Inhaltsverzeichnis


I. Die Idee des Menschen als Grundlage der Erziehungswissenschaft und Erziehungsarbeit
A. Theorie und Praxis – Metaphysik, Erziehungswissenschaft, Erziehungsarbeit
I. Pädagogisch wirksame Menschenbilder der Gegenwart
II. Das Menschenbild der christlichen Metaphysik
B. Objektiver Zusammenhang von Menschentum und Erziehung
II. Anthropologie als Grundlage der Pädagogik
I. Verschiedene Anthropologien und ihre pädagogische Bedeutung
II. Wahl der Methode
III. Erste vorbereitende Analyse des Menschen
III. Der Mensch als materielles Ding und als Organismus
I. Der Körper als materielles Ding
II. Der Mensch als lebendiger Organismus
IV. Das Animalische
1. Tierische Bewegung; Triebcharakter
2. Empfindsamkeit; Innensein; Tierseele und -leib; Affektleben, Charakter
3. Species und Individualität beim Menschen und beim Tier
4. Rück- und Ausblick
5. Das tierische Lautmaterial im Vergleich zum menschlichen: Affektlaute, Signale, Melodisches
6. Struktur der Seele: Aktuelles seelisches Leben (äußere und innere Sinne; Gefühle und Triebe; Gesinnungen); Potenzen und Seele
7. Tierseele und Körper; Problem der substanzialen Form; Charakteristik der Tierseele nach Thomas
8. Verhältnis der gewonnenen Abgrenzung des Animalischen zu Thomas; das Problem von Species – Idee – Individuum im Zusammenhang mit dem Problem der Genesis der Species und der Seinsgebiete
V. Das Problem der Entstehung der Arten – Genus, Species, Individuum
I. Philosophie und positive Wissenschaft: Verfahren der exakten Wissenschaften; Verfahren der beschreibenden Naturwissenschaften; Gegensatz des wissenschaftlichen und des natürlichen Weltbildes; philosophische Deutung und Kritik des wissenschaftlichen Verfahrens und ihre methodischen Erfordernisse
II. Das Problem der Entstehung der Arten
VI. Das Animalische im Menschen und das spezifisch Menschliche
I. Das Animalische im Menschen
II. Das spezifisch Menschliche
VII. Seele als Form und Geist
I. Die Menschenseele und die substanziale Form des Menschen
II. Das Wesen des Geistes
III. Eigentümlichkeit der Seele als Geistwesen
IV. Zusammenfassende Darstellung des menschlichen Individuums
VIII. Das soziale Sein der Person
A. Zugehörigkeit der sozialen Bestimmtheit zum Sein der Person
I. Soziologische Grundbegriffe
II. Typen und Typenbildung
III. Analyse des Volkes und der Volkszugehörigkeit
IX. Überleitung von der philosophischen zur theologischen Betrachtung des Menschen
I. Ergänzungsbedürftigkeit der philosophischen Betrachtung des Menschen
II. Pädagogische Bedeutung der eucharistischen Wahrheiten
III. Aufgabe einer theologisch-pädagogischen Anthropologie
Edith Stein

Der Aufbau der menschlichen Person


e-artnow, 2016
Kontakt: info@e-artnow.org

ISBN 978-80-268-6614-5


I. Die Idee des Menschen als Grundlage der Erziehungswissenschaft und Erziehungsarbeit

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A. Theorie und Praxis – Metaphysik, Erziehungswissenschaft, Erziehungsarbeit

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Hinter allem Tun des Menschen steht ein Logos, der es leitet. Wie schwer es ist, in einem deutschen Wort das wiederzugeben, was der Name »Logos« umschließt, das hat uns Fausts Bemühen um eine treffende Übersetzung anschaulich klar gemacht. Es bezeichnet einmal eine objektive Ordnung des Seienden, in die auch das menschliche Tun eingefügt ist. Es bedeutet sodann eine im Menschen lebendige Auffassung dieser Ordnung, die es ihm möglich macht, in seiner Praxis dieser Ordnung gemäß (ist gleich »sinngemäß«) zu verfahren. Der Schuster muß mit der Natur des Leders vertraut sein und mit den Mitteln, mit denen es zu behandeln ist, und muß wissen, was von brauchbaren Schuhen zu verlangen ist, um sachgemäß arbeiten zu können. Aber diese lebendige Auffassung, die der Arbeit zugrunde liegt, braucht nicht immer zu einem klaren geistigen Bild, d. h. zu einer »Idee« der Sache, und erst recht nicht zu einer begrifflichen Fassung vorgedrungen zu sein. Alles, was wir mit den Worten auf »-logie« oder »-ik« bezeichnen, sind Versuche, den Logos eines Sachgebiets in ein auf klare Erkenntnis gebautes begriffliches System, in eine Theorie einzufangen. – Alle Erziehungsarbeit, die sich bemüht, Menschen zu formen, ist geleitet von einer bestimmten Auffassung des Menschen, seiner Stellung in der Welt, seiner Aufgaben im Leben, sowie der Möglichkeiten praktischer Menschenbehandlung und Formung. Die Theorie der Menschenformung, die wir Erziehungswissenschaft nennen, gehört organisch in den Zusammenhang eines Gesamtbildes der Welt hinein, d. h. in eine Metaphysik, und die Idee des Menschen ist der Teil des Gesamtbildes, an den sie am unmittelbarsten gebunden ist. Es ist sehr wohl möglich, daß jemand Erziehungsarbeit leistet, ohne eine Metaphysik als durchgedachtes System und ohne eine entfaltete Idee des Menschen zu haben. Aber irgendeine Auffassung der Welt und des Menschen liegt seinem Tun zugrunde. Und es ist möglich, von seinem Tun her zu der Idee vorzudringen, die ihm objektiv entspricht. Ebenso ist es möglich, daß pädagogische Theorien in metaphysische Zusammenhänge hineingehören, über die sich die Vertreter dieser Theorien, evtl. selbst ihre Urheber nicht klar sind. Es kann auch vorkommen, daß jemand eine Metaphysik »hat« und zugleich eine pädagogische Theorie aufbaut, die einer ganz andern Metaphysik entspricht. Und es kann jemand in der Erziehungspraxis ganz anders verfahren, als es seiner pädagogischen Theorie und seiner Metaphysik entspricht. Dieser Mangel an Logik und Konsequenz hat auch eine gute Seite: Er ist ein gewisser Schutz gegen die radikale Auswirkung verfehlter Theorien. Ganz unwirksam aber werden Ideen oder Theorien, die man hat, niemals sein. Wer sie vertritt, wird sich bemühen, nach seinen Ideen zu handeln, oder auch unwillkürlich von ihnen beeinflußt sein, wenn auch tieferliegende und nicht klar bewußte gegensätzliche Auffassungen seine Praxis mitbestimmen.

