Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend

Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021
EV: Propyläen Verlag, 1965
1. Auflage, ISBN 978-3-962818-74-6

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­fünf­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

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»Wen du nicht ver­läs­sest, Ge­ni­us!«

Erstes Buch

Erstes Kapitel

An­fang und Ende des Le­bens, heißt es, sind dem Le­ben­den selbst in Dun­kel gehüllt. Nie­mand kann sein geis­ti­ges Da­sein vom Tage sei­ner Ge­burt da­tie­ren. So bin ich erst am Be­ginn mei­nes zwei­ten Le­bens­jah­res zum Be­wusst­sein er­weckt wor­den und be­wah­re da­von bis heu­te die Erin­ne­rung.

Ich konn­te we­der sit­zen noch lie­gen, weil mein Rücken und mein Ge­säß, wie man mir spä­ter er­klärt hat, zer­prü­gelt und zer­schun­den war. Mein ei­ge­ner Ge­dan­ke und deut­li­cher Licht­blitz aber war: Was soll aus mir wer­den, wenn ich beim Sit­zen und Lie­gen maß­lo­se Schmer­zen habe?

Es ist mei­ne Amme ge­we­sen, die mich so miss­han­delt hat. An die Prü­gel­pro­ze­dur selbst habe ich je­doch kei­ne Erin­ne­rung.

Schmerz also hat mei­nen Geist er­weckt, Lei­den mich zum Be­wusst­sein ge­bracht.

*

Ich saß auf dem Arm der Kin­der­frau und schrie, durch ir­gen­det­was aufs schwers­te be­lei­digt. Die Bra­ve trug mich durch einen dunklen Kor­ri­dor, der auf den Hof uns­res An­we­sens führ­te. Dort brüll­te mich eine Stim­me an, die mich stumm mach­te. Das war mei­ne ers­te Be­geg­nung mit dem preu­ßi­schen Un­ter­of­fi­zier und die zwei­te Pha­se mei­nes Be­wusst­wer­dens.

Der gan­ze Hof lag voll Mi­li­tär.

Ei­nes Ta­ges saß ich, von mei­nem Kin­der­mäd­chen ge­hal­ten, auf dem Fens­ter­brett ei­nes of­fe­nen Fens­ters und guck­te auf den Vor­platz hin­ab. Dort wur­den beim To­ben der Re­gi­ments­mu­sik Re­mon­te­pfer­de zu­ge­rit­ten. Sie stie­gen ker­zen­gra­de in die Luft, sie bock­ten und keil­ten hin­ten aus, be­son­ders die wü­tend ge­führ­ten Schlä­ge der Pau­ker mach­ten sie un­sin­nig.

Es war, wie ich spä­ter er­fah­ren habe, kurz vor der Schlacht bei Kö­nig­grätz.

*

Berüh­run­gen zwi­schen den Sin­nen und Ob­jek­ten, heißt es, ver­an­las­sen die Be­we­gung im Geis­te des Neu­ge­bo­re­nen, die ihn nach al­len Din­gen grei­fen lässt. Dies ge­schieht etwa bis zum drit­ten Le­bens­jahr.

Mit dem vier­ten Jahr ist es in mir be­reits über­ra­schend hell ge­wor­den.

Ei­nes Ta­ges er­schie­nen frem­de Sol­da­ten, Ös­ter­rei­cher, auf der Dorf­stra­ße. Es wa­ren Ge­fan­ge­ne und Ver­wun­de­te, hat­te ich auf­ge­fasst. Der eine trug ein wei­ßes, blu­ti­ges Tuch um den Hals. Ich nahm an, ihm sei der Kopf vom Rump­fe ge­schnit­ten und wer­de dar­an durch das Tuch fest­ge­hal­ten. Ein Ge­fan­ge­ner hieß Boa­ba. Er war Tsche­che und sprach nicht Deutsch.

Um jene Zeit hat­ten sich be­reits die Ge­stal­ten zwei­er Kna­ben, mei­ner Brü­der, in mei­ne See­le ein­ge­prägt. Die ver­wun­de­ten Fein­de in den La­za­ret­ten emp­fin­gen von ih­nen alle mög­li­chen Wohl­ta­ten. Ge­org, der äl­te­re, schrieb von früh bis abends Brie­fe für sie. Von ihm und dem jün­ge­ren Bru­der Carl wur­de täg­lich die Spei­se­kam­mer der Mut­ter aus­ge­plün­dert und der Raub den kran­ken Sol­da­ten zu­ge­steckt.

Ich teil­te mit Bru­der Carl ein Schlaf­zim­mer. Er war, was in die­sem Al­ter viel be­deu­tet, vier und ein hal­b­es Jahr äl­ter als ich. Er hat­te da­mals schon, ohne es zu ah­nen, in mir sei­nen stil­len Beo­b­ach­ter. Ich wun­der­te mich, ich freu­te mich, ich mach­te mich lus­tig über ihn. Heu­te ein selt­sa­mer Um­stand für mich, ein sol­ches Ver­hal­ten in frü­he­s­ter Ju­gend.

Carl war ein großer En­thu­si­ast. Ich war ge­neigt, das für Schwä­che zu hal­ten. Von Zeit zu Zeit wur­de, eben­falls im Jah­re 66, der Durch­marsch der Trup­pen für eine ge­wis­se Nacht­stun­de an­ge­sagt. In sol­chen Fäl­len stell­te sich Carl einen großen Korb, ge­füllt mit Blu­men, un­ter das Bett, um sie aus dem Fens­ter über die Marsch­ko­lon­ne aus­zu­schüt­ten. Ich er­in­ne­re mich, wie er ein­mal völ­lig traum­be­fan­gen nach dem Kor­be griff, als von der Stra­ße der dump­fe Marsch­tritt zu uns her­auf­schall­te, wie er schla­fend, ge­schlos­se­nen Au­ges, da­mit zum Fens­ter lief, den Korb ent­leer­te und, ohne ganz er­wacht zu sein, ins Bett zu­rück tau­mel­te. Ich nahm dies nicht er­schreckt, son­dern ki­chernd als et­was über­aus Ko­mi­sches auf.

*

Na­tür­li­cher­wei­se wa­ren mir um die­se Zeit be­reits Va­ter und Mut­ter und mein Ver­hält­nis zu ih­nen be­wusst ge­wor­den, eben­so mein El­tern­haus, des­sen Na­men ich kann­te wie den des Or­tes, in dem es stand. Wie war die Kennt­nis un­zäh­li­ger klei­ner Be­zie­hun­gen, in de­nen ich zu al­le­dem stand, in mich ge­kom­men? Ich hät­te es da­mals nicht sa­gen kön­nen und kann es auch heu­te nicht. Die­se Mut­ter, die­ser Va­ter, die­ses Haus, sei­ne Räu­me und sei­ne Um­ge­bung, die­ser gan­ze klei­ne Ort, Ober-Salz­brunn ge­nannt, wa­ren da wie von Ewig­keit. Und eben der Va­ter, die Mut­ter, das Haus, der Ort wa­ren al­les in al­lem für mich: es gab nur das, es gab nichts an­de­res.

Wai­sen­kin­der le­ben ohne Müt­ter, sie le­ben und ent­wi­ckeln sich. Die See­len­ein­heit, die mich mit mei­ner Mut­ter ver­band, mach­te mir das un­be­greif­lich. Durch das Herz mei­ner Mut­ter, durch ihre Lie­be bin ich im Ver­lau­fe des ers­ten De­zen­ni­ums erst so­zu­sa­gen aus­ge­tra­gen wor­den. Mein Va­ter war der mäch­ti­ge Gott, in des­sen Schutz wir bei­de stan­den. Nichts in der Welt konn­te wi­der ihn et­was aus­rich­ten. Wie stolz, wie dank­bar mach­te mich das, wie ge­noss ich das Glück ei­nes sol­chen Schut­zes im Ge­fühl glück­se­li­ger Si­cher­heit. Aber eine in­ni­ge, eine tren­nungs­lo­se Be­zie­hung und Ver­bin­dung be­stand zu mei­nem Va­ter nicht.

Wie kann man in die so über­aus kom­pli­zier­ten Ver­hält­nis­se ei­ner Fa­mi­lie, ei­nes weit­läu­fi­gen An­we­sens, ei­ner Ort­schaft mit drei­ein­halb Jah­ren, kom­mend aus dem Nichts, wis­send hin­ein­ge­wach­sen sein? Ent­we­der auf Grund ei­ner geis­ti­gen Leis­tung oh­ne­glei­chen oder ei­ner Erb­schafts­s­um­me, die mit­ge­bo­ren ist.

*

Salz­brunn, wuss­te ich, ist ein Ba­de­ort. Hier quillt ein Brun­nen, der Kran­ke ge­sund ma­chen kann. Des­halb kom­men im Som­mer so vie­le hier­her. Sie wer­den in den Häu­sern der Orts­an­ge­ses­se­nen un­ter­ge­bracht. Auch in un­serm Haus, das der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne ist.

