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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2021 Santino Wolff, 2. Auflage

Nachdruck nicht erlaubt.

Alle Fotografien urheberrechtlich geschützt.

Das Titelfoto zeigt die Leinwand des ehemaligen UT-Kinos in Coburg.

ISBN: 978-3-7543-5097-3

Herstellung und Verlag: BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt

Coburg erinnert sich gerne.

Coburg erinnert sich gerne an seine herzogliche Vergangenheit. Und dabei vor allem an vermeintlich „glorreiche Zeiten“, an „glorreiche Ereignisse“. Ebenso gerne, häufig und zu Recht, erinnert sich unsere Stadt an herausragende Persönlichkeiten.

Weniger präsent im Stadtgedächtnis sind allerdings Frauen und Männer, die über Jahre, ja Jahrzehnte, unsere Stadt, ihre Straßen und damit deren Erscheinungsbild prägten und teilweise noch immer prägen - durch ihre Präsenz, ihre Öffentlichkeit, zuweilen durch ihr Anderssein, besondere Eigenschaften, Begabungen, Schwächen, Alleinstellungsmerkmale.

Es sind Menschen, die es im Leben nicht immer leicht hatten, Leute, die ein wenig aus dem üblichen Rahmen fielen und fallen. Personen am sogenannten Rande der Gesellschaft - Typen, Gesichter, Stadtgesichter eben - prägend, interessant, dazu gehörend. Gesichter, die man vom Sehen her kennt beziehungsweise gekannt hat. Mitmenschen, die nicht durch Heldentaten auffielen, Stadtgesichter, die sich ihr Überleben oft hart erarbeiteten, sich auf unterschiedlichste Art und Weise durchschlagen mussten.

Diese unsere Mitmenschen der vergangenen sieben Jahrzehnte, zumindest einige von ihnen, sollten stellvertretend für so viele andere im Gedächtnis der Stadt Coburg erhalten bleiben. Als kleine Hommage.

Erinnern in angenehmer, freundlicher Art und Weise, denn sich über andere nur lustig zu machen, wäre unpassend und unangebracht.

Auch Gäste, Künstler, Promis, die Coburg besuchten, verdienen es, dass wir uns an sie erinnern.

Die hier niedergeschriebenen, exemplarischen „Steckbriefe“, „Reflexionen“ beziehungsweise „Kurzportraits“, sind einfache Erinnerungen meinerseits und erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, denn dies ist weder möglich noch beabsichtigt. Kleine Fehler, die beim Blick in die Vergangenheit durchaus vorkommen können, möge man mir verzeihen. Diese kleinen Geschichten entstanden alleine aus meinen persönlichen Erinnerungen heraus, so wie ich diese Menschen eben sah, wahrgenommen und persönlich erlebt habe. Naturgemäß geht es dabei auch um einige Personen, die mir persönlich nahestanden und stehen.

Es handelt sich also um Leute, die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in das neue Jahrtausend hinein zu Coburg gehörten und gehören - wie die Bratwurst, das Sommerbad, das Schützenfest oder unser schöner Wochenmarkt.

Eine weitere kleine Auswahl Coburger Stadtgesichter spiegelt sich fotografisch in einem Bilder-Tableau wider.

Letztendlich folgt ein Bilderbogen mit historischen Fotografien, der die unterschiedlichen Gesichter Coburgs in den vergangenen sieben Jahrzehnten zeigen: Häuser, Straßen, Einrichtungen, Ereignisse, Alltägliches - eben alles was das Gesicht einer Stadt ausmacht.

Die meisten der rund 900 Fotografien wurden bisher nicht veröffentlicht. Sicher wieder nur eine kleine Auswahl, doch sich an alles zu erinnern, bzw. alles hier aufzuzeigen, erscheint mir unmöglich.

