Das ganze klassische Altertum, das griechische wie das römische und das griechisch-römische der Kaiserzeit, ist von Weissagungen und Orakeln voll; immerdar hat man gestrebt, in die Zukunft hineinzuschauen und sich, wo der menschliche Verstand nicht zulangte, göttlichen oder gottbegeisterten Beirat zu verschaffen. Das gilt von den Einzelnen und gilt von den Staaten ebenso und von dem größten Staate, dem römischen, am Meisten. Es hat auch zu keiner Zeit an Leuten und an Instituten gefehlt, die diesem Bedürfnis entgegenkamen, und zwar in der allermannigfaltigsten Weise. Die stoischen Philosophen, welche der Weissagung (divinatio) in ihrem System einen breiten Raum gaben und sich die Verteidigung derselben sehr angelegen sein ließen, unterschieden zwei Hauptarten, eine künstliche und eine kunstlose oder natürliche divinatio. Jene umfaßte die Disciplinen der Eingeweideschau, der Vogelschau, der Astrologie u. s. w.; in dieser scheiden sich das Hellsehen und der Traum, dessen Deutung indessen ebenfalls der Kunst unterliegt. Hellseher aber hatte man nicht nach Belieben zur Verfügung, namentlich nachdem die alten Orakelstätten, wie Delphi, wo Apollon durch den Mund eines Weibes weissagte, in Verfall und Mißachtung gekommen waren; zum Ersatz also dienten die schriftlich aufgezeichneten Sprüche von Hellsehern der Vorzeit, von denen die Sibylla, früher ein einheitliches Wesen, später in viele Personen geteilt, von sehr früher Zeit ab hervorgeragt und nachmals sogar alle andern unterdrückt hat.
Der Name Sibylla ist von dunkler Bedeutung und nicht einmal von fester Schreibung, insofern Sibilla (als Frauenname) sich auf einer attischen Inschrift des 4. Jahrh. v. Chr. findet. Die Prophetin aber war bereits der attischen und sogar der vorattischen Zeit bekannt; denn aus dem Philosophen Heraklit von Ephesos, der etwa unter Darius Hystaspes’ Sohn blühte, wird folgende Stelle citiert: „Sibylla, indem sie mit rasendem Mund unerheiterte und ungezierte und ungesalbte Worte redet, reicht auf tausend Jahre weit durch die Kraft des Gottes.“ Also in uralten Zeiten sollte Sibylla gelebt haben, ihre aufgezeichneten Sprüche aber erfüllten sich in der Gegenwart oder sollten sich erst in der Zukunft erfüllen. Fragt man aber, woher die Meinung kam, daß sie einer so entfernten Vorzeit angehöre, so wird die Antwort schwerlich fehlgehen, daß Weissagungen über sehr alte Geschichten schon damals unter ihren Sprüchen waren, insonderheit solche über den trojanischen Krieg, wie sie auch in den dem Pausanias u. a. bekannten Orakeln der Sibylla standen und sogar in den jetzigen sich noch finden. Hier wurde und wird auch Homer als der künftige Sänger dieses Krieges erwähnt und seine Kunstform des Hexameters natürlich auf die Sibylla als die wirkliche Urheberin zurückgeführt, deren Bücher Homer gekannt, aber verheimlicht habe. In Hexametern waren gewiß auch die dem Heraklit vorliegenden Sprüche verfaßt, gleichwie die des Bakis, von denen Herodot u. a. reden; die Verse mögen schlecht und der Ausdruck nichts weniger als klar und schön gewesen sein, worauf sich Heraklits Bezeichnungen „unerheitert, ungeziert, ungesalbt“ beziehen. Weiter aber zeigt sich in dieser ältesten Erwähnung bei einem Jonier Jonien als Heimat der Sibylla; d. h. unter den verschiedenen Sibyllen, die man später unterschied, ist die von Erythrai in Jonien als die älteste anzusehen, wiewohl doch schon Euripides (in einem verlorenen Stücke) Sibylla als Libyerin bezeichnete. Aristophanes und Platon geben bei ihren gelegentlichen Erwähnungen keine Heimat an; später aber wird die Kunde ausführlicher, jedoch immer mehr geteilt, so daß auch Sibylla aufhört, Eigenname zu sein, und entweder Beiname oder gar eine Art Gattungsname wird. Die Sibylla von Erythrai soll Herophile geheißen haben, welcher Name auch in ihren Sprüchen nach Pausanias vorkam, neben dem der Artemis; denn sie gab sich ebendaselbst auch für eine Schwester des Apollon aus und anderswo für die Tochter desselben und wiederum für seine Ehefrau. Prophetinnen des Apollon sind die Sibyllen auch sonst; in dem italischen Kyme (Cumae) zeigte man im Apollontempel die Urne, welche die Gebeine der dortigen Sibylle, mit Namen Demo, enthalten sollte. Diese kumäische Sibylla ist schließlich unter den zehn — so viele unterschied Varro — die berühmteste geworden, einerseits durch Vergil, bei welchem sie Äneas in die Unterwelt geleitet, andererseits dadurch, daß 3 Bücher ihrer Sprüche nach Rom, angeblich bereits unter König Tarquinius Priseus, gelangten, und daß nun dort die Sibyllinen viele Jahrhunderte lang, bis in späte Zeiten der Stadt und des Reichs, eine ausgedehnte und wichtige politische Verwendung fanden. Die Vermittelung nämlich ist jedenfalls von Kyme aus geschehen, wiewohl Varro den Tarquinius für zu jung hält, um Zeitgenosse der wirklichen, wenn auch noch so langlebigen Sibylle zu sein, und darum die Erythräerin für die wirkliche Verfasserin der Sprüche erklärte.
