Jennie Appel / Dirk Grosser
Urkraft des Nordens
Lektorat & Projektleitung: |
Susanne Klein, Hamburg, kleinebrise.net |
Coverfoto: |
pixabay/Miroslav Porochnavy |
Umschlaggestaltung: |
Dirk Grosser / Wilfried Klei |
Typografie/Satz: |
Wilfried Klei |
Illustrationen: |
Julian Werner |
Autorenfoto: |
Julia Knöchel |
Druck & Verarbeitung: |
Druckhaus Köthen GmbH & Co. KG, Köthen |
© Aurum in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2021
info@kamphausen.media | www.kamphausen.media
ISBN Printausgabe: 978-3-95883-525-2
ISBN E-Book: 978-3-95883-526-9
1. Auflage 2021
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
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Mit Ahnenwissen,
Schamanengottheiten
& weisen Seherinnen
zu den Wurzeln
unserer Spiritualität
Beim Schreiben dieses Buch wurde durchgehend auf abwechselnde weibliche und männliche Formen geachtet, und doch weisen wir darauf hin, dass wir selbstverständlich stets alle Geschlechter meinen und zwecks besseren Leseflusses auf die Kennzeichnung mit Gendersternchen * verzichtet haben.
Alle spirituellen Praxisimpulse, Rituale, schamanischen Reisen und Übungen (auch im Download-Bereich) wurden sorgfältig erprobt. Seit jeher dienten solche Praktiken der Wiederherstellung von Harmonie. Sie ersetzen jedoch keine ärztliche/psychotherapeutische/heilpraktische Beratung, und solltest du dich in einer solchen Begleitung befinden und ggf. Medikamente einnehmen, bitten wir dich um eine vorherige Abklärung in diesem Zusammenhang, um eventuelle Kontraindikationen auszuschließen.
FÜR BALDUR,
DER MIT SEINEM
STRAHLENDEN
HUNDEWESEN
NEUN JAHRE LANG
UNSERE WELT
ERHELLT HAT.
EINLEITUNG: Ein Raunen aus weiter Ferne, eine Kraft aus unserem Inneren
Zur praktischen Verwendung dieses Buches
TEIL I: KRAFT DER MYTHEN, KRAFT DER ANFÄNGE
Mythen: Uralte Geschichten mit der Kraft für heute
Schamanische Spuren und spirituelle Mythologie
Feuer und Eis: Die Schöpfung aus Gegensätzen
Ein Weltbild der Verbundenheit: Yggdrasil & die neun Welten
Dankbar für alles Fruchtbare: Thor & Freyr
Ritual: Dein Altar
Ritual: Deine Fruchtbarkeitszeremonie
TEIL II: KRAFT DER WELTENBRÜCKEN
Von Zaunreiterinnen und Brückenwächtern
Bifröst – Weltenbrücke zwischen Asgard und Midgard
Von Geburt an allsehend und in allen Welten zu Hause: Heimdallr
Das Gras wachsen hören – schamanisch „sehen“
Botschaften aus der Anderswelt – Botschaften der Götter
Ritual: Utiseta & Naturachtsamkeit
Zusatzinformationen zu Trance und Trancereise
TEIL III: KRAFT DER WANDLUNG
Odin: Der Gott der Wandlung, der Vielfalt & des Wissens
Loki: Der nordische Trickstergott
Die Lose der Nornen
Ritual: Die Kraft des Webens
Ritual: Eine Opferzeremonie im Wald - Fülle für alle!
TEIL IV: KRAFT DER WEITSICHT
Liebe, Fruchtbarkeit und ein weiter Blick: Freyja
Der Weg der Völva
Die nordische Kunst des Sehens: Seidr
Die Welt mit anderen Augen sehen: Schönheit in Poesie verwandeln
Visionen für das Leben: Runen & Orakel
Ritual: In den Flammen sehen
Ritual: Deine Kraftwanderung
TEIL V: KRAFT DER SEELE, KRAFT FÜR HEUTE
Alle, die vor dir kamen: Der Weg deiner Ahnen
Das Ragnarök-Missverständnis: Weltenbrand oder Kreislauf des Lebens?
Baldur und das Licht einer neuen Welt
Ritual: Deinen eigenen Mythos schreiben
Ritual: Ahnenboot – deine Ahnenzeremonie
Die Welt wieder verzaubern: Zwerge, Schrate, Waldgeister und Zaubertiere
Mythologie und Initiation
Schlusswort
Link zu geführten Meditationen für erste schamanische Reisen
Literaturhinweise
Danksagung
Stimmen zum Buch
Über die Autoren
Raben, Wölfe, Zauberringe, weissagende Göttinnen, eine Schöpfung aus Eis und Feuer, Riesen, Zwerge, Schamanengötter, zusammenfaltbare Schiffe, achtbeinige Pferde, wilde Wesen und Hüter des Waldes, Kobolde und Schicksalsfäden … Die Mythologie des Nordens schäumt geradezu über von tiefen Seelenbildern, die ungezähmt wirken und manchmal rätselhaft bleiben, die aber dennoch über den Abgrund der Zeit hinweg zu uns sprechen, uns innerlich berühren und imstande sind, eine ganz eigentümliche Kraft zu vermitteln.
Diese Geschichten – die überall im nordeuropäischen Raum entstanden und weitergegeben wurden – haben ihre ganz eigene, eher herbe Schönheit, ähnlich einem stürmischen Herbsttag, an dem graue Wolkenberge über den Himmel rasen und der würzige Geruch eines dunklen Waldes deine Lungen füllt. Da ist etwas Wildes und Ursprüngliches, von dem du ahnst, dass es wichtig für dich ist – etwas, das eine unbestimmte Sehnsucht in dir weckt und dich hinauslockt in den Wind und den Regen, die dich fühlen lassen, dass du wirklich lebst.