Aber was ist ein Ge­sun­der, was ist ein Kran­ker? Wie­so und wo­her wuss­te ich das? Wie­so wuss­te ich tau­sen­de, aber­tau­sen­de Din­ge, nach de­nen ich kaum ir­gend­je­man­den ge­fragt hat­te? Die un­end­li­che Viel­falt der Er­schei­nun­gen schenk­te sich mir mit Leich­tig­keit, es war al­lent­hal­ben ein hei­te­res Auf­neh­men.

Ich hat­te am Da­sein un­un­ter­bro­chen lei­den­schaft­li­che Freu­de wie an ei­ner über alle Be­grif­fe herr­li­chen Fest­lich­keit. Ich sträub­te mich, wenn ich sie abends durch den Schlaf un­ter­bre­chen soll­te. Im Ein­schla­fen pack­te mich Freu­de und Un­ge­duld in Ge­dan­ken an den kom­men­den Mor­gen.

Frei­lich, das Haus war trau­lich und ne­st­ar­tig wohl­tu­end. Aber das Schöns­te dar­an wa­ren die Fluglö­cher. Ich ge­noss sie vollauf, als ich ei­ner schnel­len und selbst­stän­dig frei­en Be­we­gung fä­hig ge­wor­den war. Ich stürz­te des Mor­gens mit ei­nem Sprung und Freu­den­schrei ins Freie; manch­mal wur­de der Schrei nicht laut, son­dern lag nur im über­schäu­men­den Ge­fühl mei­nes gan­zen We­sens. Al­les in der Na­tur schenk­te sich mir: der Gras­halm, die Blu­me, der Baum, der Strauch, die Ber­be­rit­ze, die rote Mehl­bee­re, der Holz­ap­fel, al­les und al­les wur­de mir da­mals zur Kost­bar­keit. Da­bei hat­ten sich be­reits Hö­he­punk­te des Er­le­bens mei­nem Geis­te un­ver­lier­bar ein­ge­prägt. Das He­rum­krab­beln auf ei­nem son­nen­be­schie­ne­nen Ab­hang mit gel­bem Laub und Le­ber­blüm­chen un­ter kah­len Bäu­men war ein sol­cher Hö­he­punkt. Ich hät­te ihn gern zur Ewig­keit aus­ge­dehnt, so wunsch­los, so pa­ra­die­sisch fühl­te ich mich. Aber er blieb eine Ein­ma­lig­keit, ich such­te ver­ge­bens, ihn zu er­neu­ern.

Ein­mal, ich kann nicht über zwei Jah­re alt ge­we­sen sein, über­kam mich eine an Verzweif­lung gren­zen­de Trau­rig­keit, die sich in un­auf­halt­sa­mem Wei­nen äu­ßer­te und die mei­ne Um­ge­bung sich nicht zu er­klä­ren ver­moch­te. Die Erin­ne­rung auch dar­an be­fes­tig­te sich in mir. Durch eine mit mil­chi­gem Wie­sen­schaum­kraut durch­setz­te Wie­se an­ge­lockt, be­gab ich mich an das Blu­men­pflücken. Im­mer tiefer und tiefer, mich ganz ver­ges­send, ge­riet ich in die Wie­se hin­ein. Ich weiß nicht, wie­so man mich ohne Auf­sicht ge­las­sen hat­te, so­dass ich wohl eine Stun­de und län­ger mei­ner ver­träum­ten Be­schäf­ti­gung nach­ge­hen konn­te. Ein Berg von Car­da­mi­ne pra­ten­sis1 häuf­te sich. Ich hat­te ihn un­er­müd­lich flei­ßig am Ran­de der Wie­se zu­sam­men­ge­tra­gen.

Und nun auf ein­mal über­kam mich die­se all­ge­mei­ne, ich möch­te fast sa­gen kos­mi­sche Trau­rig­keit. Ich hat­te alle die­se Blü­ten, die da tot und welk über­ein­an­der la­gen, tot ge­macht. Wie­so aber konn­te ich das ge­tan ha­ben? War ich mir doch be­wusst, dass ich aus Lie­be zu ih­nen ge­han­delt hat­te und nicht in der Ab­sicht, ihr Le­ben zu zer­stö­ren oder auch nur ih­nen wehe zu tun. Ich woll­te mir eben doch nur ihre Schön­heit an­eig­nen.

*

Der Be­fehl ei­nes mensch­li­chen Got­tes war mei­nes Va­ters Ge­bot.

Eine Mut­ter wird ihre Klei­nen täg­lich vie­le Male ver­geb­lich mit den Wor­ten er­mah­nen: »Bett­le nicht!« Die ers­ten Wor­te der Kleins­ten sind: »Ha­ben, ha­ben!« Mein Va­ter aber woll­te un­be­dingt ver­mie­den se­hen, dass un­se­re Be­gehr­lich­keit etwa gar den Kur­gäs­ten zur Last fie­le. Ich, ein bes­se­rer klei­ner Adam, hielt mich mit be­ben­dem Ge­hor­sam an sein Bet­tel­ver­bot. Ei­nes Ta­ges kam je­doch ei­nem al­ten Kur­gast, Öko­no­mie­rat Huhn, der Ge­dan­ke, mich mit ei­nem Spiel­zeug zu be­schen­ken, das ich mir sel­ber beim Händ­ler aus­su­chen soll­te. Ich wähl­te einen herr­li­chen blau­en Roll­wa­gen mit Fäs­sern dar­auf und vier Pfer­den da­vor, drück­te das Rie­sen­ge­schenk mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men an mei­ne Brust und ver­moch­te es kaum fort­zu­schlep­pen. Un­ter­wegs nach Hau­se fiel mir des Va­ters Ver­bot aufs Herz. Zwar ge­bet­telt hat­te ich nicht, aber man konn­te es leicht vor­aus­set­zen, und schließ­lich soll­ten wir über­haupt von Frem­den nichts an­neh­men. Bei die­ser Erin­ne­rung schrie ich so­fort aus Lei­bes­kräf­ten, als ob mich das größ­te Un­glück be­trof­fen hät­te. Eine sol­che tra­gi­ko­mi­sche Mi­schung des Ge­fühls in der Brust ei­nes Kin­des ist viel­leicht eine Sel­ten­heit. Un­ge­heu­re Freu­de über den völ­lig mär­chen­haf­ten Neu­be­sitz ward von Ent­set­zen über den Bruch des Ge­hor­sams über­wo­gen. Un­un­ter­bro­chen schrei­end trat ich mit mei­nem Schatz ins Haus und vor mei­ne ver­blüff­ten El­tern hin, die den schein­ba­ren Wi­der­sinn mei­nes Be­tra­gens nicht durch­schau­en konn­ten.

*

Den gar­ten­mä­ßi­gen Aus­bau der Kur­pro­me­na­de nann­te man An­la­ge. In die­se An­la­gen führ­te mich täg­lich mei­ne Kin­der­frau, wo­bei uns ein klei­nes Hünd­chen be­glei­te­te. Ich lieb­te es, wie na­tür­lich, sehr. Noch eben hat­te ich mit ihm schön­ge­tan, als es in ein Bos­kett schlüpf­te. Völ­lig ver­än­dert kam es her­aus. Mit hel­ler Keh­le und lan­ger Zun­ge Laut ge­bend, um­kreis­te es ra­send in wei­tem Bo­gen mich und die Kin­der­frau, die mich auf die Arme nahm und das Haus zu er­rei­chen such­te. Das Hünd­chen aber in sei­ner krei­sen­den Ra­se­rei be­hielt uns als Mit­tel­punkt. Al­les wur­de auf den ge­fähr­li­chen Vor­gang auf­merk­sam, wer konn­te, floh, auch mein Va­ter wur­de be­nach­rich­tigt und zog uns schließ­lich durch eine Glas­tür ins in­ne­re Haus, wo wir vor dem wahr­schein­lich von Toll­wut be­fal­le­nen Tier si­cher wa­ren.

Es war uns bis auf den Haus­flur nach­ge­folgt, wo man es glück­li­cher­wei­se ab­schlie­ßen und also un­schäd­lich ma­chen konn­te. Ich sah durch die Schei­ben sei­nen fort­ge­setz­ten, wü­ten­den To­des­lauf, im­mer im Kreis, über Stüh­le, Ti­sche und Fens­ter­bret­ter hin­weg, ich weiß nicht wie lan­ge, eh man es durch den Tod er­lös­te.

Ich bin die­sen tie­fen und grau­si­gen Ein­druck bis heut nicht los­ge­wor­den. Und im­mer, wenn spä­ter ei­ner mei­ner Hun­de in ei­nem Bos­kett ver­schwun­den ist, wur­de ich un­ru­hig und habe die Zwangs­vor­stel­lung zu be­kämp­fen ge­habt, er wer­de schäu­mend und ra­send her­aus­stür­zen.

*

Ich weiß nicht, wann mir der im­mer­wäh­ren­de Wech­sel von Tag und Nacht, ihre Ge­gen­sätz­lich­keit im Be­reich der Sin­ne, des Emp­fin­dens und der Vor­stel­lung deut­lich ins Be­wusst­sein ge­drun­gen ist und wann sie mir zu be­wus­s­ter Ge­wohn­heit wur­de. Nicht der Tag, aber der Abend und die Nacht so­wie al­les Dun­kel wa­ren mit Furcht ver­knüpft. Ein sol­cher Aus­druck der Furcht war schon das Abend­ge­bet, das mei­ne Mut­ter mich täg­lich im Bett spre­chen ließ:


Müde bin ich, geh’ zur Ruh’,
schlie­ße bei­de Äug­lein zu.
Va­ter, lass die Au­gen dein
über mei­nem Bet­te sein!
Alle, die mir sind ver­wandt,
Gott, lass ruhn in dei­ner Hand …

und so fort.