Begeben Sie sich mit mir auf eine kleine Coburger Zeitreise durch die vergangenen sieben Jahrzehnte. der Autor im Jahre 2021

Inhalt – Kapitel

  1. Der „Kino Mann“
  2. Der Edgar und die Wochenschau
  3. Festtage mit Fräulein Luise Böhm
  4. Der Verlierer Hartmut
  5. Das Hellum-Preisausschreiben
  6. Stellvertretend für Handwerker
  7. Der ängstliche Stalin
  8. Der Hermann im grünen Kiosk
  9. Die Soldaten-Gertrud
  10. Der Parkplatz-Wächter am Landestheater
  11. Die Scherenschleifer
  12. Der Herr Roth und das Obst
  13. Der Kohlenträger August Tellert
  14. Der Schnurrax und der Alkohol
  15. Hans Krieg und sein Goggo
  16. Der Kapellmeister und Musiklehrer Robert Krug
  17. Ein kleiner Italiener
  18. Frau Margarete Rautenberg – eine Dame der alten Schule
  19. Der Herr Wein-Kämmerer
  20. Der Gürtelmann
  21. Herr Kapellmeister Hans-Friedrich Nolte
  22. Selma Kober und das Weihnachtshochwasser
  23. Der rote Siggi und Kater Elvis
  24. Der Frauenschwarm Arthur Posselt
  25. Der freundliche „Stock-Opa“
  26. Der Fuhrmann Ernst Schinzel und andere
  27. Der Dirigent „Mulley“
  28. Der „Nudel-Hans“ und sein Traktor
  29. Logen-Schließer Hans Mönch
  30. Der Autoverkäufer Ernst Roschmann
  31. Der Fehlwurf des Walter Schneier - und andere Lehrer
  32. Anna B. Eckstein – Vorkämpferin für den Weltfrieden
  33. Der Salon Hans Konopik
  34. Noch ein Friseur: Herr Hugo Sohn
  35. Fotograf Schridde und die Vermehrung toter Fliegen
  36. Zwei unterschiedliche Fotofachverkäufer
  37. Ärzte vom alten Schlag
  38. Fahrrad, Mensch und Hund
  39. Zwei Bäckereien in der Kasernenstraße und andere Läden
  40. Bäckermeister Max Bischoff
  41. Die Dame mit den vielen Taschen
  42. Frau Barthelmeß fror fast nie
  43. Else, Ludwig und das „Rohmann“
  44. Radio-Zeitner und der Lautsprecherwagen
  45. Eiskönig Signore Lino da Col
  46. Kinowelten mit Werner Gutmann und Familie Heublein
  47. Die Fotografin Frau Hilde Scheer
  48. Herr Schäfer und seine Buchführung
  49. Deftige Späße des „Billigen Jakob“
  50. Die Mensch gewordene Opposition Ernst-Uwe Müller
  51. Frau Ella im Park
  52. Der Türke Galip und die „Mafia“
  53. Der Josef mit dem Rollstuhl
  54. Mein Schulfreund Schorsch
  55. Der Venizianer Giorgio Doga
  56. Lehrer Wolfgang Wirsing – ein Freund der Schüler
  57. Der arme Lehrer Gerhard Ornth
  58. Der „Steno-Paule“ und „Kürzel-Joe“
  59. Große Künstler am Landestheater Coburg
  60. Die „Gräfin“ von Ketschendorf
  61. Der Fotograf und Magier Mario Strizzi
  62. Ein ärmliches Leben im Auto
  63. Der Großhändler Hugo-Heinz Welder
  64. Baumfreund Volker Musbach
  65. Der Herr Ober mit dem exakten Scheitel
  66. Der Herr Pfarrer mit dem Fahrrad
  67. Die „Daisy“ Karin Schunk
  68. Nulfi und der Aktenwagen
  69. Der Kapuzenmann
  70. Lothar Westermeier – ein musikalisches Multitalent
  71. Der Sänger und Musiker Horst Bauer
  72. Doktor Rock & Roll Wolfgang Kühnel
  73. Helmut Radermacher und Elvis Presley
  74. Der thailändische Ali
  75. „Stille Nacht“ in der Spitalgasse
  76. Modespezialist Alfons – Erinnerungen an Geschäfte und Betriebe
  77. Herbert Weinert und der poppige Fiat 600
  78. Gerhard Pfeffer – Cowboy oder Trapper?
  79. Adolf, der „Brücken-Baron“
  80. Der „Schmätzles-Dorn“
  81. Axel Eichin und sein „Anno Dom“
  82. Der beliebte Fahrlehrer Karl Kressel
  83. Der strenge Fahrlehrer Karl Schunk
  84. Der Oldtimer mit dem Oldtimer
  85. Verleger Herr Heinz Roßteutscher mit der Lederhose
  86. Die kämpferische Frau Maria Kellersch-Plath
  87. Die sensible Stimmungskanone Lemi
  88. Der alte Herr Baumeister
  89. Immer stramm links
  90. Stars zu Gast – Max, Hugo – und viel andere
  91. Der deutsche Elvis Ted Herold
  92. Freddy Quinn
  93. Der Losverkäufer mit dem schweren Los
  94. Der Fotograf Paco
  95. Der Bonbon-Ernst
  96. Der Fensterputzer
  97. Die Klofrau Lydia
  98. Der kleine Blonde
  99. Der Künstler Rainer Morzik
  100. Der Baumschutz-Oskar
  101. Die Müllerin Eva Herold
  102. Der Mann auf der Straße
  103. Der sportliche „Mord´l“
  104. Hilmar und sein Leben
  105. Das beliebte Maskottchen
  106. Ein Mann in Schwarz
  107. Der Sänger mit dem Fahrrad
  108. Wolfgang und Waldemar
  109. Frau Anita und das Stadtcafe
  110. Der „Gurken-Gerald“
  111. Der Presse-Fotograf Frank Schulz
  112. Seit Jahrzehnten auf dem Wochenmarkt
  113. Ein Gesicht des Steinwegs
  114. Der Wassersportler Ernst Kussinger
  115. Der Seemann und Handwerker Mike Wahl
  116. Der dünne Mann
  117. Hasenfutter mit dem Fahrrad
  118. Der britische Maler
  119. Die alte Dame und ihr treuer Hund
  120. Das zweite Wohnzimmer des Günther Meyer

