Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem

Die Herzogin von Santa Rosa

(Historischer Liebesroman)

Das geheimnisvolle Erbe
e-artnow, 2017
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7957-2

Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Violanta sah sich heute eigentlich zum erstenmal diesen Vorplatz genauer an, und im Hinblick auf die glatte Mauer, welche sich neben der Tür, durch die sie hinaustrat, bis zur Einmündung des links abzweigenden Korridors etwa acht bis neun Schritt hinzog, fragte sie:

»Jener Gang führt ja wohl direkt zu meiner Garderobe, beziehungsweise in den östlichen Flügel längs des Hofes, die Rückwand meines Wohnzimmers aber schließt mit dieser Ecktür ab, was also hat dieser Vorsprung zu bedeuten?«

»Ah, Altezza haben mit dem ersten Blick gesehen, was den wenigsten auffällt, nicht einmal den Hausbewohnern«, erwiderte Attilio. »Dieser Mauervorsprung, welcher der Breite der Garderobe entspricht, umschließt einen versteckten Raum, der wohl früher zur Aufbewahrung des Silberzeugs und anderer Wertgegenstände, namentlich in unruhigen Zeiten, bestimmt war. Fenster hat diese Kammer nicht; frische Luft also könnte ihr wohl nur durch eine angeblich vorhandene, aber wohlverborgene Tür, die in die Bibliothek führen soll, zugeführt werden. Ob die Kammer noch etwas enthält, vielleicht altes Gerümpel, kann ich nicht sagen; daß sie aber existiert, hat der verstorbene Herr Herzog mir selbst gesagt, mit dem Bemerken, daß er den Raum selbst niemals betreten hat. Er ist verschlossen geblieben, seit der Vater des seligen Herrn Herzogs als junger Mann einen Nervenschock darin erlitten hat, dessen Nachwirkung er sein ganzes Leben hat spüren müssen.«

»Lieber Himmel, dann muß ja seit mehr denn hundert Jahren kein Mensch mehr diese Kammer betreten haben!« rief Violanta aus. »Wie gelangt man denn hinein?«

»Das weiß ich nicht«, erklärte Attilio kopfschüttelnd. »Der Herr Herzog erwähnte nur, daß man aus der Bibliothek hineingelangen soll, aber gefunden habe ich den Eingang nicht, obwohl ich, neugierig, wie ich in jüngeren Jahren noch war, danach gesucht habe, wie ich bekennen muß.«

»Und was hat den Nervenschock meines Ur-Urgroßvaters verursacht?« erkundigte sich Violanta, die die Neugier des alten Kammerdieners sehr gut begriff.

»Darüber haben der Herr Herzog nichts gesagt. Er hat es selbst nicht gewußt, da sein Herr Vater strenges Stillschweigen darüber beobachtete«, antwortete Attilio und setzte ängstlich hinzu: »Altezza werden doch hoffentlich den Raum nicht betreten wollen? Und wenn schon, dann doch sicher nicht allein!«

»Nun, reizen könnte es mich gewiß, genau wie es Sie gereizt hat, das eventuell darin befindliche Gerümpel in Augenschein zu nehmen«, gestand Violanta lachend. »Aber die Gefahr ist nicht groß, denn was Sie nicht gefunden haben, nämlich den sagenhaften Eingang, werde ich wohl kaum entdecken. Sollte mir das zufällig aber doch glücken, dann werde ich Sie rufen, mich in die geheimnisvolle Kammer zu begleiten.«

»Dann erlaube ich mir die Hoffnung auszusprechen, daß der Zufall Altezza diese Entdeckung erspart«, sagte der alte Mann ängstlich. »Ich bin gewiß kein Feigling, wenn es Mann gegen Mann gilt, und würde Altezza gegen jede Gefahr mit meinem letzten Blutstropfen verteidigen, aber es gibt Dinge, die man besser nicht heraufbeschwört. Es gehen von diesem Schloß Gerede um, – – lieber Gott, in solch altem Hause kann es ja nicht immer ruhig und friedlich zugegangen sein! Man erzählt sich von rätselhaft verschwundenen Menschen, von Gewalttaten –«

»Nun ja, das Schloß hat im Laufe der Zeiten gewiß viel durchgemacht«, nickte Violanta zustimmend. »Was für Räume befinden sich oberhalb dieser verborgenen Kammer?«

Nur zwei Gelasse zur Aufbewahrung von Hausutensilien und unbenutztem Gerät. Altezza wissen, daß oberhalb Ihrer Wohnung jene der Frau Principessa liegt; alle Wohnräume sowie die Zimmer für Gäste befanden sich früher im zweiten Stock; erst als dem seligen Herrn Herzog in seinem hohen Alter die Stiegen zu beschwerlich fielen, wurden von den Gesellschaftsräumen hier im Piano Nobile die Zimmer für ihn eingerichtet, die Altezza nun bewohnen. Und das ist nun auch schon fast dreißig Jahre her.«

Im sogenannten kleinen Speisesaal, in welchem eine Tafel für etwa fünfzig Personen ganz gut Platz gehabt hätte, der »kleine« aber zum Unterschied von dem Bankettsaal genannt wurde, der den alten Bau von dem Borgiaflügel trennte, fand Violanta die Principessa und Melanie schon vor, und der Pranzo, die Hauptmahlzeit der Italiener, wurde unter Attilios Oberaufsicht durch zwei Diener mit der ganzen Feierlichkeit eines großen Hauses aufgetragen, wobei Violanta nicht umhin konnte, das Fehlen Don Ferrantes und seiner stummen Tochter, trotz der unleugbaren Unterhaltungsgabe ihres Onkels, mit einer gewissen Erleichterung zu empfinden. Denn mochte sie damit im Unrecht sein oder nicht, dieser Verwandte hatte sie mißtrauisch gemacht, woran vielleicht auch die mehr oder minder versteckten Warnungen des Ministers beteiligt waren. Violanta fand, daß man den Leuten nicht gleich auf der Türschwelle mit seinen fragwürdigen Prinzipien ins Gesicht zu springen braucht, um einem dann im Handumdrehen um den Hals zu fallen. Eine fortgesetzt zur Schau getragene Feindseligkeit hätte sie besser überstanden und vertragen, als die aalglatte Liebenswürdigkeit des prinzipienreitenden Onkels, vor der eine innere Stimme sie warnte. Übrigens wollte Don Ferrante schon in allernächster Zeit mit seiner Tochter seine Villa beziehen, und sie würde dann voraussichtlich noch genug von ihm sehen.