Man könnte nun, um die Bedeutung der Idee des Menschen für Erziehungswissenschaft und Erziehungsarbeit umfassend zu zeigen, von den Haupttypen pädagogischer Theorien und pädagogischen Verfahrens in Vergangenheit und Gegenwart ausgehen und die metaphysischen Zusammenhänge aufdecken, in die sie hineingehören. Dazu würde aber viel mehr Zeit gehören als uns zur Verfügung steht. Es können hier nur einige anregende Hinweise gegeben werden, und das möchte ich auf dem umgekehrten Wege versuchen: von einigen Typen der Menschenauffassung ausgehen, die für unsere Zeit bedeutsam sind, und sie in ihre pädagogischen Konsequenzen verfolgen.

I. Pädagogisch wirksame Menschenbilder der Gegenwart

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1. Das Menschenbild des deutschen Idealismus (Humanitätsideal) und seine pädagogische Bedeutung

Als einen wesentlichen und charakteristischen Vorgang im deutschen Geistesleben der Gegenwart betrachte ich den Zusammenbruch des deutschen Idealismus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch materialistische und positivistische Strömungen zurückgedrängt war, aber in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts eine Renaissance erlebte und noch einmal siegreich vordrang; etwa von der Jahrhundertwende an setzten die Strömungen ein, die ihn allmählich zurückdrängten, bis er im Krieg sein großes Fiasko erlebte. In der Pädagogik wirkt er bis heute noch mächtig nach. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, ihn in seinem allgemeinen philosophischen Charakter zu zeichnen. Nur einige Züge aus seinem Menschenbild sollen hervorgehoben werden, dem Menschenbild, das uns allen aus unsern klassischen Dichtern vertraut ist.

Der Mensch, wie ihn Lessing, Herder, Schiller und Goethe (ungeachtet aller Verschiedenheiten, die sich bei ihnen aufweisen lassen) übereinstimmend sehen, ist frei, er ist berufen zur Vollkommenheit (die sie »Humanität« nennen), er ist Glied in der Kette des gesamten Menschengeschlechtes, das sich fortschreitend dem Vollkommenheitsideal annähert; jeder Einzelne und jedes Volk hat kraft seiner Eigenart eine besondere Aufgabe im Gang der Menschheitsentwicklung zu erfüllen. (Diese eigentlich schon über den Klassizismus hinausgehende Idee ist Herders spezieller Beitrag zum Humanitätsideal.) Diese Auffassung des Menschen enthält starke Impulse zu einem freudigen pädagogischen Optimismus und Aktivismus, wie er sich in den lebhaften pädagogischen Reformbewegungen um die Wende des 18. ebenso wie seit der Wende des 19. Jahrhunderts tatsächlich zeigt. Das Humanitätsideal bedeutet für den Erzieher ein hohes Ziel, zu dem er den Zögling heranbilden muß. Die Freiheit macht es möglich und nötig, den Zögling zur Arbeit auf das Ziel hin aufzurufen. Seine Selbsttätigkeit und seine individuellen Kräfte müssen geweckt und entfaltet werden, damit er seinen Platz in seinem Volk und in der Menschheit ausfüllen, seinen Beitrag zur großen Schöpfung des Menschengeistes, zur Kultur, leisten könne. Daß die Erziehungsarbeit einen Kampf mit der »niederen Natur« bedeutet, weiß man wohl. Aber das Vertrauen auf die Güte der menschlichen Natur und die Kraft der Vernunft (das Erbe Rousseaus und des Rationalismus) ist so stark, daß an ihrem Sieg nicht gezweifelt wird. Es entspricht dem Intellektualismus dieser Philosophie, nur das in Betracht zu ziehen, was für den Intellekt faßbar ist. Auch von den irrationalen Restbeständen, die man gelten lassen muß (Empfindungen, Trieben usw.), kommt nur das in Frage, was ins Licht des Bewußtseins fällt. (Nur so ist das Entstehen jener Oberflächenpsychologie zu erklären, die eine bloße Kette von Bewußtseinsdaten zu ihrem Objekt hat.)

2. Das tiefenpsychologische Bild und seine pädagogische Auswirkung

Die Romantik entdeckte die Gewalten der Tiefe, die Abgründe des Menschendaseins. Aber gegenüber der stärkeren Zeitströmung vermochte sie nicht durchzudringen. Heute, wo man von andern Seiten her wieder auf ihre Ideen gestoßen ist, hat man sich auch auf diese Vorläufer wieder besonnen.