Das Weltbild und die Spiritualität, die diesen Geschichten zugrunde liegen und die wir in diesem Buch aufzuschlüsseln versuchen, sind von eben diesem Gefühl des wirklich Lebendigen geprägt – und ebenso von einer großen Naturnähe und einer tiefen Verbindung zu allen Wesen. Etwas, das wir auch für unsere Zeit als sehr wertvoll erachten. Und damit kommen wir auch direkt zu einem der wichtigsten Punkte in diesem Buch: der Bezug zum Hier und Jetzt. Wir wollen weder einen historischen Abriss über Glaubensvorstellungen der Spätantike und des frühen Mittelalters schreiben, noch uns in archäologischen Details ergehen. All diese Dinge sind wichtig (und wir lassen sie bei unserem Ansatz auch nicht außer Acht), aber worum es uns vor allem geht, ist, einen Weg vorzustellen, auf dem man heute eine Spiritualität entwickeln kann, die ihre Wurzeln in den alten Mythen hat, aber dennoch etwas ganz Neues wachsen lässt. Etwas, das uns heute stärkt, transformiert und uns geborgen wie auch respektvoll in dieser Welt verortet. Wir sind keine reinen Beobachter, die von außen auf den spirituellen Gehalt der Mythen, Sagen und Überlieferungen schauen, sondern Menschen, die den Sinn all dessen am eigenen Leib und in eigener Seele erfahren wollen. Wenn du also ebenfalls in dieses wilde Meer der Erinnerungen eintauchen möchtest und dich dabei nicht scheust, nass zu werden … dann bist du hier genau richtig!
Das Meer, der Wald, die Berge und Flüsse, die Felsschluchten und bemoosten Steine am Wegesrand spielen in diesem Buch eine ebenso große Rolle wie die Göttinnen und Götter, die in ihnen und allem anderen lebendig sind und deren Qualitäten genauso in jedem Tier und jedem Menschen entdeckt werden können. Es ist eine Spiritualität, die alles als beseelt ansieht, die in jedem Wesen eine ganz eigene Weisheit vorfindet und die auf gewisse Weise eine wunderbare Form der Gleichwertigkeit allen Lebens widerspiegelt: Weder müssen wir Menschen vor den Göttern knien und uns kleinmachen, noch haben wir das Recht, auf anderen Wesen herumzutrampeln und sie gnadenlos auszunutzen. Es gibt also viele gute Gründe, sich mit dieser Spiritualität eingehender zu befassen, die zwar uralt ist, aber dennoch hochaktuell gedeutet werden und dadurch für unsere Zeit Beistand bieten kann.
Unsere Vorfahren in den Gebieten des heutigen Deutschlands, Dänemarks, Schwedens, Norwegens und Islands, aus denen diese Mythen stammen, haben vielleicht keine ausgeklügelte theoretische Philosophie entwickelt, wie dies die alten Griechen oder Römer taten, aber sie hatten ihre Geschichten, die an Herdfeuern erzählt wurden und die den Menschen immer abverlangten, sich selbst ein Bild zu machen und auf individuelle Art aus ihnen zu lernen. Es sind Geschichten, die rau wirken, oft ungehobelt, manchmal auch moralisch fragwürdig, die aber immer die Freiheit und Stärke jedes Individuums im Blick haben. Darin wird diese Lebenskraft, die du mit allen anderen Wesen teilst und welche sich stets einzigartig ausdrückt, auf sehr echte und authentische Weise gefeiert.
So wird in diesem Buch von starken, kampferprobten Göttern ebenso die Rede sein wie von solchen, die sich vor allem durch ihre Intelligenz und ihr Geschick behaupten, oder auch solchen, die schlicht und einfach sehr listig sind. Es werden Göttinnen ihren Auftritt haben, deren Kraft der ihrer männlichen „Kollegen“ in nichts nachsteht und deren Rolle im großen Ganzen mindestens genauso wichtig ist, wenn nicht sogar wichtiger. Wir werden von Menschen berichten, die tief in die Geheimnisse der Welt eingedrungen sind und von denen sogar die Götter lernen. Wir werden von allerlei seltsamen Wesen wie Riesen und Zwergen, Trollen und Waldgeistern erzählen, die alle ihre ganz besondere Aufgabe haben, und werden auch die vielen mythologischen Tiere wie fliegende Katzen und Met gebende Ziegen nicht auslassen …
Gemeinsam mit dir wollen wir uns diesen Mythen auf neue Weise nähern, sie der Überlieferung beziehungsweise den verschiedenen Überlieferungen entsprechend wiedergeben, aber doch mit neuen Augen betrachten und sie dabei auf das abklopfen, was sie uns über unser heutiges Leben und unser heutiges Sein in der Welt sagen können.
Wir möchten eine neue Perspektive auf nordische Göttinnen und Götter, auf die Natur und auf uns Menschen selbst eröffnen, uralte Weisheit wahrhaft lebendig erfahrbar werden lassen, deine Leidenschaft für die ursprüngliche und echte Kraft des Lebens wecken, eine tiefe und authentische Basis für dein eigenes inneres Wachstum schaffen und eine neu empfundene Verbindung zur Welt ermöglichen, die uns alle miteinander umgibt. Völlig jenseits von jeder unkritischen Heroisierung und erst recht jenseits von jedem auch nur annähernd nationalistischen Ansinnen möchten wir aus alten Wurzeln Neues wachsen lassen und diese Mythen vor allem unter dem Aspekt einer spirituellen Weltsicht betrachten, die dir Kraft für ein heilsames, zutiefst der Welt zugehöriges und selbstbestimmtes Leben schenkt. Daher findest du in diesem Buch auch immer wieder praktische Übungen, Meditationsvorschläge, Reflexionsfragen und Ritualideen, die du selbst für dich alleine oder mit anderen Menschen gemeinsam umsetzen kannst, um dich so noch einmal ganz anders dem Thema zu nähern. Du wirst feststellen: Je mehr du dich den Mythen näherst, desto mehr näherst du dich auch dem Kern deines Menschseins, denn all diese Geschichten führen zu diesem Wesentlichen und Echten, was in dir lebendig ist.