Über diese römische offizielle Sammlung sibyllinischer Orakel sind wir verhältnismäßig nicht schlecht unterrichtet. Sie stand unter der Aussicht eines eigenen, sehr vornehmen Kollegiums, der decemviri, seit Sulla quindecimviri, sacris faciundis; diese hatten die Bücher zu Rate zu ziehen, sobald der Senat infolge von Unglücksfällen oder erschreckenden Wunderzeichen dies anordnete. Diesen praktischen Zwecken entsprachen nämlich die Orakel: sie hatten gar keine Ähnlichkeit mit den jetzt vorhandenen Sibyllinen, sondern die Form war diese: wenn dies geschieht, dann nehmt die und die Expiationen vor. Warnungen und Mahnungen mögen, neben einfachen Prophezeiungen des Zukünftigen, auch die vor Alters in Griechenland umlaufenden Sibyllensprüche gegeben haben; aber diesen in Rom gebrauchten merkt man es sofort an, daß sie für das besondere Bedürfnis des römischen Staates fabriziert waren, nur insofern den alten ähnlich, als auch sie die Prädikate „ungeziert und ungesalbt“ verdienen (Diels). Es ist uns nämlich, bei dem Historiker Phlegon in seinem Buche wundersamer Geschichten, ein im J. 125 v. Chr. zur Verwendung gekommenes sibyllinisches Orakel erhalten, indem zwar die Sammlung als solche ein Staatsgeheimnis war, aber die Veröffentlichung einzelner Stücke nach Befinden des Senats unbedenklich geschehen konnte. Die Echtheit dieses Orakels in dem Sinne, den das Wort „Echtheit“ hier haben kann, ist von H. Diels in seinem Buche: „Sibyllinische Blätter“ (Berlin 1890) glänzend erwiesen worden. Charakteristisch und nach römischen Begriffen gleichsam ein Siegel der Echtheit und Unverfälschtheit ist darin die bereits von Cicero an den Sibyllinen hervorgehobene akrostichische Form: der erste Vers des Spruches kann, wie an seinem Platze von links nach rechts, so außerdem von oben nach unten gelesen werden, indem die Anfangsbuchstaben sämtlicher Verse ihn bilden. Cicero bemerkt ganz richtig, daß zu der Theorie von einer gottbegeisterten Seherin diese verzwickte Technik recht wenig stimme; aber was kam darauf an? Das Kapitol und mit ihm die Sammlung verbrannte im J. 83 v. Chr.; indes da der Staat Sibyllensprüche haben mußte, so wurden neue beschafft, aus Italien und Griechenland und namentlich aus Erythrai, gegen 1000 Verse; die Beschaffung konnte nicht schwierig sein.