Wenn der klare Spiegel des Bewußtseins oder auch des wohlgeordneten äußeren Lebens (sei es des privaten oder des öffentlichen) von merkwürdigen Wallungen getrübt wird, die sich aus den vorausgehenden Wellen des Oberflächenlebens nicht begreifen lassen, dann merkt man, daß man es eben mit einer bloßen Oberfläche zu tun hat, daß eine Tiefe darunter verborgen ist und daß in dieser Tiefe dunkle Gewalten am Werk sind. Vielen von uns sind sie zuerst eindringlich entgegengetreten in den großen russischen Romanen. Tolstoi und Dostojewski waren die Seelenkenner und Seelenkünder, die vor uns die Abgründe des Menschendaseins enthüllten. Andere sind durch die Tatsachen des Lebens darauf gestoßen worden: die rätselhaften Durchbrechungen des »normalen« Seelenlebens, vor die der Psychiater und vielleicht nicht weniger häufig der Seelsorger gestellt wird, haben den Blick auf die verborgenen Tiefen gelenkt. Die Psychoanalyse war ein erster großer Durchbruch von dieser Seite her. Die russische Literatur und die Psychoanalyse haben immer breitere Kreise von Intellektuellen, aber doch fast ausschließlich diese, erfaßt. Für alle Welt sichtbar aufgebrochen sind die Gewalten der Tiefe im Krieg und in den Nachkriegswirren. Vernunft, Humanität, Kultur enthüllten immer wieder aufs neue eine erschütternde Ohnmacht. So hat sich mehr und mehr ein anderes Menschenbild an die Stelle des humanistischen geschoben oder besser: andere Menschenbilder, denn es kann von einer Einheitlichkeit nicht die Rede sein. Einheitlich ist nur bei allen, deren Blick auf die Tiefen der Seele gelenkt wurde, daß sie diese Tiefen, die dem naiven Menschen verborgen bleiben, als das Wesentliche und Wirksame ansehen, das Oberflächenleben aber – die klar bewußten Gedanken, Gefühle, Willensregungen etc. – als Auswirkungen dessen, was in der Tiefe geschieht, darum zugleich als Zeichen, die für den Seelenanalytiker und -denker die Tiefen erschließen. In der Auffassung der Tiefen aber scheiden sich die Geister. Für den Begründer der Psychoanalyse und auch für große Gruppen, die – ursprünglich von ihm angeregt – doch in wichtigen Punkten heute gegensätzlich zu ihm stehen, sind die Gewalten der Tiefe, die als unüberwindliche Mächte das Leben bestimmen, die menschlichen Triebe. Es scheiden sich nun verschiedene Richtungen je nachdem, welche Triebe sie als die beherrschenden ansehen. Ferner danach, ob sie noch eine Einheit der Seele anerkennen, der sich die Triebe einordnen (wie es die Individualpsychologie schon in ihrem Namen zum Ausdruck bringt) oder ob ihnen das Seelenleben, das Oberflächenerleben wie das in der Tiefe, zu einem Chaos wird, das sich nicht mehr auf den Grundnenner der personalen Einheit bringen läßt. Im Vergleich zur idealistischen Auffassung wird an diesem neuen Menschenbild deutlich die Entthronung des Intellekts und des frei herrschenden Willens, das Entfallen der Einstellung auf ein objektives, der Erkenntnis zugängliches und für den Willen erreichbares Ziel. Es zerfällt auch die geistige Einheit der Menschheit und der objektive Sinn ihres Kulturschaffens. Ist bei solcher Auffassung des Menschen überhaupt noch ein pädagogisches Bemühen sinnvoll? Als Ziel bleibt im Grunde nur der Mensch, bei dem die Triebe »normal« funktionieren, als Aufgabe die Heilung oder Verhütung seelischer Störungen, als Mittel die Analyse des Oberflächenlebens, die Aufdeckung der wirksamen Triebe, die Anbahnung ihrer Befriedigung oder gesunden Abreaktion.

Wir können Folgen dieser Auffassung in weitesten Kreisen von Eltern und Lehrern und auch bei der Jugend selbst beobachten, auch bei solchen, die nicht bewußt auf dem Boden einer psychoanalytischen oder ihr verwandten Anthropologie und Pädagogik stehen. Ich sehe eine erste Auswirkung in einer gegen früher enorm gesteigerten Bewertung der Triebe. Ihnen praktisch Rechnung zu tragen ist den jungen Menschen selbst und vielfach auch ihren Erziehern eine Selbstverständlichkeit geworden. Und »ihnen Rechnung tragen« bedeutet weitgehend: sie befriedigen und ihre Bekämpfung als eine sinnlose, ja schädliche Auflehnung gegen die Natur zurückweisen. Als eine zweite Auswirkung der Analyse sehe ich es an, daß bei Eltern und Erziehern die Aufgabe zu führen und zu bilden zurücktritt hinter dem Bemühen zu verstehen. Wenn aber als Mittel zum Verstehen die Psychoanalyse angewendet wird – und das geschieht heute weitgehend, und zwar nicht nur von seiten der Erzieher, sondern auch von der Jugend ihren Erziehern gegenüber –, dann besteht die große Gefahr, daß das lebendige Band von Seele zu Seele durchschnitten wird, das Voraussetzung für alle pädagogische Einwirkung und auch schon für alles echte Verstehen ist. (Darum ist die laienhaft geübte Psychoanalyse nicht nur eine pädagogische Gefahr, sondern eine Gefahr für das gesamte soziale Leben, eine ganz besondere auch in der Seelsorge).