Wir haben diese Geschichten schon oft erzählt: Am Feuer in unserer Jurte, bei Zeremonien im Wald, und seit 2019 auch online bei Veranstaltungen und Kursreihen eines virtuellen Kreises von Menschen, die weit voneinander entfernt wohnen und dennoch gemeinsam unterwegs sind. Wirklich immer haben wir diese ganz besondere Kraft gespürt, die den Mythen und der ihnen zugrunde liegenden Spiritualität zu eigen ist. Immer haben wir dieses Raunen vernommen, das uns tiefer lockt und uns mit dem Rauschen der Bäume im Wind oder dem Knacken und Knistern des Feuerholzes zuflüstert: Da ist noch mehr …
Die Mythen haben uns auf eine Reise geschickt, die noch lange nicht zu Ende ist. Jeden Tag entdecken wir Neues, und dir wird es wahrscheinlich ähnlich ergehen. Vor allem die schamanischen Aspekte dieser Spiritualität, die wir in den Geschichten um Freyja und Odin, in den Tranceritualen der alten Seherinnen und vielen weiteren Details zu Sleipnir, zu Heimdallr, zu Loki und Gullveig/Heidr, zum Seidr1, Utiseta oder auch zum Vardlokkur finden konnten, haben dieser Reise ihre ganz eigene Richtung gegeben. Da viele Facetten der Spiritualität des Nordens von urschamanischen Ideen geprägt sind, erscheint es uns sinnvoll, diese auch anzuerkennen (was vielen Historikern schwerfällt) und sie ebenso zu nutzen, um die Welten, von denen die Mythen sprechen, selbst weiter zu erforschen (was viele Traditionalisten nicht mögen). Der amerikanische Psychologe Ralph Metzner schreibt dazu, dass „die Mythologie neben dem Schamanismus für uns einer der besten Wege ist, um zu unserer spirituellen Verbindung mit der Erde zurückzufinden“2 – und dies entspricht auch unserer Wahrnehmung.
Wir gehen davon aus, dass Mythen mehr sind als bloße Geschichten. Es sind Fragen, die das Leben an jeden Menschen stellt, die schon immer gestellt und die von unseren Vorfahren in unglaublich bunten und schillernden Geschichten ausgedrückt wurden. Für dich beantworten kannst nur du sie: Wer bist du? Wer möchtest du sein? Wohin soll deine Reise führen? Was sind die Dinge, die dir wirklich wichtig sind? Schamanische Techniken können eine ungeheure Hilfe auf diesem Weg der Welt- und Selbsterforschung sein. Sie sind Werkzeuge, mit denen du mehr und mehr Antworten auf diese Fragen finden kannst, die im Zusammenhang mit den Mythen stets auf eine weitere, ganz entscheidende Frage verweisen: Wie sprechen diese Geschichten zu dir und was wollen sie dich lehren?
Die Mythen, von denen in diesem Buch gesprochen wird, sind ein Raunen aus weiter Ferne, und man kann sie leicht als lediglich alte Geschichten abtun, die früher einmal erzählt wurden, aber heute ohne jede Bedeutung sind. Aber wenn du dich auf sie einlässt, sie wirklich erforschst und sie mit deinem eigenen Leben füllst, werden sie eine große Kraft in deinem eigenen Inneren aufscheinen lassen, die dich fest auf dieser Erde verankert und dir gleichzeitig Weite schenkt, in der deine Reise ungehindert und mit freien Schritten eines freien Menschen stattfinden kann. All das wünschen wir dir von Herzen.
1Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wurden auf die diakritischen Zeichen bei nordischen Bezeichnungen sowie auf Sonderbuchstaben verzichtet.
2Ralph Metzner: Der Brunnen der Erinnerung, S. 22
Worauf dieses Buch abzielt, ist nicht nur die Darstellung der nordischen Mythologie, sondern vor allem ein ganz praktisches Eintauchen in die tatsächlich spürbare Urkraft, die in diesen Geschichten waltet und in deinen Alltag hineinwirken kann.
Zu diesem Zweck findest du auf den folgenden Seiten immer wieder nicht nur in den Text eingestreute Reflexionsfragen (die wir grau hinterlegt haben, sodass sie dir immer gleich ins Auge springen und dich beim Lesen kontemplativ pausieren lassen), sondern auch Übungsimpulse und Ritualvorschläge. Bei all dem geht es darum, was du daraus machst – daher behalte von unseren Impulsen das, was dich wirklich berührt oder von dem du spürst, dass es dich nährt und stärkt. Passe dagegen anderes individuell an und lausche immer tiefer deiner Intuition, deinem Gefühl für dich selbst, deiner inneren Stimme, um so deine ganz eigene Urkraft zu erleben und ihr Ausdruck zu verleihen.
Da wir von einem animistisch-schamanischen Ursprung der Mythen ausgehen und einige der Göttinnen und Götter auch deutlich schamanische Züge tragen, möchten wir dir auch empfehlen, deine eigenen Erfahrungen in diesem Bereich zu machen. Da es aber sehr schwierig (oder nahezu unmöglich) ist, das Erlernen des schamanischen Reisens adäquat in einem Buch zu präsentieren, haben wir drei (teil-)geführte Meditationen zu diesem Buch verfasst, zu denen du am Ende dieses Buches einen entsprechenden Download-Link findest.
Diese Meditationen lassen viel Freiraum für deine eigenen inneren Bilder und kommen in diesen Teilen dem schamanischen Reisen recht nahe. So kannst du erste Erfahrungen sammeln (oder, wenn du schon schamanische Erfahrungen hast, diese durch den mythologischen Ansatz ergänzen) und so auch noch einmal tiefer in die Mythen eintauchen.