*

Die Furcht des Kin­des ist Ge­s­pens­ter­furcht. Sein Tag kennt sie nicht, aber nachts, wenn es wach oder halb­wach ist, um­ge­ben es über­all Dä­mo­nen. Da sie, wor­an das Kind nicht zwei­felt, bös­ar­tig sind, gibt man dem ge­ängs­tig­ten Kna­ben, dem furcht­sa­men Mäd­chen die Vor­stel­lung ei­nes Schutz­en­gels. Man sprach auch mir von mei­nem Schutz­en­gel, aber er wur­de mir nie über­zeu­gend ge­gen­wär­tig. Er gab mir nie ein Ge­fühl der Ge­bor­gen­heit etwa in dem Gra­de, wie mir die Geis­ter der Fins­ter­nis Furcht mach­ten.

Eine Zeit lang teil­te ich mit den El­tern das Schlaf­zim­mer. Wenn ich, was vor­kam, schlaf­los lag und beim Schei­ne des Nacht­licht­chens Va­ter und Mut­ter be­wusst­los schnar­chend in ih­ren Bet­ten sah, wa­ren sie mir wie at­men­de Leich­na­me. Dass sie vom Tode wie­der er­wa­chen wür­den, ja dass ich sie we­cken konn­te, wuss­te ich. Aber eben­so war mir be­kannt, dass man dies nicht darf, weil je­mand, der wei­ter­le­ben will, all­nächt­lich die­sen Tod er­lei­den muss. Und so muss­te ich denn das Ge­fühl ei­ner gren­zen­lo­sen Ver­las­sen­heit aus­kos­ten.

Wenn das Um und An der Nacht mir pein­lich war, so sah ich den Schlaf an sich als eine stö­ren­de Un­ter­bre­chung des Ta­ges an und schüt­tel­te ihn des Mor­gens mit dem Glücks­ge­fühl des Be­frei­ten wie eine ge­spreng­te Fes­sel ab. Nun konn­te ich wie­der in himm­li­scher Be­täu­bung rast­los in der Son­ne um­her­flat­tern und mich dem über­all Se­lig-Neu­en, den Genüs­sen des Ge­sichts, des Ge­hörs, des Ge­ruchs, des Ge­tasts und des Ge­schmacks hin­ge­ben. Ich konn­te über­all um­her­fah­ren, su­chend und fin­dend, al­les um und um wen­dend, von der fro­hen Be­zau­be­rung mei­nes Stau­nens er­füllt.

Vom Mor­gen ge­lang­te ich so im Rausch des Spiels bis zum Abend hin­auf, von dem man mich, und das war die gute Sei­te der Nacht, be­wusst­los wie in ei­nem laut­lo­sen Lift zum Mor­gen her­un­ter­ließ, wo das Spiel von Neu­em be­gin­nen konn­te.

*

An mei­nem Ge­burts­ta­ge brann­ten vier Lich­ter um den Ku­chen, in der Mit­te das län­ge­re Le­bens­licht. Die Fei­er wur­de all­jähr­lich mit Ge­schen­ken, Ku­chen, Lich­tern und Blu­men ge­wis­sen­haft ein­ge­hal­ten. Der Ge­burts­tag fiel glück­li­cher­wei­se in den Mo­nat No­vem­ber, in die stil­le, dem Fa­mi­li­en­le­ben ge­hö­ren­de Win­ter­zeit. Im tur­bu­len­ten Gäs­te­be­trieb des Som­mers wür­de man sei­ner kaum oder nur ne­ben­her ge­dacht ha­ben. So war es ein Tag der Freu­de, aber auch der Ein­kehr für mich, da die Mut­ter mit erns­ten Re­den des mensch­li­chen Wach­sens und Wer­dens und des mensch­li­chen Schick­sals im gan­zen ge­dach­te.

Über Spiel und Spiel­zeug ist viel ge­sagt und ge­schrie­ben wor­den. Wer den Spiel­trieb kennt, weiß, wel­cher Zau­ber ihm in­ne­wohnt. Ech­tes Spiel­zeug kann so­gar im Er­wach­se­nen, be­son­ders in Ge­gen­wart von Kin­dern, das Kind er­we­cken. Aus dem Spiel­trieb er­wächst die Kunst. Der Kna­be vom vier­ten, wenn er das Schau­kel­pferd hin­ter sich ge­las­sen hat, bis zum ach­ten, neun­ten Jahr ist ein Uni­ver­sal­künst­ler. Er hat mit Bau­klöt­zen Dome auf­ge­führt, er hat sich ge­übt mit sei­nem Tusch­kas­ten, er hat al­ler­lei Tier­ge­bil­de aus Wachs mo­del­liert, er hat sich zeich­ne­risch an den Men­schen ge­wagt. Vor al­lem aber ist er ein Schau­spie­ler ohne Ei­tel­keit, ei­ner, der kei­nen Zuschau­er braucht, wenn er sich als kom­man­die­ren­der Ge­ne­ral, als mu­ti­ges Pferd oder gar als Lo­ko­mo­ti­ve ge­bär­det.

Es ist Nei­gung, nie­mals Ge­bot, nie­mals Pf­licht, was zum Spie­le treibt. Das Kind ist sein ei­ge­ner Leh­rer und Schü­ler. Ein Ver­hält­nis von sol­cher Har­mo­nie und Frucht­bar­keit wird ihm spä­ter schwer­lich wie­der zu­teil wer­den. Es fühlt kein Ziel, es fühlt kei­nen Zweck. Al­les ist, sei es ver­son­nen oder wild, im­mer­wäh­ren­de Hei­ter­keit.

Wohl scheint die Na­tur da­bei einen Zweck zu ver­fol­gen: aber selbst die Er­wach­se­nen se­hen ihr Wal­ten im Kin­de meis­tens nicht. Des­halb hal­ten sie sich für ver­pflich­tet, schon früh und bei ge­ge­be­ner Ge­le­gen­heit, wie mei­ne Mut­ter an mei­nen Ge­burts­ta­gen tat, auf den kom­men­den Ernst des Le­bens in Ge­stalt des Schul­be­suchs hin­zu­wei­sen. Ich woll­te lan­ge nichts wis­sen da­von, end­lich aber wur­de ich nach­denk­lich und sah die Un­schuld mei­nes Da­hin­le­bens durch den Ge­dan­ken der Mut­ter ge­stört, dass die­ses so glück­li­che Le­ben ein nutz­lo­ses wäre und ab­ge­löst wer­den müs­se von ei­nem nütz­li­chen. Sei­ne Be­rech­ti­gung habe es gleich­sam nur als Gna­den­frist. Über­schrei­te es die­se Frist, so sei der Mensch, der es wei­ter­füh­re, ein Tau­ge­nichts.

Nun, ein Foh­len, das einen Was­ser­guss er­hält, schüt­telt sich und ga­lop­piert dann dop­pelt schnell und ver­gnügt in die Kop­pel.

*

Wenn ich, etwa als Vier­jäh­ri­ger, mit auf­ge­stütz­ten Ell­bo­gen in ei­nem der Front­fens­ter mei­nes El­tern­hau­ses lag, wur­de mein Blick bei kla­rem Wet­ter durch einen schön­ge­form­ten Berg, den Hoch­wald, an­ge­zo­gen. Er war dann nicht nur die Gren­ze mei­ner Welt, son­dern der gan­zen Welt. Und ich setz­te mit stil­ler, zwei­fels­frei­er Ge­wiss­heit vor­aus, man kön­ne, auf sei­ne Spit­ze ge­langt, in den Him­mel stei­gen. Oft und oft, wenn wie­der und wie­der die träu­me­ri­sche Stim­mung im An­ge­sicht des hei­li­gen Ber­ges über mich kam, habe ich die­sen Fall er­wo­gen und alle mög­li­chen Ar­ten, in de­nen der Plan aus­zu­füh­ren sei. Den Herr­gott sel­ber hat­te ich auf ei­nem dunklen Trep­pen­ab­satz un­se­res Hau­ses in­zwi­schen ken­nen­ge­lernt, wo ein Ehr­furcht ge­bie­ten­des gold­ge­rahm­tes Bild des weiß­ge­lock­ten, bär­ti­gen Grei­ses die Wand zier­te. Ich hat­te ihn zum Er­stau­nen der Mei­nen so­gleich er­kannt.

*

Wa­ren die Lich­ter mei­nes Ge­burts­ta­ges er­lo­schen, so tauch­te gleich eine an­de­re Bal­lung von Licht, eine zu­nächst nur in­ner­li­che Son­ne auf. Die­se Son­ne war Weih­nach­ten. Un­ter der Licht­flut die­ses Fes­tes hat sich wohl der Fa­mi­li­en­kreis mir am frü­he­s­ten und deut­lichs­ten ein­ge­prägt: mein Va­ter, der einen mar­tia­li­schen Schnurr­bart und Bril­len trug, mei­ne Mut­ter mit ih­rem Wel­len­schei­tel, mein Bru­der Carl, Jo­han­na, die Schwes­ter. An mei­nen äl­tes­ten Bru­der Ge­org habe ich aus die­ser Früh­zeit kei­ne Erin­ne­rung.