3. Das menschliche Dasein nach der Auffassung von Heideggers Existentialphilosophie

Neben die psychoanalytische Auffassung des Menschen möchte ich eine andere stellen, die heute in den höchsten intellektuellen Kreisen wirksam ist. Sie rechnet auch mit dem Gegensatz von Oberfläche und Tiefe, aber ihre Auffassung der Tiefe und ihr Weg zur Tiefe sind wesentlich anders. Ich denke an die Metaphysik unserer Tage, und zwar an ihre eindrucksvollste Form, wie sie uns in den Schriften Martin Heideggers entgegentritt. Die große Frage der Metaphysik ist die Frage nach dem Sein. Sie stellt sich uns von unserm eigenen Menschendasein her und ist – nach Heideggers Überzeugung – auch nur von hier aus lösbar. Der Mensch in seinem alltäglichen Dasein ist ganz erfüllt von allerhand praktischen Sorgen und Bestrebungen. Er lebt in der Welt und sucht sich seinen Platz in der Welt zu sichern, bewegt sich in den traditionellen Formen des sozialen Lebens, steht in Beziehungen zu andern, spricht, denkt, fühlt, wie »man« spricht, denkt, fühlt usw. Aber diese ganze, festgefügte Welt, in der er sich vorfindet und in der er »mitmacht«, sein ganzes geschäftiges Tun ist nur ein großer Apparat, der ihm die wesentlichen Fragen übertäuben {sic} soll, die mit seinem Dasein unlöslich verknüpft sind, die Fragen: »Was bin ich?« und »Was ist das Sein?« Und doch gelingt es ihm nicht, sich dauernd diesen Fragen zu entziehen. Es lebt unter allen Sorgen um dies und das die Sorge um sein eigenes Sein und etwas, was ihn unablässig daran mahnt und doch immer wieder treibt, sich davor in die Welt zu flüchten: Das ist die Angst, die unaufhebbar mit seinem Dasein selbst verknüpft ist. In ihr kündigt sich ihm an, was sein Dasein ist, und wenn er sich der Frage stellt, dann wird ihm auch die Antwort, denn das Sein ist offenbar für den, der sich entschließt, es sehen zu wollen. Die Tatsache, vor der der Mensch ausbiegen {sic} will, ist, daß er ins Dasein »geworfen« ist, um sein Leben zu leben. Zu seiner Existenz gehören Möglichkeiten, die er frei ergreifen, zwischen denen er sich entscheiden soll. Das Äußerste aber, dem er entgegengeht und das unaufhebbar zum Menschendasein gehört, ist der Tod: Sein Leben ist mit dem Tode gezeichnet; aus dem Nichts kommt er und unaufhaltsam geht er dem Nichts entgegen. Wer in der Wahrheit leben will, muß es ertragen, dem Nichts ins Auge zu sehen, ohne sich davor in Selbstvergessenheit und trügerische Formen der Sicherung zu flüchten. Das Tiefenleben Heideggers ist ein geistiges Leben. Der Mensch ist frei, sofern er sich zum wahren Sein entschließen kann und soll. Aber es ist ihm kein anderes Ziel gesteckt, als er selbst zu sein und in der Nichtigkeit seines Seins auszuharren. – Heidegger hat keine pädagogische Theorie aufgebaut, und es kann nicht unsere Aufgabe sein nachzuprüfen, wie weit seine Metaphysik sich in seiner pädagogischen Praxis auswirkt oder wie weit darin eine heilsame Inkonsequenz waltet. Wir müssen nur erwägen, welche pädagogischen Konsequenzen in der Richtung dieser Idee des Menschen liegen. Wenn der Mensch zum wahren Sein aufgerufen ist (man wird sich allerdings fragen müssen, welchen Sinn ein solcher Aufruf einem Dasein gegenüber haben kann, das aus dem Nichts ins Nichts geht) – dann wird es Aufgabe des Erziehers sein, sich der Jugend gegenüber zum Sachwalter dieses Aufrufs zu machen, ihr die trügerischen Formen und Idole zu zerstören. Aber wer wird sich zu diesem traurigen Geschäft entschließen, und wer könnte es verantworten? Denn wer wäre gewiß, daß ein anderer diesem Dasein Auge in Auge mit dem Nichts gewachsen wäre, daß er es nicht vorziehen würde, in die Welt zurück oder gar statt dessen lieber aus dem Dasein ins Nichts zu flüchten?

II. Das Menschenbild der christlichen Metaphysik

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Dem pädagogischen Nihilismus zu entgehen, der in der Konsequenz des metaphysischen Nihilismus liegt, ist nur möglich, wenn der metaphysische Nihilismus überwunden wird durch eine positive Metaphysik, die dem Nichts und den Abgründen des menschlichen Daseins selbst gerecht wird. So möchte ich an letzter Stelle die Idee des Menschen skizzieren, die einer christlichen Metaphysik entspricht, und ihre pädagogischen Konsequenzen entwickeln. Auch hier wird es nicht möglich sein, geschichtlich vorzugehen und die Unterschiede zu berücksichtigen, die sich bei den großen christlichen Denkern finden; es kann nur versucht werden, einige gemeinsame Linien hervorzuheben. Es wird nicht möglich sein, dogmatische Unterschiede der Konfessionen gänzlich auszuschalten, weil sonst die Idee des Menschen nicht dargestellt werden könnte. D. h. es ist nicht meine Absicht, dogmatische Unterscheidungslehren zu behandeln. Aber da ich unter christlicher Metaphysik eine solche verstehe, die von den Glaubenswahrheiten Gebrauch macht, muß ich mich für eine bestimmte dogmatische Grundlage entscheiden.