Nach beendetem Pranzo erklärte die Principessa sich zurückziehen zu wollen, indem sie Violanta empfahl, das gleiche zu tun. Wozu war man auf dem Lande, wenn man die Freiheit, mit den Hühnern zu Bett zu gehen, nicht ausnutzen wollte? Melanie hatte jedoch gar keine Lust, »schlafen geschickt zu werden wie ein Baby«, aber die Principessa machte kurzen Prozeß, denn sie fand, daß Violanta nach ihren ersten römischen Wochen angegriffen aussah, und die letztere war wirklich dankbar, allein gelassen zu werden.

Der Anblick ihrer ausgepackten Sachen im Wohnzimmer das durch altmodische Lampen gut erleuchtet war, ließ Violanta zunächst Abstand davon nehmen, sich sofort in ihrem schönen, breiten Bett auszustrecken. Sie schloß den Schreibsekretär auf, ein großes, schönes, reich mit Goldbronzebeschlägen verziertes Möbel mit herunterzuklappender Tischplatte, wie es zur Zeit des Empirestiles besonders beliebt war. In diesem Sekretär fand Violanta allerlei Dinge, die der alte Herzog zurückgelassen hatte. Briefpapier und Umschläge mit dem eingeprägten Wappen der Porsenna und dem Aufdruck: Castello di Santa Rosa della Rocca. Ferner einen ganzen Vorrat von Stahl- und Gänsefedern, ein Kästchen voll Briefmarken, einfaches Schreibpapier, Siegellack, ein Petschaft mit eingeschnittenem Wappen, und in dem einen Schub einen Schlüssel, an welchem ein Stück Pappe hing, darauf in sehr veralteten und fast verblaßten Schriftzügen zu lesen war: »Schlüssel zu der geheimen Kammer«, und auf der Rückseite eine genaue Beschreibung, wie und wo der Schlüssel zu gebrauchen war.

»Nun also, da wär's ja heraus, das große Geheimnis hinter das nicht einmal die Neugier eines Kammerdieners kommen konnte«, sagte Violanta in der ersten Überraschung ganz laut. »Aber sosehr die Sache mich vorhin gereizt, verspüre ich jetzt doch gar keine Lust auf einen Nervenschock, wie ihn der Ur- Urgroßvater in dieser Kammer erlitten haben soll. Soll, wohlverstanden. Vielleicht ist der Nervenschock nur als ein Kinderschrecken erfunden worden, damit die Kammer unbehelligt im Besitz der Dinge blieb, die Unberufene gar nichts angingen. Ob mein Urgroßvater die Kammer wirklich niemals betreten hat? Attilio behauptete zwar, er habe es ihm selbst gesagt, also muß man ja auch annehmen, daß es wahr ist; es fragt sich nur, ob er gewußt hat, was seinem Vater diesen tödlichen Schrecken verursacht hat. Über eine Maus oder gar über eine Ratte kann man doch unmöglich dermaßen erschrecken – nun, wir werden ja sehen. Vielleicht weiß von der Familie jemand mehr darüber als der alte Attilio; ich werde also erst einmal Erkundigungen einziehen, bevor ich auf eigene Faust Entdeckungsreisen unternehme.«

Danach ging sie durch die Bibliothek in ihr Schlafzimmer, um dort ihrer Zofe zu läuten, die im Ostflügel, anstoßend an das Badekabinett, ihr Zimmer hatte. In der Bibliothek stockte indes für einen Augenblick ihr Schritt, denn als sie über die Schwelle der Verbindungstür trat, war es ihr, als hätte sich eine Gestalt neben dem Kamin bewegt, der dem Fenster gegenüber an der Schmalseite des langen, aber nicht sehr breiten Raumes lag. Es mußte aber eine Täuschung gewesen sein, denn die Lampe, welche über dem Lesetisch hing, verbreitete genügend Licht, um auch die entfernten Winkel zu beleuchten, und diese waren mit Bücherschränken so ausgefüllt, daß keine Katze sich hätte dahinter verstecken können. Aber es war keine Katze gewesen, die Violanta zu sehen vermeint, sondern eine menschliche Gestalt oder vielmehr deren Schatten.

»Nun? Ich werde doch nicht etwa anfangen, Gespenster zu sehen?« versuchte sie über sich selbst zu lachen, und nach nur sekundenlangem Zögern ging sie tapfer hin zu dem übrigens sehr schön gemeißelten Kamin von weißem Marmor, der so breit war, daß an seinen beiden Seiten nur noch je ein schmales Bücherregal Platz hatte, von denen das rechte laut der Aufschrift auf dem Karton, welcher an dem Schlüssel zu der geheimen Kammer hing, die Tür zu diesem Gelaß maskierte. Aber Violanta widerstand der Versuchung, das versteckte Schlüsselloch zu suchen; nach einem flüchtigen Blick auf den fast bis zur Decke reichenden Kaminmantel ging sie langsam zwischen der doppelten Reihe der an den Wänden aufgestellten Bücherschränke zurück bis zum Lesetisch, stand dort unentschlossen eine kleine Weile still und trat dann auf die Tür ihres Schlafzimmers zu. Mit der Hand auf der Klinke blickte sie aber doch noch einmal hin nach dem Kamin, als erwarte sie dort wieder zu sehen, was wahrscheinlich nur ihr eigener Schatten gewesen war, den das hinter ihr im Wohnzimmer brennende Licht bis in jene Ecke geworfen hatte. Einen Schatten sah sie dabei zwar nicht, wohl aber etwas anderes, sehr Merkwürdiges: einen bläulich leuchtenden Schein, der wie ein Irrlicht über dem rechten Bücherregal hin und her schwebte.

Violanta nahm die Hand von der Türklinke und fuhr sich damit über die Augen – nein, sie hatte sich nicht getäuscht: der wie eine kleine Flamme brennende Schein war da. Von der Lampe über dem Tisch konnte er nicht herrühren, denn dann hätte sie ihn schon vorher sehen müssen, auch durch das noch offenstehende Fenster kam er nicht, denn der Mond war noch nicht aufgegangen, und die vielen Sterne an dem dunkelblauen Nachthimmel warfen auch kein solches Licht durch die ganze Tiefe des Zimmers; kurz, es war wirklich etwas sehr Sonderbares, Unirdisches um dieses Licht, bei dessen Betrachtung es Violanta zwar ganz eigen durchrieselte, aber Furcht verspürte sie nicht. Während sie langsam auf die blaue Flamme zuschritt, fing diese unruhig an hin und her zu flackern und erlosch vor ihren Augen, bevor sie den Kamin noch erreicht hatte.