Uns Deut­schen kann der vol­le Be­griff ei­nes Fes­tes nur noch an die­sem Fes­te klar­wer­den. Es er­hebt sich aus un­ab­seh­ba­ren Tie­fen der Ver­gan­gen­heit, und sei­ne le­ben­di­ge, ober­ir­di­sche Tra­di­ti­on wird von Ge­ne­ra­ti­on auf Ge­ne­ra­ti­on in der glei­chen Emp­fäng­nis ent­ge­gen­ge­nom­men.

Die Freu­de die­ses Fes­tes war nicht die un­mit­tel­ba­re ge­sun­de, ir­di­sche, son­dern sie war eine mys­ti­sche. Sie er­hob sich in über­ir­di­scher Stei­ge­rung. Über ihr stand eine im­mer­grü­ne Tan­ne, ein Na­del­baum, aus des­sen Zwei­gen Ker­zen em­por­wuch­sen und ihn zu ei­ner Py­ra­mi­de von Flämm­chen mach­ten. Der Baum war ge­sun­de Wald­na­tur, die Ker­zen auf ihm und er als ihr Trä­ger Mys­te­ri­um.


O Tan­nen­baum, o Tan­nen­baum,
wie grün sind dei­ne Blät­ter!
Du grünst nicht nur zur Som­mer­zeit,
nein, auch im Win­ter, wenn es schneit.
O Tan­nen­baum, o Tan­nen­baum,
wie grün sind dei­ne Blät­ter!

Wel­che wi­der­sin­ni­ge Ein­falt be­seelt die­ses klei­ne Lied, und wel­che Tie­fen des Ent­zückens wer­den durch es im Ge­müt des Kin­des aus­ge­löst.

Ge­schen­ke, Ga­ben brach­te wohl das gan­ze Jahr hie und da, aber sie wa­ren nicht von dem Zau­ber be­rührt und er­füllt wie die Be­sche­rung un­term Weih­nachts­baum. »Vom Him­mel hoch, da kom­m’ ich her.« Nicht die El­tern hat­ten uns mit Ge­schen­ken be­glückt, son­dern sie wa­ren dies­mal wirk­lich vom Him­mel ge­kom­men. Der Va­ter, die Mut­ter wa­ren Treu­hän­der, die sie uns über­mit­telt hat­ten.

Da­rum war die Freu­de, die Span­nung zu Weih­nach­ten über­groß, mit­un­ter so groß, dass mein Or­ga­nis­mus sich in der Fol­ge durch eine kur­ze Krank­heit wie­der­her­stel­len muss­te.

Trotz­dem stell­te man so­gleich Be­rech­nun­gen über das kom­men­de Weih­nach­ten an, über die Mo­na­te, Wo­chen, Tage, die man bis da­hin noch zu be­ste­hen hat­te.


  1. Wie­sen­schaum­kraut  <<<

Zweites Kapitel

Mein El­tern­haus hat­te zwei Da­seins­for­men, die so von­ein­an­der ver­schie­den wa­ren wie voll und leer, Wär­me und Käl­te, Lärm und Stil­le, Le­ben und Tod. Da­mit ist nur das Ge­bäu­de, der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne ge­meint, der dem Ver­kehr nur im Som­mer ge­öff­net war und im Win­ter ge­schlos­sen blieb.

Ende April be­zog ihn zu­nächst ein recht zahl­rei­ches Per­so­nal: Kö­che, Kü­chen­mäd­chen, Haus­mam­sell, so­ge­nann­te Schleu­ße­rin­nen, Ober­kell­ner, Kell­ner und ei­ni­ge Haus­die­ner. Dann füll­ten sich bald alle Zim­mer mit Kur­gäs­ten.

Für den Gast­hof also war das die le­ben­di­ge, der Win­ter die tote Zeit, für die Fa­mi­lie da­ge­gen war der Som­mer die tote, der Win­ter die le­ben­di­ge. Va­ter und Mut­ter ge­hör­ten som­mers der Öf­fent­lich­keit, sie wa­ren den Win­ter über Pri­vat­leu­te.

Die zwei­te Da­seins­form mei­nes Ge­burts­hau­ses ver­band sich am tiefs­ten mit mei­nem We­sen und präg­te es in frü­hen, ent­schei­den­den Zei­ten aus. In die­ser stil­len, lee­ren Ver­fas­sung ge­hör­te das Haus uns, im Som­mer war es uns gänz­lich ent­zo­gen und uns Kin­dern auch Va­ter und Mut­ter. Sie ge­hör­ten mit al­lem, in al­lem der Öf­fent­lich­keit.

Die Quel­le, der Brun­nen war ei­nes der ewi­gen The­men am win­ter­li­chen Fa­mi­li­en­tisch. In ei­nem Um­kreis, des­sen Ra­di­us un­ge­fähr hun­dert Me­ter be­tra­gen moch­te, tra­ten die Heil­quel­len Ober-Salz­brunns, also die Salz­brun­nen Salz­brunns, ans Ta­ges­licht. Als der ers­te der Ober­brun­nen. Ge­gen­über der Fassa­de uns­res Gast­hofs lag der präch­ti­ge Saal, den man über sei­ner Mün­dung er­rich­tet hat­te. An der Salz­bach ver­bor­gen, zu er­rei­chen auf ei­nem na­hen, schwan­ken­den Bret­ter­steg, lag der Mühl­brun­nen. Er wur­de zu Kur­zwe­cken nicht be­nutzt und war der Be­völ­ke­rung frei­ge­ge­ben. Und, o Wun­der! die drit­te der Quel­len ge­hör­te uns. Ihr um­mau­er­ter Spie­gel lag in­ner­halb der Fun­da­men­te uns­res Gast­hofs. An Heil­kraft dem welt­be­kann­ten Ober­brun­nen gleich, war doch ihr Da­sein da­mals un­be­ach­tet und ruhm­los. Ihr Was­ser wur­de durch eine Pum­pe aus Guß­ei­sen von den gleich­gül­ti­gen Fäus­ten der Kut­scher und Knech­te für den Be­darf der Pfer­de­stäl­le her­auf­ge­holt. Auch wur­de der Ab­wasch da­von be­strit­ten. Noch im Be­reich mei­ner Kna­ben­jah­re ist dann eine vier­te Quel­le auf un­serm Nach­bar­grund­stück ent­deckt wor­den.

*

Ich dan­ke es mei­nem Va­ter, dass er mir, dem Flüg­ge­ge­wor­de­nen, we­der einen Fa­den ans Bein ge­bun­den, noch mich ei­nem Auf­pas­ser, ei­nem Prä­zep­tor, über­ant­wor­tet hat. Un­be­hin­dert durf­te ich aus­schwär­men. Das Ers­te und Nächs­te, etwa im spä­ten Herbst, war ein aus­ge­stor­be­ner tem­pel­ar­ti­ger Bau, der som­mers als Wan­del­hal­le diente. Dort freu­te ich mich an dem Hal­len mei­ner Trit­te, wenn ich aus Freu­de an der Wie­der­ge­burt nach dem Schlaf auf und ab rann­te. Die­se of­fe­ne do­ri­sche Archi­tek­tur, schlecht­hin die Ko­lon­na­de ge­nannt, ge­währ­te mir auch bei schlech­tem Wet­ter freie Be­we­gungs­mög­lich­keit, wie som­mers bei plötz­li­chen Re­gen­güs­sen den Kur­gäs­ten. Ei­nen bes­se­ren, schö­ne­ren und auch ge­sün­de­ren Spiel­platz als die­sen, der mir zu­dem ganz al­lein ge­hör­te, gab es nicht.

Vom Spiel lief ich in den an­sto­ßen­den Brun­nen­saal hin­ab, der im­mer of­fen war, und ließ mir an ei­ner lan­gen Stan­ge von ei­nem der Brun­nen­schöp­fer ein Glas in die kreis­rund um­mau­er­te Tie­fe tau­chen, den pri­ckeln­den Brun­nen schöp­fen und her­auf­ho­len. Sie ta­ten es im­mer mit Freund­lich­keit und Be­reit­wil­lig­keit.

Mit der Zeit erst be­griff ich, dass ich ei­ni­ger­ma­ßen be­vor­zugt war.

Der Va­ter mei­ner Mut­ter war obers­ter Lei­ter des Ba­de­orts. Er führ­te den Ti­tel Brun­nen­in­spek­tor, so­dass auch von die­ser Sei­te der Be­griff des Brun­nens sei­ne schick­sal­haf­te Be­deu­tung in un­serm Hau­se be­haup­te­te. Üb­ri­gens hieß ein herr­schaft­li­ches Ge­bäu­de in den Pro­me­na­den der Brun­nen­hof, ein Haus, das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te.