Widmung

Weitere Coburger Stadtgesichter

Coburger Bilderbogen

Gastbeitrag

1 Der Kino-Mann

Wer kannte ihn nicht, diesen kleinen, schlanken Mann mit seinen großen Jacken, den Mann, der im „Burg-Kino-Center“, vormals „Burgtheater“ und „Casino“, in der Rosenauer Straße bis in das Jahr 2003 hinein die Eintrittskarten abriss, Plätze zuwies, Schaukästen betreute und Auskünfte gab: Erich Schier, der Coburger „Kino-Mann“, geboren in Böhmen am 2. März 1920,verstorben in Coburg am 23. Juni 2008.

Erich Schier mit Tochter Regina - (Quelle: Niermann)

Eigentlich erhielt der ehemalige Elektriker Erich Schier längst Rente, doch nach wie vor fühlte sich der „Kino-Mann“ aus Leidenschaft für „seine Kinos“ zuständig. Er kümmerte sich um die Filmplakate in den Schaukästen, die Elektrik, das Licht, das Abschließen der Türen, das Aufzeigen der richtigen Plätze – und er war immer da, wenn irgendetwas nicht funktionierte.

Als dann das „Burgtheater“ mit dem „Casino“, also der gesamte „Burg-Kino-Center“ der Familie Heublein und auch das alte UT (in dem er selbst nie tätig war) Geschichte wurde und das neue Utopolis eröffnete, verabschiedete sich Erich Schier endgültig in den Ruhestand.

Zunächst wohnte er mit seiner Familie über seinem Burgtheater in der Rosenauer Straße, danach viele Jahre im Kanonenweg, im Hinterhaus über dem kleinen Kino „Kali“. Wir sahen ihn regelmäßig, oft mit Hut oder Schirmmütze, übergroßem Sakko, im Sommer zuweilen mit einer riesigen Sonnenbrille die sein halbes Gesicht bedeckte, durch die Straßen laufen. Solange er körperlich dazu in der Lage war, fuhr er auch mit dem Fahrrad oder Tretroller zum Dienst oder zum Einkaufen.

Seine Tochter Regina Niermann, eines seiner fünf Kinder, ist dem Kinogeschäft treu geblieben. Bereits ihre Kindheit spielte sich im Kino ab. Von Beginn an arbeitet sie im „Utopolis“. Und sie wohnt heute noch im Hinterhaus des ehemaligen „Kali“ - dort wo bereits ihre Eltern lebten.