Eine zugige Hütte, in der ein prasselndes Herdfeuer brennt, ein eiserner Topf, in dem ein Eintopf vor sich hin köchelt, Menschen, die auf Holzbänken, Schemeln oder auf dem Boden sitzen und Geschichten von erschlagenen Riesen, sich verwandelnden Göttern und gestohlenen Zauberhämmern lauschen. Ein Dasein, in dem es um die Rhythmen der Natur geht, um die Fruchtbarkeit des Viehs und der Felder, um den Respekt vor den Kräften des Waldes, des Meeres und der Berge. Tage, die von der Mühsal auf dem Acker bestimmt sind, und Nächte, in denen die Geheimnisse der Dunkelheit ums Haus schleichen.
So ungefähr kannst du dir die Lebenswelt derjenigen Menschen vorstellen, für die vor tausend oder zweitausend Jahren die Mythen, von denen in diesem Buch die Rede ist, tatsächlich lebendig waren. Menschen, für die die Mythen die Fragen nach der eigenen Herkunft und der Ordnung des Kosmos beantworteten und auch ihren Alltag bestimmten. Für sie waren die Göttinnen und Götter Lebensrealitäten, mit denen sie immer wieder in Riten, Zeremonien und im persönlichen Erleben in direkten Kontakt traten. Wahrscheinlich stellt sich deine Welt für dich völlig anders dar. Soziale und geistesgeschichtliche Entwicklungen sowie technologische Fortschritte haben deinen „Kampf ums Überleben“ auf ganz andere Dinge verlagert und möglicherweise den Fokus von den großen Fragen des Daseins auf die schnellen Antworten der Konsumgesellschaft verschoben. (Wir alle leben in dieser Gesellschaft – und nicht von ihr verschlungen zu werden ist eine wirkliche Kunst!) Ebenso wirst du wahrscheinlich die Göttinnen und Götter, die in diesem Buch auftauchen, nicht als real existierende Entitäten ansehen können, denn wer glaubt heutzutage beispielsweise noch, dass ein rotbärtiger Gott, der in einem von Ziegenböcken gezogenen Wagen über den Himmel rast, mit seinem Zauberhammer das Gewitter erzeugt? Aufklärung und Säkularisierung haben uns solche Ideen gründlich ausgetrieben, was auf der Ebene des intellektuellen Weltverständnisses eine gute Sache ist. Doch leider ist auch die symbolische Ebene dieser Geschichten über Bord gegangen, sodass uns ein großer Teil des seelischen Einfühlungsvermögens in die Welt ebenfalls abhandengekommen ist, das sich ursprünglich in diesen Erzählungen finden ließ. Wenn Mythen lediglich als Museumsstücke betrachtet werden, wenn sie nicht mehr neu erzählt werden und man nicht mehr mit ihnen in Beziehung tritt, dann bleibt von ihnen nicht mehr übrig als das: verstaubte Dinge, die in irgendwelchen Vitrinen vor sich hin modern und die keinerlei Bezug zum Leben haben.
Der größte Unterschied zwischen unserer heutigen Welt und dem obigen Szenario ist die Tatsache, dass die Mythen für die Menschen alter Zeiten mit Bedeutung aufgeladen und mit Leben gefüllt waren, während sie heute für die meisten bestenfalls ein vernachlässigtes Dasein im Bücherregal fristen. Doch Mythen wollen erzählt werden – und jede Erzählung ist zugleich eine neue Interpretation, da jeder Erzähler und jede Erzählerin die eigene Persönlichkeit mit in die Geschichte einbringt, andere Schwerpunkte setzt und auch die Charaktere des Mythos anders interpretiert. Wenn wir in der Jurte mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen unserer Kurse beisammensitzen und aus der Erinnerung alte Mythen erzählen, so ist unsere Wortwahl jedes Mal eine andere. An einem Tag herrscht dabei eine ernste, fast andächtige Atmosphäre, an einem anderen Tag ist dieser Kreis eher von Ironie geprägt und es wird viel gelacht. Und dadurch werden die Mythen lebendig, da sie zu den Menschen sprechen, die in diesem Augenblick zuhören. Es kommen genau die Geschichten zum Vorschein, die jetzt gebraucht werden. Und ganz gleich, ob gestaunt oder gelacht wird (meistens ist es beides), berührt die tiefere Sinnebene der Mythen etwas in den Menschen und eine ganz besondere Kraft wird spürbar. Eine Kraft, die den Kern unserer Existenz berührt, da alle mythologischen Geschichten vor allem wesentlich Menschliches und damit Zeitloses berichten.
Daher ist es völlig egal, ob du die Göttinnen und Götter als wirklich existierende Wesenheiten begreifst oder sie als Protagonisten spiritueller Lehrgeschichten oder auch als archetypische Charaktere ansiehst, die Bewegungen der menschlichen Seele widerspiegeln. Wie auch immer du das sehen magst, der wirkliche Wert der Mythen wird dadurch keineswegs geschmälert. Wichtig ist nur, dass du in den Mythen mehr als bloße Geschichten siehst. Mehr als Unterhaltung, mehr als Zeitvertreib.
Denn wenn die Mythen vielleicht auch nicht als Quelle dafür dienen können, definitive Aussagen über die Realität von Göttinnen und Göttern zu machen, so erzählen sie doch auf jeden Fall sehr viel Treffendes über die Realität des Menschseins!