Der Platz zwi­schen dem Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne und der Ko­lon­na­de, ge­nannt Eli­sen­hal­le, war Zen­trum des Orts. Er wur­de au­ßer­dem noch be­grenzt vom Ba­de­ver­wal­tungs­ge­bäu­de, in dem mein Groß­va­ter Fer­di­nand Straeh­ler, eben der Brun­nen­in­spek­tor, am­tier­te. Auf die­sem Plat­ze hat­ten sich einst mei­ne mi­li­tä­ri­schen Ein­drücke we­sent­lich zu­sam­men­ge­drängt: der Ös­ter­rei­cher mit dem blu­ti­gen Tuch um den Hals, Ge­fan­ge­ne, ras­ten­de Trup­pen und ihre zu­sam­men­ge­stell­ten Ge­weh­re. Hier han­del­ten mei­ne Brü­der ge­gen al­ler­lei Tau­sch­ob­jek­te Kom­miss­brot ein, von hier aus führ­te der gra­de Weg bis zu ei­nem Aus­flugs­ort, der Schwei­ze­rei, den mei­ne Brü­der im Jah­re 66 un­zäh­li­ge Male zu­rück­leg­ten, um, wie schon ge­sagt, jene Ge­fan­ge­nen und Ver­wun­de­ten zu be­treu­en, die man dort­hin ge­legt hat­te. Hier, ne­ben der brei­ten Freitrep­pe, vor dem Gie­bel der Eli­sen­hal­le, vor und un­ter den Ba­sen der do­ri­schen Säu­len, saß auch im Win­ter eine alte knus­per­he­xen­ar­ti­ge Ku­chen­frau, die aus vie­len Grün­den, auch dem der un­um­gäng­li­chen kind­li­chen Nä­sche­rei, nicht aus mei­ner Kind­heit hin­weg­zu­den­ken ist. Von die­sem Platz trat man in die Kur­pro­me­na­den und in den Brun­nen­saal, hier mün­de­te der so­ge­nann­te Pap­pel­berg, eine stei­gen­de Pap­pel­al­lee, die nach Wil­helms­höh führ­te, ei­nem ro­man­ti­schen Burg­bau, dem haupt­säch­lichs­ten Aus­flugs­ort.

*

Der durch Jah­re vor­aus­ge­wor­fe­ne Schat­ten des ers­ten Schul­tags ver­dich­te­te sich. Ei­nes Ta­ges nach Weih­nach­ten sag­te mei­ne Mut­ter zu mir: »Wenn das Früh­jahr kommt, musst du in die Schu­le. Ein erns­ter Schritt, der ge­tan wer­den muss. Du musst ein­mal still­sit­zen ler­nen. Und über­haupt musst du ler­nen und ler­nen, weil auf an­de­re Wei­se nur ein Tau­ge­nichts aus dir wer­den kann.«

Also du musst! du musst! du musst!

Ich war sehr be­stürzt, als mir die­se Er­öff­nung ge­macht wur­de. Dass ich erst et­was wer­den sol­le, da ich doch et­was war, be­griff ich nicht. War ich doch völ­lig eins mit mir! Nur im­mer so wei­ter zu sein und zu le­ben war der ein­zi­ge, noch fast un­be­wuss­te Wunsch, in dem ich be­ruh­te. Frei­heit, Stil­le, Freu­de, Selbst­herr­lich­keit: warum soll­te man et­was an­de­res wol­len? Die klei­nen Gän­ge­lun­gen der El­tern stör­ten die­sen Zu­stand nicht. Woll­te man mir die­ses Le­ben weg­neh­men und da­für ein Sol­len und Müs­sen set­zen? Woll­te man mich ver­sto­ßen aus ei­ner so voll­kom­men schö­nen, mir so voll­kom­men an­ge­mes­se­nen Da­seins­form?

Ich be­griff die­se Sa­che im Grun­de nicht.

Et­was auf an­de­re Wei­se zu ler­nen als die, wel­che mir halb be­wusst ge­läu­fig war, hat­te ich we­der Lust, noch fand ich es zweck­mä­ßig. War ich doch durch und durch Ener­gie und Hei­ter­keit. Ich be­herrsch­te den Dia­lekt der Stra­ße, so wie ich das Hoch­deutsch der El­tern be­herrsch­te. Erst heu­te weiß ich, welch eine gi­gan­ti­sche Geis­tes­leis­tung hier­in be­schlos­sen ist und dass sie, ge­schwei­ge von ei­nem Kin­de, nicht zu er­mes­sen ist. Spie­lend und ohne be­wusst ge­lernt zu ha­ben, han­tier­te ich mit al­len Wor­ten und Be­grif­fen ei­nes um­fas­sen­den Le­xi­kons und der da­zu­ge­hö­ri­gen Vor­stel­lungs­welt.

Ob ich mich nicht wirk­lich viel­leicht ohne Schu­le schnel­ler, bes­ser und rei­cher ent­wi­ckelt hät­te?

Vi­el­leicht aber war das Schlimms­te ein See­len­schmerz, den ich emp­fand. Mei­ne El­tern muss­ten doch wis­sen, was sie mir an­ta­ten. Ich hat­te an ihre un­end­li­che, ufer­lo­se Lie­be ge­glaubt, und nun lie­fer­ten sie mich an et­was aus, ein Frem­des, das mir Grau­en er­zeug­te. Glich das nicht ei­nem wirk­li­chen Auss­to­ßen? Sie ga­ben zu, sie be­für­wor­te­ten es, dass man mich in ein Zim­mer sperr­te, mich, der nur in frei­er Luft und frei­er Be­we­gung zu le­ben fä­hig war, – dass man mich ei­nem bö­sen al­ten Mann aus­lie­fer­te, von dem man mir er­zählt hat­te, was ich spä­ter ge­nug­sam er­leb­te: dass er die Kin­der mit der Hand ins Ge­sicht, mit dem Stock auf die Hand­tel­ler oder, so­dass rote Schwie­len zu­rück­b­lie­ben, auf den ent­blö­ßten Hin­tern schlug!

*

Der ers­te Schul­tag kam her­an. Der ers­te Gang zur Schu­le, den ich, an wes­sen Hand weiß ich nicht mehr, un­ter Furcht und Za­gen zu­rück­leg­te. Es schi­en mir da­mals ein un­end­lich lan­ger Weg, und so war ich denn recht er­staunt, als ich ein hal­b­es Jahr­hun­dert spä­ter das alte Schul­haus such­te und nur des­halb nicht fand, weil es aus dem Fens­ter der al­ten Preu­ßi­schen Kro­ne so­zu­sa­gen mit der Hand zu grei­fen war.

Un­ter­wegs gab es Verzweif­lungs­auf­trit­te, die nach vie­lem gu­tem Zu­re­den mei­ner Beglei­te­rin, und nach­dem sie mich an der Schul­tür un­ter den dort ver­sam­mel­ten Kin­dern al­lein ge­las­sen hat­te, dump­fe Er­ge­bung ab­lös­te.

Es gab eine kur­ze War­te­zeit, in der sich die klei­nen Lei­dens­ge­nos­sen tas­tend mit­ein­an­der be­kannt mach­ten. Im Haus­flur der Schu­le zu­sam­men­ge­pfercht, pirsch­te sich ein klei­ner Pix an mich her­an und konn­te sich gar nicht ge­nug tun in Ver­su­chen, die Angst zu stei­gern, die er bei mir mit Recht vor­aus­setz­te. Die­se klei­ne schmut­zi­ge Mil­be und Rotz­na­se hat­te mich zum Op­fer ih­res sa­dis­ti­schen In­stink­tes aus­ge­wählt. Sie schil­der­te mir das Schul­ver­fah­ren, das sie eben­so­we­nig kann­te wie ich, in­dem sie den Leh­rer als einen Fol­ter­knecht dar­stell­te und sich an dem gläu­bi­gen Aus­druck mei­nes angst­voll ver­wein­ten Ge­sichts wei­de­te. »Er haut, wenn du sprichst«, sag­te der klei­ne Lau­se­kerl. »Er haut, wenn du schweigst, wenn du nie­sen musst. Er haut dich, wenn du die Nase wischst. Wenn er dich ruft, so haut er schon. Pass auf, er haut, wenn du in die Stu­be trittst.«

So ging es, ich weiß nicht wie lan­ge, fort, mit den Wor­ten und Wen­dun­gen des Volks­dia­lekts, in dem man sich auf der Stra­ße aus­drückt.

Eine Stun­de da­nach war ich wie­der zu Haus, aß mit den El­tern ver­gnügt und re­nom­mis­tisch das Mit­tag­brot und stürz­te mich mit ver­dop­pel­ter Lust ins Freie, in die noch lan­ge nicht ver­lo­re­ne Welt mei­ner kind­li­chen Un­ge­bun­den­heit.

Nein, die Dorf­schu­le mit dem al­ten, im­mer miss­ge­laun­ten Leh­rer Bren­del zer­brach mich nicht. Kaum wur­de mir et­was von mei­nem Le­bens­raum und mei­ner Frei­heit weg­ge­nom­men und gar nichts von mei­ner Le­bens­lust.

