampen, zwei kleine Teppiche, einen Tisch und ein kleines Sofa. Die Summe, die ich anschließend aufaddiere, lässt mich schlucken, aber Oma lächelt nur und sagt: „Das ist schon in Ordnung.“

Als auch Mama ihre neuen Möbel ausgesucht hat, ruft Oma im Möbelhaus an und erhält von dort die Nachricht, dass die Lieferzeit etwa sechs Wochen beträgt, also wohnen wir länger als geplant in den Gästezimmern, aber das macht nichts, überall ist es schließlich schöner als in unserer Wohnung. Als ich diese Nacht im Gästebett liege, habe ich keine Angst, ich habe keine Bauchschmerzen, ich muss mich nicht bemühen, leise zu sein und ich muss niemandem aus dem Weg gehen. So müsste es immer sein!

Von dem Unterricht am nächsten Tag bekomme ich nicht viel mit, denn meine Gedanken drehen sich nur um mein neues Zimmer. Endlich ist dieser alte Plunder, den mein Großvater ’Möbel’ genannt hat, Geschichte, endlich klebt diese hässliche Tapete nicht mehr an der Wand und die scheußliche Gardine ist auch verschwunden. Nach der Stunde frage ich Ben, ob er Lust hat, nach dem Volleyballtraining noch mit zu mir nach Hause zu kommen. Obwohl wir die Jüngsten in der Schulvolleyballmannschaft sind, gehören wir zum Stamm und stehen meistens in der Startaufstellung. Das Training verläuft heute ausgesprochen gut und in der kleinen Trinkpause, die wir einlegen, fragt mich der Trainer: „Was ist denn heute mit dir los?“

„Wieso?“

„Es scheint, du stehst heute mächtig unter Strom, das meine ich positiv.“

„Es geht mir eben gut.“

„Das freut mich. Sorg dafür, dass es so bleibt, dann fegen wir unsere Gegner am Wochenende nur so vom Platz.“

Ich hänge mich ins Training voll rein und bin nach zwei Stunden völlig erledigt. Nach dem Duschen fahre ich mit Ben zu unserer Villa, er staunt nicht schlecht, dass mein Zimmer leer geräumt noch viel riesiger aussieht und lässt sich von mir erklären, was ich an welchen Platz stellen möchte. Die Möbel, die ich ihm im Katalog zeige, findet er klasse und über die Preise staunt er. Oma freut sich, dass ich Ben eingeladen habe, als mein Opa noch da war, hat er mich hier nämlich nur widerstrebend geduldet und Freunde durfte ich schon gar nicht mitbringen. Mein Opa hasst nämlich Kinder und mich ganz besonders.

Ben bleibt zum Abendessen und als er sich verabschiedet hat, sagt Oma: „Ich bin froh, dass du Freunde hast, Dominik. Ab sofort wird hier alles anders, du darfst mitbringen, wen du willst, und ich gebe dir Taschengeld, davon darfst du dir kaufen, was du möchtest.“

„Zuerst kaufe ich mir neue Turnschuhe“, sage ich. „Der Trainer verlangt das schon seit Monaten von mir.“

„Kommt nicht in Frage“, mischt sich Mama ein. „Für Kleidung bin ich zuständig, schließlich bin ich deine Mutter. Ich habe zwar nicht viel Geld, aber für Turnschuhe wird es schon reichen.“

„Können wir das gleich morgen machen? Ich muss sie noch einlaufen für das Turnier am Wochenende.“

„Sobald ich ausgeschlafen habe, können wir los.“

„Geht es nicht gleich nach der Schule?“

„Du weißt, dass ich dann schlafe.“

„Kannst du nicht mal einen einzigen Tag frei nehmen?“

„Das geht nicht, Schatz. Dann hat Wilhelm keine Hilfe.“

„Aber so wird die Zeit vielleicht zu knapp.“

„Okay. Ich stelle mir den Wecker auf halb eins und wir treffen uns direkt in der Stadt.“

„Wirklich?“

„Klar, wir gehen morgen einkaufen, überleg dir, was du sonst noch brauchst.“

„Nichts“, sage ich. Was soll ich mir noch wünschen? Im Moment habe ich alles, was ich brauche.

In diesem Moment klingelt das Telefon, es ist für Mama. Sie hört aufmerksam zu, stutzt ein wenig, legt völlig verblüfft den Hörer auf und sagt: „Ich gehe aus, ich arbeite heute nicht.“ Ich weiß nicht, wann das zum letzten Mal vorgekommen ist, aber als sie vom Tisch aufsteht und sagt: „Es wird nicht allzu spät“, weiß ich nicht, wer mehr darüber staunt, meine Oma oder ich.

„Was hast du vor?“

„Ich treffe mich mit Sandra.“

„Ach?“, fragt Oma. Ihre Stimme klingt, als sei sie besorgt. Als Mama weg ist, frage ich: „Warum machst du dir Sorgen darüber, dass Mama sich mit ihrer Freundin trifft?“

„Ich glaube, sie trifft sich nicht mit Sandra.“

„Mit wem sonst? Sie hat doch gar keine anderen Freunde.“

„Ich habe keine Ahnung, aber ich glaube, sie hat eben gelogen. Frag mich nicht wieso, aber ich habe ein ungutes Gefühl.“

„Auf jeden Fall geht sie heute nicht in die Kneipe, das heißt, sie wird morgen Mittag nicht verschlafen und wir können einkaufen, also mach dir keine Sorgen.“

„Ich mache mir keine Sorgen“, behauptet sie.