Mythen und Heldensagen schicken dich auf eine Reise in dein Inneres. Sie stellen dir Fragen über deine Werte, lassen dich über Tugenden nachdenken, führen dich in Versuchung, dem Zorn und der Gewalt in deinem Innersten nachzugeben, zeigen dir Alternativen, bemühen sich, Ordnung ins Chaos zu bringen, lassen dich der Vergänglichkeit begegnen, der Gier und der Demut … und überlassen alles Weitere dir. Sie nehmen deine Gedanken und Gefühle ernst, indem sie keine vorgefertigten Antworten liefern, sondern nur erzählen. Sie ermutigen dich, deiner eigenen Kraft gewahr zu werden, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und mutig auf dem Weg voranzuschreiten, der sich unter deinen Füßen entfaltet. Sie fragen, woran du wirklich glaubst und was dir tatsächlich wichtig ist. (Sie fragen nicht danach, was du glauben möchtest, was du denkst und was dir wichtig sein sollte!) Mythen erzählen von einer Möglichkeit deines Ursprungs und vielen Möglichkeiten deines Weges. Sie berichten von einem Woher und von vielen Wohins und ebenso von den unzähligen Wundern, die dazwischen geschehen können.
Womöglich ist nichts davon als Fakten brauchbar. Wir glauben zum Beispiel nicht wirklich, dass der Mensch von den Göttern aus zwei Stücken Holz gemacht wurde, wie die nordischen Mythen berichten. Aber alles im Mythos ist insofern wahr, als dass es transformative Kraft hat. Und so sind die genannten Holzstücke vielleicht keine Fakten, aber der Akt, von den Göttern Geist, Atem und Leben eingehaucht zu bekommen, damit Anteil am Großen Geheimnis zu haben und somit im tiefsten Sinne heilig zu sein wie alles Leben … das ist wahr und transformiert Menschen, verwandelt sie zu achtsameren, liebevolleren Wesen, die sich bewusst sind, diese Welt mit unzähligen anderen Arten heiligen Lebens teilen zu dürfen. Auf diese Weise können auch die auf den ersten Blick absurd wirkenden Geschichten einen transformativen Funken Wahrheit in sich tragen und dein Verhältnis zu dir selbst, zur Welt und ihren Wesen sowie zum Göttlichen heilsam wandeln.
Spannenderweise stellen Mythen keine moralischen Forderungen – und gerade in den nordischen Mythen geht es oftmals erschreckend unmoralisch zu. Sie formulieren auch keine festgelegte Aufgabe, die angeblich jeder Mensch hat, sondern lassen dir die Wahl, welchen Pfad du einschlagen möchtest. Du wirst im Mythos von Heldentaten und ebenso von Verrat hören, wirst dich vielleicht manchmal fragen, wer hier als gut und wer als böse zu bezeichnen sei, und dann möglicherweise feststellen, dass im Mythos wie im richtigen Leben eher Graustufen existieren als streng voneinander getrenntes Schwarz und Weiß. Gewalt und Krieg, Opfer und Verlust, Geburt, Tod und Wiedergeburt, Freude und Schmerz, Trost, Mitgefühl und wirklich dumme Streiche, die Heldenreise und der unverbesserliche Depp … all das taucht im Mythos unkommentiert nebeneinander auf. Und wie im richtigen Leben musst du auch hier deinen Weg hindurch selbst finden.
Oftmals widersprechen sich die Mythen innerhalb einer Tradition sogar. Die eine Geschichte berichtet es so, die andere erzählt eine andere Variante, was daran liegen mag, dass das Unerklärliche, das Geheimnis des Lebens, das Wirken des Göttlichen in der Welt nicht einfach zu erklären und schon gar nicht zu definieren ist. Da ist eine dunkle Tiefe, vor der du, wir und alle anderen Menschen stehen, … und diese dunkle Tiefe verbindet dich mit den Menschen, die dir vorausgingen. Ihre Fragen an das Leben sind trotz aller Unterschiede in der Lebenspraxis deinen Fragen nicht unähnlich. Wie sie kannst du versuchen, den Mythen zu lauschen und dann dein eigenes Leben zur Antwort zu gestalten. Wir sind uns sehr sicher, dass diese Vorgehensweise auf Dauer befriedigender sein wird, als die weitverbreitete Methode, vorgefertigten Antworten zu folgen. Wenn du nur eins aus diesem Buch mitnimmst, dann lass es bitte Folgendes sein: Der Mythos ist immer zeitlos, er spricht immer vom Jetzt, vom Heute … und vor allem spricht er zu dir und in gewisser Weise von dir!
Die Mythen, auf die wir uns in diesem Buch beziehen, sind überwiegend im 13. Jahrhundert niedergeschrieben worden, beziehen jedoch Dichtungen und Heldenlieder ein, die zum Teil auch schon aus dem 10. Jahrhundert stammen. Die Inhalte sind aber noch weit älter und wurden mündlich tradiert, lange bevor sie in die uns heute bekannte sprachliche Form gegossen wurden.
Die Vorstellungen über die Welt, die Göttinnen und Götter, über andere Wesen wie Zwerge, Riesen und Trolle, über die geheimnisvollen Nornen und über den zyklischen Charakter der Welt stammen aus einer großen Zeitspanne, in der noch nichts schriftlich festgehalten wurde. Schon in der Eisenzeit (etwa 800 v. Chr. – etwa 500 n. Chr.) spricht etwa der römische Historiker Tacitus vom Volk der Ingaevonen, deren Name sich auf den wahrscheinlich ursprünglichen Namen des Gottes Freyr, nämlich Yng oder auch Yngvi zurückführen lässt. Die Ingaevonen waren somit das Volk Yngvis.
Auch die Runenritzungen, die in Schweden, Dänemark, Norwegen und Norddeutschland entdeckt wurden, lassen sich auf diese Zeitspanne datieren. In der Bronzezeit (etwa 2.200 – 800 v. Chr.) finden sich Spuren eines phallischen Gottes, der ebenfalls eine Form von Freyr zu sein scheint, ebenso Sonnenbzw. Radkreuze, die bis in die Wikingerzeit (etwa 750 – 1.100 n. Chr.) hinein beliebte Symbole waren. Auch kann man hier Spuren der Vorstellung eines Hieros gamos entdecken, der Heiligen Hochzeit zwischen Sonnengott und Erdgöttin, die sich ebenfalls in der späteren Beschreibung des Mythos von Freyr und Gerdr finden lassen.