Drittes Kapitel

Der Ge­bäu­de­kom­plex des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne war im Lau­fe der Zei­ten durch An­bau­ten ent­stan­den. Schwer zu sa­gen, wel­cher sei­ner Tei­le mir zu­erst zu Be­wusst­sein ge­kom­men ist. Ich hat­te wohl erst ein all­ge­mei­nes Ge­fühl sei­ner Uner­gründ­lich­keit. In­so­weit blieb er mir lan­ge un­heim­lich. Ich den­ke auch hier an die Win­ter­zeit. Da war zu­nächst un­ser Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock. Es wa­ren die Säle: der so­ge­nann­te Gro­ße Saal und der so­ge­nann­te Klei­ne Saal und end­lich der so­ge­nann­te Blaue Saal, der in Wahr­heit der kleins­te war. Da war fer­ner das Erd­ge­schoss: ein Schnitt­wa­ren­la­den lag dar­in, eine ver­pach­te­te, dem Stra­ßen­be­trieb of­fe­ne Bier­stu­be, die Woh­nung des Fuhr­werks­be­sit­zers Krau­se und die Kro­nen­quel­le, von der schon ge­spro­chen wur­de. Das Haupt­haus, der Klei­ne Saal, die Stal­lun­gen bil­de­ten und um­fass­ten drei­sei­tig einen Hof, des­sen vier­te Sei­te nach der Stra­ße of­fen war. Der Klei­ne Saal aber wur­de von gra­ni­te­nen Pfei­lern, so­ge­nann­ten »Säu­len«, ge­tra­gen. Den un­ter ihm ver­füg­ba­ren Wirt­schafts­raum be­zeich­ne­te man schlecht­hin als Un­term Saal. Über un­serm Win­ter­quar­tier lag ein zwei­ter Stock, wo wir Kin­der, som­mers vom Frem­den­be­trieb zu­rück­ge­drängt, in klei­nen Schlafräu­men un­ser ver­ges­se­nes Da­sein fris­te­ten. Schließ­lich war das Bo­den­ge­schoss mit den Dach­kam­mern ein be­son­de­res Mys­te­ri­um.

Un­ter die­sen war eine, die so­ge­nann­te Sie­ben­kam­mer, die für uns Kin­der einen un­heim­lich-heim­li­chen Reiz be­saß, ob­gleich sie in Wahr­heit nichts an­de­res als die satt­sam be­kann­te Rum­pel­kam­mer sein woll­te. Wir hät­ten uns schwer­lich im Dun­keln hin­ein­ge­traut. Sonst aber über­traf ihre An­zie­hungs­kraft bei Wei­tem die Furcht, die uns im Ge­dan­ken an sie an­wan­del­te. Auch war die­se Furcht sel­ber an­zie­hend, gleich je­nem Gru­seln, das der Hand­werks­bur­sche im Mär­chen durch­aus ler­nen woll­te.

Al­tes zer­bro­che­nes oder weg­ge­wor­fe­nes Spiel­zeug von Ge­ne­ra­tio­nen war dar­in in un­ent­wirr­ba­rer, ver­staub­ter Men­ge auf­ge­häuft: Gum­mi­bäl­le, Pup­pen, Haus­rat von Pup­pen­stu­ben, Ham­pel­män­ner, Pfer­de und Fracht­wa­gen, Tei­le von Schä­fe­rei­en und Me­na­ge­ri­en, Schau­kel­pfer­de, und so fort und so fort.

Al­le­dem hauch­te der kind­li­che Geist be­son­ders im lan­gen Dun­kel der Win­ter­ta­ge fan­tas­ti­sches Le­ben ein. So war denn die Sie­ben­kam­mer – und ist es mir in ge­wis­sem Sin­ne noch heu­te – der Ort, wo auf ge­heim­nis­vol­le Wei­se Ko­bol­de, Feen, Knus­per­he­xen und Zau­be­rer, Hel­den und Men­schen­fres­ser sich Ren­dez­vous ga­ben und durch die Dach­lu­ke nachts beim Mond­schein aus und ein flo­gen. Ich brauch­te nur an sie zu den­ken, um ih­rem Mär­chen­zau­ber, ih­rer gren­zen­lo­sen Ma­gie mit der un­end­li­chen, bun­ten Viel­falt ih­rer Ge­stal­ten an­heim­zu­fal­len. Gehe ich fehl, wenn ich in ihr eine der wich­tigs­ten Rät­sel­quel­len mei­ner spä­te­ren Fa­bu­lier­lust sehe?

Das Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock be­stand aus fünf zu­sam­men­hän­gen­den Stu­ben, wel­che die Num­mern drei bis sie­ben als Tür­schil­der hat­ten. So spra­chen wir Kin­der von der Drei, der Vier, der Fünf, der Sechs und der Sie­ben. Und mit je­der die­ser Zah­len ver­bin­det sich noch heut für mich die Vor­stel­lung ei­nes be­son­ders be­seel­ten Raums. Von al­len strahl­te die Vier viel­leicht die meis­te herz­li­che Wär­me aus, die Fünf und die Sechs wa­ren nicht so trau­lich. Der Cha­rak­ter der klei­nen Sie­ben hat­te sei­ne Be­son­der­heit. Es wa­ren dar­in Rou­le­aus, auf de­nen bun­te Spa­nie­rin­nen mit Frucht­kör­ben auf den Köp­fen zu se­hen wa­ren.

Die See­len die­ser fünf Räu­me tau­chen noch heut ge­le­gent­lich in mei­nen Träu­men auf, mit man­cher­lei an­de­ren Ele­men­ten ver­bun­den.

Die Tür der Sie­ben war der Ab­schluss ei­nes län­ge­ren Gangs, dem Fens­ter nach dem Hofe Licht ga­ben. Da­ge­gen hat­te ein klei­ner Al­ko­ven, in dem win­ters Va­ter, Mut­ter und ich schlie­fen, nur ein Fens­ter nach die­sem Flur hin­aus.

Ein oder zwei Win­ter aus­ge­nom­men, hat sich das Le­ben der Fa­mi­lie haupt­säch­lich in die­sem Teil des Hau­ses ab­ge­spielt.

Ich sag­te schon, dass mein sonst stren­ger Va­ter mir eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Be­we­gungs­frei­heit zu­bil­lig­te, was von Ver­wand­ten und Freun­den viel­fach ge­rügt wur­de. Un­ge­bun­den und über­all neu­gie­rig ging ich dem­nach auf Ent­de­ckungs­fahr­ten aus und wuss­te bald über je­den Win­kel des Hau­ses Be­scheid. Fast täg­lich durch­streif­te ich alle Stock­wer­ke, war da­heim in Gar­ten und Hof, kann­te die ent­le­gens­ten Räu­me, von de­nen ei­ni­ge selt­sam ge­nug und hin­rei­chend un­heim­lich wa­ren.

Das lei­den­schaft­li­che Le­ben, dem ich da­mals un­ter­lag und das mei­nen zar­ten Or­ga­nis­mus wie ein über­star­ker elek­tri­scher Strom be­wegt ha­ben muss, er­klärt sich nur durch eine un­ge­dul­di­ge Le­bens­gier, die über­all et­was zu ver­säu­men fürch­te­te. »Ger­hart, ren­ne doch nicht so!« sag­te mei­ne Mut­ter. – »Rase doch nicht im­mer so!« sag­te mein Va­ter. – »Du rennst dir die Schwind­sucht an den Hals!« mahn­te mein On­kel Straeh­ler, der schö­ne, von den Da­men ver­göt­ter­te Ba­de­arzt, wo er im Frei­en mei­ner an­sich­tig wur­de. Frau Krau­se, Frau des Fuhr­werks­be­sit­zers im Erd­ge­schoss, die ro­bus­te Bau­ers­frau, hielt sich wie­der und wie­der die Ohren zu und sag­te da­bei: »Hör auf, hör auf, dein Schrei­en macht mich ver­rückt, Jun­ge!«

Der Wahr­heit ge­mäß wäre viel­leicht zu sa­gen, dass ich um jene Zeit im­mer­hin ein wohl­ge­ar­te­ter, aber kein wohl­er­zo­ge­ner Jun­ge ge­we­sen bin, dazu war ich zu wild und zu frei auf­ge­wach­sen. Wie man­chem mag ich durch lär­mi­ges Ge­ba­ren, Ren­nen, Schrei­en und An­sprü­che al­ler Art läs­tig ge­wor­den sein! Ich bin auch nicht all­zu sau­ber ge­we­sen. Die künst­li­chen Sit­ten der el­ter­li­chen Bür­ger­zim­mer konn­ten den na­tür­li­chen Un­sit­ten der Stra­ße und des so­ge­nann­ten nie­de­ren Vol­kes nicht stand­hal­ten. Ein nor­di­sches Kind ohne Schnup­fen im Win­ter gibt es nicht, und der Stra­ßen­jun­ge, der mein be­wun­der­tes Mus­ter war, wird sich die Nase nur mit dem Är­mel put­zen, wenn er es nicht tech­nisch voll­kom­men mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger nie­send tut. Da­her hat­te ich mei­nen blan­ken Är­mel, zu­nächst den rech­ten, den an­de­ren erst, wenn die­ser nicht aus­reich­te.

Frau Greu­lich hieß eine alte Weiß­näh­te­rin, die win­ters über bei uns ar­bei­te­te. Die gute Frau war ent­setzt und herrsch­te mich manch­mal heim­lich ent­rüs­tet an, wenn ich ohne Är­mel und Ta­schen­tuch den Fluss der Nase durch un­un­ter­bro­che­nes Luf­tein­zie­hen er­folg­los zu hem­men such­te.