„Vielleicht hat Sandra noch Kontakt zu meinem Vater und die beiden können sich endlich wieder treffen“, überlege ich laut.

„Möchtest du das?“, fragt Oma.

„Na klar!“, rufe ich aufgeregt. „Das wäre doch super!“

Oma behagt das Gespräch überhaupt nicht und um vom Thema abzulenken, fragt sie: „Und was machen wir jetzt?“

„Fernsehen!“, sage ich. Auch das durfte ich nicht, wenn Opa im Haus war.

„Okay“, sagt Oma. „Such dir etwas aus. Ich hole eine Tüte Chips und Cola.“

Die Überraschungen an diesem Tag nehmen einfach kein Ende! Als wir auf dem Sofa sitzen und es meiner Oma völlig egal ist, dass ich mit den Chips krümele, legt sie ihren Arm um mich und sagt leise: „Du weißt gar nicht, was für ein Glück es für uns ist, dass wir dich haben. Wir lieben dich sehr, das darfst du niemals vergessen. Und was immer auch passiert, auf uns kannst du immer zählen.“

Das hat sie mir zwar schon oft gesagt, aber noch nie klang es so feierlich wie heute.

Am nächsten Morgen ist meine Mutter ziemlich müde, sie scheint lange mit Sandra zusammen gesessen zu haben und gähnt in ihre Kaffeetasse. „Bleibt es dabei, dass wir heute einkaufen, Dominik?“, fragt sie. „Oder möchtest du lieber mit einem Freund gehen? Mit Benjamin vielleicht?“

„Ich könnte ihn fragen, ob er mitkommt, dann könnten wir zu dritt gehen“, schlage ich vor, und weil Mama nichts dagegen einzuwenden hat, rufe ich Ben an, damit er seine Eltern fragen kann.

„Sag ihm, ich lade euch anschließend zum Mittagessen ein.“

Das Einkaufszentrum ist proppevoll, und als wir beim Italiener sitzen, kommt Mamas Arbeitgeber auf unseren Tisch zu. Das hat mir gerade noch gefehlt! Verfolgt der Kerl uns etwa? Er ist mir unsympathisch und das liegt nicht nur daran, dass er mich schon einmal, gleich zu Anfang, geschlagen hat. Meine Mutter behandelt er wie eine persönliche Dienerin, mich selbst straft er meistens mit Nichtachtung und außerdem riecht er immer nach dem billigen Fusel, den er in seiner Kneipe ausschenkt. Mama schaut sich unauffällig um und lächelt ihm entgegen.

„Angelika!“, grüßt er sie mit seiner lauten, unangenehmen Stimme und Mama antwortet verlegen: „Hallo Wilhelm!“

„Was machst du hier?“

„Ich bin mit Dominik hier und seinem Freund Benjamin. Ich habe für Dominik Turnschuhe gekauft und jetzt wollen wir essen.“

„Hat dein Sohn kein Taschengeld?“, fragt Wilhelm.

„Doch, schon“, erwidert Mama.

„Und warum kauft er sich dann seine Turnschuhe nicht selbst? Pass auf, dass du ihn nicht zu sehr verwöhnst“, sagt er und ich versuche, mir auf die Zunge zu beißen und sein dummes Gerede zu ignorieren. Es fehlt mir noch, dass er hier eine Szene macht. Ben jedenfalls sieht nicht allzu glücklich aus. Ich warte natürlich drauf, dass Mama mich in Schutz nimmt, so wie es ihre Pflicht ist, aber sie lächelt nur entschuldigend und sagt: „Ich habe ihm noch nicht oft etwas kaufen können, das weißt du doch.“

Ich hoffe, dass er bald geht, damit wir unser Essen wieder genießen können, aber er setzt sich wie selbstverständlich an unseren Tisch und lässt sich von Mama einladen. Immer wieder greift er nach ihrer Hand und fasst ihr ans Knie. Ich finde das widerlich und wundere mich, dass sie sich nicht wehrt.

Der Einkaufsbummel, der mir bisher so viel Spaß gemacht hat, verursacht mir jetzt Bauchschmerzen, wie immer, wenn ich mich unwohl fühle. Ich greife mir an den Magen.

„Hast du wieder Bauchweh?“, fragt Mama besorgt.

„Ja“, antworte ich leise.

„Konntest wohl nicht genug kriegen, was?“, stänkert Wilhelm.

„Wilhelm“, sagt Mama nur schwach, aber er setzt noch eins drauf: „Wahrscheinlich hat er den ganzen Tag Süßigkeiten gegessen, die er sich von deinem Geld gekauft hat. Das Geld, das wir anders verplant haben, erinnerst du dich?“

Gespannt halte ich die Luft an. Wieso plant dieser Typ mit Mamas Geld? Sie hat doch gar keins!

„Noch habe ich nicht geerbt, Wilhelm. Mein Vater lebt noch.“

Ich fasse es nicht, Wilhelm wartet drauf, dass mein Opa stirbt, er ist scharf auf Opas Geld!