Manche Inhalte lassen sich zurückführen auf die indoeuropäische Ausbreitung, die je nachdem, welcher Forschung man Glauben schenken mag, zwischen dem 4. und 3. Jahrtausend vor der Zeitenwende geschah. In diesem Zusammenhang gibt es zum Beispiel Hinweise auf einen religiös verehrten Himmelsvater/Himmelsgott, dessen rekonstruierte Spuren sich sowohl im griechischen Zeus als auch im germanischen Tyr finden lassen. Auch eine Hervorhebung der Zahl Drei und die drei verwendeten Farben Weiß, Rot und Schwarz, die wir auch später noch als Farben der dreifaltigen Göttin (in Gestalt der Jungfrau, der Mutter und der weisen Alten) vorfinden werden, sind hier entdeckt worden.
Und aus der Jungsteinzeit (etwa 10.000 – 2.200 v. Chr.) sind Axtamulette bekannt, die den in der Wikingerzeit getragenen Thorshämmern erstaunlich ähnlich sind. Auch eine Göttin, die in der Erde oder im Wasser wohnt, war den jungsteinzeitlichen Menschen bekannt – Parallelen zur germanischen Göttin Nerthus sind offenkundig, die auch Tacitus später als Terra Mater, die Mutter Erde, bezeichnet. Diese und einige weitere Beispiele lassen davon ausgehen, dass viele der Vorstellungen, die sich dann in den Mythen niedergeschlagen haben, weit älteren Ursprungs sind und sich von der Jungsteinzeit (wenn nicht sogar schon eher) bis in die Wikingerzeit in abgewandelter Form erhalten haben.
Daher wollen wir in diesem Buch auch auf eine grundlegende Besonderheit der nordischen Mythen hinweisen: ihre Verwurzelung in einem jungsteinzeitlichen Animismus und die damit einhergehende schamanische Praxis, die sich im Laufe der Zeit zwar gewandelt hat, aber zumindest in einigen Sagas deutlich zutage tritt.
Unter Animismus (vom Lateinischen anima = die Seele, der Geist) versteht man den Glauben, dass alles in dieser Welt beseelt ist. Alles Lebendige ist vom Göttlichen inspiriert, erfüllt und durchdrungen, hat Anteil am Göttlichen und ist durch und durch heilig. Diese Weltsicht beschreibt die Natur als reine Lebendigkeit und nicht etwa als etwas Dingliches oder gar Totes, als bloße Ressource.
Als beseelt gedacht wurden dabei aber nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Steine, Berge, Flüsse und Seen, ganze Landschaften und ebenso Wolken und Sterne sowie darüber hinaus Naturgeister, Göttinnen und Götter. Die Menschen der damaligen Zeit waren umgeben von einem einzigen lebendigen Wunder, und mit allem innerhalb dieses Wunders konnte man kommunizieren. Da kommt der Schamanismus oder das Schamanentum als Methode ins Spiel, die den Geist des Menschen mit dem Geist eines Bären, eines Wolfes, einer Schlange, eines Baumes oder auch einer Göttin verbinden konnte.
Mithilfe verschiedener Trancetechniken begab man sich über die alltägliche Wahrnehmung der Welt hinaus, um tiefer zu schauen, mit der Welt und allen Wesen auf einer anderen Ebene verbunden zu sein, den Rhythmus der Welt zu spüren, sich darauf einzulassen und sich selbst als Teil dieses großen grünen Wunders zu erleben.
Und da dies der Boden ist, in dem die nordische Mythologie ihre Wurzeln ausstreckte, um dann weiterzuwachsen, und sich ebenfalls deutliche schamanische Spuren sowohl in den Geschichten um Odin, Heimdallr als auch um Freyja zeigen, halten wir nach wie vor schamanische Methoden für eine adäquate Weise, in die Mysterien dieser Tradition einzutauchen und diese so, neben dem Studium der überlieferten Schriften und der historischen Forschung, auch ganz unmittelbar und individuell zu entdecken.
Diese persönliche Sichtweise ist ganz sicher nicht objektiv, und du wirst auf diesem Weg wohl auch keine neuen archäologischen Fakten zutage fördern können, aber sie kann dir helfen, dich dem anzunähern, was diese Tradition an wirklich brauchbarer Spiritualität und seelischen Wurzeln zu bieten hat. Keine spirituelle Tradition, die man ernstnehmen kann, wird von sich behaupten, absolut objektive Wahrheiten zu verkünden – es geht immer nur darum, einen Weg zu finden, der es deiner Seele erlaubt, sich voller Kraft in dieser Welt zu bewegen und dabei sowohl für dich selbst als auch für andere heilsam zu agieren. Im besten Falle für das große Ganze.
Viele kulturelle Hintergründe sind schlicht nicht überliefert, da die Vorfahren der nordeuropäischen Völker keinen Schriftkulturen angehörten oder gerade das Spirituelle und Heilige nicht niederschreiben wollten, um es lebendig zu erhalten. Daher wirst du in den meisten wissenschaftlichen Werken über die nordischen Traditionen auch meist Aussagen finden wie: „Es könnte so oder auch so gewesen sein“, „Das sieht dieser Forscher so, während ein anderer das Gegenteil behauptet“ oder auch: „Hierüber wissen wir so gut wie gar nichts“. Die heutigen Forscher konzentrieren sich oft auf die Etymologie einzelner Begriffe und auf Wahrscheinlichkeiten in Bezug darauf, was sich daraus jeweils ableiten lässt und dann vermutlich so gewesen sein könnte. Das alles ist gut und richtig, gehört sich für echte Wissenschaft so, doch einen Weg, den du gehen kannst, stellt es leider nicht dar. Um solch einen Pfad zu finden, musst du selbst tätig werden und die Mythen eigenständig darauf abklopfen, was dir etwas bedeutet und was nicht.