»Eine Ursache muß diese merkwürdige Lichterscheinung doch haben«, überlegte sie ganz sachlich. »Daß sie keine Einbildung war, will ich jederzeit bezeugen, und falls ich sie noch einmal sehen sollte, werde ich der Sache auf den Grund zu gehen versuchen, vorläufig aber nicht darüber reden. Denn erstens glauben einem die Leute solche Dinge ja doch nicht, und zweitens hab ich so das Gefühl, als ob diese Sache nur mich allein anginge.«

Darauf legte sie sich zur Ruhe und schlief alsbald den tiefen, erquickenden Schlaf der Jugend, traumlos und ungestört, bis sie zur gewohnten Stunde wieder erwachte. Für gewisse Leute, die abends nicht ins Bett und früh nicht aus den Federn kommen können, wäre Violantas »gewohnte Stunde«, die sie sich vorgenommen hatte, um keinen Preis ihrem neuen Leben zu opfern, eine unheimlich frühe gewesen; aber für andere, die zur Erkenntnis gekommen sind, daß es nichts Schöneres und Erquickenderes gibt, als den Tag mit der aufgehenden Sonne zu beginnen, wäre sechs Uhr, namentlich im Sommer, durchaus keine »unheimliche« Zeit. Viele Leute bilden sich ein, daß Frühaufstehen »nervös« macht, während doch nichts die Nerven mehr stärkt, als die stillen, taufrischen noch vom Lärm des Tages unberührten Stunden und gerade das lange Herumliegen im Bett und womöglich auch das Frühstücken darin nervös, mißmutig und unlustig für den ganzen Tag macht.

Violanta stand also auf, bevor die Uhr noch sechs geschlagen, und während sie sich, wie gewohnt, ohne Hilfe ankleidete, warf sie immer wieder einen Blick durch die offenen Fenster herab auf die vom Tau der Nacht im Frühsonnenlicht wie mit Diamanten bestreut funkelnde Campagna, auf die wie eine Vision am Strande aufsteigende blaue Silhouette des Kaps der Circe. Ja, von allen Schätzen, mit denen ihr Erbe sie überschüttet hatte, war dieses Schloß mit seiner unvergleichlichen Lage das Allerschönste, und wer weiß, was es ihr noch spenden konnte.

»Und morgens in der roten Frühe
Erwacht mein Herz so reich und froh,
Als wüßt es, daß sein Glück ihm blühe,
Und müßte nur noch raten: wo?«

sang sie leise vor sich hin. Und als sie eben fertig angekleidet war, hörte sie die tiefen Glocken der Kirche läuten, und ohne sich lange zu besinnen, lief sie durch ihre Zimmer hinaus in das Vestibolo, und die Treppe hinab durch die Halle und den Innenhof hinaus ins Freie, wie ein Gespenst angestarrt von den ausfegenden Hausgeistern, denen es sicher noch nicht vorgekommen war, daß eine so große Dame, die noch dazu ein junges Mädchen war, in aller Frühe zu Fuß und ohne jede Begleitung hinauslief wie ein gewöhnlicher Mensch. Und Violanta, die diese erstaunten Blicke sah, lachte vergnügt vor sich hin:

»Es ist schon recht so; wir wollen die guten Leute beizeiten daran gewöhnen, daß die Herzogin von Santa Rosa keine Treibhauspflanze ist, sondern ein ganz unkonventionelles Menschenkind. Je eher sie das merken, um so besser.«

Es machte ihr einen »diebischen« Spaß, daß die wenigen Menschen, die ihr auf dem Wege zur Kirche begegneten, sowie die schon in der Kirche versammelten Andächtigen sie ebenso entgeistert ansahen wie ihre Diener. Man denke aber auch nur: die Herzogin kam ganz allein, nicht einmal einen Diener hinter oder ihre Zofe neben sich, in die Kirche, in einem weißen Kleide, in einem weißen, obwohl der alte Duca noch keine drei Wochen tot war! Violanta fühlte sich wunderbar erhoben in dieser ebenso schönen wie interessanten Kirche, deren Größe in keinem Verhältnis zu dem kleinen Städtchen stand, wie man es so oft in Italien sehen kann. Schon die Außenseite mit der weißen, säulengetragenen Loggia über dem imposanten dreifachen Portal und dem wunderbaren großen Rosettenfenster war für den Kenner eine Augenweide. Ebenso der viereckige elegante Campanile mit seinen drei übereinander gebauten Loggien, während das mit verblaßten Fresken bemalte Innere beim ersten Anblick den Eindruck von zwei übereinanderliegenden Kirchen machte, denn zu beiden Seiten des freistehenden Hochaltars führten Treppen zu einer breiten und tiefen Apsis mit einem zweiten Hochaltar empor. Geweiht war diese Kathedrale der heiligen Rosa von Viterbo, einer der reizendsten Gestalten des italienischen Mittelalters, die, kaum dem Kindesalter entwachsen, ihren kurzen, inhaltreichen Lebenslauf im Nimbus außerordentlicher Heiligkeit und außergewöhnlicher Gaben des Geistes und des Herzens vollendete. Ihr unverwester Körper ist heute noch in einem gläsernen Sarge zu sehen ; das liebliche Gesicht, obwohl durch die Zeit dunkelbraun gefärbt, hat einen ruhigen, rührenden Ausdruck. Und ein Porsenna, der bald nach ihrem frühen Hinscheiden an dem Sarge der sehr bald nach ihrem Tode Kanonisierten gebetet und die erbetene Gnade empfangen hatte, errichtete in dem kleinen Städtchen vor seinem Schlosse die große Kirche zu ihrem Gedächtnis.