„Es ist nur eine Frage der Zeit, Angelika. Ich finde, deine Mutter könnte uns ruhig schon mal etwas vorschießen.“

Ich schnappe nach Luft: „Was?“

„Da staunst du, was?“, wirft er mir arrogant vor und wieder reagiert meine Mutter nur mit einem leisen: „Wilhelm, bitte, lass es gut sein.“

„Nein, ich lasse es nicht gut sein. Du verschwendest unser Geld für Turnschuhe und was weiß ich, was du deinem Sohn heute schon alles bezahlt hast. Du weißt, dass wir jeden Euro brauchen!“

„Es wird noch genug für die Gaststätte übrig sein.“

Mir wird schlecht! Wieso verteidigt sie sich so? Es geht diesen Widerling doch überhaupt nichts an, was sie mit ihrem Geld macht. Wieso schickt sie ihn nicht weg? Wieso kündigt sie nicht bei ihm? Sollte sie nicht froh sein, meinen Opa bald loszuwerden? Muss sie sich gleich ein solches Exemplar von Ekel zulegen? Was findet sie nur an ihm?

Ben ist die ganze Situation sehr peinlich und er gibt sich nicht großartig Mühe, es zu verbergen. Als wir aufgegessen haben, schlage ich ihm deshalb vor, allein weiterzustöbern. Ben ist erleichtert und als wir aufstehen, meckert Wilhelm: „Zu meiner Zeit hat man am Tisch gesessen, bis der Vater einem das Aufstehen erlaubt.“

„Mein Vater ist nicht hier“, sage ich bockig. Das bringt ihn auf die Palme. „Was fällt dir ein?“, poltert er los, und zu meiner Mutter sagt er halblaut: „Ist ja großartig erzogen, dein Herr Sohn. Das wird sich ändern, damit das mal klar ist!“

„Ja, Wilhelm“, sagt sie kleinlaut und mit einem Mal erscheint mir meine Zukunft nicht mehr so rosig. Was geht hier vor?

Zum Glück erhebt sich der ungebetene Tischgenosse und verschwindet in der Menge. Auch Ben verabschiedet sich, er scheint froh zu sein, hier wegzukommen.

„Wir sehen uns morgen, Domi“, sagt er verlegen.

„Sorry, Ben. Ich habe mir den Tag auch anders vorgestellt“, entschuldige ich mich. Einen Moment lang warte ich, dass Mama etwas zur Entschuldigung hervorbringt, aber sie schweigt und ebenso schweigend gehen wir nach Hause. Erst als wir im Flur stehen, nehme ich das Gespräch wieder auf: „Du hast dich gestern gar nicht mit Sandra getroffen, oder? Du warst mit ihm zusammen!“, schreie ich sie an.

„Ja“, gibt sie gleich zu.

„Was will er von dir?“, frage ich sauer.

„Wir planen, die Gaststätte komplett zu renovieren und dafür brauchen wir Geld, sie ist hoch verschuldet, deshalb kann Wilhelm mir auch nicht mehr Gehalt zahlen, aber sobald Opa tot und mein Erbe ausgezahlt ist, beginnen wir mit dem Umbau. Du wirst sehen, wir werden Erfolg haben. Wilhelm war ursprünglich Landwirt und kommt aus einer alteingesessenen Familie. Das wird deine Oma freuen, sie ist doch so sehr auf Traditionen bedacht. Der Hof ist seit fünf Generationen in Familienbesitz, sein Vater hat ihn allerdings ziemlich heruntergewirtschaftet und Wilhelm hat ihn schließlich zu der Gaststätte umgebaut. Er ist zwar deutlich älter als ich, aber er hat Pläne und das gefällt mir.“

„Ich wünschte, du würdest mit Oma und mir Pläne machen und nicht mit Wilhelm.“

„Ich war jetzt so lange allein und er ist auch einsam. Du wirst sehen, wir werden eine richtige Familie.“

„Ich weiß ja, dass du jetzt ganz viel nachholen möchtest, aber musst du dir unbedingt den Nächstbesten greifen?“

„Also wirklich. So ist es doch gar nicht!“

„Er ist hinter deinem Geld her!“

„Das ist Unsinn!“, widerspricht sie.

„Nein, ist es nicht, das hast du doch gehört, er hat etwas anderes vor mit deinem Geld, was immer er damit auch meint.“

„Das habe ich dir doch gerade erklärt, die Gaststätte soll renoviert werden.“

„So wie er aussieht, wird es eine billige Kneipe“, sage ich sauer.

„Sei nicht so frech“, schimpft Mama, aber ich lasse nicht locker: „Wahrscheinlich wird er sein bester Kunde und du darfst weiter hinter der Bar stehen, besoffenen Männern Bier verkaufen und wer weiß, was er noch von dir verlangt.“

„Jetzt gehst du zu weit!“

„Mach doch mal die Augen auf, Mama! Der ist an deinem Geld interessiert, ansonsten bist du ihm völlig egal. Oder was glaubst du, warum du ihm plötzlich wichtig bist? Seit zwölf Jahren arbeitest du schon für ihn und auf einmal soll er sich für dich interessieren? Merkst du nicht, dass er dich ausnutzt? Ich verstehe nicht, warum du es nicht einsiehst.“

„Das stimmt nicht, er hat gesagt, dass er mich liebt“, verteidigt sie sich auch gleich.