Im kleinen Kino „Kali“ (Kammerlichtspiele) liefen über viele Jahre die legendären „Dick &. Doof-Komödien“ oder „Charlie-Chaplin-Klassiker“. Ganz am Ende seiner Zeit wurden allerdings nur noch Pornofilme vorgeführt.

Auf das „Central-Kino“ in der Badergasse schauten die besseren Herrschaften gerne verächtlich herab, denn dieses Lichtspielhaus präsentierte in erster Linie sogenannte „Schundfilme“, wie Eddie-Constantine-Krimis oder diverse B-Western.

Eine Besonderheit im „Passage-Kino“ in der Mohrenstraße war der Tanzsaal im 1. Stock über dem Kino. Bei Tanzveranstaltungen konnte man den Rhythmus der Tanzenden während der Filmvorführungen im Kinosessel darunter förmlich spüren. Im Passage-Kino liefen übrigens die „besseren“ Filme.

2 Edgar und die Wochenschau

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, speziell in den 1950er und frühen 1960er Jahren, half im Kinogeschäft der Familie Alfred Heublein ein auffällig kleiner dünner Mann mit scheuem Blick und mit beinahe kindlicher Statur. Edgar, so hieß er, brachte mit raschen Tippelschritten in einer großen runden Ledertasche eilig die „Wochenschau“, dazu die „Kinowerbung“, vom Burgtheater erst ins Casino, dann zum Kali und wieder zurück. Diese Dienste erledigte er zuverlässig für eine Flasche Bier oder ein Trinkgeld.

Edgars Markenzeichen waren knielange, lederne Knickerbockerhosen, an denen er genauso wie an seinen recht dünnen Beinen schon von Weitem zu erkennen war; wenn er hastig von Kino zu Kino und zurück eilte.

Edgar fegte außerdem im Hofgarten Laub und Abfälle zusammen. Dabei ärgerten und neckten ihn häufig Kinder. Der kleine Mann wehrte sich und schwang voller Zorn seinen „Hexenbesen“. Ja, Edgar konnte tatsächlich ziemlich wütend werden.

Später lebte er bis zu seinem Tod, so wurde erzählt, in einem Pflegeheim.

Kali

3 Festtage mit Fräulein Luise Böhm

Eine waschechte Hausschneiderin war Fräulein Luise Böhm aus der Webergasse. Zahlreiche Familien buchten sie regelmäßig um Kleider, Blusen, Röcke, Hosen und vieles andere nähen zu lassen. Fräulein Luise Böhm wohnte in dem Haus, in dem einst die Gastwirtschaft „Rosenbauer“ residierte. Das Gebäude gibt es heute nicht mehr, denn hier steht jetzt das Parkhaus Mauer.

Luise Böhm (auf dem Foto links), meistens nur „die Böhmin“ genannt, verstand ihr Handwerk. Die Familien, bei denen sie nähte, engagierten sie regelmäßig bis in ihr hohes Alter. Zu uns kam sie vor allem in den 1950er und 1960er Jahren. Als Kind freute ich mich immer über ihr Kommen, denn an diesen Tagen kochte die Familie besonders lecker, der Tisch war festlich gedeckt, es gab Kaffee und Kuchen am Nachmittag und ein reichhaltiges Abendbrot beendete das Schlemmen. Das alles zusammen war in dieser Fülle sonst eher nicht die Regel. Somit galten diese Tage für uns Kinder beinahe als Festtage.

Fräulein Luise Böhm genoss hohe Wertschätzung, nicht nur bei uns. Sie war eine kleine, ledige, dunkelhaarige Frau mit rot lackierten Fingernägeln und mit einer dunklen Stimme. Im Alter wurden ihre Finger wie bei vielen älteren Menschen krumm. Gerne rauchte sie Astor-Zigaretten mit Samtfilter - die in der braunen Schachtel.

Neben ihrer Nähkunst war so ein Tag natürlich auch geprägt vom Klatsch und Tratsch der Kleinstadt. Schließlich arbeitete sie sie ja von früh bis spät an einer mechanischen Tret-Nähmaschine der Marke „Singer“. Es blieb also genug Zeit zum Tratschen, Flüstern, Reden und Erzählen… und für uns Kinder zum Zuhören. Alles verstanden wir allerdings nicht.