1. Sein Verhältnis zu den dargestellten Ideen

a) zum Humanitätsideal

Die christliche Anthropologie teilt mit der des idealistischen Humanismus die Überzeugung von der Güte der menschlichen Natur, von der Freiheit des Menschen, von seiner Berufung zur Vollkommenheit, von seiner verantwortlichen Stellung in dem einheitlichen Ganzen des Menschengeschlechts. Aber sie hat dafür eine andere Grundlage. Gut ist der Mensch, sofern er von Gott geschaffen ist, nach seinem Bilde geschaffen ist, und das in einem ihn vor allen andern irdischen Geschöpfen auszeichnenden Sinn. Seinem Geist ist das Bild der Trinität eingeprägt. Augustin hat mit äußerster Schärfe verschiedene Möglichkeiten herausgearbeitet, das Gottesbild im Menschengeist zu fassen. Es ist nicht möglich, das hier bis ins Einzelne zu verfolgen. Ich möchte nur soviel andeuten, wie für unsern Zusammenhang wichtig ist. Der Menschengeist liebt sich selbst. Er muß sich erkennen, um sich lieben zu können. Erkenntnis und Liebe sind im Geist, sind also eins mit ihm, sind sein Leben. Und doch sind sie von ihm und voneinander unterscheidbar. Die Erkenntnis wird aus dem Geist geboren, und aus dem erkennenden Geist geht die Liebe hervor. So kann man Geist, Erkenntnis und Liebe als Abbild des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes ansehen. Und das ist kein bloßes Gleichnis, sondern hat eine sehr reale Bedeutung. Der Mensch ist nur durch Gott, und ist, was er ist, durch Gott. Weil er Geist ist und weil er als Geist mit dem Licht der Vernunft, d. h. mit dem Abbild des göttlichen Logos, ausgerüstet ist, kann er erkennen. Weil der Geist Wille ist, wird er durch die Güte – die reine Güte und ihre irdischen Abbilder – angezogen, liebt er und kann sich mit dem göttlichen Willen vereinigen und dadurch erst die wahre Freiheit finden. Den eigenen Willen dem göttlichen Willen gleichförmig machen – das ist der Weg, der zur Vollendung des Menschen in der Glorie führt. Und da wird wiederum ein radikaler Unterschied sichtbar, der die christliche Auffassung des Menschen von der humanistischen trennt. Das Vollkommenheitsideal ist für diese ein irdisches Ziel, das Ziel, dem die natürliche Menschheitsentwicklung zustrebt. Nach christlicher Auffassung ist es ein jenseitiges Ziel, zu dem der Mensch wohl mitwirken kann und muß, das er aber nicht allein durch seine natürlichen Kräfte erreichen kann.

b) zur Tiefenpsychologie

Damit kommen wir zu dem, was die christliche Anthropologie mit jenen modernen Auffassungen gemein hat, die den Oberflächencharakter des Bewußtseins erkannt haben. Auch sie kennt die Tiefen der Seele und die Nachtseiten des menschlichen Daseins. Sie sind für sie keine neuen Entdeckungen, sondern Tatsachen, mit denen sie immer gerechnet hat, weil sie sie aus ihrer Wurzel begreift. Der Mensch war ursprünglich gut, kraft seiner Vernunft Herr seiner Triebe, frei dem Guten zugewendet. Aber durch die Abwendung des ersten Menschen von Gott ist die menschliche Natur aus dem Urstand gefallen: die Triebe in Empörung gegen den Geist, der Verstand verdunkelt, der Wille geschwächt. Vom ersten Menschen hat sich die verderbte Natur auf das ganze Menschengeschlecht, das von ihm ausging, vererbt. Sich selbst überlassen, ist der Mensch zwar den dunklen Gewalten nicht völlig ausgeliefert: Das Licht der Vernunft ist in ihm nicht gänzlich erloschen und die Freiheit ist ihm geblieben; so hat jeder die Möglichkeit, den Kampf mit seiner niederen Natur aufzunehmen, aber er ist immer in Gefahr, überwältigt zu werden, und der Sieg auf der ganzen Linie wird ihm aus eigener Kraft niemals gelingen: einmal, weil er es weitgehend mit unsichtbaren Feinden zu tun hat (wenn er gelernt hat, der Oberfläche zu mißtrauen, ist er noch lange nicht versichert, daß es ihm gelingen wird, die Tiefe wirklich zu entschleiern); sodann weil er den Verräter im eigenen Lager hat: den Willen, der so leicht zur Kapitulation zu bringen ist. So haben wir auf der einen Seite Menschen, die sich im Kampf aufreiben; auf der andern solche, die den Kampf aufgeben oder niemals aufgenommen haben: die dem Chaos preisgegeben sind, evtl. bis zu dem Grade, daß keine Einheit der Persönlichkeit mehr sichtbar ist (vorhanden ist die Einheit trotz dieses Aspektes, da die Seele eine ist, jede einzelne von Gott geschaffen, zur Unsterblichkeit berufen und dafür verantwortlich, wenn sie sich selbst verliert, weil sie jederzeit in die Tiefe gehen kann, in der sie sich selbst findet). Wohl gibt es natürlich-gute und edle Menschen, solche, bei denen die Richtung auf das Gute, die der menschlichen Natur eingeprägt und auch durch den Fall nicht ganz verloren ist, besonders stark hervortritt und die auf rein natürlichem Boden einen hohen Grad von Harmonie erreichen. Aber der Riß geht auch durch ihre Natur. Wir wissen nicht, wieviel sie im Verborgenen davon zu spüren bekommen und wann er einmal so aufbricht, daß die Abgründe sichtbar werden.

Der Mensch hat keine Macht über die Gewalten der Tiefe und kann von sich aus den Weg zur Höhe nicht finden. Aber es ist ein Weg für ihn bereitet. Um seine Natur zu heilen und ihm die Erhebung über die Natur, die ihm von Ewigkeit her zugedacht war, zurückzugeben, ist Gott selbst Mensch geworden. Der Sohn des ewigen Vaters wurde das neue Haupt des Menschengeschlechts; jeder, der mit ihm verbunden ist in der Einheit des mystischen Leibes, hat Teil an seiner Gotteskindschaft, trägt einen Quell göttlichen Lebens in sich, der fortströmt ins ewige Leben und zugleich ein Heilquell für die Gebrechen der gefallenen Natur ist: Das natürliche Licht seines Verstandes ist gestärkt durch das Gnadenlicht und ist besser geschützt gegen Irrtümer, wenn auch nicht dagegen versichert, vor allem ist sein geistiges Auge geöffnet für alles, was in dieser Welt uns von einer andern Welt Kunde gibt; der Wille ist dem ewigen Gut zugewendet und nicht leicht davon abzulenken, er besitzt mehr Kraft zum Kampf gegen die niederen Gewalten. Immerhin bleibt er während dieses Lebens dem Kampf ausgesetzt. Er selbst muß dafür Sorge tragen, daß das Gnadenleben in ihm erhalten und beständig genährt wird; erst als Lohn für die Bewährung im Kampf steht ihm der status termini in Aussicht, das Glorienleben, in dem er die ewige Wahrheit schauen und ihr unabwendbar in Liebe anhängen wird. Diesem Ziel unbeirrt zuzusteuern, das muß die Richtschnur für sein ganzes Leben sein, alle Angelegenheiten dieses irdischen Lebens müssen auf ihre Bedeutung für das ewige Ziel hin geprüft, danach bewertet und behandelt werden.