„Ja sicher“, winke ich müde ab. „So plötzlich, ja?“

„Ich war so lange allein, Dominik“, sagt sie leise und auf einmal tut sie mir leid.

„Du hast doch noch Oma und du hast mich“, versuche ich, sie zu trösten.

„Aber ihr geht irgendwann.“

„Stört es dich nicht, dass er so viel älter ist als du?“

„Nein, es stört mich nicht.“

„Ich hatte gehofft …“, druckse ich herum.

„Was denn?“, ermuntert sie mich.

„Ich hatte gehofft, wir könnten jetzt nach meinem Vater suchen.“

„Nein, das können wir nicht“, sagt sie bestimmt.

„Warum nicht?“

„Ich weiß von Sandra, dass er nicht allein ist. Er ist verheiratet und hat eine Tochter und ich bin jetzt mit Wilhelm zusammen.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Was dachtest du denn?“

„Ich dachte, du gibst ihm Geld für seine Kneipe …“

„Gaststätte!“

„Für seine Kneipe und das war es dann!“

„Nein, er zieht bei uns ein und wir renovieren und führen die Gaststätte gemeinsam.“

Das wird ja immer schöner!

„Weiß Oma das schon?“

„Nein, aber was soll sie dagegen sagen? Sie wird sich für mich freuen.“

„Wenn er sich so benimmt wie vorhin, bestimmt nicht.“

„Er ist nicht so, ich weiß nicht, was vorhin mit ihm los war.“

„Ich schon. Er mag keine Kinder, genau wie Opa.“

„Vergleiche ihn nicht mit deinem Großvater. Mein Vater ist ein Tyrann.“

„Und Wilhelm ist ein Idiot!“

„Sei nicht so frech!“

„Ich verstehe dich nicht. Denk doch an Opa, endlich kann er uns nicht mehr quälen. Du hast jetzt alle Freiheiten und dann suchst du dir so einen. Ich hoffe, Oma durchschaut ihn.“

„Wenn Oma Wilhelm nicht in der Villa haben will, ziehen wir eben zu ihm“, bestimmt sie. „Auf dem Hof ist genug Platz und über kurz oder lang haben wir das sowieso vor.“

„Ohne mich!“

„Das werden wir ja sehen!“

„Allerdings.“ Ich bin traurig. Was findet Mama an diesem Kerl? Es ist doch ganz offensichtlich, dass er mich ablehnt. Müsste sie nicht auf meiner Seite sein? Hätte sie vorhin im Restaurant nicht für mich Partei ergreifen müssen? Und warum verteidigt sie ihn so?

„Bitte, lass uns nicht streiten, Dominik. Ich habe dich lieb, das weißt du doch. Niemals würde ich etwas tun, was dir schadet.“

„Nein? Und dass er mich schon mal geschlagen hat, ist dir egal, oder?“

„Da ist ihm nur die Hand ausgerutscht, das war doch keine Absicht. Außerdem hast du ihn auch dazu provoziert, erinnerst du dich? Du hast ihn geärgert, so war es doch, oder?“, fragt sie verzweifelt.

„Wenn du meinst“, antworte ich nur und nehme die Treppe nach oben. Im oberen Flur begegne ich Oma, fröhlich begrüßt sie mich: „Na, Schatz. Zeig mal deine neuen Turnschuhe.“

Ich habe sie bereits an, um sie ordentlich einzulaufen und hebe nur den linken Fuß. „Hier“, sage ich.

„Was ist los?“, fragt sie besorgt.

„Ich habe Bauchschmerzen“, antworte ich leise.

„Ich dachte, das wäre jetzt endlich vorbei“, erwidert sie sanft und fordert mich auf, mich ins Bett zu legen. Ein paar Minuten später betritt sie mit einem Tablett mein Zimmer, reicht mir eine Wärmflasche und schenkt mir eine Tasse Pfefferminztee ein. „Erzähl mal!“, fordert sie mich auf. Ich berichte von dem Tag, der so schön begonnen hat, erzähle von dem Mittagessen mit der unangenehmen Störung und von dem Gespräch, das ich mit Mama geführt habe. Oma zweifelt, das sehe ich ihr an, und sie fragt: „Bist du ganz sicher?“

„Ja!“, erwidere ich ernst.

„Ist das auch wirklich die Wahrheit?“

„Natürlich!“

„Vielleicht bist du eifersüchtig, weil deine Mama einen Freund hat. Das ist ungewohnt für dich. Bisher warst du der unbestrittene Mittelpunkt ihres Lebens und nun ist es vielleicht anders.“

„Nein, das stimmt nicht!“

„Überleg mal, ist es wirklich alles so gewesen?“

„Ja, du kannst Mama fragen.“

„Ruh dich aus, Dominik. Ich rufe dich zum Abendessen, wenn es soweit ist, inzwischen rede ich mit meiner Tochter.“

Nur wenige Minuten später erscheint Oma wieder in meinem Zimmer und sagt: „Also, deine Mutter erzählt die Geschichte ganz anders.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Ich weiß nicht, wem ich glauben soll, hast du mich vielleicht angelogen, Dominik?“, fragt sie vorsichtig. Ich bin erschrocken und sage entsetzt: „Nein! Warum glaubst du mir nicht?“

„Einer von euch schwindelt“, sagt Oma traurig.