Nachdem Violanta bewegt und erhoben dem Gottesdienst beigewohnt, trat sie wieder hinaus in den glorreichen Sonnenschein des noch jungen Tages, grüßte die Leute, die vor dem Portal zögerten, um die junge Herzogin noch einmal zu sehen, und erwarb sich dadurch unabsichtlich die Zuneigung der Bevölkerung. Nachdem sie also ihre »Untertanen« ganz absichtslos durch ihr freundliches Wesen und ihre Schönheit bezaubert hatte, spürte sie noch gar keine Lust in das Schloß zurückzukehren. Sie besann sich nicht lange und ging die Hauptstraße des Ortes entlang, dabei gelangte sie sehr bald ins Freie auf einen schattigen Weg, der, sich hart am Abhang hinziehend, hinab nach der Campagna führte. Es war unsagbar schön, in dem wonnigen Walde dahinzuwandeln, keine Menschenseele war zu sehen, und das Singen, Zwitschern und Tirilieren der Vögel in den von einer leisen Brise bewegten, immergrünen Zweigen der Steineichen war ein gar liebliches Morgenkonzert. Zuweilen huschte eine der großen, grünen Eidechsen über den Weg oder hielt darauf an, um die weiße Gestalt zu betrachten und dann rasch wieder unter den großen, saftigen Blättern des Huflattichs zu verschwinden. Und weil die Pinien bald durch einen dichten Olivenhain abgelöst wurden, so wollte sie auch diesen noch erreichen, um die noch nie in der Nähe geschauten Bäume zu sehen, deren knorrige Stämme und Äste mit ihrem hellen, silbergrünen Laub sie fremdartig und doch auch wieder heimatlich anmuteten, wie seltsamerweise alles, was sie in diesem Lande sah.

Sie hatte die Oliven noch kaum erreicht, als sie Hufschläge hinter sich hörte, und als sie sich unwillkürlich umdrehte, sah sie einen Reiter auf sich zugetrabt kommen, einen jener »Campagnareiter«, die dem Kenner dieser Gegend so vertraut sind, und die die Maler der Campagna nie vergessen als Staffage zu benutzen, mit ihren flinken, kleinen Pferden, deren langer Schweif den Boden fegt, mit langer Mähne und glänzend geputzten Messingbeschlägen auf dem Zaumzeug, wehenden Fasanenfedern am Stirnriemen. Auch der Mann, der im Sattel saß, trug die gewohnte Tracht: einen Anzug von geripptem, braunem Baumwollsamt, hohe Stiefel, den spitzen Kalabreser von schwarzem Filz auf dem Kopf, den einen Zipfel des rotgefütterten weiten schwarzen Mantels über die Schulter geschlagen. Dieser aber hatte im Bügel nicht die lanzenartige Stange stecken, mit welcher die Campagnareiter die Büffelherden zusammentreiben, wohl aber lag vor ihm über dem Sattel der Karabiner.

Violanta trat zur Seite, um den Mann vorüberzulassen; als er aber dicht bei ihr angelangt war, hielt er das Pferd an, sprang aus dem Sattel, zog den Hut und redete sie an.

»Altezza verzeihen, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie gewissermaßen anzufallen«, sagte er mit dem Tonfall und den Manieren des gebildeten Mannes. »Ich würde jedoch eine Pflicht verletzen, wollte ich Sie nicht darauf aufmerksam machen, daß es besser ist, nicht ohne männliche Begleitung im Walde spazierenzugehen. Zwar ist das Banditenunwesen in dieser Gegend so gut wie erloschen, aber ich möchte doch nicht dafür stehen, daß die Versuchung, durch die Entführung der Herzogin von Santa Rosa in den Besitz eines glänzenden Lösegeldes zu gelangen, die Zeit des Brigantentums wieder aufleben lassen könnte. Wie Altezza sehen, reite ich selbst auch niemals unbewaffnet aus. Sicher ist sicher.«

Während dieser Anrede hatte Violanta Zeit, sich ihren freundlichen und respektvollen Warner anzusehen; er war ein groß und kräftig gewachsener junger Mann, dessen sonnenverbranntes, wie aus Bronze gegossenes Gesicht mit der kühnen Adlernase, dem feinen, festgeschnittenen Munde, den großen, dunklen, aber nicht harten Augen und der hohen, offenen Stirn, über der kurzgeschnittene, wellige, schwarze Haare durchaus wohlgepflegt und sorgfältig seitlich gescheitelt lagen, einen entschieden sehr angenehmen und vertrauenerweckenden Eindruck machte, besonders da das kühne Gesicht beim Sprechen einen einnehmenden Ausdruck freundlicher Güte bekam.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Warnung, denn ich lege wirklich gar keinen Wert darauf, von Räubern entführt zu werden«, erwiderte sie so frank und frei, wie es ihre Art war. »Mich hat der schöne Morgen, der herrliche Wald und das Gefühl von Freiheit verführt, weiter zu gehen, als ich eigentlich vorhatte. Aber woher kennen Sie mich? Ich bin doch erst seit gestern in Santa Rosa.«

»Oh, ich sah Altezza in Rom mit der Principessa Aquasanta im offenen Wagen fahren«, erklärte er. »Ohne den Schleier, notabene, in den Sie bei der Beisetzung meines Großvaters undurchdringlich eingehüllt waren.«

»Bei der Beisetzung Ihres Großvaters?« wiederholte Violanta erstaunt, und dann ging ihr ein Licht auf. »Also sind Sie der –«

»Der Bauer Porsenna«, ergänzte er mit einer Verbeugung.

»Mein Vetter Pietro Porsenna!« rief sie fröhlich und reichte ihm die Hand. »Daß wir uns auf diese Weise kennenlernen müssen, das ist ja köstlich. Und ich hatte vor, heute nachmittag in großer Gala Ihrer, nein, deiner Mutter meinen Antrittsbesuch zu machen und um gute Nachbarschaft zu bitten.«

»Altezza, das ist –«

»Bitte, ich heiße Violanta, von meinen Verwandten gewöhnlich Vio genannt, und werde von ihnen geduzt«, fiel sie herzlich ein.

»Man sollte Vorbedeutungen wirklich nicht kurzweg für Aberglauben erklären«, versetzte er ernsthaft. »Heute früh, als ich mein Fenster aufmachte, saß eine weiße Taube auf dem Sims, was nach dem Glauben unserer Landleute hier unfehlbare Auspizien für ein nahendes Glück bedeutet. Also wollen Sie – willst du, Kusine, den Familienzwist begraben? Wird mein Großvater sich darüber nicht im Grabe umdrehen?«

»Ja, was geht denn mich der Familienzwist an?« versetzte Violanta lachend. »Die Ursache dazu ist mir total gleichgültig.«

»Auch die Tochter des Bauern Volpe, meine Mutter?«

»Nein, die ist mir gar nicht gleichgültig, denn nach allem, was Tante Ciacinta mir von ihr erzählte, freue ich mich sehr darauf, sie kennenzulernen.«

»Und was wird die andere Verwandtschaft dazu sagen? Die Principessa, Onkel Ferrante und seine Familie?«