c) zur Existenzphilosophie

So wird für den Christen eine kritische Haltung gegenüber der Welt, in der er sich als geistig erwachender Mensch vorfindet, und gegenüber dem eigenen Ich erforderlich. Der Appell zur Besinnung auf das wahre Sein, wie er uns in Heideggers Metaphysik mit radikaler Schärfe entgegentritt, ist ein ur- christlicher Appell, ein Widerhall jenes Μετανοεῖτε, mit dem der Täufer dazu aufrief, die Wege des Herrn zu bereiten. Unter allen christlichen Denkern hat keiner mit leidenschaftlicherer Energie diesem Ruf entsprochen als St. Augustin. »Noli foras ire, in te redi, in interiore homine habitat veritas.« Tiefer ist wohl niemand ins eigene Innere vorgedrungen als Augustin in seinen »Bekenntnissen«. Schärfer und radikaler hat aber auch niemand an der menschlichen Lebenswelt Kritik geübt als Augustin in seinem »Gottesstaat«. Aber das Ergebnis ist ein völlig anderes: »Im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit«: Diese Wahrheit ist nicht die nackte Tatsache des eigenen Daseins in seiner Endlichkeit. So unumstößlich gewiß für Augustin die Tatsache des eigenen Seins ist: Noch gewisser ist die Tatsache des ewigen Seins, das hinter diesem gebrechlichen eigenen Sein steht. Das ist die Wahrheit, auf die man stößt, wenn man im eigenen Innern bis auf den Grund geht. Erkennt die Seele sich selbst, so erkennt sie Gott in sich. Und zu erkennen, was sie selbst ist und was in ihr ist, das ist ihr nur durch das göttliche Licht möglich. »Der Du mich kennst, ich möchte mich erkennen, so wie auch ich erkannt bin.« »Was wäre Dir, Herr, vor dessen Augen der Abgrund des menschlichen Gewissens bloß liegt, in mir verborgen, auch wenn ich es Dir nicht bekennen wollte? Ich würde Dich mir verbergen und nicht mich Dir … Darum vollzieht sich mein Bekenntnis, mein Gott, schweigend von Deinem Angesicht … Ich sage den Menschen nichts Richtiges, was Du nicht zuerst von mir gehört hast; und Du hörst nichts dergleichen von mir, was nicht Du mir zuerst gesagt hättest.« Daraus spricht eine tiefe Skepsis gegenüber einer rein natürlichen Selbsterkenntnis. Da aber nach Augustin die Selbsterkenntnis die ursprünglichste ist und gewisser als alle Erkenntnis äußerer Dinge, so muß es von hier aus als ein ganz vermessenes Unterfangen erscheinen, mit bloß natürlichen Mitteln die verborgenen Tiefen fremder Seelen aufdecken zu wollen.

d) Zusammenfassung

Zusammenfassend können wir sagen: Von der christlichen Anthropologie her gesehen enthüllt sich das humanistische Idealbild als Bild des integren Menschen, des Menschen vor dem Fall, aber sein Ursprung und sein Ziel sind außer Acht gelassen, die Tatsache der Erbsünde bleibt ausgeschaltet. Das Menschenbild der Tiefenpsychologie ist das Bild des gefallenen Menschen, ebenfalls statisch und ungeschichtlich gesehen: Seine Vergangenheit und seine Zukunftsmöglichkeiten, die Tatsache der Erlösung bleiben unberücksichtigt. Die Existenzphilosophie zeigt uns den Menschen in der Endlichkeit und Nichtigkeit seines Daseins. Sie fixiert das, was er nicht ist, und wird dadurch abgelenkt von dem, was er immerhin positiv ist, und von dem Absoluten, das hinter diesem bedingten Sein auftaucht.

2. Pädagogische Konsequenzen

a) Die Offenbarung als Quelle für die Pädagogik
(für die menschliche Natur, das Erziehungsziel, Bedingungen und Grenzen des pädagogischen Aktes)