„Ich nicht, Oma. Ich habe Angst vor ihm. Mama sagt, Wilhelm will hier einziehen. Ich mag ihn nicht. Der Kerl ist widerlich!“

„Ich sehe mir diesen Menschen erst einmal richtig an, bisher kennen wir ihn ja gar nicht so genau, und dann sehen wir weiter“, beruhigt mich Oma. „Gegen meinen Willen kann er hier nicht einfach einziehen.“

„Mama will dann bei ihm wohnen, aber ich möchte das nicht. Was ist, wenn er mich wieder schlägt?“

„Er hat dich geschlagen?“, fragt sie entsetzt.

„Ja, einmal. Das ist schon lange her. Er hatte getrunken und war wütend auf Mama. Als er auf sie losgehen wollte, habe ich mich zwischen sie gestellt und mir eine Ohrfeige eingefangen. Er ist dann gleich gegangen.“

„Das hast du nie erzählt“, sagt Oma leise.

„Mama wollte es nicht.“

„Und heute war es so, wie du es sagst?“

„Ja!“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Tut mir leid, Dominik. Ich weiß nicht, wer von euch beiden die Wahrheit sagt.“

„Ich ziehe jedenfalls nicht zu ihm in diese Kneipe.“

„Musst du auch nicht.“

Ich bin beruhigt, aber weil ich noch immer starke Bauchschmerzen habe, verzichte ich auf das Abendessen und als Mama ins Zimmer kommt, sehe ich, dass sie ein schlechtes Gewissen hat.

„Was macht dein Bauch?“, fragt sie vorsichtig.

„Ist noch nicht besser.“

„Es wird alles gut, Dominik“, verspricht sie mir. „Wir gehören doch zusammen.“

„Richtig! Du, Oma und ich, wir gehören zusammen. Wilhelm gehört nicht zu uns.“

„Schlaf jetzt, morgen sieht alles ganz anders aus“, versucht sie, mich zu beruhigen, aber ich höre ihr nicht mehr zu. Mit einem Mal bin ich vollkommen erschöpft und will nur noch schlafen. Meine Gedanken reflektieren noch einmal den Tag und ich bin sicher, ich werde für meine neu gewonnene Freiheit kämpfen. Nie wieder wird jemand über mein Leben bestimmen und schon gar nicht Wilhelm, dieser widerliche Kneipenwirt, der es auf das Geld meiner Mutter abgesehen hat.

Mehrere Stunden wälze ich mich in meinem Bett und versuche einzuschlafen, aber ein Gedanke kehrt immer wieder zurück: Mama hat vorhin gesagt, dass mein Vater eine Tochter hat, außerdem ist er verheiratet. Er hat eine Familie und ich bin verdammt eifersüchtig. Meine Schwester darf bei ihm leben und ich nicht. Ihr geht es bestimmt gut, sie hat sicher alles, was sie braucht und dazu hat sie noch meinen Vater an ihrer Seite. Weiß sie, dass es mich gibt? Und wenn ja, ist sie bereit, meinen Vater mit mir zu teilen? Ich stelle mir vor, dass er bei meinem nächsten Spiel dabei ist und sieht, wie gut ich bin. Er soll stolz auf mich sein.

Die Einrichtung meines neuen Zimmers nimmt mich die nächsten Wochen total in Anspruch und als alles fertig ist, lade ich Ben zum Übernachten ein. Es ist Samstag. Am Morgen gewinnen wir überlegen unser Punktspiel. Der Trainer ist so begeistert, dass er uns zum Eisessen einlädt und hinterher gehen Ben und ich in die Villa. Oma hat ein Raclette vorbereitet. Wir essen zu dritt, weil Mama arbeitet. Hinterher räumen wir gemeinsam die Küche auf und gehen nach oben. Oma hat auf dem kleinen Sofa eine Schlafgelegenheit für Ben vorbereitet, also setzen wir uns mit einer Tüte Chips und zwei Gläsern auf den Boden und schalten den Fernseher an.

„Deine Oma ist klasse!“, sagt Ben.

„Ja, seit mein Opa im Krankenhaus liegt, hat sie sich sehr verändert. Vor meinem Opa hat sie große Angst und tut alles, was er verlangt, aber jetzt lebt sie richtig auf.“

„Deine Mutter ist ganz anders.“

„Das liegt an Wilhelm. Sie arbeitet abends und nachts bei ihm. Als wir noch in der Wohnung lebten, war ich oft allein.“

„Der Typ ist mir unheimlich.“

„Mir auch und das Schlimmste ist, Mama liebt ihn.“

„Den?“

„Unvorstellbar, oder?“

„Allerdings.“

„Sie will sogar, dass er hier einzieht, aber Oma will ihn erst besser kennenlernen.“

„Ich sage es doch, deine Oma ist der Hammer.“

„Sie ist die Beste.“

„Das glaube ich auch und deshalb musst du ihr sagen, was deine Mutter vorhat.“

„Was meinst du?“

„Das mit der Gaststätte.“

„Ich glaube, es ist eher eine Kneipe.“

„Ist doch völlig egal, auf jeden Fall will der Typ sie mit dem Geld deiner Mutter renovieren.“

„Genau, und wenn das Geld aufgebraucht ist, behandelt er sie wieder schlecht.“

„Dass deine Mutter so dumm ist, kann ich kaum glauben.“

„Frag mich mal.“

Der Film beginnt und lenkt uns von dem Thema ab, um das sich vierzehnjährige Teenager nun wirklich keine Sorgen machen sollten. In der Werbepause gehen wir nach unten in die Küche, um uns mit weiteren Getränken zu versorgen, und stellen fest, dass Oma denselben Film sieht wie wir.