»Oh, die können alle sagen, was sie wollen. Olga Porsenna hätte längst gern eure Bekanntschaft gesucht, aber sie war durch die Abhängigkeit von meinem Urgroßvater gebunden, indes will sie mich heute bei meinem Besuch bei deiner Mutter begleiten, um sich ihr, wenn auch verspätet, vorzustellen. Onkel Ferrante zu fragen, fällt mir gar nicht ein, denn ich bin mündig und von ihm ganz unabhängig, und was seine Familie betrifft, so habe ich mit ihr zwar noch nicht darüber gesprochen, bin aber überzeugt, daß sein Schwiegersohn Tor di Quinto auch hier auf meiner Seite steht, wie er es auch in einer anderen Sache schon getan hat.«

»Du bist also als Taube mit dem Ölzweig gekommen. Ja, ja, die weiße Taube heute früh auf meinem Fenstersims – nun, Kusine, allein kann und darf ich dich wirklich nicht nach Santa Rosa zurückgehen lassen – wie wäre es, wenn du mich etwa zehn Minuten weiter bis zu meinem Hause begleitetest, von wo ich dich dann mit dem Wagen heimfahren kann?«

»Das wäre sehr, sehr freundlich von dir, und gern nehme ich dein Anerbieten an. Nein, das ist ja ein ganz reizendes kleines Abenteuer!« versicherte sie so harmlos vergnügt, daß auch »der Bauer Porsenna«, angesteckt davon, fröhlich lächelte, was sein ernstes Bronzegesicht sehr gut kleidete und ihm einen jungenhaften Ausdruck verlieh.

Die beiden Verwandten, die sich auf eine solch unkonventionelle Weise kennengelernt hatten, gingen dann plaudernd, als hätten sie sich ihr Leben lang schon gekannt, durch den Olivenhain, an den sich ein ausgedehnter Weinberg anschloß, und seitlich davon ein großes Gehöft, umgeben von steinernen Mauern, die, unterbrochen von niederen, zinnengekrönten Wachttürmen, flankiert von einem hohen, konischen Turm, den Eindruck einer kleinen Festung machten, was auch Violanta veranlaßte zu fragen, ob es eine solche sei.

»Es ist unser Bauernhof«, erklärte Pietro Porsenna. »Das Gehöft ist schon seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Volpe. Der früheren und noch nicht einmal so fernliegenden unsicheren Zeiten wegen mußte der Bauer sich, ebenso wie die einsam liegenden Klöster, richtig befestigen. Es wäre schade gewesen, die eigentlich doch recht malerischen Ringmauern und Türme einzureißen ; mögen sie als ein Wahrzeichen vergangener Tage bleiben, wie sie sind. Den Namen Santa Rosa in Vigna führt der Hof von einem ganz kleinen Kirchlein, das man dort oben im Weinberg liegen sieht; es wurde vor etwa fünfhundert Jahren von einer Ahnfrau meines Vaters infolge eines Gelübdes erbaut, und ›Zur heiligen Rosa im Weinberg‹ heißt das Gehöft seitdem. Aber wenn ich mich nicht täusche, tritt meine Mutter gerade dort aus dem Tor heraus, wahrscheinlich, um zu sehen, wo ihr Sohn bleibt, der heute schon bei Tagesgrauen in die Campagna geritten ist, dort nach unseren Maisfeldern und grasenden Rindern zu sehen. Ja, sie ist's.«

Es war eine große, schlanke, in ihrer Haltung königliche Gestalt, die aus dem offenstehenden, breiten Tor heraustrat, eine Frau in der Tracht der Bäuerinnen jener Gegend, dem dunkelgrünen Rock mit roten Streifen um den Saum, rotem, steifem Mieder mit weißem Brusttuch und weißen Hemdärmeln, auf dem Kopf mit dem stark ergrauten naturkrausen Haar, dessen dicken Zopfknoten am Hinterhaupt der silberne Dolch zusammenhielt, den »Panno«, das viereckig zusammengefaltete, auf dem Scheitel liegende weiße Leintuch, und der vielfarbig quergestreiften Schürze, in den Ohren die riesengroßen, ringförmigen silbernen Ohrringe. Und was war die Frau, trotz ihrer grauen Haare, immer noch schön! Aber es war nicht nur die wahrhaft klassische Schönheit des stolz getragenen Kopfes, sondern das geradezu bezaubernde Lächeln des feinen, lieblichen Mundes, das sie auch im Alter noch unwiderstehlich machte. Und ihr Sohn hatte dieses Lächeln geerbt.

»Ja, Pieruccio, wen bringst du mir denn da?« rief sie dem Sohn entgegen.

»Die weiße Taube von heute früh, mit einem Ölzweig, mamma mia«, gab er zurück. »Ich fand sie ganz allein im Walde wandelnd und hatte Furcht, ein Habicht könnte auf sie herabstoßen, deshalb führte ich sie zu dir, weil sie ohnedies heute noch kommen wollte, dir eine Staatsvisite zu machen.«

»Was der Bub nicht alles schwatzt!« lachte Donna Filomena Porsenna. »Wenn Tauben Staatsvisiten machen, dann müssen sie auch einen Namen haben; kurz, wie nennt sich diese weiße Taube?«

»Sie heißt Violanta Porsenna und ist die Herzogin von Santa Rosa«, stellte Don Pietro vor.

»Und sie kommt, um gute Nachbarschaft und um etwas Liebe zu bitten«, vollendete Violanta, indem sie der Frau in der Bauerntracht die noch vor ihrer Namensnennung entgegengestreckte Hand küßte. Einen Moment schien's, als ob diese kräftige, aber schön geformte braune Hand sich zurückziehen wollte, doch als das dunkle Auge der Frau dem veilchenblauen des jungen Mädchens begegnete, hielt sie die unwillkürliche Bewegung zurück, das von den Lippen wie ausgelöschte Lächeln erschien wieder, und mit verhaltener Stimme fragte sie:

»Ist das dein ehrlicher Wille, Violanta Porsenna? Mein heute noch heißgeliebter seliger Mann hat viel um mich aufgegeben und alles getan, mir den bitteren Kelch des Widerstandes seiner Familie zu versüßen. Aber als er mich viel zu früh allein ließ, fand sich doch noch ein bitterer Satz vor, weil man eben nur ein Mensch ist. Kannst du das verstehen?«