Ich versuche nun, einige Konsequenzen für eine christliche Pädagogik zu ziehen. Sie wird, ohne die Mittel natürlicher Menschenkenntnis und Wissenschaft zu verschmähen, eifrig bemüht sein, sich des Menschenbildes zu versichern, wie es uns die offenbarte Wahrheit zeichnet. Sie wird die Quellen der Offenbarung dafür heranziehen, wird sich aber auch Rat holen bei den christlichen Denkern, d. h. bei denen, die in der Offenbarung eine Quelle der Wahrheit sahen und eine Sicherung gegen die Irrtümer, denen die natürliche Vernunft ausgesetzt ist. Sie wird sich ferner aus der Offenbarung Aufschluß holen über das Ziel des Menschen, weil alle pädagogische Zielsetzung am letzten Ziel orientiert sein muß. Und auch über den Sinn alles pädagogischen Tuns und seine Grenzen wird sie hier Klarheit bekommen. – Was das Menschenbild angeht, so sollen zu den Andeutungen, die in der Gegenüberstellung zu den früher gezeichneten gegeben wurden, noch einige hinzugefügt werden. Um die Idee des vollkommenen Menschentums zu gewinnen, stehen verschiedene Wege zur Verfügung. Die Spuren der Trinität im Menschengeist sind nur ein Ausgangspunkt. Es ist uns diese Idee in doppelter Gestalt konkret vor Augen gestellt: im ersten Menschen vor dem Fall und in der Menschheit Christi. So sind die Lehren vom Urstand und von der menschlichen Natur des Erlösers besonders wichtig für das Idealbild der menschlichen Natur. Es ist ferner zu beachten, daß die Offenbarung nicht nur ein allgemeines Bild des Menschen zeichnet, sondern die Differenzen der Geschlechter berücksichtigt und auch der Individualität Rechnung trägt. Entsprechend kennt sie außer dem allgemeinen, für alle Menschen gemeinsamen Ziel eine Differenzierung der Ziele, der geschlechtlichen und individuellen Eigenart entsprechend. – Für das Verständnis des pädagogischen Tuns ist grundlegend die Lehre von der Einheit des Menschengeschlechts, der Vererbung der menschlichen Natur von den Stammeltern auf alle folgenden Geschlechter, die Einordnung der Eltern als Werkzeuge der göttlichen Schöpfertätigkeit in der Erzeugung und der göttlichen Führung in der Erziehung: Das ergibt eine (von den Eltern auf die jeweils ältere Generation auszudehnende) Erzieherpflicht auf der einen, eine Erziehungsbedürftigkeit auf der andern Seite. Die Geistnatur des Menschen – Vernunft und Freiheit – verlangen Geistigkeit des pädagogischen Aktes: ein dem stufenweisen Erwachen der geistigen Aktivität Rechnung tragendes Miteinanderwirken von Erzieher und Zögling, bei dem die führende Tätigkeit des Erziehers mehr und mehr der Eigentätigkeit des Zöglings Raum gibt, um ihn schließlich ganz zur Selbsttätigkeit und Selbsterziehung übergehen zu lassen. Grenzen seiner Tätigkeit, deren sich jeder Erzieher bewußt sein muß, sind einmal die Natur des Zöglings, aus der nicht alles und jedes »gemacht« werden kann, seine Freiheit, die sich der Erziehung widersetzen und ihr Bemühen vereiteln kann, schließlich die eigene Unzulänglichkeit: die Beschränktheit der Erkenntnis, die sich z. B. über die Natur des Zöglings, auch bei bestem Willen, nicht restlos Aufschluß verschaffen kann. (Dabei ist besonders daran zu denken, daß die Individualität etwas Geheimnisvolles ist, und ferner, daß mit jeder Generation etwas Neues aufbricht, was der älteren nicht restlos faßbar ist.) Das alles mahnt daran, daß der eigentliche Erzieher Gott ist, der allein jeden einzelnen Menschen bis ins Innerste kennt, der allein das Ziel jedes einzelnen zweifellos vor Augen hat und weiß, welche Mittel dazu dienen, ihn ans Ziel zu führen. Menschliche Erzieher sind nur Werkzeuge in der Hand Gottes.

b) Die Grundhaltung des katholischen Erziehers
(ehrfürchtige Scheu vor der gegebenen Natur und ihrem Bildungsgesetz; ungebrochen-vertrauensvolle gegenseitige Zuwendung als Bedingung des Verstehens; Verantwortung vor Gott und Gottvertrauen; Hinführung des Kindes zu dieser Einstellung)

Es ist klar, welche Grundhaltung sich daraus für den katholischen Erzieher ergibt. Zunächst eine tiefe Ehrfurcht und heilige Scheu vor den jungen Menschen, die ihm anvertraut sind. Sie sind von Gott geschaffen und tragen eine göttliche Bestimmung in sich. Jedes willkürliche Eingreifen wäre ein Hineinpfuschen in Gottes Plan. In der menschlichen Natur und in der individuellen Natur jedes einzelnen liegt ein Bildungsgesetz, dem der Erzieher sich anpassen muß. Zur Kenntnis der menschlichen Natur, auch zur Kenntnis des jugendlichen Menschen als solchen, liefert ihm die Wissenschaft (Psychologie, Anthropologie, Soziologie) wichtige Hilfsmittel. Aber der individuellen Eigenart kann er nur durch lebendigen seelischen Kontakt nahe kommen: Der eigentümliche Akt des Verstehens, der die Sprache der Seele in ihren verschiedenen Ausdrucksformen (Blick, Miene und Gebärde, Wort und Schrift, praktisches und schöpferisches Tun) zu deuten weiß, kann in die Tiefen eindringen. Aber der Weg ist für ihn nur frei, wenn die Seele sich ungehemmt ausspricht, wenn der ursprüngliche Entfaltungs- und Gestaltungsprozeß von innen nach außen nicht durchbrochen ist. Beim völlig unbefangenen Kind haben wir dieses ungebrochene Strömen des Lebens. Bei ihm sind Auge und Mienenspiel und unbekümmertes Wort der ungetrübte Spiegel der Seele. Aber heute sind schon die Kleinsten, die wir in die Schule bekommen, keineswegs alle mehr solche unbefangenen Kinder. Viele sind schon in sich selbst zurückgescheucht, nach außen abgekapselt; sie können oder wollen sich nicht mehr frei entfalten und äußern; der Blick des Erziehers prallt an einer Wand ab. Hier muß er erst wieder aufschließen, was verschlossen ist. Keine Willkür wird das erreichen. Nur der Blick der Liebe – der heiligen, verantwortungsbewußten, echten Erzieherliebe –, der das Kind nicht aus den Augen läßt, wird schließlich einmal eine Bresche entdekken, durch die er eindringen und am Ende die Mauern zum Einstürzen bringen kann. Aber vielleicht geschieht es häufiger, daß der Erzieher durch ungeeignetes Vorgehen solche Abkapselung selbst verschuldet. Wenn die Seele, die sich in selbstverständlichem Vertrauen geöffnet hat, auf Mißdeutung und Mißverstehen oder auch auf kalte Gleichgültigkeit stößt, dann schließt sie sich zu. Aber auch da, wo sie statt unbefangener Zuwendung bewußte Beobachtung spürt, ein planmäßiges Eindringenwollen. Oder wo sie Eingriffe in ihr Inneres wittert, vor denen sie sich schützen möchte. Der Erzieher braucht die Kenntnis der Kindesseele. Aber nur Liebe und ehrfürchtige Scheu, die nicht gewaltsam aufzubrechen sucht, was verschlossen ist, kann sie ihm öffnen.