4 Der Verlierer Hartmut

Hartmut P. war ein bedauernswerter Jugendlicher. Sie nannten ihn respektlos „Atombombe“, weil er für sein Alter recht kräftig war. Während seiner Grundschulzeit Mitte der 1950er Jahre in der alten „Jean-Paul-Schule“ stand er meistens abseits und alleine auf dem Schulhof, wurde häufig geschubst, gehänselt und veräppelt. Eine Besonderheit zeichnete ihn aus: Seine zarte Handschrift, wie aus einem Lehrbuch. Er schrieb wunderschön, gleichmäßig und zierlich wie ein Schreibkünstler.

Hartmuts Eltern betrieben unweit der „Jean-Paul-Schule“ in der ehemaligen Kaserne einen kleinen Laden. Als junger Erwachsener glich Hartmuts Gang durch die Stadt eher einem mühsamen sich dahinschleppen. Als eher einsame Außenseiter nahm er in seinen jüngeren Jahren jede Gelegenheit auf der Straße wahr, um sich mit Leuten, die er kannte, zu unterhalten. Und er redete und redete und hielt seine Gegenüber zuweilen am Ärmel fest, damit diese nicht „flüchten“ konnten.

Hartmut fühlte sich in seiner Lebensrolle sicherlich äußerst unwohl. In späteren Jahren dann sah ich ihn ziemlich heruntergekommen durch die Stadt streifen. Seine Zähne waren defekt, die Windjacke zerschlissen. Er spiegelte alles Unglück wider, das ein Mensch auf dieser Erde erleiden kann. Irgendwann verlor ich ihn dann komplett aus den Augen.

Ende des 20. Jahrhunderts lebte im Kanonenweg eine schwarze Frau, die ein ähnliches Schicksal wie Hartmut zu ertragen hatte. Auch sie schleppte ihren schweren Körper nur mühsam voran. Und auch sie war eines Tages nicht mehr auf der Straße anzutreffen.

5 Das Hellum-Preisausschreiben

Bis in die 1980er Jahre hinein, als die „Glühlampen-Fabrik Hans Jahn“ ihren Sitz noch in der Kasernenstraße/Vorderer Floßanger hatte, leuchteten zur Advents- und Weihnachtszeit (Foto) nach Einbruch der Dunkelheit unzählige Glühbirnen unter der langgezogenen Dachkante des markanten Betriebsgebäudes in der Kasernenstraße. Eine weihnachtliche, festliche Dekoration in dieser sonst eher nüchternen Vorstadtstraße. Dazu gab es meiner Erinnerung nach mindestens einmal ein Preisrätsel. Gestellt wurde die Frage, wie viele Glühbirnen an der Dachkante da wohl eingeschraubt waren?

An den Abenden standen sie dann gegenüber der „Hellum-Fabrik“ auf dem Gehweg der Kasernenstraße: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Nachbarn, Freunde und nicht nur Anwohner dieser Straße. Diese erfreuten Stadtgesichter waren mit Zetteln, Bleistiften und Kugelschreiben bewaffnet und zählten fleißig und eifrig die hell leuchtenden Glühbirnen hoch oben am Giebel des Betriebsgebäudes.

Irgendwer gewann dann sicherlich auch die „wertvollen“ Preise: Vermutlich eine stattliche Anzahl Glühbirnen?

So etwas gibt es heutzutage nicht mehr, alles hat eben seine Zeit.

6 Stellvertretend für Handwerker

Wie zu allen Zeiten waren auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Coburger Handwerker bekannt wie die sogenannten bunten Hunde. An einige aus dieser Zeit, stellvertretend für die vielen anderen, sei kurz erinnert.

Beispielsweise war da der recht betagte Herr Wöhner, ein Fußbodenverleger der alten Schule mit Schwerpunkt PVC und Linoleum. Dieser Mann war wirklich schon sehr alt mit einem arg gebeugten, steifen Rücken. Er wirkte gebrechlich. Doch um seine schmale Rente aufzubessern verlegte er in den 1950er Jahren in alten Wohnungen bei alten Kunden nach wie vor Fußbodenbeläge. Sein Markenzeichen waren durchgekaute Zigarren, bzw. die Reste davon. Während Herr Wöhner mühsam kniend Linoleum und PVC verlegte und verklebte, tropfte bei dieser anstrengenden Arbeit sein qualmender Glimmstängel im Mundwinkel langsam aber sicher vor sich hin.