»Tante Filomena, ich komme zu dir aus eigenem, freiem Willen; die Tore von Santa Rosa und vom Palazzo Porsenna in Rom sind weit für dich geöffnet und werden sich nicht mehr vor dir schließen, solange ich Herrin darin bin«, erklärte Violanta fest. »Die Haltung der Familie habe ich natürlich kein Recht zu bestimmen; daß Olga Aquasanta meinem Beispiel mit dem Ölzweig folgen wird, steht jedoch schon fest, und wie Vetter Pietro bereits sagte: sie wäre längst gekommen, wenn ihre Abhängigkeit von dem alten Duca sie nicht zurückgehalten hätte. Gieße den Satz der Bitternisse in deinem Kelch nur ruhig aus; wer kann's wissen, ob der alte Duca nicht während seines langen Lebens selbst bereut hat und nur sein Stolz und der harte Kopf der Porsenna ihn davon zurückgehalten hat, den ersten Schritt zum Frieden zu tun; waren denn mein Großvater und mein Vater besser daran als dein Gatte, der den Zorn des alten Herrn über sich herabrief, weil er die heiratete, die dieser nicht mochte, während mein Großvater die verwarf, mit der sein Vater ihn vermählen wollte. Schon die Gemeinschaft unserer sich so ähnlichen Bitternisse sollte uns einander nahebringen.«

»Damit hast du recht, Kind«, gab Donna Filomena unumwunden und herzlich zu. »Der Mensch ist ein Egoist. Man denkt nur an das eigene erlittene Unrecht und vergißt darüber das seines Bruders. Also, willkommen denn, Violanta Porsenna, willkommen auch als Herzogin von Santa Rosa und Haupt unserer Familie, als Taube mit dem Ölzweig!«

Indes Don Pietro sein Pferd in den Stall führte, geleitete seine Mutter ihren frühen Gast durch das Gärtlein und die gedeckte Freitreppe hinauf zum Wohngeschoß des nicht hohen, aber breiten und tiefen Hauses und betrat mit ihr direkt durch die Haustür die große, die ganze Tiefe des Hauses einnehmende Küche mit dem enormen offenen Herd. Ringsum an den Wänden, auf Schäften aufgereiht, prangte der Schatz und Stolz des Hauses, das blitzblank geputzte Kupfergeschirr, in hohen, offenen Ständern buntbemalte Teller, Tassen, Schüsseln, Tonkrüge und zinnerne Kannen, Becher und Humpen. In der Mitte der Küche stand, umgeben von Strohstühlen, die lange Tafel, an der das Gesinde seine Mahlzeiten verzehrte, quer davor der Tisch für den Bauern und seine Familie. Und an einem der Fenster saß in einem hochlehnigen, lederbezogenen Armsessel eine alte Frau mit der Spindel und spann, neben sich auf dem blumenbesetzten Fensterbrett ein paar schlafende Katzen, – ein Idyll.

»Das ist meine liebe Mutter«, sagte Donna Filomena, indem sie auf die alte, weißhaarige Spinnerin in der ländlichen Tracht deutete. »Ich darf dich ihr doch vorstellen? Sie hört und sieht noch vortrefflich, nur ihr Gedächtnis hat etwas nachgelassen. Mamma mia, sieh, wen ich dir hier bringe, – das ist die Herzogin von Santa Rosa.«

»Dio mio!« machte Maria Volpe, »die Herzogin von Santa Rosa? Ja, hat denn der alte Duca mit seinen hundert Jahren noch einmal eine so junge Frau genommen?«

»Aber Mutter! Der alte Duca ist ja schon vor ein paar Wochen gestorben!« rief Donna Filomena lachend. »Das ist doch seine Erbin, die Enkelin seines zweiten Sohnes Pietro, der ins Ausland ging!«

»Sicuro, sicuro!« Die alte Frau schüttelte sich vor Lachen über die drollige Verwechslung, und Violanta stimmte vergnügt ein, sekundiert von Don Pietro, der eben erschien, und dann beugte er sich zu seiner alten Nonna herab und küßte sie zärtlich auf die runzligen Wangen, ohne sich auch nur im geringsten vor der »Fremden« dieser Gefühlsäußerung zu schämen, die überdies echt italienisch war. Der Übergang aus der Küche des stattlichen Bauernhofes in das Privatzimmer der »Bäuerin« war eine Überraschung, denn dieser Raum war das Zimmer einer Dame von Bildung und künstlerischem Geschmack. Der große, wenn auch niedrige Raum war mit schönen, alten, eingelegten Kastenmöbeln, modernen Polstersesseln, Perserteppichen und wohlgefüllten Bücherregalen ausgestattet, gute alte Kupferstiche und einige Ölbilder, meist Porträts, hingen an den mit Olivenholz verschalten Wänden, die das Alter goldbraun getönt hatte; eine kostbare, kreuzsaitige, also moderne Erardsche Harfe bezeugte, daß auch die Musik hier ihre Stätte hatte.

»In diesem Zimmer erholt sich die Padrona des Hofes Santa Rosa in Vigna von ihren häuslichen Pflichten und erinnert sich daran, daß sie die Bildung einer Dame genossen hat und die Witwe eines Porsenna ist«, sagte Donna Filomena, als sie das überraschte Gesicht Violantas sah. »Man kann ja darüber streiten, ob es richtig ist, wenn ein Bauer seiner einzigen Tochter eine über ihre Sphäre hinausgehende Erziehung gibt, die ihr eine andere Welt öffnet, sie in neun von zehn Fällen unfähig macht, in den ihr gezogenen sozialen Schranken weiterzuleben und aus dieser Zwitterstellung zum Unbefriedigtsein, ja sogar zum Unheil führen kann. Das Resultat hängt vermutlich von der Persönlichkeit ab, mit welcher das Experiment gemacht wird. Mein seliger Vater war ein sehr stolzer Mann, dessen Ehrgeiz es war, sein einziges Kind und Erbin zu einer ›Signora‹ zu machen, weil er selbst den Drang und das Streben nach Bildung nie hatte befriedigen können, und weil er meinte, in mir die Fähigkeiten zur Erfüllung seiner Wünsche zu sehen, so ließ er mir eine Erziehung geben, wie die Besten und Ersten des Landes sie oft nicht erhalten. So bin ich geistig wenigstens meines hochgebildeten, feinsinnigen Gatten ebenbürtige Lebensgefährtin geworden, und wenn die Bäuerin Porsenna in Haus und Hof ihre Pflicht getan, dann zieht sie sich in diesem Raum zurück, um zu lesen, zu musizieren, dem Geist neue Nahrung zuzuführen, kurz, die Donna Filomena Porsenna zu sein. Übrigens war mein Vater der Ansicht, daß der Bauer dem Adel ebenbürtiger sei als der Bürger, der Wechselbeziehungen beider Stände wegen. Und mein Sohn hat so ungefähr die gleichen Grundsätze, nur mit der Einschränkung, daß erst durch die Bildung die Ebenbürtigkeit in Kraft tritt.«

Nach dem Frühstück, zu dem Violanta eingeladen worden war, und das ihr zur Befriedigung ihres gesunden Hungers sehr willkommen gewesen, fuhr der leichte, einspännige Wagen vor, der sie nach Santa Rosa zurückbringen sollte. Sie nahm also herzlichen Abschied von der Tante, dem Vetter und der Großmutter, die ihr einen kleinen Strauß, gewunden aus »Brennender Liebe« und Orangenblüten, aus denen in Italien die Brautkränze gewunden werden, überreichte.