Dazu braucht es einen offenen Geist, der sich geduldig herantastet, alte Mythen liest und neu deutet, sie mit anderem Schwerpunkt erzählt, historische Berichte betrachtet und versucht, sich etwas Grundlegendes zu erschließen, was die Menschen damals gedacht und geglaubt haben, ohne der Versuchung zu erliegen, alles „genau wie damals“ machen zu wollen. Eine Falle der falschen Authentizität, in die man leicht tappen kann, wenn man übersieht, dass jede Religion sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt.
Um kurz zu verdeutlichen, was wir damit meinen: Auch wenn du darüber liest, dass die Germanen Tiere, die ihnen viel bedeuteten, ihren Gottheiten opferten, wirst du wohl kaum in Betracht ziehen, deine Lieblingskatze im nächsten Moor zu versenken und dabei Freyja zu huldigen. Stattdessen wirst du die Essenz dieser Beobachtungen ergründen wollen: dass den germanischen Stämmen Tiere so wertvoll erschienen, dass sie den höchsten Gottheiten dargeboten wurden, um ihnen zu danken. Und dann wirst du vielleicht darüber nachdenken, wie du das heute umsetzen kannst, und bei jedem Waldspaziergang ein paar Haselnüsse dabeihaben, um diese im Wald niederzulegen und dem Göttlichen dafür zu danken, dass es alles erhält und alle versorgt. Du machst also nicht genau das, was früher gemacht wurde, sondern überträgst die Essenz auf das Heute, indem du über das Gehörte meditierst oder dich vielleicht auch auf eine schamanische Reise begibst, um Inspiration für deinen ureigenen Weg zu bekommen.
Bis heute aus Schriften Erhaltenes und durch Forschung gewonnene Erkenntnisse erweiterst du also durch „spirituelle Mythenforschung“, die dein Erleben innerhalb der Anderswelt im Kontext mit den Überlieferungen miteinbezieht.
Schamanismus war und ist immer ein Weg der Erfahrung. Mit solchen Reisen, die von der Basis alten Wissens aus starten und sich dann ganz frei auf neuen Wegen entfalten, stärkst du dein geistiges Feld und erspürst ganzheitlich, was dich trägt und dir Kraft gibt.
Die geführten Reisen, die du am Ende dieses Buches als Download-Möglichkeit findest, sind erste Schritte in diese vielleicht noch unbekannte Welt und Gelegenheiten, mit Trancezuständen zu experimentieren.
Trance und Ekstase sind hilfreiche Schlüssel, um sich mit offenem Geist all dem zu nähern und in Hingabe zu erleben, was ist. Der Begriff „Ekstase“ stammt vom griechischen Wort ékstasis und bedeutet wörtlich „aus sich herausgetreten sein“, was oft als Verzückung, „außer sich sein“ oder höchste Hingabe umschrieben wird. In dieser höchsten Hingabe geht es stets darum, sich einzulassen, sich führen zu lassen, sich anzuvertrauen, sich frei fließen zu lassen.
Aus schamanischer Sicht ist es wichtig, aus sich heraustreten zu können, damit wir anders mit der Welt in Kontakt treten können. Sowohl mit der Welt, in der wir leben, die uns umgibt, als auch mit der reichen Innenwelt, die wir alle haben, und mit den Anderswelten, in denen wir so herausgelöst aus uns selbst (sprich herausgelöst aus unserem Ego) unterwegs sein können. Aus dem veränderten Kontakt heraus reagieren und agieren wir anders in der Welt, und durch das Eintauchen in andere Bereiche der Wirklichkeit erhalten wir insgesamt ein ganzheitlicheres Bild.
Wie gesagt: Viele wahrhaftige Quellen zur spirituellen Praxis gibt es in diesem nordischen Bereich nicht, vor allem keine lebendig sprudelnden. Anders als in anderen Traditionen – beispielsweise der des tibetischen Buddhismus – gibt es keine lückenlose Abfolge der Weitergabe von Lehrer zu Schüler, keine zurückverfolgbare Linie der mündlichen Überlieferung. Diese Kette gab es vielleicht einmal, aber dann ist sie sowohl von den Römern als auch später durch die Christianisierung unterbrochen worden und kann auch nicht mehr „repariert“ werden. Hält man sich daher ausschließlich an die historischen Texte, so greift man auf eher sparsame Fakten zurück, die erst sehr lange nach der Blütezeit dieser Kulturen aufgeschrieben wurden und dies oft von Menschen mit einem ganz anderen Weltbild3. Sie entstammen also dem Hörensagen (im besten Falle eigener Beobachtung, jedoch auch dies von Menschen mit einem anderen spirituellen und auch moralischen Weltbild/Hintergrund), sind vermutlich verwässert über die Zeit, ungenau und teils widersprüchlich.
Du kannst deine Zeit damit verbringen, immer mehr zu lesen und zu vergleichen, was dieser bekannte Forscher sagt oder jener namhafte Runenexperte, und immer weiter Texte prüfen – so wirst du zu einem Experten auf dem Gebiet der Entschlüsselung historischer Texte und archäologischer Funde werden.
Oder du stellst dieser Herangehensweise (die keinesfalls schlecht ist) auch empirische Methoden an die Seite und legst das schamanische Weltbild als einen Erfahrungsweg zugrunde, ohne alles gleich mit dem Etikett von „Richtig“ oder „Falsch“ zu belegen. Auf diese Weise wirst du zu einem Forscher in wahrhaft eigener Sache und entdeckst vielleicht die Mythen als etwas, das wirklich zu dir (zu dir ganz persönlich!) sprechen kann.