„Frau Lessing, Sie brauchen hier nicht allein zu sitzen. Wir können den Film auch zusammen zu Ende sehen“, lädt Ben sie ein.

„Ihr wollt doch nicht euren Abend mit einer alten Frau verbringen“, sagt Oma verschmitzt und ich antworte: „Los, Oma, komm mit nach oben.“

„Aber nur, wenn ich Eis mitbringen darf“, sagt sie gerührt.

„Das musst du sogar!“, antworte ich lachend und Ben stimmt ein: „Ohne Eis lassen wir Sie nicht ins Zimmer.“

Während der Film läuft, verputzen wir unser Eis, die restlichen Chips und die Cola, aber danach bringe ich noch mal das Thema auf Wilhelm: „Du, Oma? Wilhelm will mit Mamas Geld die Kneipe renovieren.“

„Deine Mutter hat doch gar kein Geld“, wundert sie sich.

„Ich meine, wenn Opa stirbt.“

„Bist du sicher?“ Oma zweifelt, aber Ben steht mir bei: „Als wir ihn neulich in der Stadt getroffen haben, hat er sich tierisch aufgeregt, weil Domi von seiner Mutter Turnschuhe geschenkt bekommen hat.“

„Dann stimmt das also doch?“, fragt Oma und sieht mich um Entschuldigung bittend an.

„Habe ich doch gesagt.“

„Tut mir leid, Schatz. Ich habe dir nicht so richtig geglaubt.“

„Ist ja auch egal, jedenfalls habe ich mit Mama gesprochen. Sie plant, mit ihrem Erbe die Renovierung der Kneipe zu bezahlen.“

„Das kommt gar nicht in Frage!“, regt Oma sich auf. „Seit Jahren behandelt er sie schlecht und zahlt ihr ein beleidigendes Gehalt. Ich verstehe sowieso nicht, dass sie dort noch arbeitet, sie hätte sich längst etwas anderes suchen sollen. Ich erlaube ihr nicht, ihr Erbe zu verschwenden, und es ist eine Beleidigung, dass sie mit dem Geld schon Pläne hat, solange dein Großvater noch lebt.“

„Und was machen wir jetzt?“, frage ich neugierig.

„Keine Sorge, ich werde mir schon etwas überlegen.“

Oma überlegt ein paar Tage und schließlich fordert sie Mama und mich auf, an dem großen Küchentisch Platz zu nehmen.

„Ich habe mir etwas überlegt“, beginnt sie. Gespannt höre ich zu.

„Dein Vater wusste schon lange, dass er sehr krank ist. Vor einem halben Jahr etwa hat ihm der Arzt prophezeit, dass er nicht mehr lange zu leben hat.“

„Das wusste ich gar nicht“, unterbricht meine Mutter.

„Es ist aber so. Das war auch der Grund, warum er die Firma verkauft hat, für die er allerdings einen sehr guten Preis aushandeln konnte.“

„Dreieinhalb Millionen Euro“, sagt Mama. „Wilhelm war total überrascht, als ich ihm davon erzählte.“

„Das bringt mich gleich zum richtigen Thema, Angelika.“ Überrascht schaut meine Mutter auf, aber Oma fährt fort: „Ich weiß, was du mit Wilhelm planst, und es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du dein Erbe für diesen Menschen opferst, deshalb habe ich einen Plan.“

Mama schnappt nach Luft, aber Oma sagt: „Hör mir zu! Ich bin noch nicht fertig. Von den dreieinhalb Millionen Euro sieht Wilhelm keinen Cent. Ich werde sie Dominik vorab überschreiben und war bereits bei einem Notar, der sich um alles kümmert. Dominik bekommt das Geld, wenn er volljährig ist. Dadurch ist dein Pflichtteil natürlich deutlich kleiner, aber du wirst nicht arm sein. Sobald du dein Erbe ausgezahlt bekommen hast, wird Wilhelm damit beginnen, seine Kneipe zu renovieren und nicht eher ruhen, bis er dir alles abgenommen hat. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, den du dir gut überlegen solltest.“

„Was für einen Vorschlag?“

„Zu deinem Pflichtteil werde ich dir eine weitere Summe zahlen, aber nur, wenn du mir versprichst, dass du Wilhelm nichts davon erzählst. Es wird dein geheimes Guthaben sein und er soll nichts davon wissen.“

„Warum machst du dir solche Sorgen?“

„Ich möchte nur, dass es dir gut geht, und ich traue ihm nicht über den Weg.“

„Das kannst du aber, er ist ein guter Mensch.“

„Das glaube ich eben nicht, aber die Entscheidung liegt bei dir.“

„Ich bin einverstanden“, sagt Mama hastig.

„Also gut. Du wirst die Villa erben und den Pflichtteil erhalten, ansonsten setze ich Dominik als Alleinerben ein.“

Mama schnappt nach Luft und ich auch.

„Ich werde also enterbt?“, fragt sie ernüchtert.