»Diese beiden Blumen gehören zusammen«, erklärte sie feierlich. »Denn ›Brennende Liebe‹ ohne Orangenblüten verzehrt Herz, Leib und Seele, Orangenblüten ohne ›Brennende Liebe‹ aber sind schlimmer als ein Strauß der Totenblumen Asphodelus. Erinnert Euch dessen, Herzogin von Santa Rosa, wenn Euch die Freier umschwärmen werden.«

»Ich werde es nicht vergessen«, versicherte Violanta ernsthaft. »Wenn ich mich verheiraten sollte, was ich aber für sehr unwahrscheinlich halte, dann werde ich es sicher nicht ohne – ›Brennende Liebe‹ tun.«

Begleitet von Don Pietro fuhr sie darauf die schmale, aber gute Landstraße zurück nach Santa Rosa, aber er hatte sich mit feinem Takt nicht neben sie in den Wagen gesetzt, sondern ritt nebenher und empfahl sich vor dem Tor des Städtchens. Dann stand er noch eine ganze Weile still und sah dem Wagen nach, bevor er sein Roß zur Heimkehr wendete.

»Ein unerreichbarer Stern!« sagte er laut mit einem Seufzer. »Warum sind doch alle Sterne unerreichbar?«

»Jetzt bin ich wirklich neugierig, ob sie mich daheim überhaupt vermißt haben«, fragte sich Violanta, als sie das Schloß erreichte und die große Uhr über der Einfahrt zum Innenhofe ihr zeigte, daß der halbe Vormittag schon vorüber war. Man hatte sie aber nicht nur vermißt, sondern das ganze Haus stand schon ihres Verschwindens wegen auf dem Kopf, und in der Halle waren die Principessa, Melanie, der Kastellan mit seiner Familie und die ganze Dienerschaft einschließlich des Kochs und der beiden über die Sicherheit der Stadt wachenden Carabinieri zu einem Kriegsrat versammelt, wo und wie man die Vermißte zu suchen habe. Groß war daher das allgemeine Erstaunen, als sie in den Hof und vor dem Portal vorfuhr, und kaum war sie aus dem Wagen gesprungen, da lief die Principessa ihr auch schon in die Arme.

»Du Ausreißerin, wo bist du denn in aller Welt nur gewesen! Wir sind ja alle halbtot vor Angst um dich! Soviel haben wir ja ermittelt, daß du früh in der Kirche warst und dann allein – allein, Liebste! – durch die Stadt in den Wald gegangen bist, wo es hier für eine einzelne Person, eine Dame noch dazu, doch gar nicht so sicher ist, wie etwa in der Villa Borghese in Rom –«

»Ich weiß es, ich hab's erfahren«, fiel Violanta mit übermütig blitzenden Augen ein. »Ja, hier im Walde geht der Räuberhauptmann Gasparone noch um! Er hat mich in seine Räuberhöhle geschleppt, seine Mutter hat mir ein Frühstück und seine Großmutter diesen schönen Strauß gegeben, dann hat er anspannen lassen und mich hoch zu Roß bis vor die Stadt begleitet, damit nicht etwa ein Konkurrent im selben Artikel mich nochmals entführt. Für die ausgestandene Angst um mich soll euch allen der Koch heute ein Festmahl bereiten mit – oh, lieber Kastellan, haben wir Wein aus der Vigna di Santa Rosa im Keller?«

»Gewiß, Altezza. Wir haben den weißen Wein, den Vino scelto (Auslese) der Vigna, der ja weit berühmt ist.«

»Also, mit diesem Wein sollt ihr alle meine Wiederkehr feiern. Und die umsonst bemühten Herren Carabinieri sind natürlich dazu eingeladen.«

»Wer aber ist dieser Gasparone, der dich entführt haben soll?« fragte die Principessa, als die Damen die Treppe emporstiegen. »Deinem vergnügten Aussehen zufolge muß er wesentlich angenehmer sein, als seine berüchtigte Vergleichsgröße es war.«

»Ich habe zwar Gott sei Dank nie das Mißvergnügen gehabt, den letzteren kennenzulernen, behaupte aber trotzdem kühn, daß mein Gasparone furchtbar nett ist«, lachte Violanta. »Er wird dir gewiß auch gefallen, nicht nur im Wesen, sondern auch äußerlich.«

»Oh, ich kenne ihn vom Sehen längst«, sagte die Principessa, denn sie hatte natürlich den Wagen des »Bauern Porsenna« erkannt, der die Verlorene zurückgebracht hatte. »Pietro Porsenna ist, ohne gerade ein Adonis zu sein, doch in seiner Art ein auffallend hübscher Mensch ; ich habe selten einen Mann gesehen, den der eigentlich doch gräßliche, nivellierende schwarze Frack so gut kleidet wie ihn. Seine Mutter habe ich meines Wissens nie gesehen und freue mich auf ihre Bekanntschaft, schon weil Tante Ciacinta sie so ins Herz geschlossen hat.«

Diese verspätete Bekanntschaft fiel für beide Teile durchaus befriedigend aus. Als die drei Damen am Nachmittag in dem malerischen Gutshof eintrafen, wurden sie schon beim Aussteigen von Don Pietro empfangen, der im tadellosen weißen Flanellanzug noch weniger als in seiner Campagnareitertracht verleugnen konnte, was und wer er war: der Sproß eines großen Hauses, dem es gelegentlich Spaß machte, den Bauern zu spielen.

Donna Filomena küßte Violanta mit herzlicher Freude auf die Wange und reichte der Principessa dann lächelnd die Hand.