Diese römischen Sammlungen von Sibyllinen liegen nun von dem Weg, auf dem wir schließlich zu den vorhandenen kommen, etwas seitwärts ab; ist doch auch die akrostichische Technik in diesen nur ganz schwach vertreten. Voraussetzung für die Entstehung unserer Sammlung ist, daß in der hellenistischen Zeit nicht nur in Rom, sondern auch in Ägypten die Sibylla alle alten Nebenbuhler, wie den Bakis, totgemacht hatte, selbst aber sich im Ansehen behauptete, so daß auch die Fabrikation oder Umformung von Sibyllensprüchen mit Vorteil weiterging. Somit fing jetzt auch das alexandrinische Judentum an, sich für seine Zwecke der monotheistischen Propaganda an der Fabrikation zu beteiligen. Man konnte klein anfangen, mit Interpolation in die vorhandenen Sammlungen; allmählich wuchs dann die Interpolation und drängte das ursprüngliche Heidnische mehr und mehr zurück. Ganz nämlich ist dasselbe auch aus den vorhandenen Sibyllinen nicht ausgetrieben, nur daß unter der jüdischen Redaktion die Namen heidnischer Götter verschwinden mußten. Aber nicht nur Weissagungen über Troja und Helena, genau sich deckend mit den von Griechen erwähnten, finden sich in unserer Sammlung vor (III, 414 ff. und ausgeführter XI, 125 ff.), sondern es citiert auch Strabo wörtlich über die Landaufschüttungen des kilikischen Flusses Pyramos zwei sibyllinische Verse, welche sich ziemlich ebenso hier erhalten haben (IV, 95 f.). Auch anderes von heidnischen Schriftstellern aus den Sibyllensprüchen Citierte findet sich in unseren Sibyllinen mehr oder weniger deutlich wieder. Daß dies nicht bei allem der Fall ist, begreift sich leicht, nicht nur aus den Schicksalen der Sammlung, sondern auch daraus, daß die Redaktoren nur für die damals bedeutenden Länder und Städte Interesse hatten, insbesondere der Jude nur für die, wo es auch reichlich Juden gab; also Griechenland, mit Ausnahme von Korinth, fiel ziemlich aus, während desto mehr Ägypten, Kleinasien, Italien hervortraten. Aber was über diese Länder und vollends über einzelne Städte derselben gesagt wird, mag man im Wesentlichen auf heidnischen Ursprung zurückführen, da doch ein Jude schwerlich das Interesse hatte, ein Orakel über Rhodos oder Kyzikos oder Laodikeia eigens zu fälschen. Jedoch, obwohl diese Abschnitte nicht wenig zahlreich und nicht unbeträchtlichen Umfangs sind: die große Masse des Erhaltenen ist dennoch von Grund auf neu gemacht, sei es von Juden oder von Christen, oder mindestens erst in der Zeit der römischen Kaiser fabriziert und dann etwa von Juden oder Christen umgeformt.
Die jüdische Sibylla nun ist erstlich eine unermüdliche Predigerin für den Monotheismus und gegen den Götzendienst. Solange das Judentum Propaganda trieb, was es in späterer alexandrinischer Zeit und noch zu Christi Zeiten ganz gehörig that, in Ägypten, und wo es sonst hinkam, war dafür die Maske der alten Prophetin ein ganz vorzügliches Mittel, denn die Meisten ließen sich aufs Leichteste täuschen. Die Reden gegen den Götzendienst pflegen sich mit der Weissagung der kommenden Gerichte und insonderheit des Endgerichts zu verbinden; die Sibylla macht es, wie es Paulus und andere Prediger des Christentums gemacht haben, nur daß ihr der Geist und der religiöse Gehalt fehlt. Einen weiteren, reichen Stoff bietet ihr die Weltgeschichte seit Noah, natürlich ins Futurum umzusetzen; denn diese Sibylla ist Noahs Enkelin und Schwiegertochter (III, 826). Es scheint indessen auch von diesen Erzählungen ein Teil heidnischen Ursprung zu haben. Denn was B. III, 97 ff. zunächst berichtet wird, über den babylonischen Turm, der auf Befehl Gottes von den Winden umgeblasen wurde, und über Kronos und Titan und ihren Krieg (108 ff.), wird mit genauem Entsprechen von dem heidn. Historiker Alexander Polyhistor (um 80-40 v. Chr.) aus den Orakeln der Sibylla angeführt, nur mit den Abweichungen, daß nicht Gott, sondern die Götter die Winde senden, und daß neben Titan nicht Kronos, sondern der in unseren Sibyllinen überhaupt fehlende Prometheus erscheint. Dasselbe, aber ohne Berufung auf die Sibylla, jedoch mit Kronos und Titan, findet sich in Fragmenten des Abydenos, der (nach neuesten Forschungen erst in nachchristlicher Zeit) eine Geschichte der Assyrier und Meder schrieb. Es gab also mit diesen Inhalt heidnische, nach irgendwelchen Historikern gemachte Sibyllenorakel, und damit steht in Zusammenhang, daß auch Griechen unter