In den Sagas finden sich einige Hinweise zu Praktiken, die man nach heutigem Verständnis als schamanisch bezeichnen würde. (Einige davon werden wir dir in diesem Buch als Übungen vorstellen.) Dazu zählen Trancerituale, initiiert durch Rhythmen oder durch das Singen alter Zauberlieder, Ekstasetechniken mit pflanzlichen Substanzen, Hellsichtigkeit, Wahrsagen, Divination aus den äußeren Zeichen, Praktiken mit klar benannten Tieren oder Pflanzen, Utiseta („draußen sitzen“), um mit der Natur beziehungsweise den Ahnen Kontakt aufzunehmen und Visionen zu empfangen, und vieles mehr.
Es ist an dir, Erfahrungen zu machen, zu spüren und dich in diese Geschichten und ihre Bedeutungen hineinzuversenken, um genau jene Ebenen zu erfassen.4
Wenn wir uns davon lösen können, uns ausschließlich von den rudimentären Quellen leiten zu lassen, die nicht einmal voll durchdrungen sind und auch gar nicht aus der Feder damaliger Heiden stammen, und uns für weitere Zugänge öffnen, können wir ganz andere Eindrücke zusammentragen und beginnen möglicherweise, unser spirituelles Kulturerbe wiederzuerlangen. Spiritualität wurde seit jeher erfahren und nicht „nur“ gelesen – sie beseelte, berührte, be-geisterte. Wenn wir die verlorenen Bindeglieder wiederfinden wollen, so können wir den Versuch wagen, die alten Schriften als letzte glühende Kohlen zu sehen, die kurz vor dem Erlöschen sind und einst zu einem großen Feuer gehörten. Wir können unseren Lebensatem, unseren Spirit, hinzugeben, um sie hier und jetzt wieder vorsichtig anzufachen, bis wieder eine lebendige Flamme hervortritt, und uns dann schlussendlich um dieses Feuer versammeln, um die alten Geschichten neu zu erzählen.
Es ist ein wenig, als würden wir wertvolles altes Metall einschmelzen und etwas Neues daraus gießen oder schmieden. Einiges wird aus der gleichen Materie sein, doch die Form darf sich neu finden.
„Die Asen einen sich auf dem Idafelde,
Über den Weltumspanner zu sprechen, den großen,
Uralter Sprüche sind sie da eingedenk,
Von Fimbultyr gefundner Runen.
Da werden sich wieder die wundersamen
Goldnen Tafeln im Grase finden,
Die in Urzeiten die Asen hatten,
Der Fürst der Götter und Fiölnirs Geschlecht.“5
Diese goldenen Tafeln kannst du heute wiederfinden, sie in den Feuern deiner Seele einschmelzen und ihnen eine Form geben, die lebendig sein wird und gleichzeitig dich lebendig macht. Du kannst die alten Schriften studieren, die Mythen auf neue Weise erzählen und ihnen auf schamanischen Reisen nachgehen … und alles ineinandergreifen lassen, sodass die alten Geschichten mit der darin versteckten archetypischen Kraft und alterslosen Weisheit wieder zugänglich werden. Du kannst auf vielen verschiedenen Ebenen auspacken, was so lange verborgen war und die mythologische Überlieferung von einem Museumsstück in etwas Atmendes, Gegenwärtiges verwandeln.
3Der Isländer Snorri Sturluson, der die uns heute bekannten Texte der Edda gesammelt hat, war beispielsweise Christ und nicht etwa bekennender Heide.
4Wir sind in unseren Kursen immer wieder erstaunt, wie zunächst subjektives persönliches Erleben im Rahmen eines gemeinsamen experimentellen Erforschens (insbesondere ohne vorher die alten Schriften gemeinsam gelesen zu haben, also „unwissend“) Qualitäten zutage fördert, die viele Teilnehmende sehr ähnlich wahrnehmen. Es lassen sich Erfahrungen zusammentragen und gemeinsam auswerten – wobei es sich bei diesen Auswertungen manchmal nicht mehr oder weniger um Vermutungen handelt als bei den unterschiedlichen Theorien von Historikern zu solch spirituellen oder religiösen Vorstellungen.
5Völuspa 58 und 59 (Hier gleich zu Beginn ein wichtiger Hinweis: Seltsamerweise sind in verschiedenen Ausgaben der Edda die einzelnen Verse unterschiedlich durchnummeriert. Da wir mehrere Ausgaben der Edda benutzt haben, um jeweils die Übersetzung zu wählen, die am besten in den Kontext unserer Argumentation passt, möchten wir dich bitten, etwas großzügig zu sein, wenn du die von uns angegebenen Stellen nachschlägst. Es kann sein, dass der von uns angeführte Vers in deiner Ausgabe der Edda auf die Zahlen bezogen etwas früher oder später auftaucht.)
Jede Kultur erzählt ihren eigenen Schöpfungsmythos, da Menschen wohl zu allen Zeiten und in allen Gegenden der Welt an ihrem Ursprung interessiert waren. Woher kommen wir? Aus welcher Quelle stammt das Leben? Wieso gibt es überhaupt irgendetwas? Diese und ähnliche Fragen haben Menschen schon immer bewegt. Auch die heutige moderne Kultur hat ihre Schöpfungsmythen, denn die Erkenntnisse der Menschen stoßen heute ebenfalls an Grenzen, hinter denen das Unbekannte liegt. Wenn heute von der Urknalltheorie die Rede ist und diese allgemein als das stimmigste Modell der Entstehung des Universums akzeptiert wird, wird damit die früheste Zeit des Universums beschrieben, nicht aber der Urknall selbst erklärt und schon gar nicht seine Ursache. Das große Warum liegt weiterhin im Dunkeln.
Und daher kursieren weiterhin alle möglichen religiös inspirierten Theorien und Konzepte neben Annahmen, dass es sich einfach um Zufall handele. Auch Ideen darüber, dass sich unser Universum aus einem anderen, bereits bestehenden Universum „ausgestülpt“ habe, existieren, verschieben jedoch die Frage nach dem Ursprung des Seins nur weiter.