„Nicht unbedingt. Ein Testament kann man ändern. Sobald ich feststellen sollte, dass ich mich in Wilhelm getäuscht habe, werde ich es tun. Und selbst, wenn Dominik Alleinerbe ist, wirst du von deinem Erbe mehr als gut leben können. Ich habe zwar vor, die Villa von Grund auf neu zu renovieren und dich und mein einziges Enkelkind nach Strich und Faden zu verwöhnen, aber es wird noch genug für dich übrig bleiben.“

„Was ist mit deinem Schmuck?“

„Den Schmuck erbt Dominik.“

„Das wird Wilhelm nicht gefallen.“

„Wenn das so ist, sollte dir einiges klar sein.“

Mama schüttelt den Kopf, aber sie sagt nichts weiter dazu.

Die nächsten Wochen reden wir nicht über dieses leidige Thema, sondern genießen unsere Freiheit. Wir machen in den Ferien eine kleine Reise, gehen häufig zum Essen aus, fahren ins Schwimmbad und renovieren die Villa. Mehrmals frage ich meine Mutter, warum sie noch weiterhin bei Wilhelm arbeitet, und auch Oma bietet ihr an, damit aufzuhören.

„Du brauchst das Geld nicht mehr, Angelika.“

Aber Mama lehnt ab: „Wilhelm zählt auf mich, wir schmieden Pläne und sind schon ganz aufgeregt wegen des Umbaus.“

Mehrere Wochen vergehen und eines Tages erfahre ich nach der Rückkehr vom Volleyballtraining, dass mein Großvater von seinen Qualen erlöst wurde. Mama und ich vergießen keine einzige Träne und helfen Oma bei der Organisation der Beerdigung.

Jetzt stehen wir hier vor dem dunklen Sarg, der über und über mit Blumenkränzen geschmückt ist. Was für eine Verschwendung! Mein Großvater hatte niemals etwas für Blumen übrig, nannte sie überflüssig und duldete sie nicht in seinem Haus. Nun zelebrieren wir seinen letzten großen Auftritt. Zum letzten Mal steht er im Mittelpunkt, aber diesmal hat er nichts zu sagen, er ist zum Schweigen verurteilt. Für immer. Das ist nicht weiter schlimm, denn in seinem Leben hat er genug geredet und mit seinen Worten in meiner Kinderseele oftmals großen Schaden angerichtet und mich bei jeder Gelegenheit in die Schranken gewiesen. Jetzt ist die Zeit der Angst, der Unsicherheit und der Demütigungen vorbei. Nie wieder wird er mich von oben herab behandeln und belehren. Nie wieder wird er mir sagen, ich sei ein Nichtsnutz und es nicht wert, seinen Namen zu tragen. Er wird mich nicht mehr Bastard nennen und mich auch nie wieder beleidigen. Mich nicht und meine Mutter auch nicht.

Da liegt er in seiner Kiste. Allein. Wie es bei Toten nun einmal so ist, kann auch er nichts mitnehmen, obwohl er doch sein ganzes Leben lang gerafft hat. Geld, Geld, Geld. Nichts war ihm zu Lebzeiten wichtiger. Seine Frau nicht, seine Tochter nicht und ich schon gar nicht. Ich schaue auf den dunklen Sarg und kann die Augen nicht von ihm lösen. Warum schütten sie ihn nicht endlich zu, damit ich ihn nicht mehr sehen muss? Nur diesen einen Wunsch habe ich, sonst fühle ich gar nichts, keine Wut und keine Trauer, kein Bedauern, aber auch keine Freude. Dafür ist alles noch zu frisch.

Meine Oma steht neben mir und zeigt keine Regung. Warum auch? Ein Leben lang hat er sie schlecht behandelt, ließ sie nach seiner Pfeife tanzen und gönnte ihr nicht die kleinste Freiheit. Neben ihr steht meine Mutter, sie steht mit geradem Rücken da und zum ersten Mal seit langer Zeit macht sie einen starken Eindruck. Ich bin nicht der einzige Mensch auf diesem Friedhof, der nicht trauert. Sie schnieft nicht, sie weint nicht. Fast scheint es sogar, als würde sie leicht lächeln. Ihr Vater ist tot und endlich sind ihre Fesseln gelöst. Er hat ihr ihre Jugend genommen und jetzt, mit einunddreißig Jahren, darf sie ihr Leben endlich selbst bestimmen. Sie ist frei, aber leider viel zu spät. Genau genommen etwa fünfzehn Jahre zu spät, und die Jugend, die er ihr genommen hat, ist längst vorbei.

Meine Oma löst jetzt ihren Arm und geht noch einen Schritt weiter nach vorn. Sie wirft ihren Rosenstrauß und eine Handvoll Erde auf das Grab, meine Mutter wiederholt das Ritual. Nun bin ich an der Reihe und alle Anwesenden erwarten von mir dasselbe, aber ich hasse ihn aus tiefster Seele und ganz bestimmt werde ich ihm zum Abschied keine Blumen schenken. Am liebsten möchte ich auf sein Grab spucken, aber ich protestiere anders. Mit der linken Hand respektlos in der Hosentasche stelle ich mich an das Grab, schaue kurz in die dunkle Grube hinab und bevor ich gehe, flüstere ich leise: „Ich hoffe, du kommst direkt in die Hölle.“

Die Blumen, die mir meine Mutter zugesteckt hat, lege ich auf ein Grab, das sich ganz in der Nähe befindet. Dort liegen die Großeltern meines besten Freundes Ben begraben, an die ich wunderbare Erinnerungen habe.