Erkner, ein Vo­r­ort von Ber­lin, wo ihr ver­stor­be­ner Mann Bahn­be­am­ter ge­we­sen war, hat­te üb­ri­gens die bes­te Zeit im Le­ben die­ser Frau ge­se­hen. Im­mer, fast täg­lich, sprach sie da­von. Sie ahn­te nicht, und ich ahn­te nicht, wel­che Be­deu­tung die­ser Ort etwa fünf­zehn Jah­re da­nach auch für mein Le­ben er­hal­ten soll­te.

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Wenn Som­mer und Win­ter zwei ganz ver­schie­de­ne Le­bens­for­men des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne be­deu­te­ten, frei­lich nicht ohne Zu­sam­men­hang, so kann ich noch heu­te wie als Kind völ­lig ge­trenn­te Wel­ten un­ter­schei­den, in­ner­halb sei­ner Mau­ern so­wohl als auf dem da­zu­ge­hö­ri­gen Grund.

Die Bür­ger­zim­mer ers­tens um­schlos­sen win­ters das Fa­mi­li­en­le­ben und da­mit die Wohl­er­zo­gen­heit. Die Säle im glei­chen Stock­werk wie­sen ge­wis­ser­ma­ßen fei­er­lich in eine frem­de Welt hö­he­rer Le­bens­form. Im Blau­en Saal stand das Kla­vier. Gel­be Ma­ha­go­ni­pols­ter­mö­bel schmück­ten die­sen Raum und die le­bens­großen, gold­ge­rahm­ten Öl­bild­nis­se Kö­nig Wil­helms und sei­ner Ge­mah­lin Au­gus­ta in gan­zer Fi­gur. Hier hat­ten die mon­ar­chi­schen Ge­füh­le mei­nes Va­ters ih­ren Aus­druck ge­fun­den. Eine Ko­pie der Six­ti­ni­schen Ma­don­na in Ori­gi­nal­grö­ße be­herrsch­te den an­de­ren, den Gro­ßen Saal, des­sen noch ver­füg­ba­re zwei­te Wand eine Ko­pie der Kreuz­ab­nah­me Rem­brandts trug, den mein Va­ter, nach der Fül­le der Rem­brandt­ko­pi­en im Klei­nen Saal zu schlie­ßen, be­son­ders ge­schätzt ha­ben muss.

Ich be­grei­fe noch heu­te schwer, wie man in der sa­kra­len At­mo­sphä­re des Gro­ßen Saa­l­es spei­sen und harm­los plau­dern konn­te.

Dicht an die Säle stie­ßen dann Kü­che, Wasch­kü­che und Hin­ter­hof, die eine ganz an­de­re Welt dar­stell­ten und die im we­sent­li­chen den un­ab­weis­ba­ren Be­dürf­nis­sen des Ma­gens und des Bau­ches zu die­nen hat­ten. Es kam her­nach die Welt Un­term Saal, die zwar als ein Teil des Ho­fes an­zu­se­hen ist, aber ei­ge­ne Funk­tio­nen hat­te. So lag die Kut­scher­stu­be dort und die Putz­stu­be der Haus­knech­te, be­son­ders aber wirk­te sich hier der Be­trieb des Wein­kel­lers mit Fla­schen­wa­schen, Fäs­ser­rei­ni­gen und der­glei­chen re­gen­si­cher aus.

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Von den Sä­len zur Kut­scher­stu­be war ein großer Schritt. In ei­nem fens­ter­lo­sen Raum blak­te all­zeit eine Öl­fun­zel, es herrsch­te kei­ne Sau­ber­keit, es roch nach Bier, Fu­sel und Spei­se­res­ten. Die­se Kut­scher­stu­be war eine Dreck­bu­de, wo aber doch viel Be­ha­gen, Ge­läch­ter, der­bes Flu­chen und Kar­ten-auf-den-Tisch-Hau­en in je­nem nie­der­län­di­schen Stil laut wur­de, der sich auf man­chem Osta­de des Klei­nen Saals er­schloss. Im Gie­bel des Hau­ses ebener­dig nach der Stra­ße hin­aus lag noch die Bier­stu­be, die Schwem­me, wie man in Ös­ter­reich sagt, de­ren Tür auf die Gas­se ging und die zeit­wei­lig Schau­spie­ler Erm­ler ge­pach­tet hat­te. Sie war ein ma­nier­lich volks­tüm­li­cher Auf­ent­halt, der ge­le­gent­lich auch wohl von den Ho­no­ra­tio­ren des Orts be­sucht wur­de.

Der Hin­ter­gar­ten war das Ge­biet, wo man sich in der un­ge­bun­dens­ten Wild­heit aus­tob­te. Der große Dün­ger­hau­fen der Pfer­de­stäl­le be­fand sich dort, der Eis­kel­ler, um den her­um es sehr übel nach Schlacht­haus roch, aber auch ein Warm­haus, des­sen Pal­men, Lor­beer- und Fei­gen­bäu­me und sel­te­ne Blu­men mir die ers­te Bot­schaft ei­ner schö­nen süd­li­chen Welt brach­ten.

Der Schnitt­wa­ren­la­den aber von Sand­berg, in der Front des Ho­tels, at­me­te eine vor­neh­me Stil­le. Der grau­be­haar­te Schei­tel des al­ten In­ha­bers, auf dem al­le­zeit ein ge­stick­tes Käpp­chen saß, sein mil­der Ernst, sei­ne selt­sa­me Spra­che und man­ches, was man mir von ihm er­zählt hat­te, da er Vor­ste­her der Salz­brun­ner jü­di­schen Ge­mein­de war, er­füll­ten mich mit ei­nem Re­spekt, in dem sich Be­frem­den und Neu­gier misch­ten.

Viertes Kapitel

So un­ge­fähr bo­ten sich zu­nächst die Schau­plät­ze dar, auf wel­chen ich mich im Voll­ge­nuss mei­nes Le­ben­strie­bes – im ge­sun­den Kin­de ist Freu­de und Le­ben ein und das­sel­be – in dau­ern­dem Wech­sel täg­lich be­weg­te. Sie la­gen auf zwei ver­schie­de­nen Haup­tebe­nen, von de­nen die eine die bür­ger­li­che, die an­de­re zwar nicht die durch­um pro­le­ta­ri­sche, aber je­den­falls die der brei­ten Mas­se des Vol­kes war. Ich kann nicht be­strei­ten, dass ich mich im Bür­ger­be­reich und in der Hut mei­ner El­tern ge­bor­gen fühl­te. Aber nichts­de­sto­we­ni­ger tauch­te ich Tag für Tag, mei­ner Nei­gung über­las­sen, in den Be­reich des Ho­fes, der Stra­ße, des Volks­le­bens. Nach un­ten zu wächst nun ein­mal die Na­tür­lich­keit, nach oben die Künst­lich­keit. Nach un­ten wächst die Ge­mein­sam­keit, von un­ten nach oben die Ein­sam­keit. Die Frei­heit nimmt zu von oben nach un­ten, von un­ten nach oben die Ge­bun­den­heit. Ein ge­sun­des Kind, das von un­ten nach oben wächst, ist zu­nächst we­sen­haft volks­tüm­lich, vor­aus­ge­setzt, dass es nicht durch Ge­ne­ra­tio­nen ver­küns­tel­ten Bür­ger­tums ver­dor­ben ist. Das Kind steht dem bäu­er­li­chen Kin­der­mäd­chen nä­her als sei­ner Mut­ter, wenn die­se eine Sa­lon­da­me ist: und die Mut­ter, wenn sie es ist, weiß mit dem Kin­de, das sie ge­bar, nichts an­zu­fan­gen. Fuhr­hal­ter Krau­se, der im Hofe die Herr­schaft führ­te, sprach mit sei­nem Soh­ne Gu­stav und mit mir, wie man mit sei­nes­glei­chen spricht. Nie wur­de ihm oder mir von Krau­se klar­ge­macht, dass wir dum­me Jun­gens sei­en und uns als min­der­wer­ti­ge We­sen an­zu­se­hen hät­ten. Auch von Va­ter und Mut­ter er­lit­ten wir kei­ne mo­ra­li­sche Er­nied­ri­gung, au­ßer wo wir mit Recht oder Un­recht ge­schol­ten wur­den. Aber es lag nun ein­mal im Geis­te des obe­ren Be­reichs, dass man sich nicht na­tür­lich be­tra­gen konn­te. Der Un­ter­schied zwi­schen un­ten und oben war so groß, wie der zwi­schen dem sinn­lich-see­len­vol­len Dia­lekt und dem sinn­lich-ar­men, na­he­zu ent­seel­ten Schrift­deutsch ist, das als Hoch­deutsch ge­spro­chen wird. Un­ten im Hof er­zog die Na­tur, oben wur­de man, wie man fühl­te, nach ei­nem be­wuss­ten mensch­li­chen Plan für ir­gend­ei­ne kom­men­de Auf­ga­be zu­ge­rich­tet. Ko­chen, Es­sen, Schla­fen, das al­les ging vor sich in ei­nem ein­zi­gen Zim­mer des Krau­se­be­reichs.