den Sibyllen eine assyrische oder babylonische aufzählen, gerade wie die Sibylla des 3. Buchs am Schlusse sagt, daß sie von den hohen Mauern des assyrischen Babylon komme und keineswegs Erythräerin und ebensowenig Tochter der Kirke (d. h. Kymäerin) sei (V. 809 ff.). Dahinter folgt freilich die Stelle, worin sie sich für die Schwiegertochter Noahs ausgiebt (823 ff.), und jene selben Griechen, wie Pausanias, bemerken, daß die Babylonierin nach andern Hebräerin sei; also auch eine jüdische Bearbeitung dieser Sibyllinen, wie sie uns im 3. Buche vorliegt, war in weiteren Kreisen bekannt geworden. Die Untersuchungen Hilgenfelds und Ewalds haben ergeben, daß das 3. Buch, soweit es eine relative Einheit ist, von einem ägyptischen Juden unter dem 7. Ptolemäer, Ptolemaios Physkon, um 140 v. Chr. verfaßt wurde; aber für Originaldichtung wird man es nicht ansehen dürfen, sondern wenigstens zum Teil für Kompilation oder höchstens Überarbeitung älterer Vorlagen. Die Geschichte der Welt und ihrer einander ablösenden Reiche wird darin bis auf die damalige Gegenwart fortgeführt. Über die erste Unterlage, die Dynastie des Kronos, ist noch zu bemerken, daß die Umwandlung der hellenischen Götter in alte Könige nicht nur der Richtung der Zeit entspricht, wo der Euhemerismus, nach Euhemeros von Messana (um 300 v. Chr.) benannt, alle Mythen in dieser Weise auflöste, sondern daß auch Lactantius ziemlich genau dieselbe Geschichte, in aller Breite erzählt, aus Ennius’ Euhemerus anführt, also Euhemeros’ „Heilige Urkunde“ letzte Quelle für alles ist. Die Sibyllisten der Kaiserzeit setzten die Weltgeschichte fort und behandelten namentlich eingehend die einzelnen römischen Kaiser, die hauptsächlich nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen angedeutet werden (s. B. V, 1-51). Man merkt hier zwar deutlich den Juden, welcher den Vespasian brandmarkt und gegen alle Geschichte durch den eignen Sohn der Herrschaft beraubt werden läßt (V. 36. 38 f.); daß aber der Jude nicht alles selbst gemacht, sondern Fremdes umgeformt hat, zeigt sich anderswo deutlich.
Die jüdische Fabrikation oder Aufputzung wurde schließlich von der christlichen abgelöst, indem die auf die jüdische folgende christliche Propaganda den Namen der alten Sibylle immer noch als ein geeignetes Mittel erfand, um Heiden zu imponieren. Schon alte Kirchenväter hatten von den jüdischen Sibyllinen ausgiebigen Gebrauch gemacht, und nun fanden sich auch Leute, welche die Sibylla die evangelische Geschichte im Futurum erzählen ließen oder mit Ἰησοῦς Χριστὸς θεοῦ υἱὸς σωτὴρ σταυρός ein Akrostich bildeten. Adeo nullus mentiendi modus fuit.
Was nun als letztes Ergebnis aller dieser Umformungen und Zudichtungen schließlich auf uns gekommen ist, bildet immerhin eine ganz unverächtliche Masse, mehr als 4000 Hexameter. Aber nur die Masse ist unverächtlich, alles andere minderwertig und natürlich auch das einzige Echtheitssiegel vorhanden, das Ungeputzte und Ungesalbte der Form, in der Überlieferung noch gesteigert, manchmal bis zu völliger Sinnlosigkeit, die an die Vorträge absichtlichen Unsinns erinnert, wie man sie zuweilen in vergnügten Gesellschaften zu hören bekommt. Natürlich ist auch die Verskunst schlecht; es verdient Erwähnung, daß dies auch gebildeten Heiden an den ihnen christlicherseits entgegengehaltenen Sibyllinen auffiel, und daß die Antwort lautete, natürlich habe die Sibylle in richtigen Versen gesprochen, aber so schnell, das die nachschreibenden Tachygraphen (Stenographen) nicht immer richtig hätten folgen können (Suidas). Die Sammlung aber, wie sie vorliegt, ist nichts weiter als ein zufälliges Chaos, noch dazu unvollständig erhalten. In den Titeln werden 15 Bücher geschieden, von denen bis in dieses Jahrhundert hinein nur die acht ersten vorlagen; erst A. Mai hat 1817 und 1828 nach einer Mailänder und zwei vatikanischen Hdschr. zunächst B. XIV, dann XI-XIV herausgegeben, so daß drei Bücher immer noch fehlen. Aufschlüsse über das allmähliche Anwachsen der Sammlung geben die Benutzungen bei den Kirchenvätern, am Meisten die bei Lactantius. Dieser sagt auch ausdrücklich (div. inst. 1, 6,13): „Von den einzelnen Sibyllen (deren er aus Varro zehn kennt), mit Ausnahme der Cumäerin, deren Bücher von den Römern geheim gehalten werden, hat man je ein Buch; da aber diese Bücher [alle nur] den Namen der Sibylle tragen, so meint man, daß sie von einer