Das Kind kennen heißt auch etwas von der Zielrichtung spüren, die in seine Natur gelegt ist. Man kann Menschen nicht zu einem für alle gleichen Ziel, nach einem allgemeinen Schema bilden. Der Eigentümlichkeit des Kindes Raum zu geben ist ein wesentliches Mittel, um der inneren Zielrichtung auf die Spur zu kommen. Aber die Tätigkeit des Erziehers wird dadurch nicht ausgeschaltet. Wenn er nur »wachsen läßt«, wird er seiner Aufgabe nicht gerecht. Wenn der Keim sich zum vollendeten Gebilde, zu seiner Vollgestalt entfalten soll, dann müssen Anlagen gepflegt und gestützt, es müssen aber so manche auch gebunden und beschnitten werden. Überaktivität und Passivität sind gleich große Gefahren in der Erziehungsarbeit. Es ist ein Weg zwischen zwei Abgründen, den der Erzieher gehen muß, und er ist vor Gott dafür verantwortlich, daß er weder nach rechts noch nach links abirrt. Und er kann ihn nur vorsichtig tastend gehen. Was ihn bei dieser gefahrvollen Aufgabe stärken muß, ist eben der Gedanke, der die Aufgabe so gefahrvoll macht: daß es Gottes Werk ist, an dem er mitzuarbeiten hat. Er ist dafür verantwortlich, daß er das Seine tut. Aber wenn er das Seine tut, dann darf er auch darauf vertrauen, daß seine Unzulänglichkeit nichts verderben wird, und daß das, was er selbst nicht vollbringen kann, auf andere Weise geschieht.

Wenn er davon durchdrungen ist, daß Erziehung letzten Endes Gottes Sache ist, so wird er schließlich darauf hinarbeiten, diesen Glauben auch im Kinde zu wecken. Nur so ist die letzte Aufgabe aller Erziehungsarbeit, von der Erziehung zur Selbsterziehung überzuleiten, richtig zu lösen. Daß er in Gottes Hände gezeichnet ist und eine gottgegebene Bestimmung hat, dieser Glaube muß auch in dem jungen Menschen jene Verbindung von Verantwortung und Vertrauen hervorbringen, wie sie die rechte Einstellung des Erziehers ist. Verantwortung: sich zu dem zu bilden, was er werden soll. Vertrauen: daß er dieser Aufgabe nicht allein gegenübersteht, sondern erwarten darf, daß die Gnade vollenden wird, was über seine Kraft geht. Wenn in beiden, im Erzieher und im Zögling, dieser Glaube lebendig ist, dann ist erst die vollkommene objektive Grundlage für das richtige Verhältnis beider da: jenes reine und freudige, über alle menschliche Zuneigung erhabene Vertrauen, daß beide zusammen an einem Werk arbeiten, das nicht des einen oder des andern persönliche Angelegenheit, sondern Gottes Sache ist.

B. Objektiver Zusammenhang von Menschentum und Erziehung

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Von hier aus eröffnet sich auch das Verständnis für den objektiven Zusammenhang zwischen Menschentum und Erziehung, die Seinsgrundlage für den Zusammenhang der Idee des Menschen und der pädagogischen Theorie und Praxis. Die Menschheit ist ein großes Ganzes: einer Wurzel entstammend, auf ein Ziel hingerichtet, in ein Schicksal verflochten. Eine solche Einheit bilden die Engel nicht. Sie stehen jeder für sich vor Gott. Aber auch die Exemplare einer Tierspecies sind nicht so verbunden. Es gibt hier Lebensgemeinschaften (Familien, Rudel), aber keine Zusammengehörigkeit über Raum und Zeit hinweg. Das hängt zusammen mit der Geistesnatur des Menschen: Sie ermöglicht gemeinsamen Vollzug von Akten; diese Gemeinschaftsakte können verschiedenen Typus haben; ein Typus ist der, bei dem die beteiligten Personen verschiedene Stellung im Akt haben; und dieser Akt ist der pädagogische Akt, der wesentlich Akt des Erziehers und des Zöglings ist und von beiden einen verschiedenen Anteil verlangt. Die Geistnatur macht auch gemeinsamen Besitz objektiver Geistesgüter möglich und Erschließung geistiger Güter durch eine Person für andere. Dieser objektive Besitz ist wesentlich für die Verbindung über Raum und Zeit hinweg. Bedingung der Möglichkeit für Erziehung ist ferner der Entwicklungscharakter der Menschen: daß sie nicht fertig ins Dasein treten wie die reinen Geister, andererseits in ihrer Entwicklung nicht festgelegt sind wie die Tiere, sondern einen Spielraum von Möglichkeiten vor sich haben und eine freie Mitwirkung bei der Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten; das macht Selbstgestaltung, aber auch Führung und Nachfolge möglich und nötig. Nötig, weil die Schicksalsgemeinschaft der Menschen eine solche ist, in der sie als Glied zu Glied zueinanderstehen, Funktionen füreinander haben und in wechselseitiger Verantwortung vor Gott stehen. Diese Funktionen bedeuten einmal eine natürlich-geistige Mittlerschaft, sie bedeuten aber auch Gnadenvermittlung je nach dem verschiedenen Verhältnis, in dem die Glieder zu ihrem Haupt Christus stehen. Der ewige Logos ist die Seinsgrundlage für die Einheit der Menschheit, die Erziehung sinnvoll und möglich macht. Wenn die Ideen der Menschen an ihm orientiert sind, dann sind sie eine zuverlässige Grundlage für Erziehungswissenschaft und Erziehungsarbeit.

II. Anthropologie als Grundlage der Pädagogik

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I. Verschiedene Anthropologien und ihre pädagogische Bedeutung

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Anthropologie