Auch Herr Schardt (Foto) aus dem Kanonenweg war Fußbodenverleger, ein Handwerker mit strahlendem Lachen und sonorer Stimme. Bei uns im Hause verschönerte er in den 1960er Jahren so manchen Quadratmeter Boden mit neuen Belägen - oft nach Feierabend oder am Wochenende.

Im Gepäck dabei hatte Herr Schardt jede Menge gute Laune und Frohsinn.

Dann war da noch der Maler Herr Richard Thiel vom Judenberg. Er arbeitete für die frühere Malerfirma „Moeller & Bauer“ aus der Hinteren Kreuzgasse. Herr Thiel war für seine saubere, gute Arbeit bekannt. Die Leute, die einen Auftrag vergaben, baten häufig, dass man doch Herrn Thiel schicken solle. Auch zu uns kam er bis in die 1970er Jahre immer wieder ins Haus.

Richard Thiel

Als Kind fiel mir ein dunkler Zahn in seinem Mund auf, sein Kennzeichen sozusagen. Zahlreiche Witzchen, dazu die neuesten Schlager, wie „Kiss me quick“ von Elvis Presley, gab Herr Thiel im Laufe eines Arbeitstages zum Besten. Wir Kinder freuten uns wenn Herr Thiel auf der Matte stand, denn dann war gute Stimmung in der Hütte. Fröhliche Tage - zumindest für uns Kinder.

Erwähnen möchte ich noch den Klempner Herrn Emil Scherle aus der Kasernenstraße mit seinem grauen Arbeitsmantel.-Ein kleiner, schlanker, weißhaariger, stets höflicher und interessierter, bescheidener Handwerksmeister. Kulturell durfte man ihn als sehr beflissen bezeichnen. Seine Arbeiten waren meisterlich. Aus der Firma Scherle wurde nach seiner Zeit die Firma Thomas.

Am Ende seines Lebens musste Herr Emil Scherle mit einer schweren Demenz leben.

7 Der ängstliche „Stalin“

Die Leute nannten ihn „Stalin“. Warum weiß ich nicht. Präsent über viele Jahre im Coburger Stadtbild hastete er täglich mit ängstlichen Blicken durch die Innenstadt. Nicht selten wurde er von Kindern und Jugendlichen geärgert, geschubst und veräppelt, worauf er häufig wütend reagierte. Sich aber wirksam zu wehren gelang ihm nicht.

„Stalin“ war ein schlanker, unsicher wirkender Mann mit Behinderung. Sein wackeliger, eiliger Tippelschritt, der ihm eigene scheue Blick, die rote, unreine Gesichtshaut, all das blieb mir im Gedächtnis haften. Es könnte sein, dass er in einem der alten ehemaligen Häuser des Brauhofes wohnte, denn in dieser Gegend sahen wir ihn recht häufig.

„Stalin“ hatte sichtbar Angst - vor allem und jedem. Meist lief er in den 1960er und 1970er Jahren scheu durch den Steinweg Richtung Marktplatz. Zuweilen bekam er Aufträge von Geschäftsleuten, bei denen er dann die Gehwege kehrte. Eines Tages war er nicht mehr im Coburger Straßenbild zu sehen. Es hieß, er habe später irgendwo im Landkreis Coburg gewohnt.

8 Der Hermann im grünen Kiosk

In der Kasernenstraße neben der Heiligkreuzbrücke, stadtauswärts rechts, stand bis in die 1960er Jahre ein alter grüner Kiosk aus Holz. Das war noch bevor der Würfelbecher mit Toilette dort erbaut wurde und später dann der Parkplatz der Wohnbau. In diesem Kiosk saß jahrelang Hermann, der diesen Verkaufsstand betrieb. Hier gab es Zeitschriften und Tabakwaren, Stifte, Papierwaren, Bonbons und Kaugummis. Hermann war ein einfacher, liebenswerter Mann, der Kinder mochte und ab und an gerne eine kleine Süßigkeit an sie verschenkte. Oder das eine oder andere Heftchen.