Wir verlassen den Friedhof, eine große Trauergemeinde folgt uns. Da sind zum einen Freunde und Nachbarn meiner Großeltern, die ehemaligen Angestellten in der Baufirma meines Großvaters, Tennis- und Golfpartner, Geschäftsfreunde und viele andere. Meine Oma hat einen großen Saal gemietet, in dem alle Platz finden. Viele Menschen sprechen mir ihr Beileid aus und möchten mich trösten, aber ich brauche keinen Trost. Mir geht es gut. Ich bestelle mir einen großen Eisbecher, trinke Cola, esse eine Menge Kuchen und belegte Brötchen und am Ende ist mir furchtbar schlecht, aber das ist es mir wert. Die Beerdigung meines Großvaters habe ich so richtig genossen, ich habe gefeiert. Endlich sind wir ihn los!

Wegen der Beerdigung war ich ein paar Tage freigestellt, aber Donnerstag gehe ich wieder in die Schule. Alle scheinen sich große Sorgen um mich zu machen und wundern sich, dass ich so gut drauf bin. Vielleicht vermuten sie, dass ich etwas eingeworfen habe, denn immer wieder fragt mich ein Lehrer oder ein Mitschüler: „Ist alles in Ordnung?“

„Alles bestens!“, antworte ich jedes Mal.

In der Öffentlichkeit war mein Großvater ein herzensguter Mensch, aber niemand kennt ihn, wie er wirklich war, niemand kennt ihn so gut wie ich. Deshalb nervt mich diese Anteilnahme.

Am Abend liege ich wach in meinem Bett und plane mein weiteres Leben mit Mama, Oma, Ben, dem Volleyballteam, guten Schulnoten und natürlich meinem Vater. Wilhelm kommt in meinen Plänen nicht vor. Er ist unerwünscht.

Mittwoch nach dem Training erwartet mich in der Küche allerdings eine unangenehme Überraschung: Wilhelm sitzt am Tisch und lässt sich von meiner Mutter von vorn bis hinten bedienen. Ansonsten benimmt er sich wie der perfekte zukünftige Schwiegersohn, bringt Oma Blumen und Pralinen mit und flirtet ungehemmt mit Mama. Er macht Oma Komplimente und fragt sie nach ihrem bisherigen Leben. Auch zu mir ist er freundlich und es ist klar, dass er sich nur einschmeicheln will, dieser Idiot, aber die Rechnung hat er ohne mich gemacht. Die Schleimerei geht mir auf die Nerven, deshalb gehe ich nach oben, um meine Hausaufgaben zu erledigen. Überrascht stelle ich fest, dass er mir folgt. Besorgt sehe ich meine Mutter an, aber sie sagt nur beruhigend: „Wilhelm möchte mit dir reden, Dominik. Er weiß, dass er neulich nicht nett zu dir war und möchte sich dafür entschuldigen. Ihr solltet euch mal von Mann zu Mann miteinander unterhalten, Schatz, das hat dir doch immer gefehlt. Am besten geht ihr in dein Zimmer, da habt ihr eure Ruhe und könnt euch endlich richtig kennenlernen.“

„Ich muss Hausaufgaben machen“, sage ich lahm. „Außerdem schreiben wir morgen Mathe und ich muss noch lernen.“

„Nur ein paar Minuten, Dominik. Mir zuliebe, ja?“, fragt sie lächelnd und ich gebe nach. Wilhelm folgt mir in mein Zimmer und noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hat, kommt er zur Sache: „Wie wäre es denn mal mit aufräumen?“

„Es ist aufgeräumt.“

„Wieso braucht ein dummes Kind so viel Platz?“, fragt er aufgebracht. Ich sage nichts dazu. Was soll das?

„Ich dachte, du wolltest mit mir reden?“

„Was soll ich mich mit dir unterhalten? Sieh zu, dass du mir nicht in die Quere kommst, dann hast du auch nichts zu befürchten. Ansonsten weißt du, was dir blüht. Wenn du nicht spurst, setzt es eine Tracht Prügel.“

Ich schlucke meine Erwiderung herunter, soll jetzt alles wieder von vorn beginnen? Verwirrt setze ich mich an den Schreibtisch, um mit den Hausaufgaben zu beginnen, aber ich kann mich nicht richtig konzentrieren, denn ich höre, wie Wilhelm durch die anderen Räume schnüffelt. Sucht er etwas? Geld vielleicht oder Schmuck oder irgendwelche Wertgegenstände? Nach einiger Zeit entfernen sich seine Schritte und er geht wieder hinunter in die Küche. Erst jetzt merke ich, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten habe.

Nur mit viel Mühle gelingen mir die Hausaufgaben, aber auf Mathe kann ich mich nicht konzentrieren. Irgendwann gebe ich auf und als es Zeit ist, zum Abendessen hinunterzugehen, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich bin nicht vernünftig auf die Mathearbeit vorbereitet und werde sie wahrscheinlich verhauen, aber ich weiß auch, dass ich heute nicht mehr in der Lage bin, vernünftig dafür zu lernen.