»Seien Sie uns willkommen, – besser spät, als niemals«, sagte sie einfach, und gab auch Melanie die Hand, die diese mit einem tiefen Knicks zu ihrem eigenen Erstaunen küßte, denn diese Frau, die ihre Bauerntracht wie eine Königin trug, hatte ihr unwillkürlich imponiert. Aber auch die Principessa, große Dame, wie sie war, und obwohl sie wußte, daß keine Nation so anpassungsfähig ist wie die italienische, die sich in jeder Lebenslage mit spielender Leichtigkeit zurechtfindet, und obwohl ihr bekannt war, daß Filomena Volpe die Erziehung einer Dame genossen – auch sie mußte sich gestehen, daß sie selbst, an der Stelle dieser Frau stehend, ihren Gast in einem besseren Stil nicht hätte begrüßen können und damit das immerhin Peinliche der Begegnung für beide Teile völlig ausglich. Als man in dem schönen Zimmer Donna Filomenas bei einer Tasse Tee saß, sagte die Principessa lachend:

»Mit Ihnen, Vetter Pietro, habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Haben Sie sich mir vorstellen lassen, wenn uns irgendein Ball oder Tee oder sonst etwas in demselben Raum zusammenführte? Nein! Oder haben Sie nicht rasch mit einem anderen Herrn gewechselt, als eine Kotillontour Ihnen einmal auferlegte, mit mir zu tanzen? Leugnen Sie, wenn Sie können!«

»Ich leugne selbstverständlich alles und erwarte die Gegenbeweise«, erwiderte er gleichfalls lachend, ernst aber setzte er hinzu: »Ich habe nie gezweifelt, daß Sie mich anders behandeln würden als jeden x- beliebigen Herrn Ihrer Bekanntschaft, denn Sie haben mir einen viel zu gütigen Eindruck gemacht, als daß ich Ihnen zugetraut hätte, Sie würden mir die kalte Schulter zeigen. Aber ich wollte Sie nicht in Konflikt mit meinem entschieden doch sehr tyrannischen Großvater, dem alten Duca, bringen, und schließlich auch nicht mit Ihrem Gatten, der mich im Gehorsam mit dem einmal erlassenen Ukas restlos – geschnitten hat. Man ist doch auch ein Porsenna, und wer diese Dickköpfe kennt, weiß, was das sagen will.«

»Mit dieser Ihrer Meinung freut es mich um so mehr, daß mein leider durch die Umstände so verspäteter Besuch bei Ihrer lieben Mutter eine so freundliche Aufnahme gefunden hat«, erklärte die Principessa aufrichtig. »Übrigens muß ich aber doch sagen, daß mein Mann, als der ältere, Ihre Annäherung erwartet hatte und Sie sicher nicht geschnitten hätte, wenn Sie ihm nicht ausgewichen wären. Denn so – dickköpfig war er wirklich nicht. Nun, da das Kommen unserer lieben Violanta das Eis gebrochen hat, soll es unsere Sorge sein, diesem Frühling keinen eisbildenden Winter mehr folgen zu lassen.«

Die Sonne begann schon zu sinken, als die drei Damen zum Schlosse zurückkehrten, eine jede in ihrer Weise sehr befriedigt von dem Besuch des Gutshofes.

»Das sind liebe Menschen dort, nicht wahr?« hatte Violanta unterwegs gefragt und die Principessa dem rückhaltlos beigestimmt, während Melanie Don Pietro für den schönsten und liebenswürdigsten Mann ihrer Bekanntschaft erklärte. »Den nehme ich gleich, wenn er mich mag«, erklärte sie mit schöner Offenheit.

»Und überdies ist er reich, und ich mag nur einen reichen Mann. Mache kein solch empörtes Gesicht über meine Offenheit, Vio, es ist wirklich so. Wenn man in der eigenen Familie sieht, wie jeder Rappen zehnmal umgedreht werden muß, bevor er ausgegeben wird, kriegt man einen heiligen Respekt vor dem ›Raum in der kleinsten Hütte‹.«

»Wenn man dich so daherreden hört, möchte man dich wirklich für ein schrecklich gieriges Geschöpf halten«, rief Violanta ungeduldig. »Gewiß ist es ja richtig, daß bei euch daheim kein Überfluß herrscht, aber euer reizendes Familienleben wiegt das doch reichlich auf, und mit welchem Frohsinn schafft deine liebe Mutter die viele Arbeit, wie zufrieden und glücklich leben deine Eltern in ihren gemeinsam getragenen Sorgen.«

»Nun, Reichtum ist keine Schande, und Armut macht nicht glücklich«, brummte Melanie. »Und wer das Gegenteil davon behauptet, der schwindelt. Du hast gut reden mit deinen Palästen und Schlössern, mit deinen Titeln, und was weiß ich noch«, fuhr sie fort, als sie aber den entsetzten Blick auffing, mit dem Violanta sie ansah, sagte sie hastig: »Nicht, als ob ich dir das alles nicht gönnte!«

Es war fast noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen, als die Damen wieder im Schloß eintrafen. So setzte sich Violanta in die Bibliothek, durch deren offenes Fenster die Sonne noch voll hereinschien, an die Schmalseite des Tisches, auf welchen sie vorher schon ein rotes marokkoledergebundenes, dickleibiges Buch gelegt, das sie in einem der Glasschränke gefunden hatte: eine geschichtliche und topographische Beschreibung des Schlosses Santa Rosa, vor etwa einem halben Jahrhundert geschrieben, gedruckt, und wortreich dem alten Duca gewidmet. Numa Pompilius, der auf der Schwelle zum Wohnzimmer zwar einen verlangenden Blick auf das schöne, weiche Kissen geworfen hatte, zog die Gesellschaft seiner selbstgewählten Herrin der Einsamkeit seines üppigen Lagers vor; er sprang auf den Tisch, setzte sich neben dem vor Violanta liegenden, aufgeschlagenen Buch in die Sonne und fing an, sich energisch zu waschen.

Mochte nun die etwas weitschweifige Einleitung des Buches nicht so recht fesselnd, Violanta selbst müde sein oder ihre Gedanken nicht ganz bei der Sache – kurz, den Kopf in die Hand gestützt, sah sie geistesabwesend dem Kater zu, wie er seine Pfoten naßleckte und sich damit das Gesicht wusch. Auf einmal aber wurde sie aufmerksam, weil Numa Pompilius, im Begriff mit der linken Vorderpfote von rückwärts das linke Ohr zu bearbeiten, die Pfote frei in der Luft stehen ließ, während er mit ausgestrecktem Kopf nach der Richtung des Kamins blickte und dazu einen leisen Laut ausstieß. Unwillkürlich dem Blick der großen, grünen Augen folgend, sah Violanta vor dem Kamin einen weißen, wolkenartigen, durchsichtigen Nebel, der die Form einer menschlichen Gestalt, der Gestalt einer Frau hatte, die mit den Füßen kaum den Boden berührte.