Jeg­li­ches Ding dar­in hat­te sei­ne Auf­ga­be. Oben war eine Zim­mer­flucht, die zum großen Teil nur von Glas­schrän­ken mit Bü­chern und Nip­pes, von Spie­geln, un­be­nutz­ten Kom­mo­den, Ti­schen und Ses­seln und von ei­ni­gen schweig­sa­men Flie­gen be­wohnt wur­de. Die stum­me Spra­che die­ser Din­ge, Uhren, Por­zel­la­ne, Zier­glä­ser, Tep­pi­che, Tisch­de­cken und der­glei­chen, wie­der­hol­te im­mer­zu: Ma­che hier kei­nen Riss, dort kei­nen Fleck, stoß mich nicht an, stoß mich nicht um, und so fort. Un­ten gab es der­glei­chen Rück­sich­ten nicht.

Und oben, nicht un­ten, wohnt auch die Ei­tel­keit. Da sind ihre großen und klei­nen Spie­gel, die über das Un­ten kei­ne Macht ha­ben. Dort prüft der ge­küns­tel­te Mensch und schon das Kind tag­täg­lich sein Aus­se­hen. Bei sol­cher Ge­le­gen­heit hat mich das mei­ne nie be­frie­digt. Auch dem Ge­cken mag üb­ri­gens et­was an­haf­ten von der­glei­chen Un­zu­frie­den­heit, er wür­de sonst im Aus­putz sei­ner Per­son nicht so ru­he­los wech­seln. Der wohl­ge­klei­de­te Mensch wird ge­se­hen. Er ver­gisst nicht, darf nicht ver­ges­sen, dass es so ist. Wenn er aus­geht, ist er sein ei­ge­ner Spie­gel. Der ein­fa­che Mensch sieht nur um sich her.

Wenn der ein­fa­che Mann müde ist, macht er Fei­er­abend, oder er macht eine Ar­beit­s­pau­se, die er sich, wie er kann, ver­süßt. Der ge­sun­de Mann aus dem Vol­ke ist durch und durch we­sent­lich: lee­res Ge­re­de kennt er nicht. Wenn er spricht, wird es Hand und Fuß ha­ben. Das macht zu­nächst der im­mer na­he­lie­gen­de Ge­gen­stand, der sei­ne täg­li­che Ar­beit und de­ren Fehl­schla­gen oder Ge­lin­gen ist. Je­des Wort die­ser Rede ist kraft­voll und voll­gül­tig. Sie ge­stal­tet die Spra­che neu und in je­dem Au­gen­blick, wes­halb schon Mar­tin Luther sagt: »Man muss dem ge­mei­nen Mann aufs Maul schau­en, wenn man wis­sen will, was Spra­che ist.« So­kra­tes sagt un­ge­fähr das­sel­be.

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Das Spei­sen am wohl­ge­deck­ten Ti­sche mei­ner El­tern in Num­mer Drei ver­lor für län­ge­re Zeit sei­nen Reiz, als ich ein­mal bei Krau­ses ge­ges­sen hat­te. Ich saß mit Krau­se, sei­ner Frau, Gu­stav und Ida so­wie ei­nem al­ten Knecht um den ge­scheu­er­ten Tisch. In der Mit­te stand eine große, brau­ne, tie­fe Schüs­sel aus Bunz­lau­er Ton, in die wir, je­der mit sei­ner Ga­bel, hin­ein­lang­ten. Wir grif­fen zu den Zinn­löf­feln, als nur noch Brü­he dar­in vor­han­den war. Mes­ser und Tel­ler gab es nicht.

Es ging bei die­ser schlich­ten Bau­ern­mahl­zeit schweig­sam und ma­nier­lich zu. Dass man mit vol­lem Mun­de nicht spricht, soll­te sich ja von selbst ver­ste­hen. Es kom­men da­bei, selbst in ho­hen und höchs­ten Krei­sen, Spru­de­lei­en und an­de­re un­ap­pe­tit­li­che Din­ge vor. Trotz­dem wir mit aus­ge­streck­tem Arm zu­lan­gen und den Bis­sen durch die Luft füh­ren muss­ten, ehe wir ihn in den Mund steck­ten, wies die Tisch­plat­te am Schluss kei­ne Fle­cken auf. Was Frau Krau­se ge­kocht hat­te, war ein Ge­misch von Klö­ßen und Sau­er­kraut in ei­ner Brü­he aus Schwei­ne­fleisch. Die­ses Ge­richt war de­li­kat. Nie­mals spä­ter ge­noss ich wie­der­um sol­ches Sau­er­kraut. Es wur­de von dem al­ten Knecht und von Krau­se, nach­dem sie be­dacht­sam die Ga­bel dar­in ge­dreht und so die lan­gen, dün­nen Fä­den wie auf einen Wo­cken ge­wi­ckelt hat­ten, aus der Tun­ke her­aus­ge­holt. Dass sie die­sel­be Ga­bel, die sie in den Mund ge­steckt hat­ten, wie­der in die ge­mein­sa­me Schüs­sel tauch­ten, fiel mir nicht auf. Die lang­sa­me Sorg­falt des Vor­gangs ließ den Ge­dan­ken an et­was Unap­pe­tit­li­ches gar nicht auf­kom­men.

Tisch­ge­be­te sprach man bei den Mahl­zei­ten des Fuhr­herrn nicht. Aber die gan­ze Pro­ze­dur die­ser ge­las­se­nen Nah­rungs­auf­nah­me, bei der nie­mand, auch nicht die Kin­der, im Ge­rings­ten Un­ge­duld, Hast oder Gier zeig­te, war fei­er­lich. Sie war bei­na­he selbst ein Ge­bet. Hier wuss­te man, was das täg­li­che Brot be­deu­te­te, und der In­stinkt ent­schied, wel­che Wür­de ihm zu­zu­spre­chen war.

Üb­ri­gens war durch die schwe­re, som­mer­spros­si­ge Hand und den he­ra­kli­schen Arm des Fuhr­herrn der Rhyth­mus die­ses Fa­mi­li­en­mah­les an­ge­zeigt. Nie­mand hat­te sich un­ter­fan­gen und sei­ne Ga­bel oder den Löf­fel, wäh­rend er es ein­mal tat, zwei­mal in die Schüs­sel ge­taucht.

Fuhr­mann Krau­se war eine Art Spe­di­teur. Der Trans­port des Brun­nen­ver­san­des zur Bahn­sta­ti­on lag in sei­ner Hand. Eben­so hol­te er re­gel­mä­ßig mit sei­nem Om­ni­bus von eben­der Bahn­sta­ti­on Frei­burg die an­kom­men­den Frem­den ab und brach­te dort­hin die Abrei­sen­den. Der Om­ni­bus, wenn er nicht un­ter­wegs war, stand in un­serm Hof, wo sei­ne Pols­ter ge­klopft, sei­ne Ach­sen ge­schmiert und das gan­ze Mon­strum mehr­mals die Wo­che von oben bis un­ten ge­putzt und ge­wa­schen wur­de. Das Klir­ren der höl­zer­nen Ei­mer mit den ei­ser­nen Trag­bo­gen, das Lär­men der Pfer­de­knech­te mach­te die Mu­sik dazu.

Ich den­ke da­bei an die Som­mer­zeit, wo ich über­all und nir­gend zu Hau­se war. Die kur­ze Schul­zeit aus­ge­nom­men, trieb ich mich in den Stäl­len zwi­schen den Pfer­den, in der Kut­scher­stu­be, im Hin­ter­gar­ten, viel­fach auch auf den fla­chen, be­moos­ten Dä­chern der Saal­bau­ten her­um.

Fast nie er­füll­te ich das Ge­bot mei­nes Va­ters: ohne Kopf­be­de­ckung nicht aus­zu­ge­hen. Da ich also, un­ge­hor­sam, im­mer mit bloßem Kop­fe her­um­rann­te, ver­mied ich nach Mög­lich­keit, von mei­nem Va­ter ge­se­hen zu wer­den. Auch setz­te er ge­wiss nicht vor­aus, bis zu wel­chem Gra­de ich mich in die Ge­pflo­gen­hei­ten der Stra­ßen­jun­gen ein­le­ben wür­de. Ich fing zum Bei­spiel, mit ih­nen in ei­nem Ru­del ver­eint, den Om­ni­bus, wenn er von der Bahn kam, vor dem Zie­le ab und ver­folg­te ihn, eben­falls mit­ten im Ru­del, gehüllt in eine dich­te Staub­wol­ke. Der Zweck war, den an­lan­gen­den Kur­gäs­ten Hand­ge­päck zu ent­rei­ßen, um es ge­gen Ent­gelt hin­ter ih­nen drein in das Lo­gis zu schlep­pen. Ich habe das nur ein­mal ge­tan, denn die Be­hand­lung, die ich da­bei er­fuhr, die Last, die ich zu tra­gen hat­te, und die Ent­loh­nung durch einen Kup­fer­drei­er, den ich emp­fing, all das war an­ge­tan, mich von die­ser Art Brot­er­werb ab­zu­brin­gen.

Fünftes Kapitel