Außen am Kiosk hingen, umrahmt von aktuellen Zeitschriften, einige Kaugummiautomaten, aus denen man die damals beliebten knallbunten, kugelrunden und zuckersüßen Kaugummikugeln für 20 Pfennige herausdrehen konnte. Einmal lief ich mit einem Schulfreund am Kiosk vorbei und meinte so aus Jux, ich könne ohne Geld einzuwerfen aus dem Kaugummi-Automaten etwas herausholen. Meine Idee war, hinterher zu sagen, dass ich „Luft“ herausgeholt habe. So drehte ich also aus Spaß am Griff und tatsächlich rollte eine rote Kaugummikugel heraus. Reiner Zufall - mein Schulfreund war stark beeindruckt.

Beliebt waren in diesen Zeiten die dicken, quadratischen „bubble-gum“- Kaugummis, einzeln in bunte Papierchen mit kleinen Bildern eingewickelt. Hatte man so einen fetten Kaugummi erst einmal richtig durchgekaut, war es möglich, riesige rosa Kaugummiblasen zu erzeugen, die natürlich irgendwann platzen und dabei nicht selten im Gesicht kleben blieben. Angesagt war auch die zuckersüße, bunte „Brause“, entweder als Würfel oder als Pulver. Wir streuten die „Brause“ in die Handfläche, spuckten darauf und leckten diese auf, wenn sie zu schäumen anfing. Ekelig? Für uns Kinder damals einfach nur lecker! Nicht vergessen sind zudem die sogenannten „Wundertüten“ dieser Zeit. Kleine Tütchen, aus denen sich winzige Überraschungen hervorzaubern ließen.

Jahre später, Ende der 1970er Jahre, der grüne Kiosk war längst verschwunden, sah ich den Hermann noch ein letztes Mal. Er stand hilflos mit weit aufgerissenen Augen, offenbar verwirrt, panisch und orientierungslos mitten auf der „Kaufhofkreuzung“. Mehrfach drehte er sich mit verzweifeltem Gesichtsausdruck im Kreise und wusste offenbar nicht wohin.

Armer Hermann!

Der grüne Kiosk (Quelle: unbekannt)

9 Die Soldaten-Gertrud

In den 1950er und 1960er Jahren galt sie als lokale Berühmtheit. Zumindest im Coburger Norden.

Die Soldaten-Gertrud. Gertrud Weidemüller war ihr richtiger Name.

Eine kleine, dürre Frau mit gebeugtem Rücken, stets auf der Straße unterwegs mit ihrem Wägelchen, das sie hinter sich herzog. Sie sammelte Altmetalle sowie andere Abfälle. Auch aus unserem Hinterhof in der Kasernenstraße holte sie regelmäßig Dinge ab, die wir nicht mehr brauchen konnten, bzw. entsorgen wollten. Hier im Hof stand extra eine Tonne mit Abfällen speziell für die Soldaten-Gertrud bereit.

Irgendwie bekamen wir bei ihrem Anblick ein wenig Angst, denn als Kind stellte man sich genauso eine Hexe aus den Märchen der Gebrüder Grimm vor. Alles an ihr war schwarz: der Rock, die große Kittelschürze, die groben Hände, das Gesicht, ihre Haare. Dazu gesellte sich eine dunkle raue Stimme, fast wie die eines alten Mannes.

Natürlich war die Soldaten-Gertrud völlig harmlos. Sie führte augenscheinlich ein eher ärmliches und mühsames Leben. Wenn ich mich recht erinnere, wohnte sie in der Lauterer Straße, bzw. Eigenheimstraße. Häufig folgten ihr und ihrem Handwagen Kinder und ärgerten die arme Frau.

Manche Erwachsene erzählten hinter vorgehaltener Hand, dass die Soldaten-Gertrud ein ziemlich „wildes Leben“ hinter sich hatte - was immer das auch heißen sollte. In einer Gaststätte fiel sie den Erzählungen nach wegen ihrer qualmenden Zigarre ebenfalls ein wenig aus dem üblichen Rahmen.

Eine Tonne für die Gertrud

10 Der Parkplatz-Wächter am Landestheater